Ein Jahr zwischen Alarmismus und Verleugnung - Die seelische Verfassung in Zeiten der Corona-Pandemie

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Ein Jahr zwischen Alarmismus und Verleugnung - Die seelische Verfassung in Zeiten der Corona-Pandemie
Mensch und Gesundheit

Ein Jahr zwischen Alarmismus und Verleugnung
Die seelische Verfassung in Zeiten der Corona-Pandemie
Dr. med. Matthias Bender

                                                                       stoßen typischer-                    mung und Isolation leben, weil das Leben
                                                                       weise das Pendel                     im Außen derart heruntergefahren ist.
                                                                       an, das zwischen
                                                                       Kontrolle, Autono-                   Nähe wird als Gefahr erlebt,
                                                                       mie bzw. Unabhän-                    Distanz als Schutz
                                                                       gigkeit und Unter-
                                                                       werf ung schwingt.                   Die übliche Nähe-Distanz-Relativität ist
                                                                       Wir haben, auch                      durch die Corona-Krise geradezu in einen

                                                                     Foto: © DonkeyWorx – stock.adobe.com
                                                                       gesamtgesell-                        Schleudergang gestürzt [1], die Men-
                                                                       scha
                                                                          f tlich, unter-                   schen handeln als sozialbedürf tiges We-
                                                                       schiedliche Weisen                   sen wider ihrer Natur und ihrer Bedürfnis-
                                                                       des     umsichtigen                  se nach Nähe und Beziehung. Denn Dis-
                                                                       wie auch des irra-                   tanz- und Abstandhalten sind neuerdings
                                                                       tional-destruktiven                  Ausdruck von Schutz, Fürsorge und Res-
                                                                       Umganges – of t                      pekt, wohingegen Nähe mit Gef ahr und
                                                                       auch als Abwehr                      Bedrohung durch Infektionsgefahr assozi-
                                                                       des Ausgelie f ert-                  iert ist.
Wir blicken auf ein anstrengendes Jahr zu-      seins – erlebt und erf reulicherweise sehr                  Der disruptive Prozess der Pandemie erfor-
rück, das uns epochale Herausf orderun-         viel gegenseitige Rücksichtnahme, Hilf s-                   dert rasche Anpassung an die gerade zu
gen aufgegeben hat. Ein kleines Virus hat       bereitschaf t, Sympathie und Solidarität,                   orwellsche Verdrehung grundsätzlicher
uns global unsere Verletzlichkeit als Teil      für die wir dankbar sein dürfen.                            Kategorien der menschlichen Beziehung
der Natur auf gezeigt, was schon eine                                                                       und Bedürfnisse. Trotz eines enormen Ef-
Kränkung für uns Menschen als vermeint-         Über- und Unterforderung                                    f ektes von kognitiver Dissonanz werden
liche Corona bzw. Krone der Schöpf ung          als Auswirkungen                                            diese verordnete soziale Distanz und die
ist. Die seuchenpräventiven Maßnahmen           der Seuchenprävention                                       soziale Selbstisolation unmittelbar als
wie Quarantänephasen oder der wieder-                                                                       Übereinkunft und Norm der gesellschaftli-
holte Lockdown waren für manche in der          In der zweiten Welle der Corona-Pande-                      chen Konvention akzeptiert – allerdings in
erzwungenen Entschleunigung erholsam            mie und dem lang anhaltendem Lock-                          der jetzigen zweiten Welle mit der Folge
und besinnlich, f ür viele aber belastend       down sind viele Menschen, unabhängig                        von mehr Ungeduld oder Fatalismus ange-
und bis in ihre wirtschaftliche Existenz be-    davon ob sie von der SARS-CoV-2-Infekti-                    sichts von Mutationen und dem schlep-
drohlich.                                       on betroffen sind oder nicht, gestresst, er-                penden Impfbeginn. Die Nähe-Distanz-Re-
                                                schöpf t, beschämt, verschiedentlich be-                    gulation und unsere intrapsychische Set-
Zwischen Autonomie                              rauscht, vielf ach herrscht eine Erschöp-                   zung determinieren sämtliche Beziehungs-
und Unterwerfung                               f ung der Seele, ein schwermütiges                           strukturen unseres Lebens und sind zum
                                                Schweigen angesichts des Horror vacui,                      Beispiel in der Psychotherapie und in der
Die psychischen Auswirkungen von Ein-           die Zeit erstarrt in einer Übermacht an                     Arzt-Patient-Beziehung wichtiges Funda-
samkeit über vermehrte Rückfälle bei Ab-        Gegenwart mit dem Blick auf die nächsten                    ment und therapeutisches Agens, das eine
hängigkeitserkrankungen bis zur Zunah-          Infektions- und Todeszahlen.                                Transformation von der Begegnung hinter
me an häuslicher Spannung und Gewalt            Fast alle Menschen leiden an der Situation                  den Masken bis in die Online-Angebote der
sowie die Verschärf ung prekärer Arbeits-       in einer deutlichen Polarisierung der Grup-                 Videosprechstunde erfordert.
