Ein Land im Wahn - Spiegel
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Ein Land im Wahn Türkei Kein Staat hat sich in so kurzer Zeit so schnell in die Zukunft katapultiert – und ist so schnell in die dunkle Vergangenheit abgestürzt. Auf die Modernisierung folgt nun ein neuer Bürgerkrieg. Eine Reise durch eine von Misstrauen und Hass gespaltene Nation. Präsident über unser Land flog“, erzählt D as hier ist sein Land, die Heimat den Berg zu Fuß, um sich Gott näher zu seines Vaters, es ist: Recep Tayyip fühlen, und Erdoğan, ihrem geliebten Prä- sie, „wir sind so stolz auf ihn.“ Erdoğans Türkei. Eine hinreißende sidenten. Wie Aysel Aksay denken viele Menschen Berglandschaft am Schwarzen Meer, satt- „Ich wünschte, ich könnte seine Hand hier. Sie verehren Erdoğan, sie sehen den grüne Hänge, an denen Menschen Teeblät- küssen!“, ruft Aysel Aksay, 40, etwas au- Präsidenten als einen von ihnen, als einen Foto: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL ter pflücken. Ihr Werk unterbrechen sie ßer Atem, aber strahlend. Aksay stammt frommen, einfachen Mann, der es mit har- nur, um zu beten. Für diese Menschen, aus Güneysu, dem Ort am Fuße der Berge, ter Arbeit ganz nach oben geschafft hat. die er „meine Leute“ nennt, hat der Prä- wo auch Erdoğans Familie herkommt. Sie Wäre der Rest der Türkei wie Güneysu, sident auf einem der höchsten Gipfel eine trägt Kopftuch und einen schwarzen Man- hätte der 61-jährige Erdoğan, der das Land Moschee nach osmanischem Vorbild er- tel, sie blickt auf den weißen Marmorbau, seit 13 Jahren quasi im Alleingang regiert, richten lassen. So hoch über den Dörfern, der in der Sonne leuchtet. Aufgeregt und bei der Wahl am 7. Juni einen weiteren dass sie von unten kaum zu erkennen ist. glücklich ist sie, gleich wird sie hier beten, triumphalen Sieg errungen. Doch weil es Ein halsbrecherischer Weg schlängelt sich wenn auch nur in dem fensterlosen Zim- auch andere Türken gibt, kam seine Partei empor, im Auto braucht man eine Drei- mer für die Frauen. „Am Tag der Eröff- für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) viertelstunde. Aber viele hier erklimmen nung sah ich den Helikopter, mit dem der nur auf 40,9 Prozent der Stimmen und ver- 88 DEr SpiEgEL 39 / 2015
Ausland schar al-Assad stürzen wollte und dann tanzten in den Straßen, hupende Autos den „Islamischen Staat“ (IS) zu lange igno- fuhren durch die Stadt, es gab ein Feuer- rierte. Und der jetzt die Kurden bekämpft, werk. All das ist gerade mal drei Monate die einzigen Partner des Westens im her. Doch heute ist die Stimmung düster. Kampf gegen die Extremisten. Der alte Mit Einbruch der Dunkelheit wird es still, Fronten aufreißt, Misstrauen und Nationa- die Läden schließen früh, die Menschen lismus schürt, Journalisten und Kritiker bleiben aus Angst lieber zu Hause. einsperren lässt, Soldaten ganze kurdische Fast täglich kommt es in Diyarbakır, wie Städte abriegeln und beschießen lässt. in vielen kurdischen Städten, zu Kämpfen Dabei hatte Erdoğan einst große Ziele: zwischen Anhängern der PKK und den Si- Er wollte den Kurdenkonflikt lösen, die cherheitskräften. In Cizre, einer Stadt nahe Wirtschaft voranbringen, das Land moder- der syrisch-irakischen Grenze, wurde An- nisieren und an Europa heranführen. Und