Ein Alphabet-Akrostichon aus Gandha-ra
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ALTE WELT TH E MA Buddhismus Ein Alphabet-Akrostichon aus Gandha-ra Durch spektakuläre Handschriftenfunde rückt Gandha-ra, eine historische Region im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, seit einigen Jahren in den Fokus historischer Forschungen zum Buddhismus. Einer dieser Funde in Kharos. t.hī-Schrift, für den bislang keine Parallele in der buddhistischen Literatur bekannt ist, wird derzeit untersucht. Es handelt sich um ein Akrostichon, also einen Text, dessen Zeilen- bzw. Versanfänge vertikal gelesen einen Sinn ergeben. ABB.: PESHAWAR UNIVERSITY MUSEUM, NR. MJN-1983-1-87/MJN13/UAM 201 Abb. 1: Das Relief zeigt rechts einen Teil der festlichen Prozession zur Schule mit dem auf einem Widder reitenden Bodhisattva. Links wird die Darstellung des Schreibunterrichts von einer Figur in ausländischer Tracht begrenzt, die ein Gefäß für den Unterricht bereithält. Diese Figur erin- nert daran, dass das Schreiberwesen ursprünglich von außerhalb Indiens stammt. Am unteren Rand erkennt man einen Teil des Kharos.t.hī-Buchstaben s.a. 02-2015 Akademie Aktuell 29
TH EMA A LTE WELT Vo n Gu dru n M e l ze r - I M ALTE N GAN D H A RA begeg- neten sich die unterschiedlichsten Kulturen. Ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. war die Region Teil einer Pro- vinz des Achämenidenreichs. Die damals für die Verwaltung ver- wendete aramäische Schrift dien- te der in Gandha-ra entstandenen Kharos. t.hī-Schrift als Grundlage. Ebenfalls scheint die aramäische Tradition der Schriftrollen die ein- Abb. 2: Die Kharos.t.hī- heimische Schriftkultur nachhal- Buchstaben aus den Versanfän- tig geprägt zu haben. Seit der gen der Handschrift in der Eroberung durch Alexander flo- Arapacana-Reihenfolge. Am An- rierte nachweislich der Austausch fang der Abfolge der 42 Zeichen von Kultur und Handelswaren stehen mehrheitlich nicht aspi- mit dem Westen. Doch mit der rierte Konsonanten. Im zweiten Eingliederung der Region in das Teil finden sich überwiegend indische Maurya-Reich gelangte Zeichen, die graphisch aus den im 3. Jahrhundert v. Chr. der Bud- ersten abgeleitet wurden, z. B. dhismus in die Region, und dank für die im indischen Sprach- seiner inspirierenden Wirkung auf raum verbreiteten aspirierten Architektur, Kunst und Literatur Laute oder Konsonantenverbin- wird für uns damit auch die indi- dungen. Die Zeichen am Ende sche Kultur- und Gedankenwelt kamen vermutlich erst später vermehrt in Gandha-ra fassbar. Im hinzu, wie das im Sanskrit ver- Verlauf des 2. Jahrhunderts v. Chr. wendete retroflexe n.a und an- herrschten die aus Baktrien stam- dere seltene Zeichen, die nicht menden Indogriechen sowie die am Wortanfang vorkommen Skythen und Parther. Schließlich oder nur in Lehnwörtern. bauten in der Mitte des 1. Jahr- hunderts die aus Zentralasien stammenden Kus.a-n.as ein blü- hendes Reich im Großraum von Gandha-ra und Da das Blatt aus Birkenrinde jedoch für lange ABB.: G. MELZER (2); CHR. LUCZANITS (HRSG.), GANDHARA Nordindien auf. Die Mehrzahl der uns erhal- Zeit in der Mitte gefaltet und aufgerollt war, ist tenen, überwiegend buddhistischen Hand- es vertikal auseinandergebrochen, und nur die schriften und Kunstwerke stammen aus dieser kleinere Hälfte hat überlebt. Somit fehlt in der Zeit. In den Reliefs zeigt sich eine einzigartige Regel mehr als die Hälfte einer Zeile, und kein Synthese zwischen