Editorial: Vergessenes Land. Perspektiven auf rurale Entwicklung - Prokla
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PROKLA Bernd Belina • Andreas Kallert 204 |Mießner • Michael 51. Jahrgang | Nr. 3Naumann • Matthias | September 2021 | S. 400-414 https://doi.org/10.32387/prokla.v51i204.1961 Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann Editorial: Vergessenes Land. Perspektiven auf rurale Entwicklung V ergessenes Land? Angesichts aktu eller Debatten um Mietenwahnsinn und Gentrifizierung, der Konzentrati auch Wege aus der Verabsolutierung der Kategorien Stadt und Land gewie sen (ohne bestehende Unterschiede zu on des (Finanz-)Kapitals und mit ihr negieren), indem sie beide konsequent von Kontrollfunktionen in Global Ci als aufeinander verwiesene soziale Ver ties, der Bedeutung des Urbanen für hältnisse und nicht als feststehende Kultur und Innovation ebenso wie für Siedlungs- und Raumtypen begreifen. politische Konflikte und soziale Bewe Thematisch befassen sie sich etwa in gungen wurde und wird das Land häu tensiv mit der Landwirtschaft, der zu fig vergessen – daher der Titel dieses ihrer Zeit dominierenden Wirtschafts Heftes. Dabei leben laut dem Thünen- form auf dem Land. Verstreut über zahl Institut in Deutschland 57 Prozent der reiche Schriften diskutieren sie Fragen Bevölkerung in ländlichen Räumen, die der Politischen Ökonomie der Grund 91 Prozent der Fläche des Bundesgebie rente, die Marx fast ausschließlich in tes ausmachen (Küpper 2016). Bezug auf die Landwirtschaft erörtert Im Folgenden umreißen wir erstens (MEW 25: Kap. 37-47; vgl. Stützle 2018), schlaglichtartig die Diskussion um das des gesellschaftlichen Stoffwechselpro Land bei Marx und Engels sowie in der zesses des Ackerbaus, der in kapitalis kritischen Tradition. Zweitens erläutern tischer Form »die Springquellen alles wir einige Herausforderungen ländli Reichtums untergräbt: die Erde und cher Räume mit Fokus auf Deutschland. den Arbeiter« (MEW 23: 530) und mit Drittens gehen wir auf aktuelle Positi der Agrarchemie zugleich die »mate onen ein, die progressive Perspektiven riellen Voraussetzungen einer neuen, auf das Land entwerfen. höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf Grund 1. Das Land in kritischen Theorie lage ihrer gegensätzlich ausgearbeite ten Gestalten [schafft]« (MEW 23: 528; traditionen: Schlaglichter von vgl. Jacobs 1997), des »Bauernlegens« Marx bis heute in Deutschland nach dem Dreißigjäh Dass Marx und Engels das Land ver rigen Krieg (MEW 21: 238-247) und der gessen hätten, kann niemand ernst enclosures im Rahmen der »sogenann haft behaupten. Zugleich haben sie ten ursprünglichen Akkumulation« 400
Editorial (MEW 23: Kap. 24; vgl. Baumgartner gängige Gemeineigentum aufgrund der 1972) sowie der klassenmäßigen und Produktivkraftentwicklung aufgelöst politischen Position der Landbevöl werden musste. Denn die »Entwicklung kerung. Dieser traute Marx aufgrund der gesellschaftlichen Produktion und ihrer »Isolierung und Vereinzelung« der freien Individualität des Arbeiters (MEW 3: 50) im Hinblick auf organisier selbst […] blüht nur, schnellt nur ihre ten Klassenkampf eher wenig zu. Seine ganze Energie, erobert nur die adäquate Charakterisierung der an sich existie klassische Form, wo der Arbeiter freier renden Klasse der französischen Par Privateigentümer seiner von ihm selbst zellenbauern im 18. Brumaire als »ein gehandhabten Arbeitsbedingungen ist, fache Addition gleichnamiger Größen der Bauer des Ackers, den er bestellt, der – wie etwa ein Sack von Kartoffeln« Handwerker des Instruments, worauf (MEW 8: 198) – verdeutlicht, dass ihm er als Virtuose spielt« (MEW 23: 789). ihre Konstituierung zur Klasse für sich Diese »historische Unvermeidlichkeit« unwahrscheinlich erscheint. will Marx später »ausdrücklich auf die In diesem Zusammenhang ist auch ›Länder Westeuropas‹ beschränkt« wissen die Formulierung vom »Idiotismus des (MEW 19: 396; Herv. i. O.), wo sich der Landlebens« (MEW 4: 466) zu sehen, Kapitalismus zuerst herausbildete. In die immer wieder bemüht wird, um Ländern, die erst später und über den Marx und Engels Ressentiments ge »Weltmarkt [mit der] kapitalistische[n] genüber dem Landvolk nachzusagen, Produktion« (ebd.: 398) verbunden die Williams (2016 [1973]: 51f.) unter wurden, bestehe sie nicht. Dort könne Bezug auf diese Formulierung vielen die Form des »kommunistischen Ei Marxist*innen nach Marx vorwirft. An gentums« (ebd.) der Dorfgemeinschaft der entsprechenden Stelle im Manifest gerettet werden. werden die Fortschritte des Kapitalis Der »Idiotismus des Landlebens« mus gefeiert, die den Sozialismus vor (MEW 4: 466) wurzelt also in der Ei bereiten, u.a. indem die