und Wohnverhältnisse haben wir vielf ach        pen. Entweder sind sie überfordert und bei
bei unseren Patienten erlebt – sowie die        ihnen hat sich der berufliche Einsatz noch                  Unterschiedliche Strategien
Belastungen durch die Covid-19-Erkran-          verschärf t – vielerorts im medizinischen                   und Erwartungen verunsichern
kung selbst.                                    Bereich oder weil sie nebenbei zu Hause
Ich sehe auch die daraus resultierende Er-      die Kinder beschulen und unterhalten                        Zudem verunsichern die postmoderne
schöpf ung und vielf ach Anspannung in          müssen. Oder sie sind in Not geraten we-                    Perspektivenvielfalt bei der Risikoadjustie-
den verschiedenen Beruf sgruppen und            gen anstrengender Unterf orderung, weil                     rung und dem Krisenmanagement, wenn
den therapeutischen Teams. Eine solche          sie ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nachgehen                  Wirtschaf t, Wissenschaf t, Politik, Bildung
Krise und deren gesellschaf tspolitische        können und damit in ökonomische Schwie-                     unterschiedliche interne Logiken, Erfolgs-
und medizinische Bewältigungsstrategien         rigkeiten geraten sind bzw. in Vereinsa-                    bedingungen, Erwartungsstile entwickeln

160 | Hessisches Ärzteblatt 3/2021
Ein Jahr zwischen Alarmismus und Verleugnung - Die seelische Verfassung in Zeiten der Corona-Pandemie
Mensch und Gesundheit

und nicht mit Passung aufeinander bezo-        von Keller und Speicher. Das Fehlen an Au-       ineinanderspielen – nicht als Abfolge von
gen sind – wie der Soziologe Armin Nasse-      ßen im Rahmen von Kontaktverboten,               zusammenhängenden Tönen, sondern als
hi im „Ausnahmezustand als Normalf all“        Quarantänebestimmungen,            Isolation,    eine Sinnganzheit wahrgenommen. Aktu-
ausführt [2]. Funktionale Differenzierung      Homeof f ice etc., weniger kulturellen und       ell hört sich das für viele wie ein lang ge-
lautet der soziologische Fachbegriff dafür.    sportlichen Angeboten oder Vergnügun-            zogenes, kreischendes Geräusch an.
So bieten selbst die sinnvollen Handlungs-     gen außer Haus f ührt bei vielen zur Lan-
stränge entlang der virologischen und epi-     geweile im Lockdown (negativ in Anleh-           Ist der Corona-Blues pathogen?
