Menschen mit Behinderungen als Expertinnen und Experten bei Evaluationen?
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48 HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN Priska Elmiger, Remi Frei, Judith Bühler, Sandra Mazzoni, Charlotte Miani und Regula Ruflin Menschen mit Behinderungen als Expertinnen und Experten bei Evaluationen? Zusammenfassung Wer könnte die Qualität der Leistungen von Institutionen im stationären Bereich besser beurteilen, als jene Personen, welche diese Leistungen in Anspruch nehmen? Ein Team von Expertinnen und Experten ging der Frage nach, ob und wie erwachsene Menschen mit Behinderungen in Evaluationen einbezogen werden können. Ihre Recherchen zeigen, dass die Möglichkeiten zwar vielfältig, aber auch mit Herausforderungen für alle Beteiligten verbunden sind. Résumé Qui peut se targuer d’être mieux placé pour évaluer la qualité des prestations fournies par les institutions dans le do- maine stationnaire que les bénéficiaires des prestations eux-mêmes ? Une équipe d’experts s’est penchée sur la ques- tion de savoir s’il est possible d’intégrer des personnes handicapées adultes dans les démarches d’évaluation qui sont réalisées, et si oui de quelle manière le faire. Les recherches qui ont été menées par cette équipe montrent que les possibilités sont nombreuses dans ce domaine, mais qu’elles s’accompagnent aussi d’un certain nombre de défis à re- lever pour toutes les personnes impliquées. Der Einbezug von Menschen mit rungen, die in verschiedenen Institutionen Behinderungen in Evaluationen leben, im Rahmen von Interviews und Menschen mit Behinderungen, die in Insti- Workshops zu ihrer Sicht zum Thema be- tutionen leben, wurden bisher in der Regel fragt. Die Ergebnisse und erste Hypothesen nicht oder nur marginal in die Evaluationen wurden von Vertreterinnen und Vertretern der entsprechenden Einrichtungen einbezo- des Q-Zirkels gemeinsam mit zwei Bewoh- gen. Dies, obwohl sie als Leistungsbezie- nern und einer Bewohnerin von Institu- hende die Qualität der Leistungserbringung tionen in einem Atelier am 8. Heilpädago- aus erster Hand beurteilen könnten. Der gik-Kongress 2013 präsentiert und zur Dis- Frage, ob und wie dieser Einbezug zukünf- kussion gestellt. Die zentralen Erkenntnisse tig gewährleistet und ausgestaltet werden und das Zwischenfazit werden im Folgen- sollte, sind Evaluationsexpertinnen und -ex- den vorgestellt. perten aus mehreren Organisationen im Rahmen eines Qualitätszirkels (Q-Zirkel) Welche Formen des Einbezugs nachgegangen. Der Prozess startete mit ei- sind denkbar? nem fachlichen Diskurs, indem Literaturre- Bezüglich der Art und Weise des Einbezugs cherchen vorgenommen und eigene Erfah- bestehen verschiedene Möglichkeiten. Die- rungen aus der Evaluationspraxis ausge- se hängen zum einen vom Zeitpunkt des tauscht wurden. Das Thema brachte es mit Einbezugs im Evaluationsverlauf ab. Zur sich, als nächsten Schritt Menschen mit Be- Eingrenzung des Zeitpunkts kann der Evalu- hinderungen in die Diskussion einzubezie- ationsprozess in folgende Phasen geglie- hen. Dazu wurden Menschen mit Behinde- dert werden: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 20, 11 – 12 / 2014
HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN 49 Planung Evaluation Durchführung Evaluation Auswertung und Berichterstattung s¬ $EFINITION¬:IELSETZUNG s¬ !NWENDUNG¬DER¬%RHEBUNGSMETHODEN s¬ !USWERTUNG¬DER¬%RGEBNISSE s¬ $EFINITION¬2EFERENZRAHMEN s¬ "EURTEILUNG¬DER¬%RGEBNISSE s¬ &ORMULIERUNG¬&RAGESTELLUNG s¬ !BLEITUNG¬VON¬-ASSNAHMEN s¬ 0LANUNG¬%RHEBUNGSMETHODEN Abbildung 1: Ablauf Evaluation Der Einbezug kann dabei je nach Definition Zur Erleichterung oder Ermöglichung der während des gesamten Evaluationsprozes- Kommunikation bestehen mittlerweile ses oder nur in einer bestimmten Phase er- verschiedene Formen der Unterstützung