Ein Land im Wahn - Spiegel

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Ein Land im Wahn - Spiegel
Ein Land im Wahn
Türkei Kein Staat hat sich in so kurzer Zeit so schnell in die Zukunft katapultiert – und ist
so schnell in die dunkle Vergangenheit abgestürzt. Auf die Modernisierung folgt nun
ein neuer Bürgerkrieg. Eine Reise durch eine von Misstrauen und Hass gespaltene Nation.
                                                                                               Präsident über unser Land flog“, erzählt

D
        as hier ist sein Land, die Heimat     den Berg zu Fuß, um sich Gott näher zu
        seines Vaters, es ist: Recep Tayyip   fühlen, und Erdoğan, ihrem geliebten Prä-        sie, „wir sind so stolz auf ihn.“
        Erdoğans Türkei. Eine hinreißende     sidenten.                                           Wie Aysel Aksay denken viele Menschen
Berglandschaft am Schwarzen Meer, satt-         „Ich wünschte, ich könnte seine Hand           hier. Sie verehren Erdoğan, sie sehen den
grüne Hänge, an denen Menschen Teeblät-       küssen!“, ruft Aysel Aksay, 40, etwas au-        Präsidenten als einen von ihnen, als einen
                                                                                                                                             Foto: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL

ter pflücken. Ihr Werk unterbrechen sie       ßer Atem, aber strahlend. Aksay stammt           frommen, einfachen Mann, der es mit har-
nur, um zu beten. Für diese Menschen,         aus Güneysu, dem Ort am Fuße der Berge,          ter Arbeit ganz nach oben geschafft hat.
die er „meine Leute“ nennt, hat der Prä-      wo auch Erdoğans Familie herkommt. Sie              Wäre der Rest der Türkei wie Güneysu,
sident auf einem der höchsten Gipfel eine     trägt Kopftuch und einen schwarzen Man-          hätte der 61-jährige Erdoğan, der das Land
Moschee nach osmanischem Vorbild er-          tel, sie blickt auf den weißen Marmorbau,        seit 13 Jahren quasi im Alleingang regiert,
richten lassen. So hoch über den Dörfern,     der in der Sonne leuchtet. Aufgeregt und         bei der Wahl am 7. Juni einen weiteren
dass sie von unten kaum zu erkennen ist.      glücklich ist sie, gleich wird sie hier beten,   triumphalen Sieg errungen. Doch weil es
Ein halsbrecherischer Weg schlängelt sich     wenn auch nur in dem fensterlosen Zim-           auch andere Türken gibt, kam seine Partei
empor, im Auto braucht man eine Drei-         mer für die Frauen. „Am Tag der Eröff-           für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP)
viertelstunde. Aber viele hier erklimmen      nung sah ich den Helikopter, mit dem der         nur auf 40,9 Prozent der Stimmen und ver-
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Ausland

                                               schar al-Assad stürzen wollte und dann          tanzten in den Straßen, hupende Autos
                                               den „Islamischen Staat“ (IS) zu lange igno-     fuhren durch die Stadt, es gab ein Feuer-
                                               rierte. Und der jetzt die Kurden bekämpft,      werk. All das ist gerade mal drei Monate
                                               die einzigen Partner des Westens im             her. Doch heute ist die Stimmung düster.
                                               Kampf gegen die Extremisten. Der alte           Mit Einbruch der Dunkelheit wird es still,
                                               Fronten aufreißt, Misstrauen und Nationa-       die Läden schließen früh, die Menschen
                                               lismus schürt, Journalisten und Kritiker        bleiben aus Angst lieber zu Hause.
                                               einsperren lässt, Soldaten ganze kurdische         Fast täglich kommt es in Diyarbakır, wie
                                               Städte abriegeln und beschießen lässt.          in vielen kurdischen Städten, zu Kämpfen
                                                  Dabei hatte Erdoğan einst große Ziele:       zwischen Anhängern der PKK und den Si-
                                               Er wollte den Kurdenkonflikt lösen, die         cherheitskräften. In Cizre, einer Stadt nahe
                                               Wirtschaft voranbringen, das Land moder-        der syrisch-irakischen Grenze, wurde An-
                                               nisieren und an Europa heranführen. Und         fang September eine Ausgangssperre ver-
                                               er hatte ja auch Erfolge.                       hängt, die 113 000 Einwohner waren ein-
                                                  Der Nato-Partner Türkei galt vor nicht       gesperrt, mindestens 30 Zivilisten wurden
                                               allzu langer Zeit als demokratische Hoff-       nach Angaben der Bewohner erschossen.
