Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan
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NR. 71 SEPTEMBER 2020 Einleitung Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan Uwe Halbach Im Juli 2020 nährte eine militärische Auseinandersetzung zwischen armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften die Sorge vor einem Rückfall in regelrechten Krieg, wie ihn die beiden Seiten von 1992 bis 1994 geführt hatten. Der neuerliche Vorfall war der schwerste militärische Zusammenstoß in einer Grenzzone außerhalb Berg- Karabachs seit 1994. Doch im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Bezie- hungen steht nach wie vor der ungelöste Konflikt um diesen De-facto-Staat und sieben aserbaidschanische Provinzen in seiner Umgebung, die unter der Kontrolle armeni- scher Truppen stehen. Der jüngsten Eskalation war von 2018 bis zum Frühjahr 2019 eine Phase der Entspannung vorausgegangen. Während dieser Zeit hatten die Kon- takte zwischen Armeniens und Aserbaidschans Staatsführern zugenommen und diese ihre Bereitschaft bekundet, sich verstärkt auf eine friedliche Konfliktregelung ein- zulassen und die Bevölkerungen in diesen Prozess einzubeziehen. Bald darauf aber wurde der Ton wieder schärfer. Vom 12. bis zum 16. Juli 2020 war an die den kaspischen Raum mit Europa ver- einem Abschnitt der Staatsgrenze zwischen binden und zwischen Aserbaidschan, Geor- Aserbaidschan und Armenien gegenseitiger gien und der Türkei verlaufen. Artilleriebeschuss zu verzeichnen. Laut offi- Wie bei Gewaltzwischenfällen zuvor ziellen Angaben kamen dabei mindestens bezichtigten beide Seiten den jeweiligen 17 Menschen ums Leben – auf armeni- Gegner, die militärische Auseinandersetzung scher Seite vier Militärangehörige, auf aser- provoziert zu haben. Nach dem 16. Juli baidschanischer ein Zivilist und 12 Militärs, ließen die Kämpfe nach, doch die Kontra- darunter der ranghöchste im Schusswechsel henten beschuldigten sich auch weiterhin mit armenischen Streitkräften gefallene militärischer Übergriffe. Diese Entwicklung Offizier seit dem Ende des Karabach-Krieges hatte besorgniserregende Auswirkungen. 1994. Der umkämpfte Grenzabschnitt ver- In Aserbaidschans Hauptstadt Baku versam- läuft zwischen der aserbaidschanischen melten sich am 14. Juli Zigtausende Demon- Provinz Tovuz und der armenischen Pro- stranten vor dem Parlament und riefen zum vinz Tavush unweit Georgiens. Er befindet Kampf auf. Die militärische Eskalation an sich in der Nähe wichtiger Transitprojekte, der Grenze strahlte weltweit in die armeni-
schen und aserbaidschanischen Diaspora- die Forderung des neuen armenischen gruppen aus. Laut Mitteilung der aserbaid- Premiers Nikol Paschinjan zurück, Berg- schanischen Botschaften griffen Armenier Karabach an den Verhandlungstisch der aserbaidschanische Demonstranten in Lon- Minsker OSZE-Gruppe zurückzuholen. don, Los Angeles und Brüssel an. Dagegen Gegen Ende 2018 verkündete der aser- beklagte zum Beispiel der Zentralrat der baidschanische Präsident Ilham Alijew, Armenier in Deutschland einen Brand- 2019 könne das »Jahr des Durchbruchs« anschlag auf die armenische Botschaft in werden. Das war umso erstaunlicher, als er Berlin und Attacken auf Geschäfte in Köln zuvor wiederholt beklagt hatte, die Verhand- und Hamburg, die von Armeniern betrie- lungen im Rahmen der OSZE zur Konflikt- ben werden. bearbeitung seien erfolglos, und eine »mili- Jede Konfliktpartei warf der anderen tärische Konfliktlösung« als Alternative zur vor, mit militärischen Aktionen von akuten vergeblichen Diplomatie erwähnt hatte. internen