demiologischen Erkenntnisse keine gesell-      nung an Kierkegaard als eine Macht, „die         Erfahrungen aus der versorgungs-
schaf tliche Zentralperspektive. In diesen     den Menschen vor das Nichts rückt“).             psychiatrischen Praxis
Zusammenhang passt auch Wittgensteins          Einerseits verändert sich die Zeitigung des
bekannter Satz, dass die Lösung aller wis-     Daseins (Heidegger) in grundlegenden             Der plötzliche und wiederholte Shutdown
senschaf tlichen Probleme noch kein Le-        Dimensionen, denn das gegenwärtige Ha-           der Gesellschaft und der Lockdown unse-
bensproblem gelöst hat.                        ben der Zeit als ein biographisch zusam-         rer gewohnten Normalität stellen eine
                                               menhängendes, gerichtetes Kontinuum              „potenziell traumatisierende Ausnahmesi-
Die Veränderung des Zeiterlebens               von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-             tuation“ dar – so auch die Einschätzung
in der Corona-Pandemie                         kunf t im Sinne der Ich-Zeit f indet einen       des Psychoanalytikers Volker Beck. In den
                                               Bruch in der Erf ahrung des individuell          gravierenden Auswirkungen und wirt-
Neben der Erstarrung in der totalen Ge-        bewegten Entwicklungsgeschehens.                 schaf tlicher Not sind die Auswirkungen
genwart f indet sich bei vielen Menschen                                                        der körperlichen oder physischen Distanz
eine (in der Depression typischerweise         Der Schrecken der Leere                          im Rahmen der sozialen Distanz mit nega-
vorhandene) quälende Dehnung. In der                                                            tiven Effekten verbunden und können sich
derzeitigen coronischen Situation gestal-      Anderseits bleibt ein optimiertes Zeitma-        als pathologischer Faktor manif estieren,
tet sich plötzlich f ür viele Menschen das     nagement geradezu das Gebot der Stunde           hin zu mehr Einsamkeit bzw. Einsamkeits-
Verhältnis zur Gegenwart, Vergangenheit        für jene, die weiterarbeiten, wie im Home-       erleben. Das zunehmende Stressniveau
und Zukunf t ganz neu, genau wie auch          office, bei der Kinderbetreuung und in der       kann zu Belastungsreaktionen oder An-
das Verhältnis zur Zeitf orm und den           Organisation ihrer digitalen Präsenz. Für        passungsstörungen f ühren und bei be-
Schichten untereinander. Hier passt zu         diejenigen ohne Arbeit im Lockdown               stimmten gesellschaf tlichen Gruppen in
diesem verwirrenden Zeiterleben in den         wirkt sich das Übermaß an Zeit wie ein           autonomistischer Reaktion auf das Ohn-
coronischen Krisentagen auch das Thema         Ungeheuer aus; der Schrecken der Leere,          machtserleben zu destruktiv-aggressiven
des Zauberbergs von Thomas Mann                im Sinne des Horror vacui, der ihnen in          Entladungen. Im gesellschaf tspolitischen
(1924), der die Geschichte von Hans Cas-       den Einkauf sstraßen, den Vereinshäusern         Feld, aber auch bis hin in die private Grup-
torp in den 15er-Jahren des 20. Jahrhun-       und ihren eigenen Läden und Kneipen ent-         pe hinein gilt es, den Kontrast zwischen
derts erzählt, bevor die Welt aus den Fu-      gegengähnt. Hinzu kommt der Kontrast             Alarmismus und Katastrophisierung einer-
gen geriet und danach eine andere war. So      der chronobiologischen Zeitrhythmen              seits und Verleugnung und Entsolidarisie-
wirken Bücher aus vergangenen Jahrhun-         und der Digitalisierung, die eben nicht          rung andererseits auszuhalten und auszu-
derten jetzt zeitgemäßer – wie Camus’          miteinander verwandt und kompatibel              gleichen. In unserem versorgungspsychi-
„Pest“ oder Márquez’ „Die Liebe in Zeiten      sind, sondern weitgehend asynchron lau-          atrischen klinischen Alltag sehen wir:
der Cholera“ oder „Auf der Suche nach der      fen. Dieser Kontrast findet sich auch in der     • eine Häuf ung von Rückf ällen bei Ab-
verlorenen Zeit“ von Marcel Proust.            Unendlichkeit des digitalen und der Win-            hängigkeitserkrankungen im Zusam-
Vorcoronisch ließen sich lange Monate          zigkeit des analogen Raumes wieder.                 menhang mit dem coronischen Stress,
und Tage vorab strukturieren, planen und       Warten, dass die Pandemie bald weg-              • einen Anstieg der af f ektiven Erkran-
mit Zielgerichtetheit angehen im Sinne ei-     geimpft wird, sich das normale Leben wie-           kungen mit einer Phasenverschiebung
nes Timings. Die totale Zukunf tslosigkeit     der einstellt oder die Ungewissheit, ob wir         der Inanspruchnahme je nach Ausmaß
