Digitaler Stress nimmt zu - AUVA

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Digitaler Stress nimmt zu - AUVA
AUVA COVERSTORY

Digitaler
Stress
nimmt zu
Die ständige Erreichbarkeit via Smartphone und
das Arbeiten, wo der Laptop gerade Platz hat, sind
keine neuen Phänomene. Vermehrtes Homeoffce
macht die Belastungen aber neuerlich deutlich.

D
         ie Nutzung und Allge-           lichkeit und ihr Zusammenhang         tive Konsequenzen mit sich bringt:
         genwärtigkeit    digitaler      mit digitalem Stress.                 emotionale Erschöpfung, weniger
         Technologien ist so aus-                                              Zufriedenheit mit dem Job, gene-
geprägt wie nie zuvor. Die Ergeb-        Jüngere leiden häufger                reller Job-Stress, reduzierte Benutz-
nisse einer neuen D-A-CH-Studie          Eine Analyse der Ergebnisse zeigt,    erzufriedenheit, geschwächte men-
sind daher kaum überraschend:            dass digitaler Stress im deutsch-     tale Gesundheit und ausgeprägtere
Digitaler Stress nimmt in unseren        sprachigen Raum ein bedeut-           depressive Symptome werden von
Arbeits- und Lebenswelten eine           sames Phänomen ist, das mit nega-     den Befragten in der einen oder
immer zentralere Rolle ein. Die          tiven Konsequenzen einhergeht,        anderen Form beschrieben“, so
Studie der Fachhochschule Ober-          wie der Reduktion von Arbeits-        Prof. Dr. René Riedl, Professor für
österreich wurde unter Beteiligung       zufriedenheit, mentaler Gesund-       Digital Business und Innovation
der Universität Linz und der Uni-        heit und Innovationsklima. Den        an der FH Oberösterreich, assozi-
versität Bonn mit 3.333 Teilneh-         größten digitalen Stress erzeugen     ierter Universitätsprofessor an der
mern durchgeführt. Im Fokus der          eine gestörte Work-Life-Balance,      Universität Linz und wissenschaft-
Untersuchung standen die Konse-          sozialer Druck in der Kommuni-        licher Direktor der Neuro-Infor-
quenzen von digitalem Stress am          kation und die mangelnde Nütz-        mation-Systems Society. Er hat
Arbeitsplatz sowie personenbezo-         lichkeit von digitalen Technolo-      die Studie gemeinsam mit seinem
gene Eigenschaften wie etwa Alter,       gien. „Die Studie zeigt zudem, dass   Forschungsteam an der FH Ober-
Geschlecht, Bildung und Persön-          digitaler Stress verschiedene nega-   österreich und Prof. Dr. Martin

10 12/2020 www.alle-achtung.at
Digitaler Stress nimmt zu - AUVA
Im Gespräch mit …
                                                                                                                                                … Prof. Dr. René Riedl,
                                                                                                                                                Professor für Digital
                                                                                                                                                Business und Innovation,
                                                                                                                                                FH Oberösterreich und

                                                                                         © KERRIEPHOTOGRAPHY.AT
                                                                                                                                                wissenschaftlicher Direktor
                                                                                                                                                der Neuro- Information-
                                                                                                                                                Systems Society

      Großen digitalen Stress erzeugt                                                                             Informationen zu verbreiten, ohne moderne Kommunikati-
                                                                                                                  onstechnologien zu nutzen, ist undenkbar. Sie bezeichnen
      eine gestörte Work-Life-Balance                                                                             das als „Misere“ – warum?
      und die mangelnde Nützlichkeit                                                                              Manager treffen Entscheidungen, dafür brauchen sie Informationen.
         von digitalen Technologien.                                                                              Mitarbeiter erledigen Aufgaben, auch dafür brauchen sie Informationen.
                                                                                                                  Damit Informationen dorthin gelangt, wo sie gebraucht wird, werden
                                                                                                                  computerbasierte Systeme eingesetzt. Das Problem, also die Misere,
                                                                                                                  dabei ist, dass sich das Angebot nicht mit der Nachfrage deckt. Es man-
                                                                                                                  gelt an Usability und Informationsqualität. Software ist nicht automatisch
                                                                                                                  benutzerfreundlich und müsste – so steht es auch im ArbeitnehmerIn-
                                                                                                                  nenschutzgesetz – dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der Benutzer
                                                                                                                  angepasst werden können. Die Grundsätze der Ergonomie sind auf die
                                                                                                                  Informationsverarbeitung anzuwenden. Wann haben Sie das letzte Mal
                                                                                                                  online etwas gesucht und nicht gefunden? Das führt dann rasch zu Unzu-
                                                                                                                  friedenheit, Leistungsdruck und Stress.
                                                              © ALPHASPIRIT/ADOBESTOCK

