Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

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Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan
NR. 71 SEPTEMBER 2020                      Einleitung

Neuere Entwicklungen im Konflikt
zwischen Armenien und Aserbaidschan
Uwe Halbach

Im Juli 2020 nährte eine militärische Auseinandersetzung zwischen armenischen und
aserbaidschanischen Streitkräften die Sorge vor einem Rückfall in regelrechten Krieg,
wie ihn die beiden Seiten von 1992 bis 1994 geführt hatten. Der neuerliche Vorfall
war der schwerste militärische Zusammenstoß in einer Grenzzone außerhalb Berg-
Karabachs seit 1994. Doch im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Bezie-
hungen steht nach wie vor der ungelöste Konflikt um diesen De-facto-Staat und sieben
aserbaidschanische Provinzen in seiner Umgebung, die unter der Kontrolle armeni-
scher Truppen stehen. Der jüngsten Eskalation war von 2018 bis zum Frühjahr 2019
eine Phase der Entspannung vorausgegangen. Während dieser Zeit hatten die Kon-
takte zwischen Armeniens und Aserbaidschans Staatsführern zugenommen und diese
ihre Bereitschaft bekundet, sich verstärkt auf eine friedliche Konfliktregelung ein-
zulassen und die Bevölkerungen in diesen Prozess einzubeziehen. Bald darauf aber
wurde der Ton wieder schärfer.