                                               nung der islamischen Welt, als Vermittler       Es ist wieder wie im Bürgerkrieg, der seit
                                               zwischen Ost und West, als baldiger EU-         1984 mehr als 40 000 Menschen das Leben
                                               Beitrittskandidat. Doch was sich nun zeigt,     gekostet hat. Und der doch eigentlich über-
                                               ist das Gegenteil: ein Land, das durch Fa-      wunden schien.
                                               natismus, übertriebenen Nationalstolz und          Auch Kışanak hat für die kurdische Sa-
                                               bizarre Verschwörungstheorien in einen          che gekämpft, aber nie mit Gewalt, wie
                                               kollektiven Wahn zu verfallen droht.            sie sagt. Und gleichzeitig spricht sie kaum
                                                  Wer in diesen Wochen durch die Türkei        Kurdisch. 1983, nach einem Militärputsch,
                                               reist, der erlebt ein gespaltenes Land. Auf     wurde die kurdische Sprache verboten.
                                               der einen Seite ist da die Türkei Erdoğans:     Kurz darauf begann die PKK ihren Kampf
                                               seine Heimat am Schwarzen Meer, anato-          für einen eigenen Staat und gegen den
                                               lische Wirtschaftswunderstädte wie Kay-         türkischen Staat. Kışanak, die sich noch
                                               seri und natürlich Ankara, das Zentrum          heute unwohl fühlt, wenn sie Kurdisch
                                               der Macht. Und auf der anderen Seite das        spricht, ist ein Beispiel für diese Politik
                                               Land seiner Gegner: das kurdische Diyar-        der Repression, für den Versuch, alles Kur-
                                               bakır, wo die Menschen um ihr Leben             dische auszulöschen, Sprache, Traditio-
                                               fürchten müssen, die Kandil-Berge jenseits      nen, Identität.
                                               der Grenze, wo sich kurdische Kämpfer              Dass die jüngere Generation es leichter
                                               verschanzt haben, und Istanbul, Keimzelle       hat als sie, ist ein Verdienst Erdoğans. Als
                                               der türkischen Demokratie.                      erster Regierungschef sprach er im August
                                                                                               2005 von einem „Kurdenproblem“. Er ent-
                 Straßenszene in Kayseri
                                               Diyarbakır: Der neue Bürgerkrieg                schuldigte sich für die Fehler des Staates
                                               Gültan Kışanak schließt die Augen, die          im Umgang mit der größten Minderheit
                                               Fensterscheiben in ihrem Büro vibrieren,        und kündigte einen Neuanfang an. Der
                                               alle paar Minuten donnern Kampfflugzeu-         Friedensprozess war Erdoğans mutigstes
                                               ge über das Rathaus von Diyarbakır. Sie         Projekt: Er investierte Milliarden Euro in
                                               fliegen Richtung Kandil-Berge. Dort, in         die Infrastruktur im Südosten, lockerte das
lor die absolute Mehrheit. Das war das         der Autonomen Region Kurdistan, bom-            Verbot der kurdischen Sprache und erlaub-
Ende von Erdoğans Traum, aus der Türkei        bardiert die türkische Luftwaffe seit dem       te kurdische Radio- und Fernsehsender.
eine Präsidialrepublik zu machen, mit ihm      24. Juli Stellungen der verbotenen Arbei-          2012 begannen Friedensgespräche mit
als allmächtigem Präsidenten bis ins Jahr      terpartei Kurdistans (PKK).                     dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah
2019. Und nicht nur das, mit der Demo-            Kışanak, 54, ist eine kräftige Frau mit      Öcalan; noch im Februar 2015 forderte die-
kratischen Partei der Völker (HDP) nahm        schulterlangen grauen Haaren und in ei-         ser seine Anhänger auf, der Gewalt abzu-
erstmals in der Geschichte eine prokurdi-      nem rosafarbenen Blazer. Seit dem Früh-         schwören. Öcalan sprach von einer „his-
sche Partei die Zehnprozenthürde und zog       jahr 2014 ist sie Kobürgermeisterin von         torischen Entscheidung“. Ein halbes Jahr
ins Parlament ein.                             Diyarbakır, die erste Frau in diesem Amt.       später gelten seine Worte nicht mehr. Er-
   Doch Erdoğan klammert sich an die           Die prokurdische Partei HDP, die hier bei       doğan hat den Friedensprozess abge-
Macht und an seinen Traum. Koalitions-         der Wahl im Juni über 80 Prozent erreicht       brochen.