Problemen ablenken zu wollen. Nun jedoch verlautete aus Baku, Kontakte Aserbaidschan steckt in einer Wirtschafts- zwischen den bislang völlig voneinander krise, weil die Weltmarktpreise für Energie- getrennten Gesellschaften Berg-Karabachs rohstoffe sinken. Armenien wiederum leidet und des übrigen Aserbaidschan sowie die schwer unter der Corona-Krise – dort stieg Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre die Zahl der Neuinfektionen im Juni und Heimatorte könnten die humanitäre Lage Juli dramatisch an. Gerade diese Heraus- im Umfeld des ungelösten Konflikts verbes- forderungen aber deuten darauf hin, dass sern und einer Einigung den Weg bereiten. sich weder Armenien noch Aserbaidschan Zugleich zog Alijew indes eine rote Linie: die Eskalation eines Gewaltzwischenfalls Die maximale Konzession an Berg-Karabach bis zum offenen Krieg leisten können. sei ein Autonomiestatus innerhalb Aser- baidschans. Auf der Gegenseite lehnte der armenische Regierungschef Paschinjan die Eine kurze Phase der Formel »territories for peace« ab. Sie besagt, Entspannung dass eine friedliche Konfliktlösung nur dann möglich ist, wenn zuvor die von armeni- Nach dem Machtwechsel in Armenien schen Truppen kontrollierten Provinzen in durch die »Samtene Revolution« vom Früh- der Umgebung Berg-Karabachs an Aserbaid- jahr 2018 keimte die Hoffnung, dass die schan zurückgegeben werden. konfliktbeladene Beziehung zu Aserbaid- Schon im Frühjahr 2019 neigte sich die schan sich entspannen könnte. Hochrangi- Entspannung ihrem Ende zu. Bei seinem ge Treffen zwischen den Außenministern Aufenthalt in den USA im März verkündete und den Staatsführern der beiden Länder der armenische Verteidigungsminister nahmen zu. Ein Abkommen vom Septem- Dawid Tonojan, sein Land müsse sich auf ber 2018 eröffnete einen direkten Kommu- eine aktive Verteidigungsstrategie vorberei- nikationskanal zwischen ihren Regierun- ten, und sprach von »new war for new terri- gen. An der Waffenstillstandslinie um Berg- tories«. Als Premier Paschinjan im August Karabach traten so wenig Gewaltzwischen- 2019 Stepanakert besuchte, die Hauptstadt fälle auf wie seit 2013 nicht mehr. Bei Berg-Karabachs, bekräftigte er: »Karabach einem Außenministertreffen in Paris am ist Armenien – Punkt!« Präsident Alijew 16. Januar 2019 teilten beide Seiten mit, konterte in Sotschi auf der Konferenz des dass sie ihre Gesellschaften auf ein Friedens- Valdai-Klubs im Oktober mit »Karabach ist abkommen vorbereiten wollten. Die Bevöl- Aserbaidschan – Ausrufezeichen!«. In kerung in Armenien, Berg-Karabach und einem Kommentar zu dieser Auseinander- Aserbaidschan solle besser über die offizielle setzung war die Rede von einem »war of Mediation in dem Konflikt informiert, zivil- punctuations«. Während der Münchner gesellschaftliche Gruppen sollten stärker Sicherheitskonferenz im Februar 2020 einbezogen werden. Allerdings wies Baku präsentierten Alijew und Paschinjan die SWP-Aktuell 71 September 2020 2
Karte bekannten historischen Narrative, die das prekären zwischenstaatlichen Beziehungen. umstrittene Gebiet als uralten Bestandteil Seit dem Ende des Karabach-Krieges werden der eigenen Nationalgeschichte ausweisen. diese durch ein Waffenstillstandsabkom- Ein Beobachter meinte dazu: »Die Münch- men von 1994, das Russland vermittelte, ner Konferenz hat gezeigt, dass die Führer mit der Formel »Weder Krieg noch Frieden« beider Länder eher bereit sind, in das umschrieben. Dem Waffenstillstand folgte 2. Jahrhundert v. Chr. zurückzugehen, als kein Friedensvertrag, und an der »line of über die Zukunft zu diskutieren.