Konzentration gentumsordnung auf dem Land und der vom Land Vertriebenen diese als drückt sich in Isolierung, Konkurrenz Arbeiter*innen in den Städten ihrer und im Egoismus der Kleinbäuer*innen Isolierung entreißt und ihre Organi aus, für die es kaum Anlass zum soli sierung vorantreibt. Die Vereinzelung darischen Miteinander gibt. Auf dem auf dem Land macht den Menschen Land herrscht ein anderer »soziale[r] dort zum »bornierten Landtier« (MEW Krieg, der Krieg Aller gegen Alle« 3: 50), während »die Tatsache der Kon (MEW 2: 257) als der, den Engels im zentration der Bevölkerung, der Pro Kapitel »Die großen Städte« in Zur duktionsinstrumente, des Kapitals, der Lage der Arbeitenden Klasse in England Genüsse, der Bedürfnisse« (ebd.: 50) ihn beschreibt, weil die Bäuer*innen, an »zum bornierten Stadttier« (ebd.) wer ders als die Proletarier*innen, über ihr den lässt. Die Isolierung auf dem Land eigenes Produktionsmittel Land verfü liegt wesentlich am kleinbäuerlichen gen. Im Gegensatz zur konservativen Privateigentum am Produktionsmit Großstadtkritik in Wissenschaft und tel Land, das entstand, weil das vorher Publizistik, die das Idyll des Landle 401
Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann bens mit Naturnähe, Gemeinschaft und Marxist*innen und Linke im Globalen stabiler, oft als natürlich behaupteter Süden bis heute weiter intensiv mit der Ordnung feiert, begreifen Marx und Entwicklung der Landwirtschaft, zuneh Engels den Stadt-Land-Gegensatz und mend im Kontext von Globalisierung das Elend der subalternen Klassen in und Neoliberalisierung und oft ver beiden Siedlungstypen als Ausdruck bunden mit ökologischen Fragen sowie gesellschaftlicher Prozesse: »Der Ge Geschlechterverhältnissen (vgl. in der gensatz zwischen Stadt und Land kann PROKLA: Aithal 1997; Guha/Martinez- nur innerhalb des Privateigentums Alier 1997). In subsistenztheoretischer existieren.« (MEW 3: 50) Mit diesem Perspektive, wie dem »Bielefelder An Gegensatz geht »[d]ie größte Teilung satz« von Veronika Bennholdt-Thom der materiellen und geistigen Arbeit« sen, Maria Mies und Claudia von Werl (ebd.) einher, die »auch gefasst wer hof (vgl. Redaktion PROKLA u.a. 2019: den [kann] als die Trennung von Ka 503ff.), wird etwa nicht nur betont, dass pital und Grundeigentum« (ebd.). Ent überwiegend von Frauen betriebene tra scheidend sind die unterschiedlichen ditionelle Produktion zum Eigenbedarf Eigentums- und Klassenverhältnisse in auf dem Land den Kapitalismus ermög Stadt und Land, die aus unterschied licht und durch ihn ausgebeutet wird, lichen Produktionsverhältnissen her sondern zugleich auch, dass der Sub rühren. Folglich zielen Marx und En sistenzorientierung ein »utopische[s] gels auf die »Aufhebung des Gegen Potenzial« (Baier 2008: 78) innewohnt satzes von Stadt und Land« (ebd.). Die und dass sie einen »möglichen Aus neunte der zehn Maßregeln, die »im gangspunkt für gegenwärtigen und zu Lauf der Bewegung über sich selbst künftigen Widerstand« (ebd.) darstellt. hinaustreiben und als Mittel zur Um Wie Lebensformen in der Stadt und wälzung der ganzen Produktionsweise auf dem Land zugleich in ihrer Unter unvermeidlich sind« (MEW 4: 481), die schiedlichkeit ernst genommen und wie sie am Ende des Manifests formulieren, sie dabei als Ausdruck derselben kapi lautet entsprechend: »Vereinigung des talistischen Verhältnisse verstanden Betriebs von Ackerbau und Industrie, werden können, beschäftigte zentrale Hinwirken auf die allmähliche Beseiti Vertreter*innen des westlichen Mar gung des Unterschieds von Stadt und xismus wie Adorno und Lefebvre. Bei Land.« (MEW 4: 481) den wurden und werden Ressentiments Aus dieser Grundperspektive wur gegen das Landleben vorgeworfen, was den in der marxistischen Tradition die jedoch nicht haltbar ist. So nutzt auch von Marx und Engels bearbeiteten The Adorno Formulierungen wie »Idiotie men je nach historischer Konjunktur des Landlebens«, allerdings – wie Marx und räumlichem Kontext unterschied und Engels – um »den Konkurrenzme lich stark weiterverfolgt und diver chanismus« zu kritisieren (Adorno 2016 sifiziert – und mitunter auch wieder [1951]: 29), und spricht von der »Pflicht vergessen. So befassten und befassen zur Entprovinzialisierung« (Adorno sich in agrarisch geprägten Situatio 1963: 46) sowie der Notwendigkeit der nen Autoren wie Lenin und Mao sowie »Entbarbarisierung des Landes« (Ador 402