fang September eine Ausgangssperre ver- er hatte ja auch Erfolge. hängt, die 113 000 Einwohner waren ein- Der Nato-Partner Türkei galt vor nicht gesperrt, mindestens 30 Zivilisten wurden allzu langer Zeit als demokratische Hoff- nach Angaben der Bewohner erschossen. nung der islamischen Welt, als Vermittler Es ist wieder wie im Bürgerkrieg, der seit zwischen Ost und West, als baldiger EU- 1984 mehr als 40 000 Menschen das Leben Beitrittskandidat. Doch was sich nun zeigt, gekostet hat. Und der doch eigentlich über- ist das Gegenteil: ein Land, das durch Fa- wunden schien. natismus, übertriebenen Nationalstolz und Auch Kışanak hat für die kurdische Sa- bizarre Verschwörungstheorien in einen che gekämpft, aber nie mit Gewalt, wie kollektiven Wahn zu verfallen droht. sie sagt. Und gleichzeitig spricht sie kaum Wer in diesen Wochen durch die Türkei Kurdisch. 1983, nach einem Militärputsch, reist, der erlebt ein gespaltenes Land. Auf wurde die kurdische Sprache verboten. der einen Seite ist da die Türkei Erdoğans: Kurz darauf begann die PKK ihren Kampf seine Heimat am Schwarzen Meer, anato- für einen eigenen Staat und gegen den lische Wirtschaftswunderstädte wie Kay- türkischen Staat. Kışanak, die sich noch seri und natürlich Ankara, das Zentrum heute unwohl fühlt, wenn sie Kurdisch der Macht. Und auf der anderen Seite das spricht, ist ein Beispiel für diese Politik Land seiner Gegner: das kurdische Diyar- der Repression, für den Versuch, alles Kur- bakır, wo die Menschen um ihr Leben dische auszulöschen, Sprache, Traditio- fürchten müssen, die Kandil-Berge jenseits nen, Identität. der Grenze, wo sich kurdische Kämpfer Dass die jüngere Generation es leichter verschanzt haben, und Istanbul, Keimzelle hat als sie, ist ein Verdienst Erdoğans. Als der türkischen Demokratie. erster Regierungschef sprach er im August 2005 von einem „Kurdenproblem“. Er ent- Straßenszene in Kayseri Diyarbakır: Der neue Bürgerkrieg schuldigte sich für die Fehler des Staates Gültan Kışanak schließt die Augen, die im Umgang mit der größten Minderheit Fensterscheiben in ihrem Büro vibrieren, und kündigte einen Neuanfang an. Der alle paar Minuten donnern Kampfflugzeu- Friedensprozess war Erdoğans mutigstes ge über das Rathaus von Diyarbakır. Sie Projekt: Er investierte Milliarden Euro in fliegen Richtung Kandil-Berge. Dort, in die Infrastruktur im Südosten, lockerte das lor die absolute Mehrheit. Das war das der Autonomen Region Kurdistan, bom- Verbot der kurdischen Sprache und erlaub- Ende von Erdoğans Traum, aus der Türkei bardiert die türkische Luftwaffe seit dem te kurdische Radio- und Fernsehsender. eine Präsidialrepublik zu machen, mit ihm 24. Juli Stellungen der verbotenen Arbei- 2012 begannen Friedensgespräche mit als allmächtigem Präsidenten bis ins Jahr terpartei Kurdistans (PKK). dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah 2019. Und nicht nur das, mit der Demo- Kışanak, 54, ist eine kräftige Frau mit Öcalan; noch im Februar 2015 forderte die- kratischen Partei der Völker (HDP) nahm schulterlangen grauen Haaren und in ei- ser seine Anhänger auf, der Gewalt abzu- erstmals in der Geschichte eine prokurdi- nem rosafarbenen Blazer. Seit dem Früh- schwören. Öcalan sprach von einer „his- sche Partei die