« contact«, an der sich Scharfschützen gegen- überstehen, traten immer wieder Gewalt- zwischenfälle auf. Bei den Schusswechseln Streitpunkte im Konflikt um kamen jedes Jahr Dutzende Menschen Berg-Karabach ums Leben. Besonders zwischen 2014 und 2016 eskalierte hier die Gewalt. Waren es Die Eskalation vom Juli 2020, während der 72 Todesopfer (darunter acht Zivilisten) im es in Berg-Karabach und seiner Umgebung Jahre 2014 und 80 (darunter fünf Zivilisten) relativ ruhig blieb, lenkte den Blick auf eine 2015, folgte im April 2016 die schlimmste Grenzregion weit außerhalb dieser Konflikt- Eskalation seit 1994. Sie kostete 200 Kom- zone. Dort leben etwa 150 000 Menschen battanten und 25 Zivilisten das Leben. Ge- in 26 armenischen und 84 aserbaidschani- legentlich griffen die Gewaltzwischenfälle schen Dörfern an einem nicht demarkierten auf Abschnitte der Staatsgrenze außerhalb Grenzabschnitt mit militärischen Anlagen der Konfliktzone über, wo aber zwischen auf beiden Seiten. Gleichwohl stehen nach 2016 und 2018 nur sieben Prozent aller wie vor Berg-Karabach und die von armeni- Todesopfer zu verzeichnen waren. In den schen Truppen ganz oder teilweise kontrol- letzten zwei Jahren hat sich dieser Anteil lierten sieben aserbaidschanischen Provin- verdoppelt, während die Gesamtzahl der zen in seiner Umgegend im Mittelpunkt der Gewaltzwischenfälle sank. SWP-Aktuell 71 September 2020 3
Noch im März 2019, als sich das Ende der nierten Zivilgesellschaft teilen diese Einstel- Entspannungsphase abzeichnete, plädierte lung. Als einzig zulässigen Kompromiss Paschinjan für eine Lösung in der Karabach- bietet Aserbaidschan Berg-Karabach einen Frage, »die gleichermaßen akzeptabel für »autonomen Status« innerhalb seines Staats- das Volk Armeniens, das Volk von Artsach gebiets an, der allerdings kaum konkreti- (Berg-Karabach) und das Volk Aserbaid- siert wurde. Im Oktober 2016 sprach Präsi- schans sein sollte«. Eine solche Lösung ist in dent Alijew erstmals von einer »autonomen fast drei Jahrzehnte währenden internatio- Republik«. Zuvor war stets die Rede von nalen Mediationsbemühungen bisher nicht einem »autonomen Gebiet«. Darin sah der gelungen. Die Minsker OSZE-Gruppe unter US-amerikanische Co-Vorsitzende der Mins- Leitung der drei Co-Vorsitzenden Russland, ker OSZE-Gruppe ein Signal für den Start USA und Frankreich vermittelte seit 2007 ernsthafter Diskussionen über den Status. »Basisprinzipien« für eine friedliche Konflikt- Gemäß den Basisprinzipien unterliegt lösung. Sie umfassen einen Interim-Status das Gebiet einem Interim-Status, bis der für Berg-Karabach bis zur Regelung seines Rechtsstatus geklärt ist. In der Auseinander- endgültigen Rechtsstatus »durch rechtlich setzung darüber bot Baku während der Ent- verbindliche Willensäußerung«, die Rück- spannungsphase einen Kompromiss an, der gabe der Territorien in seiner Umgebung dem weltweit isolierten und nur mit der an Aserbaidschan, einen Korridor zwischen Republik Armenien eng verbundenen De- Armenien und Berg-Karabach, das Recht facto-Staat eine »begrenzte Außenpolitik« aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen ermöglichen soll. Im Gegenzug erwartet auf Rückkehr in ihre Heimatorte sowie Aserbaidschan von Eriwan und Stepanakert, Sicherheitsgarantien einschließlich einer dass die armenischen Truppen aus den Pro- internationalen Peacekeeping-Operation. vinzen in der Umgebung Berg-Karabachs Doch die Ansichten der Konfliktparteien abziehen. Das ist allerdings nicht zu erwar- über die Umsetzung dieser Prinzipien und ten, solange Baku wiederholt auf eine »mili- deren Reihenfolge gingen auseinander. tärische Konfliktlösung« hinweist und keine internationale Sicherheitsgarantie für Berg- Der Status Berg-Karabachs Karabach besteht. Im Streit um den endgültigen Rechts- Im Streit um Berg-Karabach prallen zwei status geht es darum, welche Bevölkerungs- völkerrechtliche Prinzipien aufeinander: gruppen zur Abstimmung berechtigt sind Auf der einen Seite steht das Prinzip der und wie und wo abgestimmt werden soll. territorialen Integrität, auf das sich Baku Aserbaidschan hat zwei getrennte Abstim- mit Bezug auf das Territorium der einstigen mungen in Erwägung gezogen: Ihre Voten sowjetischen Unionsrepublik Aserbaidschan separat abgeben sollen demnach die armeni- beruft und das von der internationalen Ge- sche Bevölkerungsmehrheit in Berg-Kara- meinschaft insofern bestätigt wird, als kein bach und die Gemeinschaft der aus diesem Staat bislang die Unabhängigkeit Berg-Kara- Gebiet vertriebenen Aserbaidschaner, die bachs diplomatisch anerkannt hat. Auf der in verschiedenen Regionen Aserbaidschans anderen Seite begründet Armenien mit dem lebt und heute etwa 60 000 Mitglieder um- Recht auf nationale Selbstbestimmung die fasst. Armenien würde sich allenfalls auf Lostrennung des mehrheitlich von Armeni- eine einheitliche Abstimmung mit Beteili- ern bewohnten ehemaligen autonomen gung der aserbaidschanischen Binnen- Gebiets von der Republik Aserbaidschan. vertriebenen einlassen. Diese könnten eine Präsident Alijew hat wiederholt betont, dass Mehrheit für ein Unabhängigkeitsvotum Volk und Staat seines Landes niemals einen in Berg-Karabach nicht verhindern. zweiten armenischen Staat auf dem »histo- rischen Territorium Aserbaidschans« dulden werden. Auch die Opposition und weite Teile der von staatlichen Behörden schika- SWP-Aktuell 71 September 2020 4
Die Territorien in der Umgebung anzusiedeln, die unter Kontrolle der armeni- Berg-Karabachs schen Armee stehen. Jeder Versuch der neuen armenischen Seit 1994 stehen im Grenzgebiet zu Berg- Führung, hier Kompromisse auf den Weg Karabach fünf aserbaidschanische Provin- zu bringen, könnte auf Opposition in Berg- zen ganz, zwei weitere teilweise unter der Karabach, in der weltweiten armenischen Kontrolle armenischer Truppen. Sie waren Diaspora und in Armenien selbst stoßen. zuvor überwiegend von Aserbaidschanern Damit hat sich eine emotionale und politi- bewohnt, die aus diesen Gebieten vertrie- sche Barriere gegen eins der Basisprinzipien ben wurden. Aus ihnen kamen weit mehr für friedliche Konfliktlösung aufgebaut. aserbaidschanische Flüchtlinge und Vertrie- Die externen Vermittler in dem Konflikt bene als aus Berg-Karabach selbst. Beson- sehen sich mit der Herausforderung kon- ders in jenen Territorien, die zwischen der frontiert, die Situation in den sieben Pro- Republik Armenien und Berg-Karabach vinzen umfassend und unabhängig zu liegen, förderten die Regierungen Armeni- überprüfen. Erkundungsmissionen der ens und Berg-Karabachs den Ausbau von OSZE in den Jahren 2005 und 2010 waren Verkehrsverbindungen und neuer Siedlun- begrenzt und wurden dieser Aufgabe gen. Zwar verfolgte die Regierung in Eriwan noch nicht gerecht. keine offizielle Politik der Ansiedlung von Armeniern in diesen Gebieten, um nicht Rückkehr Berg-Karabachs an den internationale Kritik zu erregen. Dennoch Verhandlungstisch ließen sich nach und nach Armenier in diesen Territorien nieder. Heute leben dort Ein weiterer Streitpunkt ist die Forderung etwa 17 000 von ihnen. der neuen Führung in Eriwan nach der Nach einer ersten Erkundungsmission Rückkehr Berg-Karabachs in