Editorial no 1970: 98). Gemeint sind dabei stets Pariser Kommune von 1871 ebenso wie soziale Beziehungen (die ebenso von den Mai 1968 in Paris (Lefebvre 1969), der kapitalistischen Totalität überformt aber auch etwa das traditionelle Dorf sind wie jene der Stadt), die nicht mit fest. Dieses sei das »Beste« am ruralen dem Siedlungstyp Land zusammenfallen Leben, das es gilt, »wieder auferstehen müssen und die als Ideologie fortleben zu lassen« (Lefebvre 2016: 153). und als solche für autoritäre Positionen Auch die Politisierung der Landbe anschlussfähig sind (vgl. ausführlich Be völkerung in Zusammenhang mit ihrem lina 2021). Ganz ähnlich argumentiert Klassenstatus wird in spezifischen Kon Lefebvre, der die bäuerliche Wirklich junkturen diskutiert, prominent etwa keit ebenfalls durch ihre »Unterord von Gramsci (1967: 95ff.). Im Globalen nung unter Totalitäten (neue Struk Süden zeigt sich bis heute immer wie turen; kapitalistischer […] Weltmarkt der, dass es gerade ländliche und ag etc.)« (Lefebvre 1969: 191) und durch rarische (oft indigene und/oder von »Überbleibsel im ideologischen Bereich Frauen* geprägte) soziale Bewegungen (Überbleibsel von Agrarmythen, Folk sind, die herrschende Verhältnisse her lore und dergleichen) sowie im struktu ausfordern (vgl. Moyo/Yero 2005), was rellen (Dorf, bäuerliche Familie usw.)« Marx’ pessimistische Einschätzung zur (ebd.: 191f.; Herv. i. O.) gekennzeichnet Politisierung der Bäuer*innenschaft in sieht und zudem »ihre außerordentliche frage stellt. In der BRD-Linken hat mit Vielfalt« (ebd.: 176) betont. Auch seine massiven Bauernprotesten zu Beginn »Hypothese« von der »vollständigen Ur der 1970er-Jahre eine fast schon hekti banisierung der Gesellschaft« (Lefebvre sche Befassung mit Land und Landwirt 1970: 17) und der urbanen Revolution, schaft eingesetzt, um den geäußerten die den Kapitalismus überwinden und Unmut im Sinne des Klassenkampfes eine neue Gesellschaft mit neuen Men produktiv zu machen. Diese Debatte schen hervorbringen wird, negiert nicht wurde auch in der PROKLA geführt die Qualitäten des Landlebens. Das Ur (Baumgartner 1972; Baumgärtner 1973; bane ist auch für Lefebvre ein soziales Schultz 1976a, 1976b). Dabei wurde viel Verhältnis (und kein Siedlungstyp), das Energie aufgewandt, die Interessen der durch die Form der Zentralität geprägt Bäuer*innen und ihre Bündnisfähig ist, die das Aufeinandertreffen von Diffe keit zu eruieren, indem die Klassen renz und damit Begegnung, Politik und position unterschiedlicher Typen von die Möglichkeit des Neuen ermöglicht. Landwirt*innen heftig diskutiert wurde. Indem der Kapitalismus die Urbanisie Bewegung auf dem Land entstand dann rung vorantreibt, schafft er im Urbanen aber an anderer Stelle: ab 1971 in Form das Potenzial seiner Negation. Dabei der Jugendzentrumsbewegung »mit ca. kann die notwendige »Konzentration 1.200 Initiativen« auch und gerade jen von allem, was es auf der Welt, in der seits der Städte (Herrenknecht/Wohl Natur, im Kosmos gibt« (ebd.: 58; Herv. fahrt 1991: 23) sowie ab 1974 in der i. O.) nicht nur in der Stadt, sondern an Anti-Atombewegung in »Wyhl, später »jedem Punkt« (ebd.: 58) erfolgen. Als Brokdorf, Kalkar, Gorleben, Boxberg« solche Punkte interpretiert Lefebvre die (ebd.: 24). Theoretisiert wurde dies al 403
Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann lerdings weniger im Kontext des Stadt- kussion zum Umgang damit brachten Land-Gegensatzes, sondern unter den kritische Wissenschaftler*innen zwei Begriffen der »Provinz« (Enzensberger Aspekte ein: Zum einen erarbeitete der u.a. 1975; Herrenknecht 1977) sowie der Arbeitskreis arbeitsorientierte Regio »Ungleichzeitigkeit« (Bloch 1962). Da nalwissenschaft (1978) Vorschläge, wie bei wurde der erstere Begriff explizit den räumlichen Disparitäten zwischen positiv gewendet und mit letzterem auf Stadt und Land, aber auch zwischen die progressiven Vergesellschaftungs prosperierenden und strukturschwa formen verwiesen, die auf dem Land chen Industrieregionen, regionalpo zunehmend neben den und gegen die litisch begegnet werden könnte. Zu überkommen-bornierten entstanden. sammen mit dem DGB wurden etwa Auch an Marx’ und Engels’ Forde die Lenkung privater und öffentlicher rung der Überwindung des Stadt-Land- Investitionen in strukturschwache Gegensatzes haben marxistische und Räume bei gleichzeitiger Verhinderung weitere linke Debatten angeschlossen. »unerwünschte[r] Betriebsansiedlun In Deutschland erfolgte dies häufig in gen oder -erweiterungen […] in über Auseinandersetzung mit dem grund lasteten Ballungsräumen« (ebd.: 44) so gesetzlich fixierten Anspruch, »gleich wie die Einrichtung von »regional[en] wertige Lebensverhältnisse in allen Wirtschafts- und Sozialräten« (ebd.: 48) Teilräumen« (Art. 72 GG) zu schaffen, mit Vetorecht für die Vertreter*innen mit dessen Umsetzung der staatliche der Arbeitnehmer*innen und mit weit Apparat der Raumordnung und -pla reichenden Einflussmöglichkeiten auf nung betraut ist. Obschon