der hellenistisch-römischen Satz ist vollständig. Aber die flüssige Schrift Formensprache und dem buddhistischen, aus des Schreibers, in der ungewöhnlicherweise die der indischen Gedankenwelt stammenden Buchstaben miteinander verbunden sind, lässt Inhalt der Darstellungen. uns die Schreibweise genau nachvollziehen, und das verwendete Metrum gewährt Einbli- Eine buddhistische Ga-ndha-rī-Handschrift cke in die Komposition von metrischen Texten in Ga-ndha-rī. 1999 wurden im Bajaur District in Nordpakis- tan Ga-ndha-r ī-Handschriften gefunden. Eine da- von enthält einen in Strophen verfassten Text, für den bisher keine direkte Parallele aus der buddhistischen Literatur bekannt ist (Abb. 4). 30 Akademie Aktuell 02-2015
ALTE WELT TH E MA Eine Strophe besteht aus vier Strophenvierteln, von denen je zwei mit einem kleinen Ab- stand voneinander in einer Zeile geschrieben sind, so dass die Wortanfänge der Strophenviertel untereinander stehen. Jedes beginnt mit demselben Buch- staben und jede Strophe mit einem neuen in der Abfolge der in Gandha-ra benutzen Anordnung des Alphabets, das wir nach den ersten Buchstaben Arapacana nennen (a ra pa ca na). Da in der Regel das zweite und vierte Strophenviertel nicht erhalten sind, lässt sich der Inhalt des Textes nur vage erahnen. Es scheint sich im Wesentlichen um eine Hymne an den Buddha zu handeln, die seine Errungenschaf- ten und Qualitäten preist. Folgen- Abb. 3: Das Gebiet von Gandha-ra. de Beispiele mögen einen Eindruck vermitteln: te, verschiedene, zahllose Opfer geopfert [d. h., „Der Höchste, der Beste der Ärzte …“ und „der Gaben geschenkt] …” und „wo Alter, Krankheit, höchste Schutzherr der ins Elend Geratenen …“ Tod … [und] Kummer nicht existieren”. (13a, 13c). (3a, 3c). Das erste Wort der beiden Viertelstro- phen lautet jeweils parama („höchster, bester“), Die Arapacana-Anordnung beginnt also mit pa, dem dritten Buchstaben der Arapacana-Abfolge. Die ersten Wörter des Zwei Schriften haben sich in Indien entwi- ersten und dritten Viertels caga („Freigebig- ckelt: die von rechts nach links geschriebene - keit“) und caria („Observanz“) beginnen mit Kharos. t.hī, die nur im Nordwesten des Subkon- dem vierten Buchstaben ca: „Der Bodhisattva tinents in Gebrauch war, und die von links nach steigerte [seine] Freigebigkeit …“ und „[er] rechts geschriebene Bra-hmī, von der die noch hat viele, zahlreiche, asketische Observanzen heute gebräuchlichen Schriften Indiens ab- vollzogen“ (4a, 4c). Das 13. Zeichen ya steht am stammen. Obwohl beide aus der aramäischen Anfang der beiden Strophenviertel mit yat.ha Schrift abgeleitet sind, wurde für keine von („geopfert“) und yatra („wo“): „[Er] hat hunder- ihnen die Anordnung der Buchstaben über- nommen, die letztendlich auch den europäischen Schriften zugrunde- liegt. Während die Reihenfolge für die Bra-hmī auf einem von Gram- matikern entworfenen, nach phonetischen Gesichtspunkten aufgebauten System beruht, liegt die Herkunft der Arapacana- Abfolge für die Kharos. t.hī, ab- gesehen davon, dass sie sich in Abb. 4: Ein Ausschnitt aus der dieser Form gut aussprechen in Kharos.t.hī geschriebenen und damit auch gut auswendig Handschrift Nr. 5 der Bajaur- lernen lässt, im Dunkeln (Abb. 2). Sammlung zeigt am rechten Rand jeweils untereinander die Belege für die weite Verbreitung mit den Buchstaben pa, ca und der Arapacana-Reihenfolge sind na (= n.a) beginnenden Verse. mehrere vermutlich als Schreib- Die Paläographie deutet auf eine Entstehungszeit im 1./2. Jahrhundert. Die rekonstruierte Blattgröße beträgt mindestens 21 x 40 cm. 02-2015 Akademie Aktuell 31