Vom 12. bis zum 16. Juli 2020 war an            die den kaspischen Raum mit Europa ver-
einem Abschnitt der Staatsgrenze zwischen       binden und zwischen Aserbaidschan, Geor-
Aserbaidschan und Armenien gegenseitiger        gien und der Türkei verlaufen.
Artilleriebeschuss zu verzeichnen. Laut offi-      Wie bei Gewaltzwischenfällen zuvor
ziellen Angaben kamen dabei mindestens          bezichtigten beide Seiten den jeweiligen
17 Menschen ums Leben – auf armeni-             Gegner, die militärische Auseinandersetzung
scher Seite vier Militärangehörige, auf aser-   provoziert zu haben. Nach dem 16. Juli
baidschanischer ein Zivilist und 12 Militärs,   ließen die Kämpfe nach, doch die Kontra-
darunter der ranghöchste im Schusswechsel       henten beschuldigten sich auch weiterhin
mit armenischen Streitkräften gefallene         militärischer Übergriffe. Diese Entwicklung
Offizier seit dem Ende des Karabach-Krieges     hatte besorgniserregende Auswirkungen.
1994. Der umkämpfte Grenzabschnitt ver-         In Aserbaidschans Hauptstadt Baku versam-
läuft zwischen der aserbaidschanischen          melten sich am 14. Juli Zigtausende Demon-
Provinz Tovuz und der armenischen Pro-          stranten vor dem Parlament und riefen zum
vinz Tavush unweit Georgiens. Er befindet       Kampf auf. Die militärische Eskalation an
sich in der Nähe wichtiger Transitprojekte,     der Grenze strahlte weltweit in die armeni-
Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan
schen und aserbaidschanischen Diaspora-          die Forderung des neuen armenischen
                 gruppen aus. Laut Mitteilung der aserbaid-       Premiers Nikol Paschinjan zurück, Berg-
                 schanischen Botschaften griffen Armenier         Karabach an den Verhandlungstisch der
                 aserbaidschanische Demonstranten in Lon-         Minsker OSZE-Gruppe zurückzuholen.
                 don, Los Angeles und Brüssel an. Dagegen             Gegen Ende 2018 verkündete der aser-
                 beklagte zum Beispiel der Zentralrat der         baidschanische Präsident Ilham Alijew,
                 Armenier in Deutschland einen Brand-             2019 könne das »Jahr des Durchbruchs«
                 anschlag auf die armenische Botschaft in         werden. Das war umso erstaunlicher, als er
                 Berlin und Attacken auf Geschäfte in Köln        zuvor wiederholt beklagt hatte, die Verhand-
                 und Hamburg, die von Armeniern betrie-           lungen im Rahmen der OSZE zur Konflikt-
                 ben werden.                                      bearbeitung seien erfolglos, und eine »mili-
                    Jede Konfliktpartei warf der anderen          tärische Konfliktlösung« als Alternative zur
                 vor, mit militärischen Aktionen von akuten       vergeblichen Diplomatie erwähnt hatte.
                 internen Problemen ablenken zu wollen.           Nun jedoch verlautete aus Baku, Kontakte
                 Aserbaidschan steckt in einer Wirtschafts-       zwischen den bislang völlig voneinander
                 krise, weil die Weltmarktpreise für Energie-     getrennten Gesellschaften Berg-Karabachs
                 rohstoffe sinken. Armenien wiederum leidet       und des übrigen Aserbaidschan sowie die
                 schwer unter der Corona-Krise – dort stieg       Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre
                 die Zahl der Neuinfektionen im Juni und          Heimatorte könnten die humanitäre Lage
                 Juli dramatisch an. Gerade diese Heraus-         im Umfeld des ungelösten Konflikts verbes-
                 forderungen aber deuten darauf hin, dass         sern und einer Einigung den Weg bereiten.
                 sich weder Armenien noch Aserbaidschan           Zugleich zog Alijew indes eine rote Linie:
                 die Eskalation eines Gewaltzwischenfalls         Die maximale Konzession an Berg-Karabach
                 bis zum offenen Krieg leisten können.            sei ein Autonomiestatus innerhalb Aser-
                                                                  baidschans. Auf der Gegenseite lehnte der
                                                                  armenische Regierungschef Paschinjan die
                 Eine kurze Phase der                             Formel »territories for peace« ab. Sie besagt,
                 Entspannung                                      dass eine friedliche Konfliktlösung nur dann
                                                                  möglich ist, wenn zuvor die von armeni-
                 Nach dem Machtwechsel in Armenien                schen Truppen kontrollierten Provinzen in
                 durch die »Samtene Revolution« vom Früh-         der Umgebung Berg-Karabachs an Aserbaid-
                 jahr 2018 keimte die Hoffnung, dass die          schan zurückgegeben werden.
                 konfliktbeladene Beziehung zu Aserbaid-              Schon im Frühjahr 2019 neigte sich die
                 schan sich entspannen könnte. Hochrangi-         Entspannung ihrem Ende zu. Bei seinem
                 ge Treffen zwischen den Außenministern           Aufenthalt in den USA im März verkündete
                 und den Staatsführern der beiden Länder          der armenische Verteidigungsminister
                 nahmen zu. Ein Abkommen vom Septem-              Dawid Tonojan, sein Land müsse sich auf
                 ber 2018 eröffnete einen direkten Kommu-         eine aktive Verteidigungsstrategie vorberei-
                 nikationskanal zwischen ihren Regierun-          ten, und sprach von »new war for new terri-
                 gen. An der Waffenstillstandslinie um Berg-      tories«. Als Premier Paschinjan im August
                 Karabach traten so wenig Gewaltzwischen-         2019 Stepanakert besuchte, die Hauptstadt
                 fälle auf wie seit 2013 nicht mehr. Bei          Berg-Karabachs, bekräftigte er: »Karabach
                 einem Außenministertreffen in Paris am           ist Armenien – Punkt!« Präsident Alijew
                 16. Januar 2019 teilten beide Seiten mit,        konterte in Sotschi auf der Konferenz des
                 dass sie ihre Gesellschaften auf ein Friedens-   Valdai-Klubs im Oktober mit »Karabach ist
                 abkommen vorbereiten wollten. Die Bevöl-         Aserbaidschan – Ausrufezeichen!«. In
                 kerung in Armenien, Berg-Karabach und            einem Kommentar zu dieser Auseinander-
                 Aserbaidschan solle besser über die offizielle   setzung war die Rede von einem »war of
                 Mediation in dem Konflikt informiert, zivil-     punctuations«. Während der Münchner
                 gesellschaftliche Gruppen sollten stärker        Sicherheitskonferenz im Februar 2020
                 einbezogen werden. Allerdings wies Baku          präsentierten Alijew und Paschinjan die