verhandlungen ließ er scheitern, am 1. No-     hat, schreibt vor, dass alle wichtigen Posten      Warum der plötzliche Rückfall in die
vember will er erneut wählen lassen. Das       doppelt besetzt werden müssen, mit einem        Gewalt? Weil die HDP ins Parlament ein-
einzig akzeptable Ergebnis für ihn: eine       Mann und einer Frau.                            gezogen sei, steuere die AKP das Land
absolute Mehrheit der AKP. Und dafür ris-         Im Wahlkampf hatte sich die HDP nicht        nun zurück in den Bürgerkrieg, sagt
kiert Erdoğan alles.                           nur als Partei der Kurden positioniert, son-    Kışanak. Erdoğan brauche die Eskalation,
   Aus Recep Tayyip Erdoğan, dem gläu-         dern für die Gleichstellung von Mann und        um die absolute Mehrheit zu erringen –
bigen Muslim, begnadeten Populisten, Mo-       Frau und für die Rechte Homosexueller           und die HDP aus dem Parlament zu wer-
dernisierer der Türkei, Vater des Wirt-        geworben. Vor allem aber versprach sie,         fen. So wie die Bürgermeisterin sehen es
schaftswunders, droht nun, als letzte          Erdoğans Plan, ein Präsidialsystem einzu-       viele Kurden. Und nicht nur sie. Es gibt
Wandlung, ein Autokrat zu werden. Einer,       führen, zu bekämpfen. Als am Abend des          inzwischen viele, die glauben, die Gewalt-
der sein eigenes Land in einen Bürgerkrieg     7. Juni klar war, dass die HDP gut 13 Pro-      eskalation käme Erdoğan wie gerufen – er-
reißt – und der außenpolitisch Konflikte       zent erhalten hatte, feierten die Menschen      möglichte sie es ihm doch, sich vor den
stiftet. Der erst den syrischen Diktator Ba-   hier, in der größten Stadt im Südosten. Sie     Neuwahlen als Garant für Stabilität zu
                                                                                                                       DEr SpiEgEL 39 / 2015   89
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inszenieren. Oder die Wahl aus Sicherheits-    „Beleidigung von Staatsmännern“ ange-               çin Topçu. Und fügte hinzu: Dieser Krieg sei
gründen zu verschieben.                        zeigt. Der Mann hatte während der Trau-             vergleichbar mit der Schlacht von Gallipoli.
   Die Regierung wiederum wirft den kur-       erfeier geklagt, dass Erdoğan „diesen jun-             Das zeigt, wie groß die Nervosität der
dischen Rebellen vor, sie hätten mit der       gen Menschen ins Grab geschickt“ habe.              Regierung ist. Wie groß die Angst davor,
Gewalt angefangen: „Die PKK hat den               In Çaykara hängt das Bild des Märtyrers          bei den Neuwahlen wieder die absolute
Friedensprozess missbraucht, um heimlich       an den Türen der Geschäfte – doch wer               Mehrheit zu verfehlen, die jahrelang ga-
ihre Waffenlager zu füllen und Minen zu        sich nach ihm erkundigt, wird misstrauisch          rantiert zu sein schien. Denn auch jetzt ist
legen“, sagt der AKP-Abgeordnete Muhsin        beäugt. Der Wirt eines Teehauses, ein alter         keineswegs gewiss, dass Erdoğans Strategie
Kızılkaya, selbst kurdischer Abstammung.       Mann mit Schirmmütze, ist einer der we-             aufgeht. Den Umfragen zufolge ist es we-
   Auch wenn die Gründe umstritten sind,       nigen, die reden, er sagt: Ahmet Çamur              der der AKP noch den anderen Parteien
lässt sich doch zumindest ein Anfangs-         sei ein guter Mann gewesen, er habe, wie            seit dem 7. Juni gelungen, deutlich mehr
punkt der Gewalt ausmachen: der 20. Juli.      die meisten hier, die AKP unterstützt. „Wir         Wähler zu gewinnen.
An diesem Tag tötete ein mutmaßlich dem        sind religiös, deshalb lieben wir Erdoğan.