Zehnprozenthürde und zog jahr 2014 ist sie Kobürgermeisterin von torischen Entscheidung“. Ein halbes Jahr ins Parlament ein. Diyarbakır, die erste Frau in diesem Amt. später gelten seine Worte nicht mehr. Er- Doch Erdoğan klammert sich an die Die prokurdische Partei HDP, die hier bei doğan hat den Friedensprozess abge- Macht und an seinen Traum. Koalitions- der Wahl im Juni über 80 Prozent erreicht brochen. verhandlungen ließ er scheitern, am 1. No- hat, schreibt vor, dass alle wichtigen Posten Warum der plötzliche Rückfall in die vember will er erneut wählen lassen. Das doppelt besetzt werden müssen, mit einem Gewalt? Weil die HDP ins Parlament ein- einzig akzeptable Ergebnis für ihn: eine Mann und einer Frau. gezogen sei, steuere die AKP das Land absolute Mehrheit der AKP. Und dafür ris- Im Wahlkampf hatte sich die HDP nicht nun zurück in den Bürgerkrieg, sagt kiert Erdoğan alles. nur als Partei der Kurden positioniert, son- Kışanak. Erdoğan brauche die Eskalation, Aus Recep Tayyip Erdoğan, dem gläu- dern für die Gleichstellung von Mann und um die absolute Mehrheit zu erringen – bigen Muslim, begnadeten Populisten, Mo- Frau und für die Rechte Homosexueller und die HDP aus dem Parlament zu wer- dernisierer der Türkei, Vater des Wirt- geworben. Vor allem aber versprach sie, fen. So wie die Bürgermeisterin sehen es schaftswunders, droht nun, als letzte Erdoğans Plan, ein Präsidialsystem einzu- viele Kurden. Und nicht nur sie. Es gibt Wandlung, ein Autokrat zu werden. Einer, führen, zu bekämpfen. Als am Abend des inzwischen viele, die glauben, die Gewalt- der sein eigenes Land in einen Bürgerkrieg 7. Juni klar war, dass die HDP gut 13 Pro- eskalation käme Erdoğan wie gerufen – er- reißt – und der außenpolitisch Konflikte zent erhalten hatte, feierten die Menschen möglichte sie es ihm doch, sich vor den stiftet. Der erst den syrischen Diktator Ba- hier, in der größten Stadt im Südosten. Sie Neuwahlen als Garant für Stabilität zu DEr SpiEgEL 39 / 2015 89
Ausland inszenieren. Oder die Wahl aus Sicherheits- „Beleidigung von Staatsmännern“ ange- çin Topçu. Und fügte hinzu: Dieser Krieg sei gründen zu verschieben. zeigt. Der Mann hatte während der Trau- vergleichbar mit der Schlacht von Gallipoli. Die Regierung wiederum wirft den kur- erfeier geklagt, dass Erdoğan „diesen jun- Das zeigt, wie groß die Nervosität der dischen Rebellen vor, sie hätten mit der gen Menschen ins Grab geschickt“ habe. Regierung ist. Wie groß die Angst davor, Gewalt angefangen: „Die PKK hat den In Çaykara hängt das Bild des Märtyrers bei den Neuwahlen wieder die absolute Friedensprozess missbraucht, um heimlich an den Türen der Geschäfte – doch wer Mehrheit zu verfehlen, die jahrelang ga- ihre Waffenlager zu füllen und Minen zu sich nach ihm erkundigt, wird misstrauisch rantiert zu sein schien. Denn auch jetzt ist legen“, sagt der AKP-Abgeordnete Muhsin beäugt. Der Wirt eines Teehauses, ein alter keineswegs gewiss, dass Erdoğans Strategie Kızılkaya, selbst kurdischer Abstammung. Mann mit Schirmmütze, ist einer der we- aufgeht. Den Umfragen zufolge ist es we- Auch wenn die Gründe umstritten sind, nigen, die reden, er sagt: Ahmet Çamur der der AKP noch den anderen Parteien lässt sich doch zumindest ein Anfangs- sei ein guter Mann gewesen, er habe, wie seit dem 7. Juni gelungen, deutlich mehr punkt der Gewalt ausmachen: der 20. Juli. die meisten hier, die AKP unterstützt. „Wir Wähler zu gewinnen. An diesem Tag tötete ein mutmaßlich dem sind religiös, deshalb lieben wir Erdoğan. IS nahestehender Selbstmordattentäter in Aber diese Beerdigungen werden ihm bei Istanbul: Wo alles begann Suruç, nahe der Grenze zu Syrien, mehr der Wahl keine Punkte bringen.