Digitale Mündigkeit Eine Analyse der Fähigkeiten der Bürger in Deutschland zum konstruktiven und souveränen Umgang mit digitalen Räumen ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Digitale Mündigkeit Eine Analyse der Fähigkeiten der Bürger in Deutsch- land zum konstruktiven und souveränen Umgang mit digitalen Räumen Abschlussbericht März 2018
Beck, Roman1; Greger, Vanessa2; Hoffmann, Christian3; König, Wolfgang4; Krcmar, Helmut2; Weber, Jasmin3; Wunderlich, Nico4; Zepic, Robert2 Die Auflistung der Autoren erfolgt in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen. 1IT University of Copenhagen 2Technische Universität München Rued Langgaards Vej 7 Institut für Informatik DK-2300 Copenhagen S Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik (I 17) Denmark Boltzmannstr. 3 Tel.: +45 7218-5323 85748 Garching b. München romb@itu.dk Tel.: +49 (0) 89 / 289-19532 www.itu.dk Fax: +49 (0) 89 / 289-19533 Helmut.Krcmar@in.tum.de www.winfobase.de 3Universität Leipzig 4Goethe Universität Frankfurt Institut für Kommunikations- und Medienwis- Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. senschaft Wirtschaftsinformatik Professor für Kommunikationsmanagement E-Finance Lab e.V. Burgstraße 21 Theodor-W.-Adorno-Platz 4 04109 Leipzig 60323 Frankfurt am Main Tel.: +49 341 97 35061 Tel: +49 69 798 33847 Fax: +49 341 97 35 049 Fax: +49 69 798 33910 Christian.Hoffmann@uni-leipzig.de nwunderlich@wiwi.uni-frankfurt.de http://www.cmgt.uni-leipzig.de www.is-frankfurt.de www.efinancelab.com II
Management Summary Digitale Mündigkeit beschreibt die Fähigkeiten der Bürger zum konstruktiven und souveränen Um- gang mit digitalen Räumen. Digitale Räume sind dabei virtuelle Stätten der Begegnung, Interaktion und Transaktion, und implizieren damit einen gewissen Grad an Sozialität. Um den Stand der Digi- talen Mündigkeit in Deutschland erstmalig zu messen, wurde im Rahmen dieser Studie ein mehr- dimensionales Konstrukt entwickelt und in einer Befragung unter 1.044 repräsentativ ausgesuch- ten Onlinern in Deutschland gemessen und getestet. Die Studie zeigt Potenziale im Bereich von IT- Fähigkeiten sowie bürgerlichen Kompetenzen der Deutschen, um den Austausch der Bürger un- tereinander sowie mit dem Staat zu politischen Themen und der Willens- und Meinungsbildung im digitalen Raum zu intensivieren. Unter anderem sind Sozialkompetenzen, angewandt in digitalen Räumen unter den aktiven Inter- netnutzern, besonders ausgeprägt (Social Literacy). Ein konstruktiver Umgang mit anderen Bür- gern zeigt sich verstärkt bei weiblichen Befragten und solchen mit höherer Bildung sowie in mitt- leren Einkommensgruppen. Ebenfalls hohe Werte erreichten junge und gut gebildete Deutsche im Umgang von im Internet angebotenen Inhalten, d. h. Inhalte werden hinterfragt und bewertet (Informationskompetenz / Information Literacy). Der Schutz der Privatsphäre in digitalen Räumen (Privacy Literacy) ist bei den befragten Bundesbürgern besonders im mittleren Alter stärker aus- geprägt als die anderen Kompetenzen. Schwächen zeigen sich bei den technischen Nutzungskom- petenzen, wie etwa grundlegenden IT-Kenntnissen und Fähigkeiten zur Nutzung des WWW (Tech- nical Literacy), die mit steigendem Alter und sinkendem Einkommen abnehmen. Besonders schwach ausgeprägt ist die Civic Literacy, bei der sich vor allem bei weiblichen, älteren Befragten Schwierigkeiten mit einem Bewusstsein für bürgerliche Rechte und Pflichten im digitalen Raum sowie beim Einsatz digitaler Medien für kollektive Zwecke offenbaren. Hohe Digitale Mündigkeit zeigen verstärkt männliche Befragte mit hohem Bildungsniveau. Die Gruppe mittelstark ausgeprägter Digitaler Mündigkeit ist durch eine überdurchschnittliche Anzahl weiblicher Befragter sowie niedrigerer Bildung gekennzeichnet. Niedrige Mündigkeit zeigt in der durchgeführten Befragung die Gruppe der ältesten Befragten, die sich gleichzeitig durch ein hohes Bildungsniveau auszeichnen. III
Maßnahmen zur Förderung der Digitalen Mündigkeit sollten daher gezielt an den aufgezeigten Schwachstellen ansetzen – dies vor allem bei den technischen Fähigkeiten der Bürger sowie dem Vermögen, online bürgerliche Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Nicht eine Institution, ein Netzwerk oder eine Plattform kann zur Verbreitung Digitaler Mündigkeit beitragen; eher gemein- same Anstrengungen, Verantwortungsbewusstsein sowie schulische Digitalbildung und eine Ein- beziehung der öffentlichen Verwaltung scheinen herausgehobene Bedeutung zur Förderung der Fähigkeiten der Bürger zum konstruktiven und souveränen Umgang mit digitalen Räumen zuzu- kommen. Die Stärkung der digitalen Kompetenz in Deutschland bedarf der weiteren Ausbildung, um auch über die nationalen Grenzen hinaus die technisch-gesellschaftliche Entwicklung der Digi- talisierung global mitzugestalten. IV
INHALTSVERZEICHNIS Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................ VII 1 Einleitung ...................................................................................................................................... 1 2 Das Konzept der Digitalen Mündigkeit ......................................................................................... 4 2.1 Mündigkeit............................................................................................................................. 4 2.2 Annäherungen an die Digitale Mündigkeit .......................................................................... 5 2.2.1 Literacies ........................................................................................................................ 6 2.2.2 Skills .............................................................................................................................. 10 2.2.3 Competencies .............................................................................................................. 11 2.2.4 Digital Citizenship ........................................................................................................ 12 3 Methodisches Vorgehen ............................................................................................................ 15 3.1 Literaturanalyse ................................................................................................................... 15 3.2 Expertenbefragung ............................................................................................................. 16 3.3 Operationalisierung und Fragebogen ................................................................................ 