IS nahestehender Selbstmordattentäter in       Aber diese Beerdigungen werden ihm bei              Istanbul: Wo alles begann
Suruç, nahe der Grenze zu Syrien, mehr         der Wahl keine Punkte bringen.“                     Wenn man nach einem Ort sucht, an dem
als 30 Menschen, überwiegend Kurden.              Plötzlich verstummt der Wirt, seine Au-          Erdoğans Niedergang begann, dann ist
   Zwei Tage später töteten PKK-Leute          gen weiten sich. Zwei Polizisten sind auf-          man hier richtig: ein Park im Zentrum
zwei Polizisten in ihrer Wohnung in Cey-       getaucht, einer in Uniform, einer in Zivil.         Istanbuls, weder groß noch hübsch, ein
lanpınar, etwa 200 Kilometer östlich vom       Sie wollen wissen, was die Fragen sollen.           paar Bäume und Rasenflächen, umgeben
Anschlagsort. Die PKK verbreitete im In-       Dann wollen sie Ausweise sehen. Ein Poli-           von Asphalt. Aber je nachdem mit wem
ternet, die Tat sei ein Racheakt für den       zist verschwindet damit, als er zurück-             man in der Türkei spricht, ist er der Ur-
Anschlag von Suruç. Die Beamten hätten         kommt, notiert er etwas in seinen Unter-            sprung alles Bösen oder die Keimzelle der
den IS unterstützt. Weitere zwei Tage spä-     lagen, dann gibt er die Pässe zurück. „Ihr          Hoffnung. Einig sind sich beide Seiten nur,
ter begann die Regierung mit dem Bom-          könnt jetzt gehen“, sagt er drohend.                dass das, was im Frühling 2013 hier ge-
bardement von PKK-Stellungen.                     Fast so wichtig wie der eigentliche              schah, das Land verändert hat.
   Seither sind laut Regierung 2000 kurdi-     Kampf im Südosten scheint der Regierung                Der Name Gezi steht heute für einen
sche Kämpfer getötet worden, hinzu kom-        der Kampf um die Deutungshoheit zu sein.            Wendepunkt in der Ära Erdoğan. Vor den
men wohl unzählige kurdische Zivilisten;       Daher werden ausländische Korresponden-             Protesten im Gezi-Park erschien er wie
außerdem türkische Sicherheitskräfte, die      ten und unabhängige türkische Journalis-            ein übermächtiger, beinahe überirdischer
von der PKK getötet wurden.                    ten daran gehindert, an „Märtyrerbegräb-            Staatenlenker – der Einzige, der die Türkei
                                               nissen“ teilzunehmen. Zugelassen sind nur           zusammenhalten und in eine erfolgreiche
Çaykara: Märtyrer und Meinungsfreiheit         Vertreter linientreuer Medien.                      Zukunft führen konnte. Nach Gezi stand
Wenige Tage nachdem Erdoğan die Mo-               Mit der Rede- und Meinungsfreiheit ist           er entblößt da: als machtbesessener, para-
schee auf dem Berg über Güneysu einge-         es nicht mehr weit her in Erdoğans Türkei:          noider Autokrat, der Gezi zu einer Ver-
weiht hatte, trat er ganz in der Nähe, in      Schon seit Jahren werden Redaktionen                schwörung feindlicher Mächte erklärte, die
dem kleinen Ort Çaykara, bei der Beerdi-       durchsucht und Journalisten eingesperrt,            die Türkei schwächen wollten.
gung eines Polizisten namens Ahmet Ça-         doch so schlimm wie jetzt war es noch nie.             Es begann mit ein paar Umweltschüt-
mur auf. Fast täglich finden irgendwo im       Ende August wurden zwei britische Repor-            zern, die für den Erhalt des Parks demons-
Land Trauerfeiern für Gefallene statt, die     ter in Diyarbakır verhaftet und der „Ver-           trierten. Dieser sollte einem Einkaufszen-
im Südosten umgekommen sind. Zur Be-           wicklung in terroristische Aktivitäten“             trum weichen, einem von Erdoğans un-
erdigung Çamurs versammelten sich in           beschuldigt. Sie wurden erst in ein Hoch-           zähligen Infrastrukturprojekten. Allein in
Çaykara Tausende Menschen.                     sicherheitsgefängnis gebracht, dann außer           Istanbul plant er einen dritten Flughafen,
   Vor ihnen erschien Erdoğan, hinter ihm      Landes geschafft. Ähnlich erging es wenig           den größten der Welt, eine dritte Bospo-
war eine türkische Flagge aufgespannt. Er      später einer niederländischen Journalistin.         rusbrücke, eine riesige Moschee mit sechs
stützte sich mit der einen Hand auf Ça-           Die Türkei führe einen Krieg gegen aus-          Minaretten und einen „künstlichen Bos-
murs Sarg, in der anderen hielt er ein Mi-     ländische Medien „wie Reuters, BBC, CNN             porus“, eine zweite Verbindung zwischen
krofon: „Wir verabschieden uns von unse-       und den SPIEGEL“, sagte Kulturminister Yal-         Schwarzem Meer und Marmarameer.