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bekannten historischen Narrative, die das        prekären zwischenstaatlichen Beziehungen.
umstrittene Gebiet als uralten Bestandteil       Seit dem Ende des Karabach-Krieges werden
der eigenen Nationalgeschichte ausweisen.        diese durch ein Waffenstillstandsabkom-
Ein Beobachter meinte dazu: »Die Münch-          men von 1994, das Russland vermittelte,
ner Konferenz hat gezeigt, dass die Führer       mit der Formel »Weder Krieg noch Frieden«
beider Länder eher bereit sind, in das           umschrieben. Dem Waffenstillstand folgte
2. Jahrhundert v. Chr. zurückzugehen, als        kein Friedensvertrag, und an der »line of
über die Zukunft zu diskutieren.«                contact«, an der sich Scharfschützen gegen-
                                                 überstehen, traten immer wieder Gewalt-
                                                 zwischenfälle auf. Bei den Schusswechseln
Streitpunkte im Konflikt um                      kamen jedes Jahr Dutzende Menschen
Berg-Karabach                                    ums Leben. Besonders zwischen 2014 und
                                                 2016 eskalierte hier die Gewalt. Waren es
Die Eskalation vom Juli 2020, während der        72 Todesopfer (darunter acht Zivilisten) im
es in Berg-Karabach und seiner Umgebung          Jahre 2014 und 80 (darunter fünf Zivilisten)
relativ ruhig blieb, lenkte den Blick auf eine   2015, folgte im April 2016 die schlimmste
Grenzregion weit außerhalb dieser Konflikt-      Eskalation seit 1994. Sie kostete 200 Kom-
zone. Dort leben etwa 150 000 Menschen           battanten und 25 Zivilisten das Leben. Ge-
in 26 armenischen und 84 aserbaidschani-         legentlich griffen die Gewaltzwischenfälle
schen Dörfern an einem nicht demarkierten        auf Abschnitte der Staatsgrenze außerhalb
Grenzabschnitt mit militärischen Anlagen         der Konfliktzone über, wo aber zwischen
auf beiden Seiten. Gleichwohl stehen nach        2016 und 2018 nur sieben Prozent aller
wie vor Berg-Karabach und die von armeni-        Todesopfer zu verzeichnen waren. In den
schen Truppen ganz oder teilweise kontrol-       letzten zwei Jahren hat sich dieser Anteil
lierten sieben aserbaidschanischen Provin-       verdoppelt, während die Gesamtzahl der
zen in seiner Umgegend im Mittelpunkt der        Gewaltzwischenfälle sank.

                                                                                                 SWP-Aktuell 71
                                                                                                September 2020

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Noch im März 2019, als sich das Ende der       nierten Zivilgesellschaft teilen diese Einstel-
                 Entspannungsphase abzeichnete, plädierte          lung. Als einzig zulässigen Kompromiss
                 Paschinjan für eine Lösung in der Karabach-       bietet Aserbaidschan Berg-Karabach einen
                 Frage, »die gleichermaßen akzeptabel für          »autonomen Status« innerhalb seines Staats-
                 das Volk Armeniens, das Volk von Artsach          gebiets an, der allerdings kaum konkreti-
                 (Berg-Karabach) und das Volk Aserbaid-            siert wurde. Im Oktober 2016 sprach Präsi-
                 schans sein sollte«. Eine solche Lösung ist in    dent Alijew erstmals von einer »autonomen
                 fast drei Jahrzehnte währenden internatio-        Republik«. Zuvor war stets die Rede von
                 nalen Mediationsbemühungen bisher nicht           einem »autonomen Gebiet«. Darin sah der
                 gelungen. Die Minsker OSZE-Gruppe unter           US-amerikanische Co-Vorsitzende der Mins-
                 Leitung der drei Co-Vorsitzenden Russland,        ker OSZE-Gruppe ein Signal für den Start
                 USA und Frankreich vermittelte seit 2007          ernsthafter Diskussionen über den Status.
                 »Basisprinzipien« für eine friedliche Konflikt-      Gemäß den Basisprinzipien unterliegt
                 lösung. Sie umfassen einen Interim-Status         das Gebiet einem Interim-Status, bis der
                 für Berg-Karabach bis zur Regelung seines         Rechtsstatus geklärt ist. In der Auseinander-
                 endgültigen Rechtsstatus »durch rechtlich         setzung darüber bot Baku während der Ent-
                 verbindliche Willensäußerung«, die Rück-          spannungsphase einen Kompromiss an, der
                 gabe der Territorien in seiner Umgebung           dem weltweit isolierten und nur mit der
                 an Aserbaidschan, einen Korridor zwischen         Republik Armenien eng verbundenen De-
                 Armenien und Berg-Karabach, das Recht             facto-Staat eine »begrenzte Außenpolitik«
                 aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen          ermöglichen soll. Im Gegenzug erwartet
                 auf Rückkehr in ihre Heimatorte sowie             Aserbaidschan von Eriwan und Stepanakert,
                 Sicherheitsgarantien einschließlich einer         dass die armenischen Truppen aus den Pro-
                 internationalen Peacekeeping-Operation.           vinzen in der Umgebung Berg-Karabachs
                 Doch die Ansichten der Konfliktparteien           abziehen. Das ist allerdings nicht zu erwar-
                 über die Umsetzung dieser Prinzipien und          ten, solange Baku wiederholt auf eine »mili-
                 deren Reihenfolge gingen auseinander.             tärische Konfliktlösung« hinweist und keine
                                                                   internationale Sicherheitsgarantie für Berg-
                 Der Status Berg-Karabachs                         Karabach besteht.
                                                                      Im Streit um den endgültigen Rechts-
                 Im Streit um Berg-Karabach prallen zwei           status geht es darum, welche Bevölkerungs-
                 völkerrechtliche Prinzipien aufeinander:          gruppen zur Abstimmung berechtigt sind
                 Auf der einen Seite steht das Prinzip der         und wie und wo abgestimmt werden soll.
                 territorialen Integrität, auf das sich Baku       Aserbaidschan hat zwei getrennte Abstim-
                 mit Bezug auf das Territorium der einstigen       mungen in Erwägung gezogen: Ihre Voten
                 sowjetischen Unionsrepublik Aserbaidschan         separat abgeben sollen demnach die armeni-
                 beruft und das von der internationalen Ge-        sche Bevölkerungsmehrheit in Berg-Kara-
                 meinschaft insofern bestätigt wird, als kein      bach und die Gemeinschaft der aus diesem
                 Staat bislang die Unabhängigkeit Berg-Kara-       Gebiet vertriebenen Aserbaidschaner, die
                 bachs diplomatisch anerkannt hat. Auf der         in verschiedenen Regionen Aserbaidschans
                 anderen Seite begründet Armenien mit dem          lebt und heute etwa 60 000 Mitglieder um-
                 Recht auf nationale Selbstbestimmung die          fasst. Armenien würde sich allenfalls auf
                 Lostrennung des mehrheitlich von Armeni-          eine einheitliche Abstimmung mit Beteili-
                 ern bewohnten ehemaligen autonomen                gung der aserbaidschanischen Binnen-
                 Gebiets von der Republik Aserbaidschan.           vertriebenen einlassen. Diese könnten eine
                 Präsident Alijew hat wiederholt betont, dass      Mehrheit für ein Unabhängigkeitsvotum
                 Volk und Staat seines Landes niemals einen        in Berg-Karabach nicht verhindern.
                 zweiten armenischen Staat auf dem »histo-
                 rischen Territorium Aserbaidschans« dulden
                 werden. Auch die Opposition und weite
                 Teile der von staatlichen Behörden schika-