folgen. Neben dem Zeitpunkt ist auch die (talking mats, Biografiearbeit, bildhafte Form des Einbezugs entscheidend. Die Verfahren der Lebensweltanalyse etc.). möglichen Formen des Einbezugs in den Diesbezüglich gilt es, je nach Zielsetzung Evaluationsprozess sind im Folgenden dar- der Evaluation und nach Fähigkeiten und gelegt. Ressourcen des Interviewpartners oder der Interviewpartnerin die adäquate Un- Menschen mit Behinderungen als Infor- terstützung zu wählen. Auch auf die übri- mantinnen und Informanten der Erhebung gen Fragen gibt es keine allgemeingülti- Eine erste Form des Einbezugs fokussiert gen Antworten. Vielmehr müssen diese bei ausschliesslich die Phase der Durchführung jeder Evaluation neu und im Hinblick auf der Evaluation. Zu diesem Zeitpunkt können die teilnehmenden Personen geklärt wer- Menschen mit Behinderungen als Informan- den. tinnen und Informanten mitwirken, bei- spielsweise als Interviewpartnerinnen und Menschen mit Behinderungen als Exper- -partner, oder, indem sie die Leitung der tinnen und Experten in eigener Sache Führung durch die Institution übernehmen. Die zweite Form des Einbezugs ist weiter Als Befragte können Leistungsbeziehende gefasst, indem Menschen mit Behinderun- auf diese Weise ihre Sicht bezüglich der gen der zu evaluierenden Institution in der Qualität einer Institution einbringen. Diese Rolle als Experten und Expertinnen in eige- Form des Einbezugs wird vielerorts bereits ner Sache den gesamten Ablauf der Evalu- praktiziert. Trotzdem beinhaltet sie ver- ation mitgestalten (bspw. als Referenz- schiedene Herausforderungen, die berück- gruppe). Entsprechend werden sie bereits sichtigt werden müssen, wie: in der Phase der Zielsetzung der Evaluati- • Wie gelingt die Kommunikation? on, der Definition des Referenzrahmens, • Wie können situative Kontexte ange- der Formulierung der Fragestellungen und messen berücksichtigt werden (bspw. der Wahl der Erhebungsmethoden einbe- geeignete Tageszeit, maximale Konzen- zogen. Dies ermöglicht, dass bereits zu trationsspanne etc.)? diesem Zeitpunkt der Fokus der Leistungs- • Wie gehen Menschen mit Behinderun- beziehenden einfliessen und die Evaluati- gen damit um, von fremden Personen on dadurch optimaler auf ihre Bedürfnisse befragt zu werden? abgestimmt werden kann. So kann die Ta- • Sollen Interviews im Beisein von Bezugs- geszeit, zu welcher eine Erhebung stattfin- personen durchgeführt werden oder ver- det, für viele Menschen mit Behinderun- mindert dies die Datenqualität? gen eine wichtige Rolle spielen, weil sie Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 20, 11 – 12 / 2014
50 HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN gen nicht nur in den verschiedenen Phasen Marco Baumann, cerebralgelähmt, engagiert sich für Anliegen beteiligt, sondern setzen Teilbereiche auch von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, insbeson- selber um. Dieser Ansatz wird beispielswei- dere in der Region Bern. Er hat bei den Gesprächen des Expertin- se von nueva 1 in Österreich bereits einige nen / Experten-Teams teilgenommen. Bei Evaluationen von Wohn- Jahre praktiziert. Das Spezifikum des Mo- heimen für Menschen mit Behinderungen ist ihm vor allem wich- dells ist, dass das Evaluationsteam neben tig, dass Fachpersonen auch Vertreterinnen und Ver- • alle Bewohnerinnen und Bewohner ihre Anliegen einbringen treter der peer group umfasst. Das heisst, können und die dazu nötige Unterstützung erhalten, • die Expertinnen und Experten sich genug Zeit nehmen, dass Menschen mit Behinderungen, die sel- um sich auf die Bewohner einzulassen, ber soziale Dienstleistungen nutzen, jedoch • Betreuerinnen und Betreuer eine neutrale Position keine Leistungen der zu evaluierenden Ein- einnehmen und sich nur als Übersetzer verstehen, richtung in Anspruch nehmen, im Evaluati- • eine Gewähr besteht, dass