TH EMA A LTE WELT Abb. 5: Die Form der Schreib- und Leseübungen zu betrachtende tafeln aus Gandha-ra war auch Abecedaria und Steinmetzzeichen im alten Vorderen Orient ver- für Architekturelemente und breitet und wurde noch bis fast Reliefs, um ihre Position im archi- in die Gegenwart in Schulen tektonischen Kontext zu sichern. benutzt. Die Abbildung zeigt Im Anbetracht der damals globa- eine Stifterinschrift in aramäi- lisierten Welt überrascht es nicht, scher Schrift aus der Mitte des dass auf ganz ähnliche Weise auch 3. Jahrhunderts. Sie wurde auf in der griechischen und hellenisti- Socotra, einer vor dem Jemen schen Architektur Steinmetzzeichen liegenden Insel entdeckt, auf verwendet wurden. Außerdem sind der im Altertum zahlreiche in mehreren aus Gandha-ra stam- indische Kaufleute Station menden buddhistischen Texten machten. einige dogmatische Begriffe nach der Arapacana-Abfolge angeordnet. Diese Listen scheinen jedoch mit den Ga-ndha-rī-Strophen aus Bajaur zusam- menzuhängen. Alphabetische Akrosticha Ein Text, meistens in metrischer Form, Abb. 6: Der nimbierte Bodhi- dessen Zeilen- oder Versanfänge verti- sattva übt die Kharos.t.hī-Schrift. kal gelesen einen Sinn ergeben, etwa Die ersten Buchstaben a ra la einen Namen, einen Satz oder auch das (lies pa) ca na la da sind auf den Alphabet, bezeichnet man üblicher- Schreibtafeln eingeritzt. Ver- weise als Akrostichon; jedoch waren gleichbare Abecedaria hat man die Griechen nicht die ersten, die sich in der gesamten antiken Welt dieses Stilmittels bedienten. Alphabe- gefunden und deutet sie in der tische Akrosticha wurden in der Antike Regel als Schulübungen. vor allem für die religiöse Literatur in Hymnen ver- wendet. Dabei reichen die Anfänge weit zurück. Die bekanntesten Belege finden sich im hebrä- ischen Alten Testa- ment (z. B. Psalm 9–10, 25, 34, 37, 111, 112, 119, 145 und die Klagelieder 1–4). Zahlreich sind auch die Beispiele aus der frühen und mittelalterlichen jüdischen sowie christlichen Dichtung und Liturgie. Im Gegensatz dazu scheint diese Form der Dichtung in der frühen indischen Sanskrit-Lite- ratur kaum bezeugt zu sein. Die meisten Belege sind erst nach dem 11. Jahrhundert entstanden und traten zunächst innerhalb der religiösen Literatur des Tantrismus auf. Im tibetischen Kulturraum erfreuten sich akrostichische Lieder und Gedichte spätestens seit dem 13. Jahrhun- dert einer großen Beliebtheit. Üblicherweise beginnt jeweils das erste Wort eines neuen Verses mit einer auf -a endenden Silbe nach dem tibetischen Alphabet, wobei auf jegliche 32 Akademie Aktuell 02-2015
ALTE WELT TH E MA in der tibetischen Orthographie verbreitete mit Wissen und Gelehrsamkeit assoziierte DIE AUTORIN Prä- oder Subskripte verzichtet wird. Das hatte Bodhisattva Mañjuśrī, auch „Herr der Rede“ Dr. Gudrun Melzer ist wissen- jedoch zur Folge, dass nur eine begrenzte Aus- genannt, bekam die Beinamen Arapacana und schaftliche Mitarbeiterin im wahl von Wörtern zur Verfügung stand; daher Sthiracakra („festes Rad“), da er das gesamte Projekt „Buddhistische Hand- wichen die Autoren auch auf Lehnwörter aus Alphabet verkörpert. Einigen Ritualtexten zu- schriften aus Gandha- ra“, das dem Sanskrit aus. folge visualisiert man sich selbst als Mañjuśrī im Rahmen des Akademienpro- (Abb. 7) und in seinem