rem Märtyrer, der, wie wir glauben, Mär-
tyrertum erlangt hat“, sagte Erdoğan. „Wie        200 km                                                                                       GEORGIEN
                                                                                                      S ch wa r z e s Me e r
glücklich ist seine Familie, wie glücklich
sind seine Nächsten!“ Denn Märtyrer, so                                                                                  Güneysu
                                                 Istanbul
verkündete der Präsident, säßen im Para-                                                                                                             ARME-
dies neben den Propheten.                                                                                            Çaykara
                                                                                                                                                     NIEN
   Ist das ein Trost? Mehmet Çamur, der                            Ankara
Zwillingsbruder des Polizisten, winkt ab.                                              kurdische
Er steht unter einer türkischen Flagge und                                         Siedlungsgebiete
einem Transparent mit dem Gesicht seines                                                                                                                IRAN
Bruders. Seit Tagen empfängt Çamur Be-                                                   Kayseri
sucher, er wolle nicht reden, sagt er, schon
gar nicht mit ausländischen Journalisten.              T Ü R K E I                                                             Diyarbakır
Er sagt nur einen einzigen, bitteren Satz:                                                                                           Cizre
„Mein Bruder hat sein Leben dem Süd-                                                                        Suruç    Ceylanpınar
osten der Türkei gewidmet.“                                                                                                                     Kandil-Berge
   Denn Angehörige von „Märtyrern“
müssen aufpassen, was sie sagen: Bei einer                                                                           SYRIEN
Beerdigung im August wurde ein Ver-             von Kurden kontrollierte Gebiete                                                        IRAK
wandter eines getöteten Soldaten wegen          in Syrien und im Irak

90   DEr SpiEgEL 39 / 2015
Ein Land im Wahn - Spiegel
Die Aktivisten übernachteten im Park,
                                               Erdoğan ließ den Protest von der Polizei
                                               niederschlagen. Die Sicherheitskräfte ver-
                                               brannten die Zelte, gingen mit Wasserwer-
                                               fern und Tränengas gegen die Aktivisten
                                               vor. Bilder der Gewalt verbreiteten sich,
                                               und Hunderttausende Türken solidarisier-
                                               ten sich mit den Umweltschützern. Inner-
                                               halb weniger Tage wuchs der Protest zu
                                               einem Aufstand an. Zum ersten Mal arti-
                                               kulierte da plötzlich eine breite Masse ein
                                               Gefühl, das schon länger in der Luft lag:
                                               ihre Unzufriedenheit mit Erdoğans auto-
                                               ritärem Regierungsstil, mit seiner Arro-
                                               ganz und Intoleranz.
                                                  „Gezi hat alles verändert“, sagt Gökhan
                                               Biçici, ein 36-jähriger Aktivist. Von Anfang
                                               an sei er dabei gewesen, erzählt Biçici, er
                                               arbeitete damals für einen regierungskriti-
                                               schen Fernsehsender. Viele Türken hätten                       Nationalisten in Kayseri: Eine Verschwörung feindlicher mächte?
                                               damals erst begriffen, dass die meisten
                                               Medien „verlängerte Arme der AKP“ seien,
                                               sagt Biçici. Die Zahl türkischer Twitter-Nut-
                                               zer sei nach Gezi von 1,8 auf über 9 Millio-
                                               nen hochgeschnellt. Er beschloss danach,
                                               sich selbstständig zu machen. Er baute ein
                                               Netzwerk aus über 200 Bürger-Journalisten
                                               in 45 Städten auf. „Bis Ende des Jahres wol-
                                               len wir eine neuartige Nachrichtenagentur
                                               gründen.“ Wenn Journalisten daran gehin-
                                               dert würden, ihre Arbeit zu tun, müssten
                                               die Nachrichten eben auf anderem Weg zu
                                               den Bürgern gelangen – über soziale Me-
                                               dien, von Bürger zu Bürger.