das Verhand- forderte die Minsker OSZE-Gruppe 2005, lungsformat der Minsker OSZE-Gruppe. Vor diese Siedlungspolitik zu beenden. Ein Jahr 1998 saßen dessen Repräsentanten mit am später verabschiedete die De-facto-Regie- Verhandlungstisch. Dann aber verlor der rung in Berg-Karabach eine Verfassung, die De-facto-Staat seine Position als eigene Ver- ihre Jurisdiktion über die angrenzenden handlungspartei, nachdem sein erster »Prä- Territorien und die Siedlungen dort postu- sident« Robert Kotscharjan in das Präsiden- lierte. In den Siedlungen wurde die Land- tenamt der Republik Armenien aufgestie- wirtschaft ausgebaut. Aserbaidschan be- gen war. Im Umfeld der Republikanischen schwerte sich auf internationaler Ebene Partei Armeniens stammten nun viele Ver- über diese Entwicklung, die es als grobe treter der Staatsführung aus Berg-Karabach Verletzung der Verhandlungsprinzipien oder aus der Karabach-Bewegung, die sich ansieht. Je mehr neue Siedlungen entstehen, seit 1987 in Armenien entfaltet hatte. Dazu desto stärker wächst auf armenischer Seite gehörte auch der 2018 entmachtete Sersch die Abneigung gegen die international Sargsjan, der in den 1990er Jahren hohe geforderte Rückgabe dieser Territorien an Staatsämter in Stepanakert wie das des Ver- Aserbaidschan, gegen die Rückkehr von teidigungsministers bekleidet und 2008 die Aserbaidschanern, die aus ihnen vertrieben Nachfolge Kotscharjans als Präsident Arme- wurden, und gegen den Abzug armenischer niens angetreten hatte. Aus Sicht Aserbaid- Truppen. Militärische Gewaltzwischenfälle schans herrschte in Armenien von 1998 bis wie im April 2016 und im Juli 2020 ver- 2018 ein »Karabach-Clan«. Mit der Samte- festigen diese Haltung noch. Im März 2019 nen Revolution vom Frühjahr 2018 verlor wandte sich der Leiter des Nationalen diese Machtelite ihre Führungsposition. Sicherheitsdienstes Armeniens gegen Spe- Der neue Regierungschef Nikol Paschin- kulationen über territoriale Konzessionen jan beteuerte anfangs, er könne nicht für an Aserbaidschan und sprach von einem Berg-Karabach sprechen, sondern sei nur Programm, Armenier auf den Gebieten für die Republik Armenien zuständig, und SWP-Aktuell 71 September 2020 5
forderte, den De-facto-Staat wieder an den auf Russland und die Türkei, die in Kon- Verhandlungen zu beteiligen. Allerdings fliktregionen wie in Libyen jeweils gegneri- lief Paschinjan damit Gefahr, dass die Oppo- sche Kräfte militärisch unterstützen. sition aus der alten Machtelite der neuen Russland ermahnte jedoch Armenien Führung Nachlässigkeit in puncto Karabach und Aserbaidschan, eine weitere Eskalation vorwerfen könnte. Dem trat Paschinjan ent- zu verhindern. Kommentatoren aus hohen gegen, indem er seine Rhetorik zum Kara- Sicherheitskreisen in Moskau zeigten sich bach-Problem stärker patriotisch und pan- besorgt, dass die Gewalt an der armenisch- armenisch ausrichtete. So brachte er eine aserbaidschanischen Grenze Zusammen- mögliche Vereinigung Berg-Karabachs mit stöße zwischen Armeniern und Aserbaid- der Republik Armenien ins Spiel und rief schanern in russischen Städten provozieren damit in Aserbaidschan scharfe Reaktionen könnte, leben in Russland doch große Dia- hervor. Schon zuvor, als Paschinjan sich sporagruppen und Arbeitsmigranten aus eher moderat zu Berg-Karabach geäußert beiden Völkern. Aus Sicht eines russischen hatte, war Aserbaidschan nicht bereit gewe- Militärexperten lautet die Botschaft des sen, eine Rückkehr des De-facto-Staats Kreml: »Wir sind neutral. Wir respektieren an den Verhandlungstisch zu akzeptieren. beide Völker und werden nicht die eine Auch die Co-Vorsitzenden der Minsker Seite gegen die andere unterstützen.