von Menschen mit Behinde- onsteam mitwirken. Sie werden in zweijäh- rungen gemachte Aussagen, vor allem die kritischen, rigen Trainings zu Evaluatorinnen und Eva- vertraulich behandelt werden. luatoren ausgebildet. Kernstück des Verfah- rens ist die persönliche Befragung von Mit Blick auf künftige Evaluationen wünscht sich Herr Baumann • einen zeitlich optimalen Einbezug der Bewohnerinnen Heimbewohnenden mittels eines standardi- und Bewohner für Gespräche (z. B. späterer Vormittag oder sierten Fragebogens. Der Ansatz hat sich in früherer Nachmittag), der Praxis bewährt und wird in Österreich • eine Sicherstellung des Einbezugs von Menschen mit sowie in mehreren deutschen Bundeslän- Behinderungen, die sich nicht selber organisieren können, dern zur Überprüfung von Leistungen in den • den Dialog mit allen: mit Bewohnerinnen / Bewohnern, Bereichen Wohnen, Assistenz, Arbeit und Betreuerinnen / Betreuern, Heimleitung und Kanton. Beschäftigung eingesetzt. Dies zeigt: Leis- tungsbeziehende können auch auf einer ho- hen Stufe der Partizipation in Evaluationen einbezogen werden. sich morgens beispielsweise besser kon- zentrieren können als nachmittags. Auch Klärung von Phase und Form innerhalb bei der Diskussion der Ergebnisse und der der Evaluation Ableitung von allfälligen Massnahmen Da es verschiedene Möglichkeiten des Ein- werden Menschen mit Behinderungen als bezugs von Menschen mit Behinderungen Expertinnen und Experten in eigener Sa- in Evaluationen gibt, ist es umso wichtiger, che einbezogen. Auf diese Weise erhalten dies bei jeder Evaluation zu klären. Je nach- sie relevante Informationen und bekom- dem, in welcher Form sie daran mitwirken men wiederum die Gelegenheit, ihre Posi- und in welchen Phasen dies der Fall ist, sind tion einzubringen. die Anforderungen an das Evaluationsteam wie auch an die weiteren Beteiligten unter- Menschen mit Behinderungen schiedliche. als Mitglieder des Evaluationsteams Die dritte Art des Einbezugs, welche hier 1 nueva ist ein Evaluationsmodell für soziale Dienst- vorgestellt wird, ist die umfassendste. In leistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten der Rolle als Mitglieder des Evaluati- und Behinderungen (vgl. www.nueva-network. onsteams sind Menschen mit Behinderun- eu). Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 20, 11 – 12 / 2014
HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN 51 Chancen und Herausforderungen • Der Einbezug von Menschen mit Behin- Die Auseinandersetzung mit den verschie- derungen in allen Phasen erfordert eher denen Arten des Einbezugs von Menschen mehr Ressourcen. Sind Institutionen mit Behinderung in Evaluationen hat aufge- oder Auftraggeber (bspw. Kantone) be- zeigt, dass der Einbezug viele Chancen, reit, dies zu finanzieren und für die Betei- aber auch Herausforderungen beinhaltet. ligten (peers und Fachleute) adäquate Nachfolgend werden die wichtigsten Er- Arbeitsbedingungen zu schaffen? kenntnisse aufgeführt: • Menschen mit Behinderungen in Institu- tionen haben eine geringe Lobby, d. h. Chancen des Einbezugs von Menschen auch eine beschränkte Einflussmacht. mit Behinderungen: Wessen Aufgabe ist es, den Einbezug • Menschen mit Behinderungen werden von Menschen mit Behinderungen in nicht länger von der Beteiligung ausge- Evaluationen einzufordern? schlossen, sondern kommen als Exper- • Bei Menschen mit Behinderungen beste- tinnen und Experten in eigener Sache zu hen Befürchtungen bezüglich der Echt- Wort. heit des Einbezugs. Das Prinzip «im Rah- • Menschen mit Behinderungen können men ihrer Möglichkeiten» ist ernsthaft ihre Sicht bezüglich der Qualität der Ins- zu verfolgen und eine Pseudo-Mitwir- titution und deren Leistungen einbrin- kung unbedingt zu vermeiden. gen. Die direkten Kundinnen und Kun- den beurteilen das Angebot mit. • Qualitätsstandards und deren