“ Wenn man nach einem Ort sucht, an dem als 30 Menschen, überwiegend Kurden. Plötzlich verstummt der Wirt, seine Au- Erdoğans Niedergang begann, dann ist Zwei Tage später töteten PKK-Leute gen weiten sich. Zwei Polizisten sind auf- man hier richtig: ein Park im Zentrum zwei Polizisten in ihrer Wohnung in Cey- getaucht, einer in Uniform, einer in Zivil. Istanbuls, weder groß noch hübsch, ein lanpınar, etwa 200 Kilometer östlich vom Sie wollen wissen, was die Fragen sollen. paar Bäume und Rasenflächen, umgeben Anschlagsort. Die PKK verbreitete im In- Dann wollen sie Ausweise sehen. Ein Poli- von Asphalt. Aber je nachdem mit wem ternet, die Tat sei ein Racheakt für den zist verschwindet damit, als er zurück- man in der Türkei spricht, ist er der Ur- Anschlag von Suruç. Die Beamten hätten kommt, notiert er etwas in seinen Unter- sprung alles Bösen oder die Keimzelle der den IS unterstützt. Weitere zwei Tage spä- lagen, dann gibt er die Pässe zurück. „Ihr Hoffnung. Einig sind sich beide Seiten nur, ter begann die Regierung mit dem Bom- könnt jetzt gehen“, sagt er drohend. dass das, was im Frühling 2013 hier ge- bardement von PKK-Stellungen. Fast so wichtig wie der eigentliche schah, das Land verändert hat. Seither sind laut Regierung 2000 kurdi- Kampf im Südosten scheint der Regierung Der Name Gezi steht heute für einen sche Kämpfer getötet worden, hinzu kom- der Kampf um die Deutungshoheit zu sein. Wendepunkt in der Ära Erdoğan. Vor den men wohl unzählige kurdische Zivilisten; Daher werden ausländische Korresponden- Protesten im Gezi-Park erschien er wie außerdem türkische Sicherheitskräfte, die ten und unabhängige türkische Journalis- ein übermächtiger, beinahe überirdischer von der PKK getötet wurden. ten daran gehindert, an „Märtyrerbegräb- Staatenlenker – der Einzige, der die Türkei nissen“ teilzunehmen. Zugelassen sind nur zusammenhalten und in eine erfolgreiche Çaykara: Märtyrer und Meinungsfreiheit Vertreter linientreuer Medien. Zukunft führen konnte. Nach Gezi stand Wenige Tage nachdem Erdoğan die Mo- Mit der Rede- und Meinungsfreiheit ist er entblößt da: als machtbesessener, para- schee auf dem Berg über Güneysu einge- es nicht mehr weit her in Erdoğans Türkei: noider Autokrat, der Gezi zu einer Ver- weiht hatte, trat er ganz in der Nähe, in Schon seit Jahren werden Redaktionen schwörung feindlicher Mächte erklärte, die dem kleinen Ort Çaykara, bei der Beerdi- durchsucht und Journalisten eingesperrt, die Türkei schwächen wollten. gung eines Polizisten namens Ahmet Ça- doch so schlimm wie jetzt war es noch nie. Es begann mit ein paar Umweltschüt- mur auf. Fast täglich finden irgendwo im Ende August wurden zwei britische Repor- zern, die für den Erhalt des Parks demons- Land Trauerfeiern für Gefallene statt, die ter in Diyarbakır verhaftet und der „Ver- trierten. Dieser