« Das OSZE-Gruppe zeigten sich zurückhaltend steht im Kontrast zur Konfliktpolitik, die gegenüber einer Änderung des bestehenden Russland gegenüber Georgien und seinen Verhandlungsformats. abtrünnigen Landesteilen praktiziert. Dort unterstützt es Abchasien und Südossetien politisch und militärisch gegen Georgien Die Haltung externer Akteure und nutzt dies als Hebel gegen die Ausrich- tung des Landes nach Westen. Von anderen Streitfällen im Raum der ehe- Dabei steht Russland in einem Vertrags- maligen Sowjetunion wie den Sezessions- verhältnis strategischer Partnerschaft mit konflikten Georgiens oder den Kämpfen in Armenien und unterhält dort eine Militär- der Ostukraine hat sich der Konflikt um basis. Russische Kommentatoren äußerten Berg-Karabach bislang dadurch unterschie- aber schon vor der neuerlichen Eskalation den, dass er nicht in einen Kontext mit Kritik an der Konfliktrhetorik des strategi- geopolitischer Rivalität oder einem neuen schen Partners Armenien. So tadelte Außen- Ost-West-Konflikt gesetzt wurde. Russland minister Lawrow auf dem Treffen des Val- stellte sich hier nicht gegen die westlichen dai-Klubs in Sotschi im Oktober 2019 Aus- Akteure. Neben den USA und Frankreich sagen wie »Karabach ist Armenien« und hat es die Position eines Co-Vorsitzenden verglich dies mit der Äußerung des albani- der Minsker OSZE-Gruppe inne. Zwischen schen Premierministers, Kosovo sei Alba- Washington, Paris und Moskau traten keine nien. Diese Rhetorik trage nicht dazu bei, grundsätzlichen Meinungsverschiedenhei- eine Atmosphäre für die Wiederaufnahme ten über die Konfliktvermittlung zutage, des politischen Prozesses zu schaffen. auch wenn Russland bemüht ist, die führen- In Armenien dagegen wuchs die Skepsis, de Rolle in der Konfliktmediation zu spielen. dass man sich in einer militärischen Aus- In der neuerlichen Eskalationsphase riefen einandersetzung mit Aserbaidschan auf mahnende Stimmen aus Moskau, Washing- seine »Verbündeten« verlassen könne, also ton und Brüssel sowohl Armenien als auf Russland und die von ihm geleitete auch Aserbaidschan dazu auf, keinen Krieg Organisation des Vertrags über kollektive heraufzubeschwören. Eine einseitige Erklä- Sicherheit (OVKS), der Armenien als einzi- rung kam lediglich aus der Türkei, die sich ger Staat im Südkaukasus angehört. Zudem ganz auf die Seite Aserbaidschans stellte. hat sich nach dem Machtwechsel von 2018 Einige Kommentatoren deuteten die Gefahr das politische Verhältnis zwischen Armeni- eines Stellvertreterkriegs an – mit Blick en und Russland abgekühlt, auch wenn SWP-Aktuell 71 September 2020 6
sich beide weiterhin zu ihrer strategischen agentur Interfax führte das in Armenien Partnerschaft bekennen. Diese Bekundung stationierte russische Militär während der bedeutet aber nicht, dass sich Russland von Eskalationsphase gemeinsame Übungen Aserbaidschan distanziert. Gerade in den mit dem armenischen Militär durch, an letzten zwei Jahren war Moskau bemüht, denen 1 500 russische Soldaten, MiG-29- Baku für eine Annäherung an die Eurasi- Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Kampf- sche Wirtschaftsgemeinschaft zu gewinnen. drohnen beteiligt waren. Die Türkei hingegen unterstützt Aser- Drohte also doch ein Stellvertreterkrieg? baidschan im Konflikt mit Armenien. Ihre Am 27. Juli führten Putin und Erdoğan ein Beziehung zu Aserbaidschan folgt der Parole Telefongespräch, bei dem der russische Prä- »Eine Nation, zwei Staaten«, steht das Land sident betonte, »wie wichtig es