17 3.4 Empirische Erhebung .......................................................................................................... 17 4 Die Digitale Mündigkeit in Deutschland ..................................................................................... 21 4.1 Die Digitale Mündigkeit im Überblick ................................................................................ 24 4.2 Die Dimensionen der Digitalen Mündigkeit ....................................................................... 26 4.2.1 Technical Literacy ........................................................................................................ 27 4.2.2 Privacy Literacy ............................................................................................................ 28 4.2.3 Information Literacy .................................................................................................... 29 4.2.4 Social Literacy .............................................................................................................. 30 4.2.5 Civic Literacy ................................................................................................................ 31 5 Wer ist wie mündig? Eine Differenzierung ................................................................................ 32 5.1 Differenzierung der Dimensionen ...................................................................................... 32 V
5.1.1 Technical Literacy ........................................................................................................ 32 5.1.2 Privacy Literacy ............................................................................................................ 34 5.1.3 Information Literacy .................................................................................................... 36 5.1.4 Social Literacy .............................................................................................................. 38 5.1.5 Civic Literacy ................................................................................................................ 39 5.2 Demographische Einflüsse im Überblick ............................................................................ 41 5.3 Mündigkeitsstufen im Vergleich ......................................................................................... 43 6 Digitale Mündigkeit – wozu? ...................................................................................................... 46 6.1 Politische Beteiligung und E-Government-Nutzung .......................................................... 46 6.2 Auswirkungen der Digitalen Mündigkeit............................................................................ 50 7 Maßnahmen und Handlungsempfehlungen .............................................................................. 55 7.1 Offene Multi-Stakeholder-Plattformen.............................................................................. 55 7.2 Bildungsplattformen ........................................................................................................... 56 7.3 Angebote bewerben ........................................................................................................... 57 7.4 Moderne Schul-Infrastruktur .............................................................................................. 58 7.5 Digitale Bildung.................................................................................................................... 59 7.6 Digital mündige Verwaltungsmitarbeiter ........................................................................... 62 7.7 Zusammenwirken diverser Einflüsse .................................................................................. 63 8 Fazit und Ausblick ....................................................................................................................... 65 Anhang ................................................................................................................................................ 70 Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 71 VI
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Das Verhältnis von Digital Literacy zu verwandten Konzepten.................................... 9 Abbildung 2: Verteilung Geschlecht in der Stichprobe (N=1.044) ................................................... 18 Abbildung 3: Verteilung Alter in der Stichprobe (N=1.044) ............................................................. 18 Abbildung 4: Verteilung Bildungsstand in der Stichprobe (N=1.044) .............................................. 19 Abbildung 5: Verteilung Einkommen in der Stichprobe (N=1.044) ................................................. 19 Abbildung 6: Dimensionen Digitaler Mündigkeit .............................................................................. 22 Abbildung 7: Digitale Mündigkeit in Deutschland (N=1.044) ........................................................... 24 Abbildung 8: Elemente der Technical Literacy (N=1.044, Angaben in Prozent) ............................. 27 Abbildung 9: Elemente der Privacy Literacy (N=1.044, Angaben in Prozent) ................................. 28 Abbildung 10: Elemente der Information Literacy (N=1.044, Angaben in Prozent) ....................... 29 Abbildung 11: Elemente der Social Literacy (N=1.044, Angaben in Prozent) ................................. 30 Abbildung 12: Elemente der Civic Literacy (N=1.044, Angaben in Prozent) ................................... 31 Abbildung 13: Technical Literacy nach Alter (N=1.044, Skala 1-5) .................................................. 33 Abbildung 14: Technical Literacy nach Bildung (N=1.044, Skala 1-5) .............................................. 33 Abbildung 15: Technical Literacy nach Einkommen (N=1.044, Skala 1-5) ...................................... 34 Abbildung 16: Privacy Literacy nach Alter (N=1.044, Skala 1-5) ...................................................... 35 Abbildung 17: Privacy Literacy nach Bildung (N=1.044, Skala 1-5) .................................................. 35 Abbildung 18: Information Literacy nach Alter (N=1.044, Skala 1-5) .............................................. 36 Abbildung 19: Information Literacy nach Bildung (N=1.044, Skala 1-5) .......................................... 36 Abbildung 20: Information Literacy nach Einkommen (N=1.044, Skala 1-5) .................................. 37 Abbildung 21: Social Literacy nach Geschlecht (N=1.044, Skala 1-5) .............................................. 