wird durch das Licht am Ende des Tunnels,      noch weiter in die schlimmste wirtschaftli-         der SARS-CoV-2-Inzidenzzahlen und
nämlich den begonnenen Impf ungen,             che Krise aller Zeiten schlittern, stellt eine      Kontaktbeschränkungen,
mittlerweile aufgehellt. Dennoch sind Rei-     Gratwanderung in dieser zeitlichen Unge-         • eine Zunahme von Angststörungen mit
sen, Kongresse, Arbeitsplatzsicherheit         richtetheit dar.                                    hypochondrischer Akzentuierung,
etc. nicht plan- und realisierbar. Stattdes-   „Wird auch aus diesem Weltf est des To-          • reaktive Psychosen mit Auskristallisati-
sen wird die Gegenwart von Corona              des, auch aus der schlimmen Feuerbrunst,            on des Wahnthemas Covid-19,
bestimmt und in eine Breite gezogen, der       die rings den regnerischen Abendhimmel           • die Verstärkung von Zwangsstörungen
gar nichts Flüchtiges oder Zukünf tiges        entzündet, einmal die Liebe steigen?“               (manche Zwangskranke mit vorbeste-
innewohnt [3]. Manche können die er-           (sagt Hans Castorp hoffnungsvoll am En-             henden Dekontaminationsritualen füh-
zwungene Entschleunigung als Gelegen-          de des Zauberbergs). Edmund Husserl be-             len sich allerdings auch erleichtert und
heit zur Kontemplation, Muße, Innewer-         schreibt in der Phänomenologie des inne-            endlich verstanden),
den, als ästhetische Erf ahrung erleben        ren Zeitbewusstseins, wie Vergangenheit,         • eine signifikante Häufung von Konflik-
oder praktisch nutzen zum Entrümpeln           Gegenwart und Zukunft wie eine Melodie              ten, Gewalt und Missbrauch in Partner-

                                                                                                     Hessisches Ärzteblatt 3/2021 | 161
Mensch und Gesundheit

  schaf ten und Familien durch die auf -     • In der Regelversorgung f ehlen Betten        sich die Schönheit in Fehlern entdecken.
  erlegte soziale Distanzierung und Kon-       bzw. Plätze wegen Isolierspangen, -sta-      Hier werden Keramik- oder Porzellan-
  taktreduktion in unserer Gesellschaf t       tionen und -zimmern, Wegf all von            bruchstellen nicht vertuscht, sondern ver-
  bzw. drängende Enge in Quarantäne            Mehrbettzimmern, kleinere Gruppen in         goldet und damit in ihrer ganzen Schön-
  und Homeoffice,                              den Tageskliniken; das Entlassmanage-        heit inszeniert. Dieses wichtige Resilienz-
• die Verstärkung der Einsamkeit, Zunah-       ment ist erschwert, zum Beispiel bei der     prinzip, nämlich das wir an unseren Verlet-
  me an Isolation und daraus f olgende         Verlegung von gerontopsychiatrischen         zungen wachsen und sie als wertvolle Le-
  suizidale Krisen, wobei bislang kein An-     Patienten in Heimeinrichtungen.              benslinien annehmen können, die uns
  stieg der Suizidraten festzustellen ist.                                                  stark machen, gilt auch f ür die Bewälti-
• Bei Paarbeziehungen verbessert bzw.        „Wo aber Gefahr ist, wächst                    gung der Corona-Pandemie.
  intensiviert sich jedoch je nach Unter-    das Rettende auch“                             Die Bewältigungsproblematik hat viel mit
  suchung die Sexualität bei bis zu 50 %                                                    Lebens- und Krankengeschichte bzw. Bio-
  der statistisch begleiteten Paare.         So Friedrich Hölderlin, der am 20. März        graf ie und Krankheit zu tun. Jede Kran-
• Auch beobachten wir eine Zunahme           2020 seinen 250. Geburtstag hatte. Wie         kengeschichte und Biografie ist nicht nur
  von PC- und Mediensucht, Vermei-           seine f ielen auch viele andere Geburts-       aus ihrer Vorgeschichte heraus zu verste-
  dungsverhalten und Realitätsverlust        tagsf eiern aus – und können nachgeholt        hen, im Sinne der Prägung aus der frühen
  (Berührt zu sein bei Facebook ist ge-      werden.                                        Kindheit. Sie konstituiert sich nicht nur
  nauso wie reich zu sein bei Monopoly).     Was hilft? Bewältigung und Prävention.         aus dem Ineinander von Bewusstem und
                                             Um die Abwärtsspirale der Erschöpfung in       Unbewusstem, sondern ebenso sehr aus
Versorgung in den psychiatrischen            die erlernte Hilflosigkeit und den Negativi-   dem Ineinander von Mitgebrachtem und
Kliniken während der Pandemie                tätsbias zu vermeiden, gilt es Selbstwirk-     Eingebrachtem – also Zuf all, Fügung sei-
                                             samkeit und Selbstfürsorge zu stärken.         tens der Lebensereignisse, die Öf f nung
• Hygiene- und Abstandsregeln manifes-       Ich beginne mit einem kleinen Beispiel         des Zukunf tsaspektes im Hier und Jetzt.