ist, Schritte ihr doch unter den postsowjetischen Staaten zu verhindern, die zu einer Eskalation der mit turkstämmiger Titularnation am näch- Spannungen führen könnten«. In den sten. Dagegen ist das Verhältnis Armeniens folgenden Wochen blieben die russischen zur Türkei historisch zutiefst gestört – Kommentare in staatlichen Medien zur vor allem wegen des Genozids, der 1915 im Türkei eher zurückhaltend, auch bei inter- ausgehenden Osmanischen Reich an der national höchst umstrittenen Themen wie armenischen Volksgruppe begangen wurde. Ankaras Erdgaspolitik im östlichen Mittel- 2010 schlossen Ankara und Baku ein Ab- meer. Russland ist derzeit mit anderen kommen über strategische Kooperation und Problemen beschäftigt. Dazu gehört die gegenseitige Unterstützung. Es gab gemein- Protestwelle im eigenen Fernen Osten und same Militärmanöver, zudem Solidaritäts- im Nachbarland Belarus. bekundungen für Aserbaidschan aus Ankara Die angeblich neutrale Politik Moskaus bei Gewaltzwischenfällen im Umfeld des gegenüber den Konfliktparteien Armenien Karabach-Konflikts, wie im April 2016. und Aserbaidschan hat in den letzten Jahren Allerdings kam Zweifel daran auf, dass allerdings zu erheblicher Aufrüstung in sich die Türkei an einem regelrechten Krieg beiden Ländern beigetragen. Russland spielt auf der Seite ihres »Bruderlandes« beteiligen die äußerst fragwürdige Doppelrolle eines würde. Im Kontext der Konflikteskalation Hauptmediators in dem Konflikt und zu- vom Juli 2020 waren aus Ankara gleichwohl gleich des größten Waffenlieferanten beider Aussagen zu vernehmen, die in diese Rich- Konfliktparteien und begründet dies mit tung deuteten. Am 29. Juli wurden im Rah- »Balancewahrung«. Der strategische Partner men des Abkommens über militärische Zu- Armenien bezieht russische Waffen zum sammenarbeit die bislang größten gemein- Vorzugspreis, Aserbaidschan zum Markt- samen Militärübungen in aserbaidschani- preis. Auch andere Drittstaaten hatten ihren schen Landesteilen eingeleitet, so in Baku, Anteil an der Aufrüstung in dem Konflikt- Nachitschewan, Ganja und Kurdamir. An feld. Israel wurde nach Russland zum zweit- den dreizehntägigen Manövern von Artille- größten Waffenlieferanten für Aserbaid- rie und Luftverteidigung beteiligten sich schan, wofür das Empfängerland Kritik aus laut aserbaidschanischen Medien bis zu dem islamischen Ausland erntete. 2016 11 000 Soldaten aus der Türkei. Diese Zahl hatte Baku langfristige Verträge mit Israel wurde offiziell jedoch nicht bestätigt. Aus zum Kauf militärischer Güter im Wert von dem armenischen Verteidigungsministerium 5 Milliarden US-Dollar geschlossen. Aser- hieß es, gemeinsam mit Russland werde baidschan seinerseits beklagte sich über man die türkisch-aserbaidschanischen Mili- eine Waffenlieferung Serbiens an Armeni- täraktivitäten mit allen zur Verfügung en kurz vor dem Ausbruch der neuerlichen stehenden Aufklärungsmitteln überwachen Eskalation. Aus Belgrad kam die Antwort, und analysieren. Baku beschwerte sich dar- Serbien habe in den letzten Jahren Waffen über, dass Armenien und Russland gemein- an beide Staaten verkauft, dabei an Aser- same Luftverteidigungsübungen abgehalten baidschan zehnmal mehr als an Armenien. hätten. Laut der russischen Nachrichten- SWP-Aktuell 71 September 2020 7