38 Abbildung 22: Social Literacy nach Bildung (N=1.044, Skala 1-5) .................................................... 38 Abbildung 23: Social Literacy nach Einkommen (N=1.044, Skala 1-5)............................................. 39 Abbildung 24: Civic Literacy nach Geschlecht (N=1.044, Skala 1-5) ................................................ 40 Abbildung 25: Civic Literacy nach Alter (N=1.044, Skala 1-5) .......................................................... 40 Abbildung 26: Civic Literacy nach Bildung (N=1.044, Skala 1-5) ...................................................... 41 Abbildung 27: Mündigkeitsgruppen und Geschlecht (N=1.044) ..................................................... 44 Abbildung 28: Mündigkeitsgruppen und Alter (N=1.044) ................................................................ 44 Abbildung 29: Mündigkeitsgruppen und Bildung (N=1.044) ........................................................... 45 Abbildung 30: Mündigkeitsgruppen und Einkommen (N=1.044) .................................................... 45 Abbildung 31: Politische Beteiligung im Internet (N=1.044) ............................................................ 46 VII
Abbildung 32: E-Government-Erfahrung (N=1.044) ......................................................................... 47 Abbildung 33: Intensität der E-Government-Nutzung (N=1.044).................................................... 49 Abbildung 34: Mündigkeitsgruppen und Intensität der E-Government-Nutzung (N=1.044) ........ 52 Abbildung 35: Mündigkeitsgruppen und politische Beteiligung im Internet (N=1.044) ................ 54 VIII
1 Einleitung Mit dem Aufkommen neuer Medien waren bereits in der Vergangenheit hohe Erwartungen hinsichtlich etwaiger Chancen für eine „informierte, emanzipierte und aufgeklärte Demokratie“ (Grunwald, Banse, Coenen, & Hennen, 2005, p. 54) verbunden. Ein besonderes Interesse der Wissenschaft galt dabei dem Aufkommen und der verstärkten Verbreitung des Internets und des World Wide Web (WWW) in den 1990er Jahren. Die Besonderheit digitaler Medien gegen- über Presse, Radio und Fernsehen lag darin begründet, dass diese den Bürger1 über seinen Status als Empfänger medial verbreiteter Informationen hinaus auch zu deren Erstellung und selbständigen Verbreitung befähigten und damit gänzlich neue Möglichkeiten für eine Demo- kratisierung von Staat und Gesellschaft zu schaffen versprachen (Grunwald et al., 2005) – vo- rausgesetzt, die Bürger besaßen Zugang zu diesen neuen Medien. Noch 1997 waren lediglich 6,5 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren online. Die Mehrheit der Onliner war da- mals zwischen 20 und 39 Jahre alt, besaß einen formell hohen Bildungsgrad und war berufstätig (Eimeren, Oehmichen, & Schröter, 1997). Von einer flächendeckenden Verbreitung des Inter- nets schien man seinerzeit weit entfernt. Bis 2016 stieg die Zahl der Onliner in Deutschland auf 79 Prozent. 14 bis 19-Jährige verbrachten im Schnitt fünf Stunden und 44 Minuten täglich im Internet. In derselben Altersgruppe nutzten 97 Prozent regelmäßig Instant-Messaging-Dienste wie WhatsApp, 82 Prozent nutzten regelmä- ßig soziale Netzwerke wie Facebook, Xing oder Google+ (Müller, Stecher, Dietrich, Wolf, & Boberach, 2016). Facebook besaß mit Stand Juni 2016 rund 1,6 Milliarden aktive Nutzer. Auch Youtube verwies in seinen Nutzerstatistiken auf über eine Milliarde Nutzer und WhatsApp war mit 950 Millionen Nutzern nicht mehr weit von der Milliardengrenze entfernt (Kroker, 2016). Auch wenn der digitale Graben, sprich die Teilung der Bevölkerung in Offliner und Onliner, noch nicht vollständig überwunden ist, ist doch die Mehrheit der Deutschen inzwischen im Netz. Als Konsequenz hiervon ist die Diskussion um den digitalen Graben in der Literatur einer Dis- kussion um die digitalen Gräben gewichen; sei es im Hinblick auf den Grad der Medienkompe- tenz, der Nutzungsvielfalt oder der Anwendungsroutinen der Onliner (Eimeren & Frees, 2011; 1 Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wird in dieser Studie die neutrale Form verwendet, die sowohl weibliche als auch männliche Personen umfasst. 1
Marr & Zillien, 2010; Winter, 2010). Am Beispiel der Rezeption und Nutzung von Informationen wird dies besonders deutlich: Informationen können zwar von immer mehr Menschen leicht und schnell per Smartphone abgerufen werden, es wird aber zunehmend wichtiger, diese In- formationen im Hinblick auf ihre Validität und Zuverlässigkeit beurteilen zu können (Krcmar, 2014). Lange Zeit wurde angenommen, dass das Internet und soziale Medien Hilfsmittel für die Verbreiterung und Vertiefung von Informationen sein könnten. Kneuer and Salzborn (2016, p. 2) stellen dagegen fest, dass man inzwischen davon ausgehen müsse, dass ihre Nutzung viel- mehr den mündigen Bürger beziehungsweise die mündige Bürgerin voraussetzt, „den bzw. die das Internet seinerseits vorgibt, mit zu erschaffen“. Kritische Stimmen mahnen, dass die Bürger ohne die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen gar ihre Selbstbestimmung und Mündigkeit zu verlieren drohen (Becker-Sonnenschein, 2012; Hange, 2016; Kurz & Rieger, 2011). Die Bürger selbst scheinen, angesichts der fortschreitenden Digitalisierung, immer mehr an ih- rer eigenen Mündigkeit zu zweifeln (Kurz & Rieger, 2011). Nur dann „wenn wir uns weiterhin zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erziehen, die dessen Chancen zu nutzen und seine Ge- fahren zu meiden wissen“, könne das Internet im Sinne der Menschen genutzt werden, so der Zwischenbericht Demokratie und Staat der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell- schaft“ (Deutscher Bundestag, 2013, p. 95). Die Förderung der Digitalen Mündigkeit – eine Mahnung und Forderung die von einer Vielzahl von Akteuren geteilt wird – scheint dringender denn je (BMWi & BMJV, 2015; Boberach, Moy, Neuburger, & Wolf, 2013; Bundestag, 2013; Heath, 2017; Kurz & Rieger, 2011; Müller, Stecher, Dietrich, Wolf, et al., 2016; Petsche & Simon, 2015; Reinhardt, 2015). Doch was zeichnet den digital mündigen Bürger aus? Was befähigt diesen, digital mündig han- deln zu können? Inwieweit ist die Digitale Mündigkeit heute schon in der Bevölkerung verbrei- tet? Was wird bereits getan und ist noch umzusetzen auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft digital mündiger Bürger? Die Beantwortung dieser Fragestellungen und damit konkret die De- finition und ausführliche Beschreibung des Konzeptes der Digitalen Mündigkeit, die empirische Erhebung ihrer Ausprägungen in der deutschen Bevölkerung und Ableitungen von ersten Hand- lungsempfehlungen waren Zielsetzung des durch den ISPRAT e.V. geförderten interdisziplinä- ren Forschungsprojektes „Digitale Mündigkeit“, an dem Wissenschaftler der IT University Co- 2