sollte einem Einkaufszen- im Südosten umgekommen sind. Zur Be- wicklung in terroristische Aktivitäten“ trum weichen, einem von Erdoğans un- erdigung Çamurs versammelten sich in beschuldigt. Sie wurden erst in ein Hoch- zähligen Infrastrukturprojekten. Allein in Çaykara Tausende Menschen. sicherheitsgefängnis gebracht, dann außer Istanbul plant er einen dritten Flughafen, Vor ihnen erschien Erdoğan, hinter ihm Landes geschafft. Ähnlich erging es wenig den größten der Welt, eine dritte Bospo- war eine türkische Flagge aufgespannt. Er später einer niederländischen Journalistin. rusbrücke, eine riesige Moschee mit sechs stützte sich mit der einen Hand auf Ça- Die Türkei führe einen Krieg gegen aus- Minaretten und einen „künstlichen Bos- murs Sarg, in der anderen hielt er ein Mi- ländische Medien „wie Reuters, BBC, CNN porus“, eine zweite Verbindung zwischen krofon: „Wir verabschieden uns von unse- und den SPIEGEL“, sagte Kulturminister Yal- Schwarzem Meer und Marmarameer. rem Märtyrer, der, wie wir glauben, Mär- tyrertum erlangt hat“, sagte Erdoğan. „Wie 200 km GEORGIEN S ch wa r z e s Me e r glücklich ist seine Familie, wie glücklich sind seine Nächsten!“ Denn Märtyrer, so Güneysu Istanbul verkündete der Präsident, säßen im Para- ARME- dies neben den Propheten. Çaykara NIEN Ist das ein Trost? Mehmet Çamur, der Ankara Zwillingsbruder des Polizisten, winkt ab. kurdische Er steht unter einer türkischen Flagge und Siedlungsgebiete einem Transparent mit dem Gesicht seines IRAN Bruders. Seit Tagen empfängt Çamur Be- Kayseri sucher, er wolle nicht reden, sagt er, schon gar nicht mit ausländischen Journalisten. T Ü R K E I Diyarbakır Er sagt nur einen einzigen, bitteren Satz: Cizre „Mein Bruder hat sein Leben dem Süd- Suruç Ceylanpınar osten der Türkei gewidmet.“ Kandil-Berge Denn Angehörige von „Märtyrern“ müssen aufpassen, was sie sagen: Bei einer SYRIEN Beerdigung im August wurde ein Ver- von Kurden kontrollierte Gebiete IRAK wandter eines getöteten Soldaten wegen in Syrien und im Irak 90 DEr SpiEgEL 39 / 2015
Die Aktivisten übernachteten im Park, Erdoğan ließ den Protest von der Polizei niederschlagen. Die Sicherheitskräfte ver- brannten die Zelte, gingen mit Wasserwer- fern und Tränengas gegen die Aktivisten vor. Bilder der Gewalt verbreiteten sich, und Hunderttausende Türken solidarisier- ten sich mit den Umweltschützern. Inner- halb weniger Tage wuchs der Protest zu einem Aufstand an. Zum ersten Mal arti- kulierte da plötzlich eine breite Masse ein Gefühl, das schon länger in der Luft lag: ihre Unzufriedenheit mit Erdoğans auto- ritärem Regierungsstil, mit seiner Arro- ganz und Intoleranz. „Gezi hat alles verändert“, sagt Gökhan Biçici, ein 36-jähriger Aktivist. Von Anfang an sei er dabei gewesen, erzählt Biçici, er arbeitete damals für einen regierungskriti- schen Fernsehsender. Viele Türken hätten Nationalisten in Kayseri: Eine Verschwörung feindlicher mächte? damals erst begriffen, dass die meisten Medien „verlängerte Arme der AKP“ seien, sagt Biçici. Die Zahl türkischer Twitter-Nut- zer sei nach Gezi von 1,8 auf über 9 Millio- nen hochgeschnellt. Er beschloss danach, sich selbstständig zu machen. Er baute ein Netzwerk aus über 200 Bürger-Journalisten in 45 Städten auf. „Bis Ende des Jahres wol- len wir eine neuartige Nachrichtenagentur gründen.