der Begriff die Regionalplanung gefordert. Mithil der Gleichwertigkeit ein »leerer Signi fe von endogenen Entwicklungsstra fikant« ist, der mit sehr unterschied tegien sollte »eine Verbesserung der lichen politischen Inhalten gefüllt Bedingungen, unter denen die arbei werden kann, und die Raumordnung tende Bevölkerung in den verschiede und -planung über kaum Ressourcen nen Teilräumen des Bundesgebietes und damit Einfluss verfügt (Mießner existiert« (ebd.: 44), angestrebt wer 2017), gab und gibt es Versuche, in die den. Dieser Diagnose folgend wurden sem Rahmen räumlichen Disparitäten auch einige lokale gewerkschaftliche insgesamt und dabei auch dem Status Initiativen zur regionalen Wirtschafts- ländlicher Regionen als »Orte sozia und Strukturpolitik angestoßen, die ler Benachteiligung« (Barlösius/Neu aber in den Gewerkschaften durchaus 2007: 80) entgegenzuwirken. In den umstritten waren (Krumbein u.a. 2008: 1970er-Jahren erfolgte dies implizit in 21). Der zweite Aspekt zielte stärker auf Westdeutschland in Form einer regen eine theoretische Einordnung sowie kritischen regionalwissenschaftlichen eine allgemeine Kritik der deutschen Diskussion. Ausgangspunkt war die Raumordnungspolitik (bspw. Bruder/ Feststellung, dass sich die räumlichen Ellwein 1980). Sie arbeitete »einige ty Disparitäten mit fortschreitender kapi pische Züge […] staatlicher Tätigkei talistischer Entwicklung verstärkten. ten« heraus, die »den Erfordernissen In die regionalwissenschaftliche Dis des gesellschaftlichen Reproduktions 404
Editorial prozesses« (Väth 1980: 158) entspran um ländliche Idyllen (Halfacree 1996) gen, und machte deutlich, dass die oder die »Klassenkolonialisierung« Regionalpolitik an der »Aufrechter ländlicher Räume (Phillips 1993) the haltung« (Väth 1974: 218) regionaler matisiert werden. Disparitäten beteiligt ist. Der später in der PROKLA erschienene Beitrag 2. Ausgewählte aktuelle Heraus von Neil Brenner (1997) beleuchtete schließlich den Wandel der bundes forderungen ländlicher Räume republikanischen Raumordnungs- in Deutschland und Regionalpolitik vom Fordismus Vor dem Hintergrund der aufgezeigten zum Postfordismus als Reskalierung kritischen Theoriebildung beleuchten des staatlichen Raumes, bei dem die wir nun schlaglichtartig vier aktuelle nationalstaatliche Maßstabsebene an Herausforderungen ländlicher Räume Bedeutung verlor. Auffällig an den in Deutschland. Diese stehen für den regionalwissenschaftlichen Debatten gesellschaftlichen Kontext wie auch für der 1970er-Jahre ist, dass die Entwick Themen einer Kritischen Landforschung. lungsbedingungen ländlicher Räume nicht explizit im Fokus standen, son 2.1 Ländliche Immobilienmärkte dern Fragen ländlicher Entwicklung im Umbruch als Teil der Regionalentwicklung der Lange Zeit galten ländliche Räume als Bundesrepublik verhandelt wurden. Orte der wirtschaftlichen Stagnati Insgesamt ist festzustellen, dass die on, demografischer Schrumpfung und kritische Theoriebildung im Anschluss wachsenden Leerstands. Inzwischen er an Marx, Engels und die von ihnen fahren jedoch viele ländliche Regionen begründete Tradition im deutschspra wieder Zuwanderung und die Miet- und chigen Kontext seit den 1980er-Jahren Kaufpreise steigen erneut an (Rat der nur selten das Land thematisiert und Immobilienweisen 2020). Selbst in den sich verstärkt auf die Stadt fokussiert. als »stagnierend« klassifizierten länd Dank der Zeitschriften sub\urban, dérive lichen Kreisen Deutschlands sind die und anderer Initiativen entwickelt Kaufpreise für Eigentumswohnungen sich ein Diskussionskontext für Kriti zwischen 2018 und 2019 um 10 Prozent sche Stadtforschung, der für Kritische gestiegen, die Mietpreise um 3 Prozent Landforschung erst angestoßen wird (ebd.). Dies deutet darauf hin, dass über (Maschke u.a. 2021; Mießner/Naumann akkumuliertes Kapital nicht mehr nur 2019; Vorbrugg/Ouma 2020). Wichtige in die gebaute Umwelt von Großstäd Impulse kommen aus der englischspra ten, sondern auch in ländlichen Räu chigen Debatte, in der kritische Gesell men investiert wird. Solche immobili schaftstheorie auf die ungleiche Ent enwirtschaftlichen Aufwertungen sind wicklung ländlicher Räume bezogen für gewöhnlich Auslöser von Gentrifi (Cloke u.a. 2006; Halfacree 2007; Woods zierung. Ländliche Gentrifizierungspro 2010) und Themen wie die Kommodifi zesse wurden zwar in Deutschland bis zierung und Finanzialisierung ländli her kaum untersucht, sind aber inter cher Ressourcen (Ekers 2019), Diskurse national kein neues Phänomen (bspw. 405
Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann Phillips 1993). Neben den Kapitalinves meindegebietsreformen ausgedünnt titionsstrategien sind auch regionalpo (Henkel 2018). Das Resultat ist eine ins litische Entscheidungen (Darling 2005) gesamt schlechtere Ausstattung als in sowie die wiederentdeckte Attraktivi den Städten (für Hessen vgl. Kallert tät ländlicher Landschaften als »Idyl u.a. 2020: 55). Um dennoch die Auf len« (Halfacree 1996) durch die urbane rechterhaltung der Nahversorgung in Mittelschicht Ursachen ländlicher Gen ländlichen Räumen zu gewährleisten, trifizierung. Diese kann weitreichende werden Dorfläden neu belebt, die auch Folgen haben. So wird von Konflikten als soziale Orte – mit Lefebvre gespro zwischen bisherigen Bewohner*innen chen als Orte der Zentralität – eine und Zugezogenen berichtet, wobei es wichtige Rolle spielen (Neu 2018). Mit diese Gegenüberstellung zugleich zu bürgerschaftlichem Engagement ver hinterfragen gilt (Solana-Solana 2010). suchen Initiativen, dem Konzentrati Die mit der vermehrten Nachfrage nach onsdruck im Lebensmitteleinzelhandel Ferienhäusern, -wohnungen und Zweit und der Konkurrenz durch Online-Lie wohnsitzen häufig einhergehenden Im ferdienste zu begegnen und die Lücken mobilienpreissteigerungen bergen die zu füllen, die der Infrastrukturabbau Gefahr, dass sich die Wohnungsfrage hinterlässt (Haunstein 2019). Infra als bisher hauptsächlich städtisches strukturelle Beeinträchtigungen füh Phänomen auch auf ländliche Räume ren zu politischen Konflikten in länd ausweitet. lichen Räumen, in denen rechte Bewe gungen eine zunehmende Rolle spielen 2.2 Ländliche Infrastrukturen im (Naumann 2021). Doch es gibt auch Umbruch Beispiele dafür, dass Transformationen Die Infrastrukturversorgung stellt dünn von ländlichen Infrastrukturen mit besiedelte und strukturschwache länd emanzipatorischen Projekten verbun liche Räume vor besondere Heraus den werden können, etwa bei der Grün forderungen. Technische Infrastruktu dung von Energiegenossenschaften ren in ländlichen Räumen erfuhren oder solidarischer Nachbarschaftshilfe. einerseits einen Modernisierungsschub, etwa beim Ausbau des Anschlusses an 2.3 Austerität in ländlichen Kontexten zentrale Ver- und Entsorgungssysteme, Austeritätspolitiken verschärfen die ge wobei die Gebühren zum Teil deutlich nannten Herausforderungen räumlich über denen in Großstädten liegen (Nau ungleicher Entwicklung im Hinblick auf mann/Reichert-Schick 2012), aber auch ländliche Räume zusätzlich. Auch länd in Bezug auf Internetanbindung und liche Kommunen geraten immer mehr Mobilfunk. Andererseits ist die Versor unter Konsolidierungsdruck. Sie stehen gung mit letzteren in ländlichen Räu vor der Herausforderung, bei relativ ge men noch immer schlechter als in den ringen Nutzer*innenzahlen Infrastruk Städten. Zudem wurden der öffentliche turen zu erhalten bzw. zu modernisie Nahverkehr abgebaut, Schulen und Ge ren. Dabei laufen vor allem struktur- und sundheitseinrichtungen geschlossen finanzschwache Kommunen Gefahr, im und Verwaltungen im Rahmen der Ge interkommunalen Wettbewerb weiter 406
Editorial an Attraktivität für Unternehmen und (Förtner u.a. 2019). Dass die AfD dabei Bewohner*innen zu verlieren. Die po aber beispielsweise in einzelnen Ruhr litisch forcierte Verringerung öffentli gebietsstädten hohe Wahlergebnisse cher Schulden unter dem neoliberalen und in manchen ländlichen Gemeinden Narrativ der Generationengerechtigkeit niedrige verzeichnet, verweist darauf, geht dabei vielfach zulasten ärmerer dass es keinen eindeutigen Zusammen Gesellschaftsschichten (Eicker-Wolf hang zwischen Ländlichkeit und Erfol 2015). Arme Kommunen werden zwar gen des autoritären Populismus gibt. teilweise durch Teilentschuldungen Vielmehr tut ein genauer Blick darauf entlastet, allerdings oftmals unter der not, ob und wie allgemeine Prozesse Auflage von strikten Sparprogrammen. – wie Austerität und Infrastrukturab In einem solchen disziplinierenden An bau (vgl. Kallert/Dudek 2019) – sich in satz zeigt sich die Machtverschiebung ländlichen Räumen spezifisch auswir zugunsten des Finanzkapitals: »Sparen ken und wie sie bei unterschiedlichen ist Herrschen« (Esser/Fach 1983: 434). lokalen Kräfteverhältnissen und He Diese autoritäre und kontraproduktive gemonien, die auf räumlich ungleiche Form des Sparens weist »erzieherische ökonomische Entwicklung zurückgehen, Momente« (Scheller 2017: 46) gegenüber wahrgenommen werden (Belina 2017). stark verschuldeten Kommunen auf. Theoretisch macht das – erneut – not Die mittlerweile verfassungsrechtlich wendig, urbane und rurale Lebenswei institutionalisierte Schuldenbremse in sen als soziale Verhältnisse zu verste Bund und Ländern ist das dazugehörige, hen, die sich räumlich materialisieren wenn auch mittlerweile politisch stark (Förtner u.a. 2019). umstrittene