penhagen, der Technischen Universität München, der Universität Leipzig und der Goethe Uni- versität Frankfurt gemeinsam gewirkt haben. Der vorliegende Abschlussbericht fasst die Ergeb- nisse dieser Arbeiten zusammen. In Kapitel 2 wird zunächst eine Einführung in das entwickelte Konzept der Digitalen Mündigkeit gegeben, die eine Sichtung der multidisziplinären Forschung zu den Voraussetzungen einer ak- tiven und konstruktiven Nutzung digitaler Medien enthält. Kapitel 3 umfasst die Methodik des Forschungsvorhabens, einschließlich der für eine Erhebung des Status quo zur Digitalen Mün- digkeit in Deutschland zugrundeliegenden Operationalisierung des Konzeptes. Kapitel 4 skiz- ziert die einzelnen Dimensionen der Digitalen Mündigkeit, bevor in Kapitel 5 die soziodemogra- phischen Zusammenhänge und Profile von digitalen Mündigkeitsstufen dargestellt werden. Ka- pitel 6 setzt die zuvor erörterten Ergebnisse in Zusammenhang mit Aktivitäten im Internet, ins- besondere der politischen Online-Beteiligung und der Nutzung von E-Government Angeboten. Kapitel 7 zeigt schließlich erste Handlungsempfehlungen auf und stellt in diesem Rahmen aus- gewählte Maßnahmen vor, die bereits im Hinblick auf eine Förderung der Digitalen Mündigkeit erfolgen. Die Arbeit endet in Kapitel 8 mit einem Fazit und Empfehlungen zu nächsten For- schungsschritten. 3
2 Das Konzept der Digitalen Mündigkeit Das folgende Kapitel bietet eine Annäherung an den Begriff der Digitalen Mündigkeit. Es basiert auf einer interdisziplinären Auswertung internationaler Literatur (siehe Kapitel 3). Zunächst wird der Begriff der Mündigkeit skizziert, bevor Konzepte vorgestellt werden, die insbesondere für die Digitale Mündigkeit von Relevanz sind. Bei diesen handelt es sich um die Begriffe „lite- racies“, „skills“, „competencies“ und „digital citizenship“, die alle eng mit dem Konzept der Di- gitalen Mündigkeit verbunden sind. Auf dieser Grundlage folgt schließlich die Ableitung des Konzeptes der Digitalen Mündigkeit. 2.1 Mündigkeit Der Begriff der Mündigkeit ist so vielseitig und wurde in so vielfältigen Kontexten diskutiert, dass hier nur ein stark aggregierter Überblick gegeben werden kann. Entsprechend vereinfacht dargestellt meint Mündigkeit, „seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können“ (Seidel, 2016, p. 282) und damit die „Befähigung zum selbständigen, eigenverantwortlichen Handeln“ (Kurz & Rieger, 2011, p. 247). Nach Detjen (2013) ist Mündigkeit ein Begriff, der mit der Fähigkeit zur selbständigen Lebens- führung identisch ist und die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Tun, Urteilen und Entschei- den umfasst. Indem Verstand und Vernunft dem Gefühl übergeordnet werden, kann ein mün- diger Bürger neue Situationen reflexiv bewältigen. Unmündig ist er dagegen, wenn er weder hinterfragt noch die Gründe beziehungsweise die Möglichkeiten seines eigenen Handelns re- flektiert (Dörpinghaus & Uphoff, 2011). „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Ver- standes zu bedienen!“, so Immanuel Kant (1978, pp. 53, zit. nach Detjen 2013). Nach Dammer and Wortmann (2014, p. 78f.) zählen zu den wesentlichen Kriterien, mit denen sich der Begriff der Mündigkeit näher bestimmen lässt, eine Verknüpfung der Mündigkeit im traditionellen und modernen Verständnis mit Eigenverantwortlichkeit und freier Selbstbestim- mung sowie ein Zuspruch der Mündigkeit durch juristische Festlegung oder gesellschaftliche Konventionen. Darüber hinaus könne Mündigkeit ein Bündel von Verhaltensmerkmalen auf- weisen. Dem modernen Verständnis nach umfasst Mündigkeit nach Dammer und Wortmann (2014) mit Verweis auf Kant ferner den selbständigen Vernunftgebrauch sowie die konkrete 4
Manifestation dieses Vernunftgebrauches. Mündigkeit manifestiere sich somit erneut in Hand- lungen und Verhalten. Mündigkeit ziele nach Kant ferner auf die Gesellschaft als Ganzes und nicht lediglich auf das Verhalten Einzelner. Mündigkeit sei somit ein soziales Phänomen. Schließlich sollte Mündigkeit nicht nur auf politische Sphären, sondern auch auf die Arbeitswelt und soziale Beziehungen bezogen werden. Dennoch besitze die Mündigkeit, insbesondere die Vorstellung des mündigen Bürgers, eine starke politische Konnotation. 2.2 Annäherungen an die Digitale Mündigkeit Der Begriff der Digitalen Mündigkeit wird in der Literatur entweder nicht spezifisch definiert (siehe z. B. Petsche and Simon (2015)) oder mit nur wenigen spezifischen Fähigkeiten in Ver- bindung gesetzt, so beispielsweise die Fähigkeit, „Informationen und Meinungen kritisch zu hinterfragen und sich selbständig ein Urteil zu bilden“ (Schröder, 2010, p. 124). In der deutsch- sprachigen Literatur finden sich dagegen thematisch verwandte Konzepte wie die Digitale Sou- veränität (Baumann, 2015; Boberach et al., 2013; Friedrichsen & Bisa, 2016) oder die digitale Selbstbestimmtheit (Müller, Stecher, Dietrich, Wolf, et al., 2016). Boberach et al. (2013) bezeichnen den souveränen Einsatz von Informations- und Kommunika- tionstechnik (IKT) als eine wesentliche Voraussetzung für den mündigen, digital-souveränen Bürger. Digital Souveräne2 zeichnen sich durch ausreichend inhaltliches Wissen und technische Kompetenzen aus. Hierzu zählen die Autoren den Umgang mit Programmen wie Word und Excel oder Geräten wie Druckern oder Scannern. Inhaltlich sind digital Souveräne in der Lage, Internetrecherchen durchzuführen, Geldbeträge zu überweisen, Webanwendungen zu gestal- ten, soziale Netzwerke zu verwenden, E-Mails zu schreiben und elektronische Tools wie etwa ELSTER zu verwenden. Vorgelagert ist die Medienkompetenz, mit der nicht primär das Erlangen technischer Programmierkenntnisse verbunden ist, sondern vielmehr das „Erlernen, Verstehen und Erkennen der Vielfältigkeit der Nutzung des Einsatzes und der Weiterentwicklung digitaler Medien“ (Boberach et al., 2013, p. 37). 2 Von der digitalen Souveränität, die sich auf Bürger bezieht, ist von einer Begriffsverwendung der digitalen Sou- veränität oder technologischen Souveränität zu unterscheiden, die den Schwerpunkt auf Aspekte der Sicherheit und vertrauenswürdigen Infrastruktur legt (BITKOM, 2015). 5