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Die Territorien in der Umgebung               anzusiedeln, die unter Kontrolle der armeni-
Berg-Karabachs                                schen Armee stehen.
                                                 Jeder Versuch der neuen armenischen
Seit 1994 stehen im Grenzgebiet zu Berg-      Führung, hier Kompromisse auf den Weg
Karabach fünf aserbaidschanische Provin-      zu bringen, könnte auf Opposition in Berg-
zen ganz, zwei weitere teilweise unter der    Karabach, in der weltweiten armenischen
Kontrolle armenischer Truppen. Sie waren      Diaspora und in Armenien selbst stoßen.
zuvor überwiegend von Aserbaidschanern        Damit hat sich eine emotionale und politi-
bewohnt, die aus diesen Gebieten vertrie-     sche Barriere gegen eins der Basisprinzipien
ben wurden. Aus ihnen kamen weit mehr         für friedliche Konfliktlösung aufgebaut.
aserbaidschanische Flüchtlinge und Vertrie-   Die externen Vermittler in dem Konflikt
bene als aus Berg-Karabach selbst. Beson-     sehen sich mit der Herausforderung kon-
ders in jenen Territorien, die zwischen der   frontiert, die Situation in den sieben Pro-
Republik Armenien und Berg-Karabach           vinzen umfassend und unabhängig zu
liegen, förderten die Regierungen Armeni-     überprüfen. Erkundungsmissionen der
ens und Berg-Karabachs den Ausbau von         OSZE in den Jahren 2005 und 2010 waren
Verkehrsverbindungen und neuer Siedlun-       begrenzt und wurden dieser Aufgabe
gen. Zwar verfolgte die Regierung in Eriwan   noch nicht gerecht.
keine offizielle Politik der Ansiedlung von
Armeniern in diesen Gebieten, um nicht        Rückkehr Berg-Karabachs an den
internationale Kritik zu erregen. Dennoch     Verhandlungstisch
ließen sich nach und nach Armenier in
diesen Territorien nieder. Heute leben dort   Ein weiterer Streitpunkt ist die Forderung
etwa 17 000 von ihnen.                        der neuen Führung in Eriwan nach der
   Nach einer ersten Erkundungsmission        Rückkehr Berg-Karabachs in das Verhand-
forderte die Minsker OSZE-Gruppe 2005,        lungsformat der Minsker OSZE-Gruppe. Vor
diese Siedlungspolitik zu beenden. Ein Jahr   1998 saßen dessen Repräsentanten mit am
später verabschiedete die De-facto-Regie-     Verhandlungstisch. Dann aber verlor der
rung in Berg-Karabach eine Verfassung, die    De-facto-Staat seine Position als eigene Ver-
ihre Jurisdiktion über die angrenzenden       handlungspartei, nachdem sein erster »Prä-
Territorien und die Siedlungen dort postu-    sident« Robert Kotscharjan in das Präsiden-
lierte. In den Siedlungen wurde die Land-     tenamt der Republik Armenien aufgestie-
wirtschaft ausgebaut. Aserbaidschan be-       gen war. Im Umfeld der Republikanischen
schwerte sich auf internationaler Ebene       Partei Armeniens stammten nun viele Ver-
über diese Entwicklung, die es als grobe      treter der Staatsführung aus Berg-Karabach
Verletzung der Verhandlungsprinzipien         oder aus der Karabach-Bewegung, die sich
ansieht. Je mehr neue Siedlungen entstehen,   seit 1987 in Armenien entfaltet hatte. Dazu
desto stärker wächst auf armenischer Seite    gehörte auch der 2018 entmachtete Sersch
die Abneigung gegen die international         Sargsjan, der in den 1990er Jahren hohe
geforderte Rückgabe dieser Territorien an     Staatsämter in Stepanakert wie das des Ver-
Aserbaidschan, gegen die Rückkehr von         teidigungsministers bekleidet und 2008 die
Aserbaidschanern, die aus ihnen vertrieben    Nachfolge Kotscharjans als Präsident Arme-
wurden, und gegen den Abzug armenischer       niens angetreten hatte. Aus Sicht Aserbaid-
Truppen. Militärische Gewaltzwischenfälle     schans herrschte in Armenien von 1998 bis
wie im April 2016 und im Juli 2020 ver-       2018 ein »Karabach-Clan«. Mit der Samte-
festigen diese Haltung noch. Im März 2019     nen Revolution vom Frühjahr 2018 verlor
wandte sich der Leiter des Nationalen         diese Machtelite ihre Führungsposition.
Sicherheitsdienstes Armeniens gegen Spe-         Der neue Regierungschef Nikol Paschin-
kulationen über territoriale Konzessionen     jan beteuerte anfangs, er könne nicht für
an Aserbaidschan und sprach von einem         Berg-Karabach sprechen, sondern sei nur
Programm, Armenier auf den Gebieten           für die Republik Armenien zuständig, und