“ Wenn Journalisten daran gehin- dert würden, ihre Arbeit zu tun, müssten die Nachrichten eben auf anderem Weg zu den Bürgern gelangen – über soziale Me- dien, von Bürger zu Bürger. So hat Gezi nicht nur Erdoğans Nieder- gang eingeläutet, sondern auch eine alter- native Öffentlichkeit geschaffen, die nicht mehr alles glaubt, was die Regierung sagt. Kayseri: Erdoğans fromme Kaufleute Aber natürlich hat der Präsident noch im- mer Anhänger, besonders viele davon fin- det man in Kayseri. Mahmut Hiçyılmaz, 58, ist der Präsident der Handelskammer, er vertritt die Interessen von 17 000 Unter- Aktivist Biçici in Istanbul: „gezi hat alles verändert“ nehmen in Kayseri. Die Stadt ist der größte der „anatolischen Tiger“, jener Aufsteiger- Bevor die AKP an die Macht kam, wur- In den ersten Jahren von Erdoğans Re- metropolen, in denen unter Erdoğans Herr- den Politik und Wirtschaft in der Türkei gierung wuchs die Wirtschaft um bis zu schaft eine neue Mittelschicht entstand. von einer säkularen Elite aus Generälen, neun Prozent pro Jahr. In Städten wie Kay- Für Hiçyılmaz ist die Lage klar und ver- Richtern und Bürokraten kontrolliert. Sie seri wurden viele Menschen zu Millionären, worren zugleich. „Bis Mai 2013 gingen un- betrachteten sich als Hüter des Erbes von neue Industrien entstanden, eine neue tür- sere Geschäfte gut“, sagt er. „Aber seit Staatsgründer Kemal Atatürk und küm- kische Exportwirtschaft für Möbel und Gezi ist die Türkei aus dem Gleichgewicht merten sich kaum um die gläubige, kon- Hightech. Der Boom sicherte Erdoğan die geraten.“ Die Proteste seien keine gewöhn- servative Mehrheit der Bevölkerung. Im Unterstützung frommer Kaufleute wie je- lichen Demonstrationen gewesen, sagt er. armen Anatolien wurde kaum investiert, ner in Kayseri. Aber auch die Armen wähl- Was sie mit der derzeitigen Krise verbinde, gut dotierte Posten gingen an die Elite – ten ihn, die erstmals in vom Staat gebaute sei, dass „Akteure von außen“ versuchten, und mit Kopftuch zu studieren war from- Sozialwohnungen ziehen konnten. FotoS: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL die Türkei zu schwächen. Denn: „Welcher men Frauen ohnehin verboten. In Hiçyılmaz’ Büro hängt an einer Wand Türke, der sein Land liebt, kann gegen die Doch Erdoğan versprach den Gläubigen: ein goldener Rahmen mit dem Wort Allah dritte Brücke oder den dritten Flughafen Ihr könnt religiös sein und reich. Er öffnete in arabischer Kalligrafie, an einer anderen in Istanbul sein?“ Natürlich keiner. die Märkte für Unternehmer aus Anato- ein großes Foto von Hiçyılmaz mit Er- Auch in Kayseri gab es in der vergange- lien. Er privatisierte große staatliche Un- doğan. Die AKP habe die Türkei voran- nen Woche ein Märtyrerbegräbnis – und ternehmen wie Türk Telekom, den Groß- gebracht, sagt der Handelskammerchef. an den folgenden beiden Tagen nationalis- teil der Stromerzeuger, Häfen und Flughä- Außerdem habe sie die Türken davon über- tische Kundgebungen, zu denen sich Tau- fen, er liberalisierte den Arbeitsmarkt und zeugt, dass Kurden dieselben Rechte haben sende im Stadtzentrum versammelten, ein bekämpfte erfolgreich die Inflation. Und sollten wie alle anderen. „Wir haben den rotes Meer aus türkischen Flaggen. er erlaubte Kopftücher an Hochschulen. Kurden ihre Rechte gegeben, wir haben in DEr SpiEgEL 39 / 2015 91