  tieren auch im therapeutischen Milieu      eigener Handlungsf ähigkeit: dem tägli-        Was bedeuten also zwei oder vielleicht
  die Verdrehung grundsätzlicher Kate-       chen Spaziergang. Rausgehen ist das            auch drei Corona-Jahre? Am Ende können
  gorien der menschlichen Beziehung          neue Ausgehen. Frische Luft schnappen,         sie zusammensurren zu einer Geschichte,
  und Bedürf nisse (Nähe als Gef ahr,        Licht tanken, die Natur beobachten, sich       die wir unseren Enkeln erzählen werden.
  Distanz als Schutz).                       bewegen, damit etwas in Bewegung               Hierbei dürfen wir nicht zynisch werden,
• Screening-Untersuchungen, Testun-          kommt, ist nicht nur wirksam gegen den         denn viele, zu viele, weit über 60.000
  gen, Isolierung, Quarantänemaßnah-         Winter-Blues, sondern auch ein Ausweg          Menschen in Deutschland sind an oder
  men sichern und verunsichern Patien-       aus der coronaverschuldeten Einengung          mit dem neuartigen Corona-Virus gestor-
  ten und Professionelle.                    und kann etwas angstlösende Weitung            ben und werden ihre Bewältigungsge-
• Besuchsverbote be- und entlasten           bringen gegen die seelische Enge (das          schichte nicht mehr ihren Enkeln erzählen
  Patienten.                                 Wort „Angst“ kommt vom lateinischen            können. Hier gehört zur Bewältigung der
• Reduzierung notwendiger Angehöri-          angustus = eng).                               Überlebenden eine off ene und auch
  gen- und Familiengespräche – es ge-        Ein wichtiges Element in der Resilienzför-     geteilte Trauerarbeit.
  lingt nur teilweise eine Kompensation      derung, also dem Umgang mit Krisen, oh-        Um noch einmal auf das Zeiterleben zu-
  über Telefonie- und Videosprech-           ne schweren oder nachhaltigen Schaden          rück zu kommen, ist es hilf reich, die
  stunden.                                   zu nehmen, besteht weniger in der Durch-       Futur-II-Perspektive einzunehmen, bei-
• Restriktive Belastungserprobung            haltetaktik, also krampf haf t auf bessere     spielsweise von 2023 aus auf die heutige
  erschwert den Transf er von stationä-      Zeiten zu warten, weil dann eher Erschöp-      Situation zu schauen: Es wird gewesen
  rem Therapieerf olg in den f amiliären     fung, Müdigkeit, Zermürbung zunehmen,          sein. Diese Perspektiven drehen sich und
  und sozialen Alltag.                       sondern in langfristiger Anpassung an die-     erleichtern eine Befreiung aus der Gegen-
• Expositionstherapien und Übung all-        se Situation. Hierzu gehört die Of fenheit     wart und eine Distanzierung von der
  tagspraktischer Fähigkeiten im sozialen    zum Perspektivenwechsel mit Chancen,           Übermacht der Vergangenheit, die nun in
  Feld sind beschnitten.                     eigene neue Wege auszuprobieren – und          ihrer Absolutheit, in ihrer of t unheimli-
• Dafür steigt oft der solidarische Zusam-   das nicht nur im Großen wie z. B. in der       chen Festgestelltheit und Endgültigkeit
  menhalt in der stationären therapeuti-     Digitalisierung, die zweifellos einen coro-    verflüssigt und manchmal sogar „suspen-
  schen Kommunität.                          nabedingten Schub ähnlich wie die Bio-         diert“ wird [4].