                                                  So hat Gezi nicht nur Erdoğans Nieder-
                                               gang eingeläutet, sondern auch eine alter-
                                               native Öffentlichkeit geschaffen, die nicht
                                               mehr alles glaubt, was die Regierung sagt.
                                               Kayseri: Erdoğans fromme Kaufleute
                                               Aber natürlich hat der Präsident noch im-
                                               mer Anhänger, besonders viele davon fin-
                                               det man in Kayseri. Mahmut Hiçyılmaz,
                                               58, ist der Präsident der Handelskammer,
                                               er vertritt die Interessen von 17 000 Unter-                         Aktivist Biçici in Istanbul: „gezi hat alles verändert“
                                               nehmen in Kayseri. Die Stadt ist der größte
                                               der „anatolischen Tiger“, jener Aufsteiger-        Bevor die AKP an die Macht kam, wur-              In den ersten Jahren von Erdoğans Re-
                                               metropolen, in denen unter Erdoğans Herr-       den Politik und Wirtschaft in der Türkei          gierung wuchs die Wirtschaft um bis zu
                                               schaft eine neue Mittelschicht entstand.        von einer säkularen Elite aus Generälen,          neun Prozent pro Jahr. In Städten wie Kay-
                                                  Für Hiçyılmaz ist die Lage klar und ver-     Richtern und Bürokraten kontrolliert. Sie         seri wurden viele Menschen zu Millionären,
                                               worren zugleich. „Bis Mai 2013 gingen un-       betrachteten sich als Hüter des Erbes von         neue Industrien entstanden, eine neue tür-
                                               sere Geschäfte gut“, sagt er. „Aber seit        Staatsgründer Kemal Atatürk und küm-              kische Exportwirtschaft für Möbel und
                                               Gezi ist die Türkei aus dem Gleichgewicht       merten sich kaum um die gläubige, kon-            Hightech. Der Boom sicherte Erdoğan die
                                               geraten.“ Die Proteste seien keine gewöhn-      servative Mehrheit der Bevölkerung. Im            Unterstützung frommer Kaufleute wie je-
                                               lichen Demonstrationen gewesen, sagt er.        armen Anatolien wurde kaum investiert,            ner in Kayseri. Aber auch die Armen wähl-
                                               Was sie mit der derzeitigen Krise verbinde,     gut dotierte Posten gingen an die Elite –         ten ihn, die erstmals in vom Staat gebaute
                                               sei, dass „Akteure von außen“ versuchten,       und mit Kopftuch zu studieren war from-           Sozialwohnungen ziehen konnten.
FotoS: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL

                                               die Türkei zu schwächen. Denn: „Welcher         men Frauen ohnehin verboten.                         In Hiçyılmaz’ Büro hängt an einer Wand
                                               Türke, der sein Land liebt, kann gegen die         Doch Erdoğan versprach den Gläubigen:          ein goldener Rahmen mit dem Wort Allah
                                               dritte Brücke oder den dritten Flughafen        Ihr könnt religiös sein und reich. Er öffnete     in arabischer Kalligrafie, an einer anderen
                                               in Istanbul sein?“ Natürlich keiner.            die Märkte für Unternehmer aus Anato-             ein großes Foto von Hiçyılmaz mit Er-
                                                  Auch in Kayseri gab es in der vergange-      lien. Er privatisierte große staatliche Un-       doğan. Die AKP habe die Türkei voran-
                                               nen Woche ein Märtyrerbegräbnis – und           ternehmen wie Türk Telekom, den Groß-             gebracht, sagt der Handelskammerchef.