handeln können. Andernfalls erleben wir weitere 30 Jahre Krieg.“ Ankara: Der Minister und die EU Das Zentrum der Macht ist eine gewaltige Baustelle. Erdoğans Regierungssitz in An- kara sieht aus wie eine Stadt in der Stadt, eine Ansammlung trutziger Gebäude, die stetig wächst, mit einer großen Moschee, umgeben von kilometerlangen Gittern und Mauern, die schwer bewacht werden. Es ist dreidimensionaler Größenwahn, ein bisschen wie die Pyramiden von Gizeh. Was wird aus diesem Ungetüm, wenn Erdoğan es eines Tages verlassen muss? Möglich ist ja, dass er bei den Neuwahlen wieder keine absolute Mehrheit gewinnt und sich aus der Tagespolitik zurückzieht. Vielleicht lässt er sich, gegen alle Erwar- Dritte Brücke am Bosporus: Erdoğan versprach, ihr könnt religiös und reich sein tungen, auf eine Koalition ein. Wahrschein- licher aber ist, dass er verliert und das ihren Städten investiert“, sagt er. „Was fer, auch der Nachschub an Waffen und Land erst recht in Brand setzt. fehlt ihnen denn noch? Mit welchem Recht Lebensmitteln kam über die Türkei. Europa ist zum Zusehen verdammt, so töten sie jetzt unsere Polizisten?“ Doch als die Regierung Ende Juli Luft- oder so. Dabei hätten es die Europäer wo- schläge gegen die Terroristen ankündigte, möglich in der Hand gehabt, die Geschichte Kandil-Gebirge: Der Feind in den Bergen bombardierte sie nicht den IS. Oder so gut in eine andere Richtung zu lenken. Der Weg ins Hauptquartier der PKK führt wie nicht. Sie bombardierte vor allem Kein anderer EU-Beitrittskandidat muss- über eine kurvige Passstraße durch eine PKK-Stellungen. Der Kampf der Türkei te so lange in Wartestellung ausharren wie schroffe Felslandschaft. Kämpfer mit Kalasch- gegen den IS wirkt wie ein Alibi für den die Türkei, kein anderer stieß auf so viel nikows kontrollieren die Fahrzeuge. Ins Krieg gegen die Kurden. Denn die Rebel- Ablehnung. Vor zehn Jahren wollten Um- nordirakische Kandil-Gebirge gelangen Be- len haben in Nordsyrien die Assad-Trup- fragen zufolge noch über 70 Prozent der sucher nur mit Erlaubnis der PKK. An einem pen vertrieben und eine eigene Verwal- Türken zu Europa gehören. Heute sind es Bergrücken prangt ein Porträt ihres inhaf- tung aufgebaut. Im Nordirak gibt es ohne- weniger als 40 Prozent. tierten Führers Abdullah Öcalan, am Stra- hin bereits ein kurdisches Autonomiege- Es gibt in Ankara kaum jemanden, mit ßenrand klaffen Krater von Bombeneinschlä- biet. Die Furcht der Türken: dass in unmit- dem man über Europa reden kann, erst gen. In einem Steinhaus wartet Ali Haydar telbarer Nachbarschaft vielleicht eines Ta- recht nicht mit Politikern der AKP. Aber Kaytan, 65, und hat vor allem einen Wunsch: ges ein kurdischer Staat entstehen könnte. es gibt einen kleinen, freundlichen Mann, Er möchte in die Türkei zurückkehren, in Dem aber widerspricht Ali Haydar Kay- er sitzt in einem Büro so groß wie eine jenes Land, in dem er geboren wurde und tan: Die PKK habe sich im Laufe der Jahre Schwimmhalle, ist Mitglied der HDP – und das er seit seiner Studentenzeit bekämpft. verändert. Sie strebe nicht mehr nach ei- Europaminister der Interimsregierung. Ali Er gründete einst