Nach Müller, Stecher, Dietrich, Wolf, et al. (2016, p. 7) benötigt die digitale Gesellschaft digital selbstbestimmte Bürger, „die eigenverantwortlich mit den Produkten, Geräten und Technolo- gien der heutigen Zeit umgehen können (Kompetenz) und sich proaktiv mit den Vorteilen und möglichen Risiken der Nutzung auseinandersetzen (Offenheit). Weitere Voraussetzungen für den Weg in die digitale Welt sind der digitale Zugang und eine möglichst vielfältige Nutzung verschiedener Produkte und Dienste.“3 Eine breite Verwendung erfährt in der Literatur zudem das Konzept der Literacy, sprich konkre- ter Fähigkeiten im Hinblick auf die IKT-Nutzung. Im Folgenden wird dieses Konzept genauer vorgestellt und mit weiteren Begriffen, wie Skills und Competencies, in Zusammenhang ge- bracht. Zuletzt wird der Begriff der Digital Citizenship eingeführt. 2.2.1 Literacies Literacy beschreibt ursprünglich die Befähigung zum Umgang mit signifikanter Symbolik, in ei- nem weiteren Sinne mit kulturellen Artefakten und im weitesten Sinne auch die Beherrschung von Kulturtechniken. Entsprechend finden sich in der Literatur zahlreiche Ausprägungen (Bawden, 2001), die zuweilen synonym verwendet werden (Wittenbrink & Ausserhofe, 2013). Im Folgenden werden ein Überblick über diese unterschiedlichen Konstrukte gegeben und ein Eindruck der vielfältigen Sichtweisen, die teils aus der Zivilgesellschaft, teils aus Politik und Ver- waltung oder aus gänzlich unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entstammen, ver- mittelt. Wittenbrink and Ausserhofe (2013) weisen darauf hin, dass „Web Literacy“, „Digital Literacy“, „Network Literacy“ und „Medienkompetenz“ oftmals synonym gebraucht werden. Sie selbst ziehen jedoch den Ausdruck der Web Literacies vor, um Fähigkeiten zu beschreiben, die an die spezifischen Eigenschaften des WWW gebunden sind. Den Autoren zufolge bezeichnen Web Literacies das „Wissen und die praktischen Fähigkeiten, die man benötigt, um mit den Mitteln des Web zu kommunizieren“ (Wittenbrink & Ausserhofe, 2013, p. 226). Im Mittelpunkt steht zu wissen, wie und wo man etwas findet, wie man die eigene Rolle im Netzwerk gestaltet sowie 3 Die vier Dimensionen Zugang, Nutzung, Kompetenz und Offenheit sind Kern des Digital-Index der Initiative D21 (Müller, Stecher, Dietrich, Wolf, et al., 2016). 6
wie man das Netzwerk verändert. Ihrer Meinung nach sind Web Literacies Voraussetzung, da- mit eine Person an der „Netzkultur“ teilnehmen kann. Ala-Mutka (2011) definiert Internet Lite- racy und Network Literacy, die ihr zufolge häufig im Sinne einer Digital Literacy gebraucht wer- den, als eine Gruppe von Wissensgebieten und Fähigkeiten, die zusammengefasst werden als Kompetenzen zum Managen und Profitieren von der enormen Masse an Informationen und Ressourcen im Internet. Vereinfacht dargestellt meint Internet Literacy die Befähigung zur Nut- zung des Internets. Internet Literacy in Verbindung mit Computer Literacy, d. h. der Befähigung zur Nutzung von Computern, ergibt in Summe die Digital Literacy (Brandtweiner, Donat & Kerschbaum, 2010). Für Bawden (2001) umfassen Digital Literacies technische Fähigkeiten sowie kognitive und so- zio-emotionale Aspekte. Hierzu zählt er u. a. 1. das Wissen und die Fähigkeit, informierte Urteile über Informationen im Internet zu fällen, 2. das Lesen und Verstehen von Informationen im Internet, 3. die Nutzung unterschiedlicher Quellen, 4. die Fähigkeit, Recherchen, beispielsweise durch Online-Suchmaschinen, durchzuführen, 5. die Nutzung von Informationsfiltern, 6. das Bewusstsein für andere Nutzer und für die Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten, um The- men zu diskutieren und gemeinsam zu lösen sowie 7. einen selbstbewussten Umgang im Ver- öffentlichen von Informationen. Schließlich definiert die Europäische Kommission Digital Liter- acy als „confident, critical and creative use of ICT to achieve goals related to work, employabil- ity, learning, leisure, inclusion and/or participation in society“ (Ferrari, 2014, p. 2). Laut der UNESCO (2008, p. 6f.) stellt der Zugang zu Informationen ein Grundrecht dar, das den- jenigen verwehrt bleibt, die keinen Zugang zu digitalen Medien besitzen. Aber ohne Skills, die es zur Nutzung dieser Technologien braucht, entsteht eine weitaus größere Teilung: Der Infor- mation Literacy Divide. Information Literacy wird definiert als die Fähigkeit von Bürgern, Infor- mationsbedarfe zu erkennen, die Qualität von Informationen zu bewerten, Informationen spei- chern und abrufen zu können, Informationen effektiv und ethisch korrekt zu verwenden sowie Information zu nutzen, um Wissen zu schaffen und zu kommunizieren. Der kritische Umgang mit Informationen, insbesondere mit großen Mengen, wird jedoch nicht nur mit dem Begriff der Information Literacy beschrieben, sondern auch mit dem der bereits genannten Medienkompetenz beziehungsweise der Media Literacy, einer Verbindung aus In- formation Literacy und der Befähigung zur kritischen Reflektion sozialer Zusammenhänge der 7
Mediennutzung (Livingstone, 2004; Gerjets & Hellenthal-Schorr, 2008). Die Europäsche Kommission (2009, p. 10) definiert Medienkompetenz als „die Fähigkeit, die Medien zu nutzen, die verschiedenen Aspekte der Medien und Medieninhalte zu verstehen und kritisch zu bewer- ten sowie selbst in vielfältigen Kontexten zu kommunizieren.“ Weitere Fähigkeiten, die in der Literatur dem Begriff der Medienkompetenz zugeordnet werden, sind Schaffung des Zugangs zu Medien, Verstehen der Eigenschaften und Möglichkeiten sowie Gefahren von Medien, Be- teiligung an der Erstellung und Verbreitung von Medieninhalten, insbesondere in sozialen Me- dien, Auswählen und Nutzen von Medien, Nutzen von Medien auf verschiedenen Plattformen, Verstehen und Bewerten von Medieninhalten sowie Bewerten der Ernsthaftigkeit und Echtheit von Medieninhalten (Ala-Mutka, 2011). Ein weiteres Literacy-Konzept, welches sich in der Literatur finden lässt, ist das der Code Lite- racy. Nach Rushkoff (2012) stellen Programmierkenntnisse eine wichtige Voraussetzung für die Partizipation in der digitalen Welt dar. Denn erst durch ein Grundverständnis für Programmier- kenntnisse könne man die Grenzen von Software besser verstehen und einschätzen, inwieweit sie entweder technologisch bedingt oder vom Hersteller gewollt sind. Dies erscheint vor allem vor dem Hintergrund wichtig, da vermehrt Anwendungen und Geräte genutzt werden, die nach den Regeln anderer funktionieren und die nicht beeinflusst werden können. (Europäisches Parlament & Europäischer Rat, 2006) bewerten die Computerkompetenz im All- gemeinen als eine Schlüsselkompetenz, mit der junge Menschen ausgestattet sein sollten. Be- reits 2006 wurde ein europäischer Referenzrahmen entwickelt, der sich an politische Entschei- dungsträger, Bildungs- und Ausbildungsträger, Sozialpartner und die Lernenden selbst richtet. Hierin wird Computerkompetenz als „die sichere und kritische Anwendung der Technologien der Informationsgesellschaft (TIG) für Arbeit, Freizeit und Kommunikation“ definiert. Im Detail wird beschrieben, dass die Computerkompetenz ein solides Verständnis und Kenntnisse der Art, Aufgaben und Möglichkeiten der TIG erfordern und unterstützt werden durch Grundkennt- nisse der IKT, wie etwa der „Benutzung von Computern, um Informationen abzufragen, zu be- werten, zu speichern, zu produzieren, zu präsentieren und auszutauschen, über Internet zu kommunizieren und an Kooperationsnetzen teilzunehmen.