• Leiborientierte Therapien (Tanz-, Be-      technologie im Rahmen der Impfstoffent-        Zum Prozess der Resilienz gehört die
  wegungs-, Theatertherapie) sind ver-       wicklung bekommen hat.                         Identifizierung ihrer Strategien, also inter-
  ändert, reduziert, gestrichen; Gruppen-    „Selig sind die, die einen Sprung in der       personeller-, externer-, intrapersoneller
  therapien sind zum Teil verkürzt wegen     Schüssel haben, denn sie lassen das Licht      Ressourcen sowie Bewältigungs- und Co-
  kleinerer Zeitf enster f ür mehr Klein-    durchscheinen“ (Michel Audiard). Wie in        ping-Strategien. Zur Resilienzf örderung
  gruppen, um die Abstandsregeln ein-        der traditionellen japanischen Reparatur-      gehören die Prävention, die Rehabilitati-
  halten zu können.                          methode für Keramik, dem Kintsugi, lässt       on, die Bildung, die Psychotherapie. Eine

162 | Hessisches Ärzteblatt 3/2021
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seelische Erkrankung durch psychische                 lauf einzuhalten, wenn nötig mit f es-
Belastung lässt sich nicht sicher verhin-             tem Tagesplan.
dern, ebenso wenig ein Rezidiv einer be-         6.   Nehmen Sie Hilf e an: bei Bekannten,
stehenden Erkrankung.                                 Freunden, in der Familie, bei Behörden
                                                      sowie auch therapeutische Hilfe. Nie-
14 salutogenetische Tipps                             mand ist vor einer Depression oder ei-
                                                      ner anderen psychischen Erkrankung
Die Resilienzförderung ist ein Weg, um die            gefeit. Wichtig ist, bei möglichen An-                                            10. Üben Sie Stressabbau. Aktuell ist ein
mentale Gesundheit zu stärken und Krisen              zeichen Hilfe zu holen und zu akzep-                                                  guter Zeitpunkt Entspannungstechni-
besser zu meistern – nicht nur in der Co-             tieren und eine Beratungsstelle, eine                                                 ken, wie Autogenes Training oder pro-
rona-Pandemie. In pragmatischer Ergän-                Hotline oder noch besser den Haus-                                                    gressive Muskelrelaxation oder auch
zung an das vorab Beschriebene noch ei-               oder Facharzt auf zusuchen. Eine de-                                                  Achtsamkeitsübungen, zu lernen.
nige Tipps zur Stärkung der Psyche – ori-             pressive Episode ist in der Regel gut                                                 Hierzu f inden Sie Anleitungen im In-
entiert unter anderem an der Arbeit der               behandelbar.                                                                          ternet oder bei Online-Kursen.
Kolleginnen und Kollegen am Leibniz-In-          7.   Pflegen Sie Ihre Kontakte. Insbeson-                                              11. Seien Sie offen zu Ihren Kindern. Gera-
stitut für Resilienzforschung oder bei der            dere Alleinlebende oder Menschen,                                                     de in diesen unsicheren Zeiten benöti-
Organisation Mental Health Europe:                    die f ür Depressionen anf ällig sind,                                                 gen Kinder das Gefühl der Geborgen-
1. Akzeptieren Sie, was Sie nicht ändern              entwickeln aus dem Alleinsein ein                                                     heit und der Sicherheit. Wichtig ist,
    können.                                           Einsamkeitserleben, das psychisch                                                     mit ihnen ganz offen über das Thema
2. Achten Sie auf Inf ormationen aus se-              und somatisch sehr belastend und                                                      zu sprechen und ihre Fragen zu beant-
    riöser Quelle (z. B. Bundeszentrale für           krankmachend sein kann. Auch wenn                                                     worten und ihnen zuzusichern, für sie
    gesundheitliche Auf klärung, Robert-              körperliche Nähe gerade schwer                                                        da zu sein. Wichtig ist es auch, Rituale
    Koch-Institut, Bundesgesundheitsmi-               möglich ist, ist soziale Nähe umso                                                    beizubehalten.
    nisterium, WHO).                                  wichtiger in Form von gemeinsamen                                                 12. Mobilisieren Sie Energie bei Dingen,
3. Vermeiden Sie „Inf of lut“ und achten              Spaziergängen, Videoanrufen, Gebe-                                                    die Sie verändern können.