Projekt, mit dem »Austeri Ziel einer Kritischen Landforschung tät qua Recht normalisiert« wird (Pet ist es zum einen, diese Herausforderun zold 2018: 271). Diese Politik blockiert gen zu adressieren. Zum anderen geht gerade in ländlichen Räumen mit ih es aber auch darum, gesellschaftliche ren spezifischen Infrastrukturbedarfen Alternativen und Utopien für ländliche dringend notwendige Investitionen, Räume zu entwickeln. erschwert die Erbringung freiwilliger kommunaler Leistungen und nimmt wachsende räumliche Ungleichheiten 3. Progressive Perspektiven billigend in Kauf. Aus aktuellen Debatten kritischer Sozi alwissenschaft skizzieren wir abschlie 2.4 Autoritärer Populismus in ßend zwei Perspektiven, die in der Tra ländlichen Räumen dition kritisch-theoretischer Ansätze die Zur neuen Aktualität der Unterschie im vorherigen Abschnitt dargestellten de politischer Einstellungen zwischen Herausforderungen angehen. Stadt und Land trägt maßgeblich der Aufstieg der AfD seit 2013 bei. Ihre 3.1 Das Recht auf Dorf Wahlerfolge zeigen auffällige räumli Henri Lefebvres (2016) Forderung nach che Muster: Neben dem Ost-West- ist einem »Recht auf Stadt« wird zuneh ein Land-Stadt-Gefälle zu beobachten mend auch auf ländliche Räume be 407
Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann zogen. Das ist nur konsequent, weil der sich am Manifesto for Progressive Ru- Lefebvre dieses »Recht« aus der oben ralism in an Urbanizing World orientiert genannten urbanen Revolution ablei (Pezzoli u.a. 2011). Diesen verstehen tet und dementsprechend Teilhabe und wir nicht als konkrete Handlungsemp Mitbestimmung, die kollektive Aneig fehlungen, sondern als einen Kompass nung von Raum sowie progressive Po (vgl. Wright 2017) hin zu einer sozial- litiken unabhängig vom Siedlungstyp ökologischen Transformation ländlicher einfordert. Anknüpfend an die Poten Räume. Hierfür müssen zum einen ziale, die Lefebvre in ländlichen Räu die speziellen Ausgangsbedingungen men sieht (s.o.), sowie an dessen Fokus ländlicher Räume – etwa hohe Infra auf Selbstverwaltung plädieren etwa strukturkosten aufgrund niedriger El Nour u.a. (2015) für ein »Recht auf Siedlungsdichte, Außenbeziehung zur Dorf« und betonen, dass progressive Stadt und zur Landesregierung oder die Politiken auf dem Land von den kon je eigene Konstellation politischer He kreten örtlichen Verhältnisse ausgehen gemonien eines jeden Dorfes – berück müssen – in ihrem Beispiel eines Dor sichtigt und die strukturellen Probleme fes im Libanon etwa von den komple ländlicher Räume wie etwa Unterfinan xen Landeigentumsstrukturen. Ähn zierung herausgearbeitet werden. Zum lich argumentiert Barraclough (2013), anderen gilt es, Visionen für progressive für die sich ein »Recht auf das Land« Regionalpolitiken zu skizzieren und an insbesondere darauf beziehen muss, bestehende Projekte anzuknüpfen. So dass Entscheidungen über rurale Ent identifizieren wir in Bezug auf ländliche wicklungen nicht mehr in den Städten, Räume in Hessen zwei zentrale Elemen sondern vor Ort getroffen werden. Die te: Finanzierung und Demokratie (vgl. genannten Forderungen zielen auf eine ausführlich: Kallert u.a. 2020). Beide Ermächtigung zur Mitbestimmung, um Elemente stehen einerseits für struk Bewohner*innen ländlicher Räume da turelle Probleme ländlicher Räume, auf rin zu bestärken, sich an der Gestaltung die sich viele Defizite zurückführen las ihres Lebensumfeldes zu beteiligen. sen: Eine mangelhafte Finanzausstat Ähnlich argumentieren Stimmen, die tung der Kommunen erschwert gute den neuen Munizipalismus auch für Infrastrukturen und die Unterstützung ländliche Regionen propagieren (Ber freiwilliger Angebote wie Kulturprojek net 2019). Soziale Bewegungen in vielen te oder Jugendzentren. Zugleich wird ländlichen Räumen fordern zunehmend dadurch die demokratische Handlungs Rechte auf Beteiligung ein (Woods 2006), fähigkeit kommunaler Akteure für die sodass die Frage nach einer praktischen Gestaltung ihrer Lebenswelt eingeengt. Umsetzung und institutionellen Veran Andererseits bilden Finanzierung und kerung eines »Rechts auf Dorf« immer Demokratisierung die notwendigen größere Bedeutung gewinnt. Voraussetzungen für soziale und da mit auch räumliche Gerechtigkeit. Ein 3.2 Progressiver Ruralismus progressiver Ruralismus betont die Not Als einen zweiten Ansatz führen wir wendigkeit von Strukturen auf kommu einen »progressiven Ruralismus« an, naler Ebene, unter und mit denen sich 408