                                               an den folgenden beiden Tagen nationalis-       teil der Stromerzeuger, Häfen und Flughä-         Außerdem habe sie die Türken davon über-
                                               tische Kundgebungen, zu denen sich Tau-         fen, er liberalisierte den Arbeitsmarkt und       zeugt, dass Kurden dieselben Rechte haben
                                               sende im Stadtzentrum versammelten, ein         bekämpfte erfolgreich die Inflation. Und          sollten wie alle anderen. „Wir haben den
                                               rotes Meer aus türkischen Flaggen.              er erlaubte Kopftücher an Hochschulen.            Kurden ihre Rechte gegeben, wir haben in
                                                                                                                                                                              DEr SpiEgEL 39 / 2015   91
Ein Land im Wahn - Spiegel
handeln können. Andernfalls erleben wir
                                                                                                  weitere 30 Jahre Krieg.“
                                                                                                  Ankara: Der Minister und die EU
                                                                                                  Das Zentrum der Macht ist eine gewaltige
                                                                                                  Baustelle. Erdoğans Regierungssitz in An-
                                                                                                  kara sieht aus wie eine Stadt in der Stadt,
                                                                                                  eine Ansammlung trutziger Gebäude, die
                                                                                                  stetig wächst, mit einer großen Moschee,
                                                                                                  umgeben von kilometerlangen Gittern und
                                                                                                  Mauern, die schwer bewacht werden. Es
                                                                                                  ist dreidimensionaler Größenwahn, ein
                                                                                                  bisschen wie die Pyramiden von Gizeh.
                                                                                                     Was wird aus diesem Ungetüm, wenn
                                                                                                  Erdoğan es eines Tages verlassen muss?
                                                                                                  Möglich ist ja, dass er bei den Neuwahlen
                                                                                                  wieder keine absolute Mehrheit gewinnt
                                                                                                  und sich aus der Tagespolitik zurückzieht.
                                                                                                  Vielleicht lässt er sich, gegen alle Erwar-
           Dritte Brücke am Bosporus: Erdoğan versprach, ihr könnt religiös und reich sein        tungen, auf eine Koalition ein. Wahrschein-
                                                                                                  licher aber ist, dass er verliert und das
ihren Städten investiert“, sagt er. „Was            fer, auch der Nachschub an Waffen und         Land erst recht in Brand setzt.
fehlt ihnen denn noch? Mit welchem Recht            Lebensmitteln kam über die Türkei.               Europa ist zum Zusehen verdammt, so
töten sie jetzt unsere Polizisten?“                    Doch als die Regierung Ende Juli Luft-     oder so. Dabei hätten es die Europäer wo-
                                                    schläge gegen die Terroristen ankündigte,     möglich in der Hand gehabt, die Geschichte
Kandil-Gebirge: Der Feind in den Bergen             bombardierte sie nicht den IS. Oder so gut    in eine andere Richtung zu lenken.
Der Weg ins Hauptquartier der PKK führt             wie nicht. Sie bombardierte vor allem            Kein anderer EU-Beitrittskandidat muss-
über eine kurvige Passstraße durch eine             PKK-Stellungen. Der Kampf der Türkei          te so lange in Wartestellung ausharren wie
schroffe Felslandschaft. Kämpfer mit Kalasch-       gegen den IS wirkt wie ein Alibi für den      die Türkei, kein anderer stieß auf so viel
nikows kontrollieren die Fahrzeuge. Ins             Krieg gegen die Kurden. Denn die Rebel-       Ablehnung. Vor zehn Jahren wollten Um-
nordirakische Kandil-Gebirge gelangen Be-           len haben in Nordsyrien die Assad-Trup-       fragen zufolge noch über 70 Prozent der
sucher nur mit Erlaubnis der PKK. An einem          pen vertrieben und eine eigene Verwal-        Türken zu Europa gehören. Heute sind es
Bergrücken prangt ein Porträt ihres inhaf-          tung aufgebaut. Im Nordirak gibt es ohne-     weniger als 40 Prozent.