“ Neben der Verwendung der wich- tigsten Anwendungen zur Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und dergleichen, ist vor allem das „Verständnis der Chancen und potentiellen Gefahren, die das Internet und die Kommuni- 8
kation über elektronische Medien (E-Mail, Netzanwendungen) für Arbeit, Freizeit, Informati- onsaustausch und Kooperationsnetze, Lernen und Forschung bieten“ ein wichtiger Bestandteil der Computerkompetenz. Denn die „Nutzung der TIG erfordert eine kritische und reflektie- rende Einstellung gegenüber den verfügbaren Informationen und eine verantwortungsvolle Nutzung der interaktiven Medien. Das Interesse daran, sich in Gemeinschaften und Netzen für kulturelle, soziale und/oder berufliche Zwecke zu engagieren, fördert ebenfalls diese Kompe- tenz“ (Europäisches Parlament & Europäischer Rat, 2006, p. 16). Einen Überblick über die unterschiedlichen Konzepte und ihre Nähe zueinander gibt Abbildung 1: Das Verhältnis von Digital Literacy zu verwandten Konzepten Abbildung 1: Das Verhältnis von Digital Literacy zu verwandten Konzepten Quelle: Ala-Mutka (2011, p. 30) 9
Weitere Beispiele für in der Literatur diskutierte Literacies sind: „Technological Literacy“, die Fähigkeit zur Aneignung und Nutzung von Technologien (Cunningham, 2011), „Privacy Literacy“, die Fähigkeit zum Schutz der Privatsphäre beim Umgang mit Infor- mationssystemen (IS) (Debatin, 2011; Trepte, Teutsch, Masur, Eicher, Fischer, Hennhö- fer, & Lind, 2015; Bartsch & Dienlin, 2016), „e-Literacy“, häufig eine Kombination der zuvor genannten Formen (Brandtweiner, Do- nat & Kerschbaum, 2010; Hallajow, 2016), auch „ICT Literacy“ (Mac Callum, Jeffrey & Kinshuk, 2014) und die „Digital Policy Literacy“, die Befähigung zur Erfassung und Navigation normativer Grund- lagen digitaler Medien(nutzung) (Shade & Sheperd, 2013). 2.2.2 Skills In der Literatur stellen Skills häufig ein Synonym der zuvor dargestellten Literacies dar (siehe z. B. Brandtweiner, Donat & Kerschbaum, 2010; Park, 2011). Beispielhaft können diverse For- mulierungen genannt werden wie Internet Skills, Digital Skills, New Media Skills, Web Skills, Online Skills, Online Social Networking Skills oder Web Searching Skills. In Abgrenzung zum Kon- zept der Skills lässt sich festhalten, dass Literacy ein stärker soziokulturell eingebettetes Kon- strukt darstellt, das über rein individuelle kognitive Befähigungen hinausreicht (Warschauer, 2002; Livingstone & Helsper, 2010). Literacy kann daher neben Skills auch Einstellungen umfas- sen (Poynton, 2005) und weist eher motivationale Dimensionen auf (Zylka, Christoph, Kroehne, Hartig & Goldhammer, 2015). In einigen Darstellungen stellen Skills einen Bestandteil der Lite- racy dar und adressieren insbesondere kognitive Kompetenzen im engeren Sinne. Gelegentlich sind auch Wortkombinationen zu finden wie beispielsweise literacy skills oder new media li- tarcy skills (Ahn, 2012). Van Dijk (2005) unterscheidet drei Ebenen von Skills: 1. „operational skills“, die Fähigkeit zur Bedienung von IS, 2. „informational skills“, die Fähigkeit zur Identifikation, Selektion und Verar- beitung von verfügbaren Daten und Informationen, und 3. „strategic skills“, die Fähigkeit, die 10
zuvor genannten Fähigkeiten für die intendierten Zwecke des Nutzers einzusetzen, also IS ziel- orientiert und effektiv zu nutzen. Van Deursen und van Dijk (2010) ergänzen die genannten Stufen um „formal skills“, die Fähigkeit, den digitalen medialen Raum zu navigieren. „Skillful- ness“ kann darüber hinaus als weiteres Differenzierungsmerkmal unterschiedlich komplexer Tätigkeiten, z. B. Nutzungsformen von IS, angesehen werden (Correa, 2010). 2.2.3 Competencies Wie Skills werden Competencies häufig synonym mit dem Begriff der Literacy verwendet. In manchen Fällen stellen sie ein Synonym zu Skills dar, insbesondere wenn die technische Nut- zungskompetenz im Vordergrund steht (Schumacher & Morahan-Martin, 2001). Ausprägungen von Competencies sind beispielsweise Media Competence (Aguaded-Goméz, Tirado-Morueta & Hernando-Gómez, 2014), ICT Competence (Butter, Pérez & Quintana, 2014), Digital Competence (Corneliussen & Prøitz, 2016), Communication Competence (Lee, Shah, & McLeod, 2013), Computer-mediated Communication Competence (Spitzberg, 2006) und Mobile Communication Competence (Campbell & Kwak, 2010). Competencies werden gelegentlich als eine Voraussetzung für Engagement im Sinne einer kon- struktiven Nutzung digitaler Medien und/oder (politischer) Partizipation beschrieben (Camp- bell & Kwak, 2010). Gerade Medien- und Kommunikationskompetenzen gelten als Element er- folgreicher Sozialisation und damit als Voraussetzung für die Herausbildung politischer Kompe- tenz beziehungsweise Mündigkeit: „Slowly turning away from the static functionalism that em- phasized the acquisition of skills and norms for the maintenance of a political system, this re- cent wave of research on youth socialization has shifted its focus onto how young citizens de- velop key capacities and motives that are necessary to participate meaningfully and effectively in the democratic processes“ (Lee et al., 2013, p. 2). 11