Editorial demokratische Kultur hin zu einer ge vorsehen. Der Beitrag argumentiert, rechteren Gesellschaft entwickeln kann dass diese Finanzhilfen jedoch der örtli (vgl. Schickert 2021). Hierfür bedarf chen Daseinsvorsorge schaden und über es jedoch einer Politisierung der Ent Steuererhöhungen zulasten der lokalen wicklung ländlicher Räume und damit Anziehungskraft für Unternehmen und einhergehend der Herausforderung be Bewohner*innen gehen. Dudek kritisiert stehender sozialer Kräfteverhältnisse. die restriktive und austeritäre Ausge Ein progressiver Ruralismus ist auf brei staltung der Finanzhilfen und betont te Bündnisse aus linken und gewerk die besondere Rolle der Grundversor schaftlichen Kräften sowie kommunal gung in ländlichen Räumen. politischen Akteuren angewiesen, um Simon Schaupp befasst sich mit öko sozial-ökologische Transformationen logischen Klassenkonflikten, die ihren als radikaldemokratisches Vorhaben Ausgang im periurbanen »Hinterland«, umzusetzen und die gegenwärtigen also in verstädterten ehemals ländli rechten, antidemokratischen Strömun chen Gebieten haben. Über eine lange gen zurückzudrängen (Institut für De Zeit, so seine These, konnten die sozia mokratie und Zivilgesellschaft 2019). len Widersprüche im globalen Norden durch eine Integration der Lohnabhän gigen in ökologisch destruktive Pro 4. Zu diesem Heft duktions- und Konsummuster, für die Ausgangspunkt des vorliegendes Heftes paradigmatisch die Massenautomobili war weniger »der ländliche Raum« an tät steht, bearbeitet werden. In der öko sich, der gleichwohl vor dem Vergessen logischen Krise erodiert jedoch dieser bewahrt werden soll, sondern vielmehr »fossile Klassenkompromiss«. An seine die Feststellung, dass dieser seit gerau Stelle droht eine »Austeritätsökologie« mer Zeit spezifische Transformationen zu treten, die die Kosten der Krisenbe durchläuft – nicht nur in Deutschland. arbeitung vor allem den unteren Gesell Simon Dudek beschäftigt sich mit Kom schaftsschichten aufbürdet. Genau daran munen in ländlichen Räumen Deutsch hat sich in Frankreich der Protest der lands und deren Rolle für die Bereit Gelbwestenbewegung entzündet. Die stellung der Grundversorgung. Durch se rekrutiert sich aus Lohnabhängigen die Folgen der Weltfinanzkrise, Stand eines von Deindustrialisierung gekenn ortwettbewerb und eine zunehmende zeichneten Hinterlands, die sich kaum Responsibilisierung hat sich die Situa anders als mit dem Auto fortbewegen tion für strukturschwache Kommunen können. Entgegen der Interpretation der weiter verschlechtert. Gerade solchen Bewegung als antiökologisch sieht der Kommunen fällt es aufgrund von Finanz Autor in ihr jedoch Ansätze einer »Um schwäche schwer, im interkommuna weltpolitik von unten«, die ökologische len Wettbewerb zu bestehen. Seit den und soziale Fragen zusammendenkt. 2010er-Jahren wurden spezielle Hilfs Carla Wember und Marie Reusch wid programme aufgelegt, die eine (Teil-) men sich den geschlechtsspezifischen Entschuldung der Kommunen im Ge Macht- und Herrschaftsverhältnissen in genzug für Haushaltskonsolidierungen der Landwirtschaft, die sie als »Marker« 409
Bernd Belina • Andreas Kallert • Michael Mießner • Matthias Naumann für die emanzipatorische Qualität länd Der Beitrag von David Rudolph und licher Produktions- und Lebensweisen Laura Tolnov Clausen beschäftigt sich begreifen. Das Interesse der Autorinnen mit dem emanzipatorischen Potenzial gilt dabei alternativen Agrarpraktiken, von erneuerbaren Energien für ländli wie sie von Landkaufgenossenschaften, che Räume am Beispiel der Windener Bürgeraktiengesellschaften und der so gie. Die Autor*innen argumentieren, lidarischen Landwirtschaft unterstützt dass eine alternative Energieversor oder auch ermöglicht werden. Inwie gung die Eigentums- und Mitbestim weit, so die Fragestellung des Beitrags, mungsrechte im Windenergiesektor reproduzieren diese Praktiken tradi herausfordern und demokratische tionelle Geschlechterverhältnisse und sowie partizipative Formen der Ener inwieweit tragen sie zu deren Dynami giebereitstellung hervorbringen kann. sierung bei? Auf der Basis eigener em Allerdings werden diese alternativen pirischer Erhebungen zeigen die Au Ansätze auch in neoliberalen Rhetori torinnen, dass die Öffnungen, die die ken aufgegriffen und im Rahmen eines alternativen landwirtschaftlichen Or neuen sozial-ökologischen Fixes in ka ganisationsformen durchaus bewirken pitalistische Logiken integriert, sodass können, immer wieder an die Grenzen emanzipatorische Elemente wieder zu verfestigter symbolischer Geschlech rückgedrängt werden. terordnungen stoßen. Timo Dorsch beleuchtet die Gewalt Andrea Bechtum untersucht in ih verhältnisse im ländlichen Raum des rem Beitrag den politischen Einfluss mexikanischen Bundesstaates Micho transnationaler Bergbauunternehmen acán vor dem Hintergrund zweier sonst auf ländliche Entwicklungsprozesse. weitgehend unverbundener Diskussio