                                                                                                                  Können wir digitalem Stress überhaupt noch entkommen
                                                                                                                  oder verlieren wir dann – als Gesellschaft, aber auch als Ein-
                                                                                                                  zelperson – den Anschluss in Wirtschaft, Bildung oder vielen
                                                                                                                  anderen Lebensbereichen?
                                                                                                                  Im Jahr 1986 formulierte der US-amerikanische Technikhistoriker Melvin
                                                                                                                  Kranzberg die sechs „Kranzbergschen Technologiegesetze“. Das erste
                                                                                                                  Gesetz lautet: „Technologie ist weder gut noch böse, noch ist sie neutral.“
Reuter, Professor für Psychologie     Jüngere Menschen
                                                                                                                  Wenn wir uns in Wissenschaft und Praxis nicht noch mehr anstrengen
und Leiter der Abteilung Diferen-     fühlen sich häufger
                                                                                                                  als bisher, könnte in nicht allzu langer Zeit unsere Überzeugung soweit
                                      durch digitale Medien
tielle & Biologische Psychologie                                                                                  gefestigt sein, dass eine Umformulierung des Gesetzes notwendig wird.
                                      gestresst.
an der Universität Bonn, durchge-                                                                                 Doch es kann nicht das Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft sein, eines
führt.                                                                                                            Tages mit Sicherheit feststellen zu müssen, dass digitale Technologien
   Weiters zeigen die Ergebnisse,                                                                                 „böse“ sind. Die Maxime ist daher, keinesfalls nach immer noch mehr
                                                                                                                  technologischer Durchdringung in Wirtschaft und Gesellschaft zu streben.
dass auch Geschlecht und Alter
                                                                                                                  Vielmehr sollten wir die Fähigkeit entwickeln, jene Situationen zu un-
einen statistisch signifkanten                                                                                    terscheiden, in denen Technologie „Freund“ und wann sie „Feind“ ist.
Zusammenhang mit digitalem                                                                                        Diese Fähigkeit wird dabei helfen, den digitalen Stress zu reduzieren. Das
Stressempfnden aufweisen. Die                                                                                     Nutzenpotenzial digitaler Technologien auszuschöpfen setzt voraus, das
Studie macht deutlich, dass jüngere                                                                               von ihnen ausgehende Stresspotenzial zu erkennen und diesem wirksam
Menschen tendenziell stärker von                                                                                  zu begegnen. Ein bewusster Umgang mit Informations- und Kommunika-
der Digitalisierung gestresst sind                                                                                tionstechnologien reduziert Stress. Diese Botschaft richtet sich nicht nur
als ältere und Männer mehr digi-                                                                                  an Nutzer, sondern auch an Verantwortungsträger in Unternehmen, Politik
                                                                                                                  und weiteren Bereichen, die über den Einsatz von digitalen Technologien
talen Stress empfnden als Frauen.
                                                                                                                  entscheiden.
„Diese Ergebnisse bedürfen aber
einer Replikation, bevor man def-                                                                                 Sie beschreiben die ständigen Unterbrechungen als den
nitive Schlüsse ziehen kann“, so                                                                                  hohen Preis der digitalen Welt. Wie oft passiert uns das im
Riedl.Auf der Basis einer Gesamt-                                                                                 Alltag tatsächlich?

                                                                                                                                                          ALLE!ACHTUNG! 12/2020 11
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AUVA COVERSTORY

                                                                                                                                    schau der Befunde argumentierte
                                                                                                                                    Reuter: „Es ist wichtig, dass Unter-
                                                                                                                                    nehmen erkennen, wie sehr digi-
                                                                                                                                    taler Stress die Produktivität beein-
                                                                                                                                    fusst und dass ein ausgeprägtes
                                                                                                                                    Innovationsklima einen wirksamen
                                                                                                                                    Beitrag zur Reduktion von digi-
                                                                                                                                    talem Stress leisten kann.