gemeinsam mit Ab- nem eigenen Staat, sondern lediglich nach Haydar Konca heißt er, ist 65 – und hat ei- dullah Öcalan und weiteren Aktivisten Autonomie. Die Schuld für die neue Es- gentlich nichts zu sagen. Er ist hier nur aus 1974 eine Untergrundorganisation, aus der kalation sieht er allein bei Erdoğan. Die formalen Gründen. Und doch ist er schon später die PKK hervorging. Von den Grün- Gewalttaten der PKK, die Attentate, das jetzt eine historische Figur: Er ist einer der dern ist er der Einzige, der noch kämpft. Morden, all das, behauptet Kaytan, sei nur ersten beiden Vertreter einer prokurdi- Öcalan sitzt seit 1999 im Gefängnis, die eine Reaktion auf die Angriffe durch die schen Partei in einem türkischen Kabinett. anderen haben sich von der Organisation Türkei. „Erdoğan hat uns den Krieg er- Mit diesem Europa, für das er nun zu- abgewandt. Der PKK-Anführer trägt Tarn- klärt. Und wir verteidigen uns.“ ständig sei, habe er bisher nicht viel zu tun kleidung, Vollbart, einen Schal, er wird Eine Rückkehr zu Friedensverhandlun- gehabt, sagt Ali Haydar Konca. Aber etwas von Leibwächtern beschützt und hält sich gen hält er für möglich, aber nur unter hat er doch zu sagen: dass er sich wünschte, kaum länger als einen Tag am selben Ort drei Bedingungen: Die Türkei müsse die die Europäer hätten sich der Türkei gegen- auf. Er weiß, dass eine Rückkehr in die Luftschläge gegen PKK-Stellungen einstel- über nicht so sehr von Vorurteilen leiten Türkei in den vergangenen Wochen aus- len. Öcalan müsse aus der Haft entlassen lassen. „Das größte Hindernis bei den Bei- sichtslos geworden ist. werden. Und ein neutraler Vermittler müs- trittsverhandlungen war die Sorge der EU, Die PKK kämpft in diesen Wochen an se einberufen werden, etwa die USA. was es bedeuten würde, ein muslimisches zwei Fronten: Sie liefert sich Schlachten Erdoğan verlangt seinerseits von der Land zu integrieren“, sagt er. mit dem türkischen Militär. Und sie kämpft PKK, dass sie die Waffen niederlegt, ohne „Aber stellen Sie sich einmal vor, die Foto: Emin ozmEn / LE JournaL / DEr SpiEgEL im Norden des Irak und Syriens gegen den Bedingungen zu stellen. Andernfalls, so EU wäre bereit gewesen, die Türkei auf- IS. Seit einigen Wochen befindet sie sich drohte der Präsident vergangene Woche, zunehmen.“ Der Nahe Osten, die ganze in der merkwürdigen Situation, dass sich werde der Staat nicht ruhen, bis die PKK Welt könnte heute anders aussehen. ihre Feinde – der türkische Staat und der endgültig zerstört sei. Hasnain Kazim, maximilian popp, Samiha Shafy IS – nun auch gegenseitig den Krieg erklärt Wieso sollte er sich auf Kaytans Forde- twitter: @samihashafy haben. Lange hatte die Türkei die Terror- rungen einlassen? „Er hat keine Wahl“, gruppe ungestört wachsen lassen, Dschi- sagt der PKK-Anführer und lächelt müde. Video: Die schwierige Partner- hadisten wurden in türkischen Kranken- Die jungen Kämpfer seien noch viel radi- schaft zwischen EU und Türkei häusern behandelt, in Istanbul und Ankara kaler als seine Generation: „Wir Alten sind spiegel.de/sp392015tuerkei rekrutierte die Terrorgruppe neue Kämp- die Letzten, die einen Kompromiss aus- oder in der App DER SPIEGEL 92 DEr SpiEgEL 39 / 2015
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