2.2.4 Digital Citizenship Ein verhältnismäßig wenig genutzter und bislang unzureichend definierter Begriff, der jedoch eine besondere Nähe zum Konzept der Digitalen Mündigkeit aufweist, ist jener der Digital Citi- zenship. Er beschreibt die wesentlichen Eigenschaften des digitalen Bürgers („Digital Citizen“) und weist somit eine normative Komponente auf. In der juristischen und teilweise der politologischen Forschung wird unter „Citizenship“ im engs- ten Sinne die formelle Staatsbürgerschaft verstanden. Citizenship erfordert ein Objekt, z. B. eine Gemeinde, Region, Nation, Welt oder aber das Netz. In der vor-digitalen Medienforschung wird Citizenship vor allem im stärker normativen Sinne eines zivilgesellschaftlich engagierten, politisch aktiven Bürgers untersucht. Informativer Medienkonsum wird ebenso wie Bildung als Voraussetzung für diese Form der Citizenship betrachtet (Callan, 2004; Ross, 2004). In diesem Kontext spielt das Konzept der „Civic Virtues“ eine zentrale Rolle. Sie beschreiben die normativen Anforderungen an einen „guten“ Bürger (Qualität des Verhaltens, Einstellungen) (Conger & McGraw, 2008; Theiss-Morse, 1993). Das Verständnis des guten Bürgers verändert sich, wenn sich der Charakter der sozialen Gemeinschaft ändert (von homogenen Nationalstaa- ten, zu multikulturellen Staaten, zu transnationalen Gebilden). Auch das Internet kann das Ideal der „Civic Virtues“ verändern (Swigger, 2013). Des Weiteren existiert im Kontext der Citizenship der Begriff der „Political Competence”: In ei- ner repräsentativen Demokratie konzentriert sich dieses Konzept auf die Bildung und Informa- tion der Bürger, also ihre Fähigkeit, Informationen zu identifizieren, kritisch zu evaluieren und im Rahmen einer Wahl anzuwenden (Ashworth & Bueno de Mesquita, 2014). Information ist die Voraussetzung für die Herausbildung zuverlässiger politischer Präferenzen (Druckman, 2001). Das Konzept der „Political Competence“ ist wohl am nächsten am deutschen Begriff der „politischen Mündigkeit“ als Fähigkeit zur politischen Teilhabe, zur Formulierung politischer In- teressen und zur politischen Selbstherrschaft/Autonomie (Juchler, 2005). Auch hier spielt die politische Urteilsfähigkeit eine zentrale Rolle, also die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, kritisch zu evaluieren und zur Anwendung zu bringen. Ähnlich ist der Begriff der „Political Cap- abilities“, die als Voraussetzung für gewisse normative Konzepte der Citizenship betrachtet werden (Coleman & Moss, 2016). 12
„Digital Citizenship“ als Konzept weist schließlich unterschiedliche Bedeutungen auf: Einerseits wird darunter ein häufiger Gebrauch digitaler Medien, andererseits ein effektiver, zielführen- der Einsatz digitaler Medien, etwa für ökonomische oder politische Zwecke, verstanden (Moss- berger, Tolbert & McNeal, 2008). Darüber hinaus wird der Begriff definiert als ein sicherer, ver- antwortungsvoller Umgang mit digitalen Medien, in einem weiteren Sinne als sozial verträgli- cher (d. h. respektvoller, zivilisierter und engagierter) Umgang mit digitalen Medien (Jones & Mitchell, 2016). O'Hara (2013, p. 92) schreibt: „Citizenship is a measure of status within a community; a citizen can take part in certain processes and decisions. Sometimes that’s a right, sometimes a respon- sibility. […] As a citizen, your responsibilities can include voting, being a good neighbour, toler- ating others with whom you disagree, abiding by legitimate decisions, not free-riding on others’ efforts, defending the community against infiltration or attack, and doing your best to make sure that the conditions of a decent society are fulfilled“ (2013, S. 92). Er sieht Bürger nach wie vor einem Staat (analogen Raum) zugehörig. Der digitale Raum schafft für diese jedoch neue Möglichkeiten. Damit sieht O’Hara durch die Möglichkeiten, die das Internet und die Digitali- sierung bieten, einen weit gefassten Begriff eines „Digital Citizen“: Er ist zum einen Teil des gesamten Internets, zum anderen ein Bürger des jeweiligen Staates. Vor allem für jüngere Bürger sind digitale Medien inzwischen ein essenzieller Bestandteil ihres zivilgesellschaftlichen und politischen Engagements (Bennett, Wells & Freelon, 2011). Hierzu gehört die Einbindung in Peer Networks, die Interaktivität, die Erzeugung von Inhalten im Netz oder die damit verbundene Selbstdarstellung. Besonders häufig wird ein Zusammenhang zwi- schen informativer IS-Nutzung, Engagement im Netz und Engagement außerhalb des Netzes gesehen (Scheufele & Nisbet, 2002; Boulianne, 2015). Im politischen Kontext wird dieser Zu- sammenhang möglicherweise mediiert durch politische Selbstwirksamkeit und politisches Ver- trauen (Ceron, 2015). Vowe (2014) sieht daher vor allem junge Menschen als „Digital Citizens“. Er meint damit „diejenigen, die sich fast vollständig über das Netz politisch informieren und über das Netz ihre Meinung kundtun, um gesellschaftliche Entscheidungen zu beeinflussen“ (Vowe, 2014). Als Teil der jungen Generation der „Digital Natives“ nutzen die „digitalen Bürger“ Smartphones, Laptops und Tablets zur politischen Informationssammlung und zum gesell- schaftlichen Austausch. Vowe (2014) schätzt ihre Anzahl auf mehr als 10 Millionen Menschen in Deutschland und sagt ihnen zukünftig bedeutende Schlüsselrollen in unserer Gesellschaft 13
voraus, nicht zuletzt, weil sie mehr Sprachkenntnisse im Englischen vorweisen und Sprachraum- grenzen dadurch weniger bindend für sie sind. Im Gegensatz zur Vorstellung von Vowe (2014) von fast ausschließlich jungen „digitalen Bürgern“ sieht O’Hara (2013) alle Bürger als digitale Bürger an: „We are all digital citizens, and we collectively and individually shape technology, just as it shapes us“ O'Hara (2013, p. 95). Bevor der im Rahmen dieser Studie – basierend auf den zuvor beschriebenen Konzepten – er- arbeitete Vorschlag für eine Definition und Operationalisierung der digitalen Mündigkeit vor- gestellt wird, wird im folgenden Kapitel das methodische Vorgehen der Studie kurz skizziert. 14
3 Methodisches Vorgehen Mit dem Ziel, Digitale Mündigkeit als eine Transformation des „mündigen Bürgers“ in die digi- tale Welt zu projizieren, wählt das Projekt einen explorativen Ansatz als Grundlage der Unter- suchung, um dem bisher unbekannten Phänomen fassbare Formen und Strukturen zu verlei- hen. Basierend auf einem gemeinsamen Brainstorming aller Projektteilnehmer wurde die Ziel- stellung entworfen, Digitale Mündigkeit als in Umfragen quantitativ messbares Konstrukt zu entwickeln. Potenziell flankierende, beeinflussende Faktoren sowie mögliche Konsequenzen Digitaler Mündigkeit sollen ebenso erhoben werden, um den begleitenden Kontext zu erfassen und Potenziale für mögliche Förderungen Digitaler Mündigkeit und Auswirkungen auf Indivi- duen, Staat und Gesellschaft greifbar zu machen. Um den gesetzten Zielen zu entsprechen, wurde eine umfassende Literaturanalyse wissenschaftlicher Veröffentlichungen durch alle Pro- jektteilnehmer durchgeführt. Auf dieser Basis wurde ein Konzept für Digitale Mündigkeit ent- worfen, das im Rahmen einer empirischen Befragung gemessen wurde und auf Grundlage der Ergebnisse näher untersucht und qualifiziert werden konnte. Zur Qualitätssicherung und -stei- gerung des neu entwickelten Konstrukts wurden Expertenworkshops und -befragungen durch- geführt, um das Wissen erfahrener Praktiker im Umfeld der politischen Meinungsbildung im Internet und der digitalen Verwaltung in die Untersuchung der Digitalen Mündigkeit einzube- ziehen. 