    Sie auf dosierte Fakten. Legen Sie be-            ten, Telef onaten, Chats, E-Mails,                                                13. Trotz aller berechtigten Verunsiche-
    wusst Inf ormationspausen ein, das                Briefen etc.                                                                          rungen und Zukunftssorgen bezüglich
    heißt geben Sie dem Thema Corona-            8.   Achten Sie auf Selbstfürsorge. Behan-                                                 der eigenen Gesundheit oder der be-
    Virus nicht zu viel Raum. Am besten,              deln Sie sich, wie Sie einen guten                                                    ruf lichen und f amiliären Sicherheit:
    wenn Sie es sich beruf lich erlauben              Freund behandeln würden, und sor-                                                     Vermeiden Sie negative Gedankenspi-
    können, nehmen Sie sich nur ein bis               gen Sie für die Erfüllung der Grundbe-                                                ralen.
    zwei feste Zeiten am Tag für die Infor-           dürf nisse: ausreichend Schlaf , ausge-                                           14. Bleiben Sie SARS-CoV-2-negativ
    mationen.                                         wogene Ernährung. Bleiben Sie in Be-                                                  und denken positiv!
4. Def inieren Sie Auszeiten und f inden              wegung, etwa durch tägliche Spazier-
    Distanz. Mir hat es im vergangenen                gänge oder sportliche Aktivitäten,                                                                Dr. med. Matthias Bender
    Jahr oft gut getan, nicht nur nach Co-            auch in den eigenen vier Wänden. Ver-                                              Klinikdirektor Vitos Klinik für Psychiatrie
    rona in den PCR-Befunden zu suchen,               meiden Sie unbedingt einen erhöhten                                                       und Psychotherapie (KPP) Kassel,
    sondern die Corona borealis – die                 Alkoholkonsum.                                                                     Bad Emstal, Hofgeismar und Melsungen,
    nördliche Krone – am Sternenhimmel.          9.   Bieten Sie anderen Hilfe an, vor allem                                                                   Ärztlicher Direktor
5. Sorgen Sie f ür Routine. Gerade in ei-             älteren Menschen oder Personen, die                                                        Vitos Klinikum Kurhessen, Kassel;
    ner Zeit, in der so viel ungewiss ist, ist        psychisch labil sind: Sie brauchen jetzt                                                                 Kontakt via E-Mail:
    es besonders wichtig, eine Struktur in            Aufmerksamkeit, ein offenes Ohr oder                                                  matthias.bender@vitos-kurhessen.de
    Tag und Woche zu haben. Vor allem                 praktische Unterstützung im Alltag.
    für Menschen, die an Depressionen er-             Seien Sie altruistisch und spüren den                                               Die Literaturhinweise f inden Sie auf
    krankt sind oder die dazu neigen, ist             Zusammenhalt einer solidarischen                                                    unserer Website www.laekh.de unter
    es wichtig, einen geregelten Tagesab-             und hilfsbereiten Gemeinschaft.                                                     der Rubrik „Hessisches Ärzteblatt“.
Mensch und Gesundheit

Literatur zum Artikel:

Ein Jahr zwischen Alarmismus und Verleugnung
Die seelische Verfassung in Zeiten der Corona-Pandemie
von Dr. med. Matthias Bender

[1] Volker Beck: Die ungewollte soziale      [3] Gerrit Bartels: Corona und die totale     Weitere Literatur
    Distanz in Zeiten der Corona-Pande-          Gegenwart.
    mie. In: Bering; Eichenberg: Die Psy-        Tagesspiegel 29.03.2020.                  Christian Scharfetter: Allgemeine Psycho-
    che in Zeiten der Corona-Krise. Klett-                                                 pathologie. Thieme Verlag Stuttgart,
    Kotta, Stuttgart 2020.                   [4] Wolfgang Blankenburg: Zeitigung des       8. unveränderte Auflage 2020.
                                                 Daseins in psychiatrischer Sicht. 1992.
[2] Armin Nassehi: Der Ausnahmef all als         In: Psychopathologie des Unscheinba-      Christian Kupke: Der Begrif f Zeit in der
   Normalf all. Modernität als Krise. In:        ren, Hrsg. M. Heinze 2007.                Psychopathologie. Parodos Berlin, 2009.
   Kursbuch 170. Krisen lieben. Mur-
   mann, Hamburg 2012                                                                      Boris Wandruszka: Die Rolle der Zukunf t
                                                                                           für die menschliche Exsistenz.
                                                                                           Alber, Freiburg 2014.
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