                                                                                                       © LASSEDESIGNEN/ADOBESTOCK
                                                                                                                                    Prozessautomatisierung
                                                                                                                                    erzeugt wenig Stress
                                                                                                                                    „Überraschend wenig Stress
                                                                                                                                    erzeugt bislang die Sorge, auf-
                                                                                                                                    grund von künstlicher Intelligenz,
                                                                                                                                    Automatisierung und Maschinen
     Wer in einem Büro arbeitet, wird rund 70 Mal pro Tag bei seiner           Gemeinsame Spiel­                                    den Job zu verlieren“, so Riedl.
Arbeit unterbrochen. Es dauert etwa 24 Minuten, bis wir wieder unsere          regeln können helfen,                                Wesentlich für die Wahrnehmung
ursprüngliche Tätigkeit aufnehmen, ein Viertel der Arbeit wird gar nicht       mit der E­Mail Flut                                  von digitalem Stress ist demnach
mehr wieder aufgenommen. Wir kommen in keinen Flow, also in einen              gelassen umzugehen.
Zustand, in dem wir uns voll und ganz in etwas vertiefen können und auch
                                                                                                                                    vor allem die Selbstwirksamkeit
besondere Zufriedenheit spüren. Eine deutsche Studie belegt, dass wir                                                               im Umgang mit digitalen Techno-
im Schnitt 53 Mal pro Tag das Smartphone entsperren. Bei 16 Stunden                                                                 logien. Je weniger man hier ein-
Wachphase ist das alle 11 Minuten! Was dieses ständige Unterbrechen                                                                 bringen kann, desto höher ist der
für den User, das Unternehmen und die ganze Volkswirtschaft bedeutet,                                                               digitale Stressfaktor. Eine weitere
ist klar: Die Produktivität sinkt erheblich und der Stress steigt rasant an.
                                                                               Ein ausgeprägtes Innovationsklima
Welche Tipps haben Sie gegen den täglichen E-Mail-Stress?                      in einem Unternehmen kann einen
Defnieren Sie Regeln, das ist das oberste Gebot – für sich oder für ein
Unternehmen. So kann man etwa klar festlegen, wer wann in Kopie ste-           wirksamen Beitrag zur Reduktion von
hen muss und dass in der Zeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr morgens keine          digitalem Stress leisten.
Mails zugestellt werden.
   Auch ist es empfehlenswert, abends keine Mails mehr zu beantworten,                                                              Erkenntnis der Studie ist außerdem,
das bringt ihr Gegenüber auch nicht in Zugzwang, zu antworten. So stellt                                                            dass auch ein höherer Bildungsgrad
sich eine E-Mail-freie Zeit nach einigen Wochen „Übung“ automatisch von                                                             in der Tendenz zu Stressreduktion
selbst ein.
                                                                                                                                    beiträgt.Als wichtigster Stressfaktor
   Jeder kann für außerdem für sich selbst entscheiden, das Mailpro-
                                                                                                                                    kristallisierte sich in der Studie im
gramm nur für bestimmte Stunden pro Tag zu öffnen, außer es gibt
betriebliche Anforderungen, die eine Reaktion in Echtzeit erforderlich                                                              Übrigen das Gefühl von Men-
machen. Studien haben gezeigt, dass die beste Strategie ist, auf E-Mails                                                            schen heraus, dass digitale Techno-
zwei- bis viermal am Tag zu antworten. Andere widerlegen diese Sichtwei-                                                            logien ungewollte soziale Normen
se, weil es Menschen noch mehr stresst, gar nicht zu antworten und dann                                                             bewirken, zum Beispiel die Erwar-
auf einmal eine lange Liste unbeantworteter Mails zu sehen. Hier entschei-                                                          tung, dass E-Mails rasch beant-
det auch die Persönlichkeit, welche Strategie zielführend ist.                                                                      wortet werden.                      n

Welche Tipps haben Sie für Heavy-Smartphone-User?
• Smartphone-freie Räume und Zeit schaffen, etwa im Schlafzimmer,                                                                   Buchtipp
  beim Essen oder beim Spazierengehen.
• Wickeln Sie nicht alle Dienste über ihr Smartphone ab. Wenn zum                                                                   R. Riedl, Digitaler Stress: Wie er
  Beispiel der Wecker am Smartphone läutet, ist man schon frühmorgens                                                               uns kaputt macht und was wir
  mit allen Nachrichten am Mobilgerät konfrontiert.                                                                                 dagegen tun können. Linde Verlag,
• Nutzen Sie den Browser, um aktiv Informationen zu suchen, damit                                                                   2020, ISBN 9783709306666
  vermeiden Sie, dass Ihnen Apps ständig Push-Nachrichten senden.
• Sprechen Sie bei Kommunikationspartnern an, dass Sie nicht immer                                                                  L. Weaver, Die Alltagslast
  und ständig alles beantworten, weil dadurch ungestörtes Arbeiten nicht                                                            abwerfen. Die Ursachen von
  möglich ist.                                                                                                                      Stress und Überlastung erkennen
• Wenn nichts hilft – verwenden Sie Digital-Detox-Apps. Das klingt zwar                                                             und zu neuer Leichtigkeit fnden.
  paradox, doch sie können helfen, Ihr Nutzungsverhalten aufzuzeichnen                                                              Trias Verlag, 2020,
  und die Zeitfresser so deutlich zu machen.                            n                                                           ISBN 978-3-432-11243-5

12 12/2020 www.alle-achtung.at
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