Herzen ein achtspeichi- grammes von der Bayerischen Da alphabetische Akrosticha in der frühen indi- ges Rad, dessen Strahlen die Finsternis der Akademie der Wissenschaften schen Literatur nicht verbreitet waren, scheint Verblendung und Ignoranz vertreiben. Auf betreut wird und an der Ludwig- es naheliegend, dass in Gandha-ra dieses vier Speichen und der Nabe befinden sich die Maximilians-Universität in Stilmittel aus der älteren semitischen Kultur Silben des Mantras a ra pa ca na, auf den vier München angesiedelt ist. übernommen wurde, vielleicht auch gespeist dazwischen liegenden Speichen die Vokale und durch die Verwendung in der griechischen und am Rand alle Konsonanten, jedoch nunmehr lateinischen religiösen Literatur. aus dem für die Bra-hmī-Schrift verwendeten Alphabet und auch in der entsprechenden Der Bodhisattva lernt lesen und schreiben Reihenfolge. Die von den Buchstaben ausge- henden Lichtstrahlen erleuchten alle Weltsys- Nach bisherigem Wissensstand verbreitete teme einschließlich aller Buddhas und kehren sich die Bra-hmī-Schrift erst nach der Lebenszeit wieder in den eigenen Körper zurück. Die fünf des historischen Buddha in seiner ostindi- Silben a ra pa ca na gelten als Essenz dieser schen Heimat. Dennoch berichtet die im Laufe spezifischen Form des Mañjuśrī und seiner vier der Zeit entstandene buddhistische Literatur begleitenden Gottheiten. n davon, dass der Bodhisattva seinen Lehrer beim Schreibunterricht mit seiner Allwis- senheit in Staunen versetzte. Je nachdem, wo die relevanten Textpassagen entstanden sind, lernte er entweder die Bra-hmī- oder die Kharos. t.hī-Schrift. In einem Text namens „Lalitavistara“, der zum Teil aus Gandha-ra stammt, wird beschrieben, wie der Bodhisattva in einer festlichen Prozession zusam- men mit vielen Begleitern, Wagen, Gaben und Musik zum ersten Mal zur Schreibschule geht (Abb. 1, 5 und 6). ABB.: I. STRAUCH (HRSG.), FOREIGN SAILORS ON SOCOTRA, 2012, 449; HIRAYAMA IKUO SILK ROAD MUSEUM, NR. 3931; G. MELZER Dort nimmt er eine kostbare Holztafel und fragt seinen verblüfften Lehrer, welche der zahlreichen Schriften er nun lernen soll. Doch Abb. 7: Arapacana-Mañjuśrī sitzt der Lehrer kennt noch nicht einmal alle Namen. in der Meditationshaltung und In der ältesten, nur im Chinesischen erhaltenen hält das Schwert des Wissens in Form des Textes buchstabiert der Bodhisattva seiner rechten sowie ein Buch das Alphabet in der Abfolge a ra pa ca na usw., aus Palmblättern in seiner linken und lässt für jeden Buchstaben einen Leitsatz Hand vor der Herzgegend. aus der buddhistischen Lehre verlauten, z. B. Diese Ikonographie ist in Indien „alle Dinge sind vergänglich (anitya)“ für den erst ab dem 11. Jahrhundert Buchstaben a. Es ist sicher kein Zufall, dass sich nachweisbar. Bis heute wird viele dieser Stichworte auch in den erhalte- der Bodhisattva Mañjuśrī in nen Ga-ndha-rī-Strophen wiederfinden. dieser Gestalt im tibeti- schen Kulturraum verehrt. Rituale gegen Ignoranz Die hier abgebildete ostindische Bronze Obwohl die Kharos. t.hī-Schrift und mit aus dem 11. Jahr- ihr die Arapacana-Reihenfolge etwa im hundert befindet sich 4. Jahrhundert im größeren Gandha-ra au- im Vikramashila ßer Gebrauch kamen, lebte die Erinnerung Museum in Bihar. an die spezifische Anordnung des Alphabets im esoterischen Buddhismus als magische Formel oder Mantra fort. Der im Allgemeinen 02-2015 Akademie Aktuell 33
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