3.1 Literaturanalyse Als Basis zur Entwicklung des Konstrukts der Digitalen Mündigkeit wurde eine strukturierte mul- tidisziplinäre Literaturanalyse durchgeführt, bei der insbesondere wissenschaftliche Ergebnisse aus den Bereichen der Politologie und der Wirtschaftsinformatik zu Erfolg und Akzeptanz von E-Government, informationstechnischen und sozialen Fähigkeiten und Kompetenzen von Bür- gern sowie zu Fragestellungen aus der Kommunikations- und Medienforschung betrachtet wur- den. Hierzu wurde auf deutschsprachige sowie internationale Veröffentlichungen zurückgegrif- fen. In relevanten wissenschaftlichen Datenbanken wurden u. a. Begriffe wie „Digitale Mündig- keit“, „Digitale Souveränität“, „Informationskompetenz“, „Computerkompetenz“, „Digitale Verantwortung“, „Digital Literacy“, „Web Literacy“, „Internet Responsibility“, „Welfare Tech- nology“, „Public Private Partnerships“, „Networked Governance“, „E-Government Success“, „E- Government Trust“, „Technology Trust“ und „User Centered Design“ zur Suche verwendet. 15
Bei gemeinsamen Projekttreffen wurden die Ergebnisse der Literaturanalysen vorgestellt und verglichen. Hierbei wurden sowohl Überschneidungen in den Suchergebnissen identifiziert als auch einmalige Treffer diskutiert. Anschließend wurde aus den relevanten Konstrukten eine Systematik gebildet, die die Konstrukte nach verschiedenen Interessengruppen differenziert und zuordnet. So wurden Voraussetzungen möglicher beteiligter Institutionen sowie denkbare Konsequenzen für Bürger und Gesellschaft unterschieden. Als zentrales Element ergab sich der Entwurf des Phänomens der Digitalen Mündigkeit als mehrdimensionaler oder mehrstufiger Katalog von Kompetenzen oder Fähigkeiten der Bürger („Skills“ oder „Literacy“), in diesem Fall als Nutzer digitaler Systeme. Als digitale Systeme in diesem Kontext können sowohl staatliche Angebote als auch weitere durch das Internet erreichbare Dienste und Plattformen definiert werden. Den technischen Zugang im privaten Bereich des Bürgers vorausgesetzt, sogenannte Onliner, verlangt dies gleichzeitig die technischen Kompetenzen der Bürger, sich in der digitalen Welt zu bewegen sowie mit den mentalen und intellektuellen Herausforderungen der digitalen Welt umgehen zu können. Die Bürger müssen über Wissen verfügen, wie man sich entspre- chend zu verhalten beziehungsweise wie man das Verhalten anderer einzuschätzen hat. Dies erlaubt es, am kollektiven Willensbildungsprozess digital teilzunehmen, was es in Form von Di- gitaler Mündigkeit erlaubt, am immer stärker online stattfindenden Leben teilzunehmen. 3.2 Expertenbefragung Als Teil einer deutschlandweiten Tagung zum Thema wissenschaftlicher Forschung im Bereich der öffentlichen Verwaltung wurde Ende 2015 ein Workshop zu Digitaler Mündigkeit mit etwa 20 Konferenzteilnehmern durchgeführt. Der Workshop lud die Teilnehmenden dazu ein, ihre Assoziationen zum Begriff der Digitalen Mündigkeit zu dokumentieren. Die Sichtweisen der Teilnehmenden wurden aggregiert und flossen in die konzipierende Phase des Projekts ein, also in die weitere Begriffsdefinition und -abgrenzung. Zentrale Assoziationen der Teilnehmenden mit dem Begriff der Digitalen Mündigkeit waren u. a. Rechte und Pflichten, Bildung, Informa- tion, Wissen, Datenspuren, Moral und Vorbilder, Erfahrung, Gleichberechtigung, Selbstbestim- mung, Handlungs- und Entscheidungsspielraum oder technische Unterstützung. Folgende Fä- higkeiten und Eigenschaften sollten auf den Bürger zutreffen: Digitaler Zugang, Fach- und Be- dienkompetenz, Möglichkeit der Authentifizierung, selbstbestimmtes Handeln, Vertrauen ins „Digitale“. Weiterhin wurden Begriffe wie Sicherheit, Anonymität vs. Identifikation, Tiefen der 16
Beteiligung, unterschiedliche Stufen der Nutzungskomplexität, Verantwortung für die Ein- nahme einer Position, Folgenabschätzung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit, klare Spielre- geln, digitale Abwicklung oder Integration von „Non-Linern“ assoziiert. Die Einschätzungen der Experten dienten als wichtige Orientierung und wurden zur Verfeinerung der durch die Litera- turrecherche gewonnenen Erkenntnisse und Entwürfe verwendet. 3.3 Operationalisierung und Fragebogen Aufbauend auf Operationalisierungen aus der empirischen Forschung sowie den Expertenein- schätzungen wurde ein Fragenkatalog auf Grundlage der durch die Literaturanalyse identifizier- ten fünf denkbaren Dimensionen des Konzepts der Digitalen Mündigkeit mit 30 Fragen erstellt. Auf Basis der strukturierten Literaturanalyse wurde im ersten Schritt der Fragebogen in engli- scher Sprache mit den Dimensionen Technical Literacy, Privacy Literacy, Information Literacy, Social Literacy und Civic Literacy aufgebaut, der nachfolgend ins Deutsche übersetzt wurde, um die Grundlage für die Erfassung der Digitalen Mündigkeit in Deutschland zu schaffen. Um mög- liche Voraussetzungen und Konsequenzen Digitaler Mündigkeit zu erfassen, sollten zudem die individuellen Einstellungen der Befragten erfasst werden, darunter das Vertrauen in die Regie- rung, Einstellungen zum Internet, Zufriedenheit mit E-Government, Fragen der Privatsphäre oder Vertrauen im Allgemeinen. Neben üblichen demographischen Angaben der Studienteil- nehmer waren typische Verhaltensweisen der Befragten von Interesse, die in Zusammenhang mit Digitaler Mündigkeit eines Bürgers stehen könnten, wie die Nutzungshäufigkeit von digita- len Geräten, dem Internet, politischer Beteiligung in online-basierten Umgebungen sowie Er- fahrungen in der Nutzung von E-Government-Angeboten. 3.4 Empirische Erhebung Mit dem Ziel, die aktuelle Ausprägung der Digitalen Mündigkeit in der deutschen Bevölkerung empirisch zu erheben, wurden im Juni 2016 1.044 repräsentativ ausgesuchte deutsche Inter- netnutzer ab 16 Jahren im Rahmen einer online durchgeführten Studie befragt. Die Stichprobe der Befragten wurde nach bevölkerungsäquivalenten Quotierungen auf Alter, Geschlecht, Bil- dung und Bundesland ausgesucht. Als Anreiz erhielten die Teilnehmer einen geringen monetä- ren Betrag. In der erhobenen Stichprobe finden sich 51% weibliche Teilnehmer. Der durch- schnittliche Befragte ist 1967 geboren, lebt in einem Haushalt mit 2,2 Personen, der über 17
Sie können auch lesen