tierten Führers Abdullah Öcalan, am Stra-           hin bereits ein kurdisches Autonomiege-          Es gibt in Ankara kaum jemanden, mit
ßenrand klaffen Krater von Bombeneinschlä-          biet. Die Furcht der Türken: dass in unmit-   dem man über Europa reden kann, erst
gen. In einem Steinhaus wartet Ali Haydar           telbarer Nachbarschaft vielleicht eines Ta-   recht nicht mit Politikern der AKP. Aber
Kaytan, 65, und hat vor allem einen Wunsch:         ges ein kurdischer Staat entstehen könnte.    es gibt einen kleinen, freundlichen Mann,
Er möchte in die Türkei zurückkehren, in               Dem aber widerspricht Ali Haydar Kay-      er sitzt in einem Büro so groß wie eine
jenes Land, in dem er geboren wurde und             tan: Die PKK habe sich im Laufe der Jahre     Schwimmhalle, ist Mitglied der HDP – und
das er seit seiner Studentenzeit bekämpft.          verändert. Sie strebe nicht mehr nach ei-     Europaminister der Interimsregierung. Ali
   Er gründete einst gemeinsam mit Ab-              nem eigenen Staat, sondern lediglich nach     Haydar Konca heißt er, ist 65 – und hat ei-
dullah Öcalan und weiteren Aktivisten               Autonomie. Die Schuld für die neue Es-        gentlich nichts zu sagen. Er ist hier nur aus
1974 eine Untergrundorganisation, aus der           kalation sieht er allein bei Erdoğan. Die     formalen Gründen. Und doch ist er schon
später die PKK hervorging. Von den Grün-            Gewalttaten der PKK, die Attentate, das       jetzt eine historische Figur: Er ist einer der
dern ist er der Einzige, der noch kämpft.           Morden, all das, behauptet Kaytan, sei nur    ersten beiden Vertreter einer prokurdi-
Öcalan sitzt seit 1999 im Gefängnis, die            eine Reaktion auf die Angriffe durch die      schen Partei in einem türkischen Kabinett.
anderen haben sich von der Organisation             Türkei. „Erdoğan hat uns den Krieg er-           Mit diesem Europa, für das er nun zu-
abgewandt. Der PKK-Anführer trägt Tarn-             klärt. Und wir verteidigen uns.“              ständig sei, habe er bisher nicht viel zu tun
kleidung, Vollbart, einen Schal, er wird               Eine Rückkehr zu Friedensverhandlun-       gehabt, sagt Ali Haydar Konca. Aber etwas
von Leibwächtern beschützt und hält sich            gen hält er für möglich, aber nur unter       hat er doch zu sagen: dass er sich wünschte,
kaum länger als einen Tag am selben Ort             drei Bedingungen: Die Türkei müsse die        die Europäer hätten sich der Türkei gegen-
auf. Er weiß, dass eine Rückkehr in die             Luftschläge gegen PKK-Stellungen einstel-     über nicht so sehr von Vorurteilen leiten
Türkei in den vergangenen Wochen aus-               len. Öcalan müsse aus der Haft entlassen      lassen. „Das größte Hindernis bei den Bei-
sichtslos geworden ist.                             werden. Und ein neutraler Vermittler müs-     trittsverhandlungen war die Sorge der EU,
   Die PKK kämpft in diesen Wochen an               se einberufen werden, etwa die USA.           was es bedeuten würde, ein muslimisches
zwei Fronten: Sie liefert sich Schlachten              Erdoğan verlangt seinerseits von der       Land zu integrieren“, sagt er.
mit dem türkischen Militär. Und sie kämpft          PKK, dass sie die Waffen niederlegt, ohne        „Aber stellen Sie sich einmal vor, die
                                                                                                                                                          Foto: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL

im Norden des Irak und Syriens gegen den            Bedingungen zu stellen. Andernfalls, so       EU wäre bereit gewesen, die Türkei auf-
IS. Seit einigen Wochen befindet sie sich           drohte der Präsident vergangene Woche,        zunehmen.“ Der Nahe Osten, die ganze
in der merkwürdigen Situation, dass sich            werde der Staat nicht ruhen, bis die PKK      Welt könnte heute anders aussehen.
ihre Feinde – der türkische Staat und der           endgültig zerstört sei.                          Hasnain Kazim, maximilian popp, Samiha Shafy
IS – nun auch gegenseitig den Krieg erklärt            Wieso sollte er sich auf Kaytans Forde-                                    twitter: @samihashafy
haben. Lange hatte die Türkei die Terror-           rungen einlassen? „Er hat keine Wahl“,
gruppe ungestört wachsen lassen, Dschi-             sagt der PKK-Anführer und lächelt müde.                   Video: Die schwierige Partner-
hadisten wurden in türkischen Kranken-              Die jungen Kämpfer seien noch viel radi-                  schaft zwischen EU und Türkei
häusern behandelt, in Istanbul und Ankara           kaler als seine Generation: „Wir Alten sind               spiegel.de/sp392015tuerkei
rekrutierte die Terrorgruppe neue Kämp-             die Letzten, die einen Kompromiss aus-                    oder in der App DER SPIEGEL

92   DEr SpiEgEL 39 / 2015
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