So entstand im Umfeld des ungelösten falls nicht ausgeschlossen werden. Ein Karabach-Konflikts ein erschreckendes Aus- solcher Krieg würde heute auf einem weit maß an Militarisierung. Im Globalen Milita- höheren militärischen Niveau ausgetragen risierungsindex des Bonner Internationalen als der Karabach-Krieg von 1992 bis 1994 Zentrums für Konversion (BICC), das Militär- und würde den gesamten Südkaukasus ausgaben in Relation zur Bevölkerungs- und erschüttern. Deshalb kamen vor allem aus Wirtschaftsgröße eines Landes misst, ran- Georgien besorgte Kommentare über die gieren Armenien und Aserbaidschan unter neuen Gewaltzwischenfälle unweit seiner den ersten zehn. In absoluten Zahlen hat eigenen Staatsgrenze zu den beiden Aserbaidschan, der südkaukasische Staat Nachbarländern. © Stiftung Wissenschaft mit der höchsten Bevölkerungszahl und der Auch wenn die Aussicht auf eine fried- und Politik, 2020 größten Wirtschaft, mehr in die Aufrüstung liche Lösung des Karabach-Konflikts erneut Alle Rechte vorbehalten investieren können als Armenien. Bakus in Frage gestellt wurde, sollten sich die Militäretat übersteigt längst Armeniens Mediationsbemühungen nicht darauf be- Das Aktuell gibt die Auf- gesamten Staatshaushalt. Armenien reagiert schränken, die Gefahr einer militärischen fassung des Autors wieder. auf diese materielle Überlegenheit des Eskalation einzudämmen. Nicht lange vor In der Online-Version dieser Gegners mit verstärkter militärischer Mobi- dem erneuten Schusswechsel wurden auf Publikation sind Verweise lisierung. Ende August 2020 forderte das beiden Konfliktseiten Signale gesetzt, auf auf SWP-Schriften und armenische Verteidigungsministerium in welche die internationale Politik zurück- wichtige Quellen anklickbar. einem Gesetzesentwurf, eine landesweite greifen sollte. Das gilt etwa für die Ansage, SWP-Aktuells werden intern Miliz aufzustellen, in der Freiwillige – Män- die eigene Bevölkerung auf Kompromisse einem Begutachtungsverfah- ner und Frauen unter 70 Jahren – neue vorbereiten zu wollen, humanitäre Kon- ren, einem Faktencheck und Hilfstruppen bilden. Diese könnten auch an takte zwischen den strikt voneinander ge- einem Lektorat unterzogen. »gefährdeten Grenzabschnitten« eingesetzt trennten Gesellschaften Berg-Karabachs Weitere Informationen werden. und Aserbaidschans zu ermöglichen, die zur Qualitätssicherung der eigene Bevölkerung besser über die Kon- SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. fliktmediation zu informieren und zivil- swp-berlin.org/ueber-uns/ Ausblick gesellschaftliche Gruppen stärker in letztere qualitaetssicherung/ einzubeziehen. Eine weitere Eskalation des militärischen SWP Gewaltzwischenfalls vom Juli 2020 blieb Stiftung Wissenschaft und Politik zunächst aus. Im August hatte sich die Deutsches Institut für internationale Aufmerksamkeit bereits Internationale Politik und weitgehend auf andere Themen gerichtet, Sicherheit wie die Entwicklung in Belarus und die ver- schärfte politische Krise zwischen Europa Ludwigkirchplatz 3–4 und Russland wegen des Giftanschlags auf 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 den Oppositionsführer Nawalny. Doch der Fax +49 30 880 07-100 Vorfall an der armenisch-aserbaidschani- www.swp-berlin.org schen Staatsgrenze hat die internationale swp@swp-berlin.org Gemeinschaft abermals davor gewarnt, sich darauf zu verlassen, dass der über drei ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2020A71 Jahrzehnte alte zwischenstaatliche Konflikt im Status eines »frozen conflict« verharrt. Zwar halten die meisten Analysten einen geplanten Krieg (»intentional war«) nicht für wahrscheinlich. Dennoch kann ein »war by accident« durch eine aus dem Ruder laufende Eskalation eines Gewaltzwischen- Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. SWP-Aktuell 71 September 2020 8
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