Indikato- Zentral wird sein, den qualitativen ren werden nicht einseitig durch Fach- Mehrwert des Einbezugs personen definiert. Der Einbezug bereits von Menschen mit Behinderungen in der Planungsphase ermöglicht es, für sichtbar zu machen. die Festlegung des Referenzrahmens ei- ner Evaluation sowie deren Fragestellun- gen auch die Position von Menschen mit Fazit Behinderungen einzubeziehen und in Die Recherchen und Diskussionen zeigen den Vordergrund zu stellen. auf, dass die Bandbreite an Möglichkeiten • Für Institutionen und Fachleute kann eines Einbezugs gross ist. Die Fachleute des durch den Einbezug der Sicht der direkt Q-Zirkels sind überzeugt, dass sich eine Betroffenen ein Zuwachs an Wissen ent- Konkretisierung dieses Einbezugs von Men- stehen. schen mit Behinderungen in Evaluationen lohnt. Für die weitere Auseinandersetzung Herausforderungen für den Einbezug mit dem Thema bestehen die folgenden Hy- von Menschen mit Behinderungen pothesen: • Oftmals wird Menschen mit Behinderun- • Es braucht Aufklärungs-, Sensibilisie- gen sowohl von Fachpersonen wie von rungs- und Motivationsarbeit bei Institu- sich selbst nicht oder nur teilweise zuge- tionen, Auftraggebern und Menschen traut, bei Evaluationen mitzuwirken. mit Behinderungen, damit der Einbezug Wie kann dieser Skepsis und allfälligen von Menschen mit Behinderungen in Widerständen begegnet werden? Evaluationen zunimmt. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 20, 11 – 12 / 2014
52 HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN • Evaluationsfachleute sind verpflichtet, sequenter ermöglicht werden kann. Die ihr Verständnis von Partizipation zu ver- Forderung nach dem Einbezug von Men- tiefen. Partizipationsmodelle (vgl. schen mit Behinderung in Evaluationen Lüttringhaus, 2000 oder Wright, Block & wird demnach an Aktualität zunehmen. von Unger, 2007), die verschiedene Stu- Mehrere Bundesländer in Österreich und fen der Partizipation und Abgrenzung Deutschland sind den Weg zu Evaluations- zur Pseudo-Partizipation definieren, verfahren mit hoher Partizipation der Men- müssen als Grundlage für das Vorgehen schen mit Behinderung bereits gegangen. herangezogen werden. Wir sind überzeugt, dass auch in der • Zentral wird sein, den qualitativen Mehr- Schweiz dieser Weg vermehrt zu begehen wert des Einbezugs von Menschen mit ist. Es lohnt sich auf jeden Fall, am Thema Behinderungen sichtbar zu machen, so- dranzubleiben. wohl in Bezug auf die unmittelbaren als auch die mittelbaren Ergebnisse einer Evaluation. • Es ist anzunehmen, dass viele der Punk- Priska Elmiger te, welche auf den Einbezug von Men- priska.elmiger @hfh.ch schen mit Behinderungen in Evaluatio- nen zutreffen, auch für andere Perso- Remi Frei nengruppen, die in Institutionen leben remi.frei@hfh.ch (Jugendliche, ältere Menschen etc.) gel- ten. Ob und inwiefern dies der Fall ist, Interkantonale Hochschule müsste vertiefter analysiert werden. für Heilpädagogik Schaffhauserstrasse 239 Postfach 5850 Die Forderung nach dem Einbezug von 8050 Zürich Menschen mit Behinderung in Evaluationen www.hfh.ch wird an Aktualität zunehmen. National- wie auch der Ständerat (26. No- vember 2013) haben sich für eine Ratifizie- Judith Bühler rung der UNO-Konvention über die Rechte buehler @kek.ch von Menschen mit Behinderung (UNO, 2006) ausgesprochen. Der Beitritt der Sandra Mazzoni Schweiz stellt ein wichtiges Bekenntnis zur sandra.mazzoni@schiess.ch Gleichstellung von Menschen mit Behinde- rung und zu deren Teilhabe an der Gesell- Schiess – Beratung von Organisationen schaft dar. Für die Umsetzung ist zu prüfen, Schachenallee 29 wo und wie die Partizipation und Inklusion 5000 Aarau von Menschen mit Behinderung noch kon- www.schiess.ch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 20, 11 – 12 / 2014
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