Sie zeigt im Rahmen einer Fallstudie nen: zum einen jener um Nekropolitik zum südlichen Patagonien auf, dass die (Achille Mbembe) und ihren räumlichen Bergbauunternehmen ihre Interessen Niederschlag in Form der »Necropo verräumlichen, indem sie bestimmte re lis«, zum anderen um Exraktivismus gional- und sozialpolitische Strukturen als ökonomische Strategie in vielen in der näheren Umgebung finanzieren. Staaten Lateinamerikas, die ihre Spu Sie bestimmen dadurch die inhaltliche ren vor allem in ländlichen Räumen Ausrichtung dieser Infrastrukturen mit hinterlässt, wo sich die Rohstoffe und und stellen zugleich Abhängigkeiten Plantagen sowie die Infrastrukturen zu von ihrem Unternehmen her. Zudem ihrer Zirkulation finden. Er argumen schaffen sie bestimmte Arenen der Par tiert mit Michael Hardt und Antonio tizipation und kanalisieren damit politi Negri, dass die oft tödliche Gewalt ge sche und bürgerschaftliche Interessen. gen Journalist*innen, Aktivist*innen Auf diesen Wegen ist es dem Bergbau und Gewerkschafter*innen in den be unternehmen AngloGold Ashanti im troffenen Räumen eine Ordnung in südlichen Patagonien gelungen, Kon stalliert, die die Ausbeutung von Men flikte mit der lokalen Bevölkerung zu schen und Natur sowie die Integration vermeiden und einen breiten Konsens der extraktivistischen Ökonomien in zum Bergbau zu fördern. den Weltmarkt ermöglicht. 410
Editorial Jenseits des Heftschwerpunkts un Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, Klaus tersuchen Silke van Dyk, Tine Haubner und Busch, Werner Olle und Wolf Wagner, Laura Boemke die politische Ökonomie sowie sein Student Christian Christen der Freiwilligenarbeit. Basierend auf ei aus Wolfgangs Zeit als Professor für Po ner qualitativen Studie zum ehrenamt litische Ökonomie an der HWP in Ham lichen Engagement in Brandenburg und burg erinnern an einen eindrucksvollen Baden-Württemberg diagnostizieren Mitstreiter. Er wird uns sehr fehlen. sie eine »Verzivilgesellschaftlichung« ••• der sozialen Frage. Demnach werden Die PROKLA-Redaktion dankt der Gast nicht-erwerbsförmige Sorgetätigkeiten redaktion, Bernd Belina, Andreas Kal jenseits von Staat, Markt und Familie lert, Michael Mießner und Matthias zunehmend für die Daseinsvorsorge in Naumann, für ihre Ideen und ihr Enga Dienst genommen. Freiwilliges Engage gement. ment wird dabei nicht selten zum »Aus fallbürgen des Sozialstaats«. Allerdings bewirken »immunisierende Faktoren« Literatur wie Sinnstiftung, Anerkennung, Solida Adorno, Theodor W. (1963): Eingriffe. Neun rität, aber auch das Angewiesensein auf kritische Modelle. Frankfurt/M. – (1970): Erziehung nach Ausschwitz eine geringfügige Entschädigung, dass (1966). In: Erziehung zur Mündigkeit. die Engagierten sich nicht persönlich Frankfurt/M: 92-109. instrumentalisiert fühlen bzw. dass sie – (2016 [1951]): Minima moralia. Refle trotz des Gefühls der Instrumentalisie xionen aus dem beschädigten Leben. rung ihr Engagement fortsetzen. Frankfurt/M. Aithal, Vathsala (1997): Ein feministischer Leider müssen wir auch in dieser Blick auf Wasser. In: PROKLA 109 27(3): Ausgabe einen Nachruf veröffentlichen. 369-389. DOI: https://doi.org/10.32387/ Wolfgang Schoeller verstarb am 3. Mai prokla.v27i108.870. 2021. Er war Mitbegründer der PROKLA Arbeitskreis arbeitsorientierte Regionalwis vor über einem halben Jahrhundert und senschaften (1978): Für eine arbeitneh in den letzten Jahren bis zu seinem Tod merorientierte Raumordnungs- und Regionalpolitik. Zusammengestellt von Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Klaus Brake. Köln. Er wurde mit seinem Buch Weltmarkt und Baier, Andrea (2008): Subsistenzansatz: Von Reproduktion des Kapitals (1976) bekannt, der Hausarbeitsdebatte zur »Bielefel dem die sogenannte Weltmarktdebatte der Subsistenzperspektive«. In: Becker, voranging. Thomas Sablowski widmet Ruth / Kortendiek, Beate (Hg.): Hand buch Frauen- und Geschlechterfor sich ihr im ersten Teil seines Aufsat schung. Wiesbaden: 75-80. DOI: https:// zes in der PROKLA 194. Wolfgang war doi.org/10.1007/978-3-531-91972-0_9. in den letzten Jahren mit viel Engage Barlösius, Eva / Neu, Claudia (2007): »Gleich ment bei den Diskussionen dabei, die wertigkeit – Ade?« Die Demographisie die Zukunft der PROKLA mitbestimmen rung und Peripherisierung entlegener sollten, und hat mit seinen Wortbeiträ ländlicher Räume. In: PROKLA. 146 37(1): 77-92. DOI: https://doi.org/10.32387/ gen geholfen, durch unruhiges Gewäs prokla.v37i146.527. ser zu finden. Seine Weggefährten von Barraclough, Laura (2013): Is There Also a der Sozialistischen Assistentenzelle am Right to the Countryside? In: Antipo 411
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