                                                                                               SWP-Aktuell 71
                                                                                              September 2020

                                                                                                           5
forderte, den De-facto-Staat wieder an den      auf Russland und die Türkei, die in Kon-
                 Verhandlungen zu beteiligen. Allerdings         fliktregionen wie in Libyen jeweils gegneri-
                 lief Paschinjan damit Gefahr, dass die Oppo-    sche Kräfte militärisch unterstützen.
                 sition aus der alten Machtelite der neuen          Russland ermahnte jedoch Armenien
                 Führung Nachlässigkeit in puncto Karabach       und Aserbaidschan, eine weitere Eskalation
                 vorwerfen könnte. Dem trat Paschinjan ent-      zu verhindern. Kommentatoren aus hohen
                 gegen, indem er seine Rhetorik zum Kara-        Sicherheitskreisen in Moskau zeigten sich
                 bach-Problem stärker patriotisch und pan-       besorgt, dass die Gewalt an der armenisch-
                 armenisch ausrichtete. So brachte er eine       aserbaidschanischen Grenze Zusammen-
                 mögliche Vereinigung Berg-Karabachs mit         stöße zwischen Armeniern und Aserbaid-
                 der Republik Armenien ins Spiel und rief        schanern in russischen Städten provozieren
                 damit in Aserbaidschan scharfe Reaktionen       könnte, leben in Russland doch große Dia-
                 hervor. Schon zuvor, als Paschinjan sich        sporagruppen und Arbeitsmigranten aus
                 eher moderat zu Berg-Karabach geäußert          beiden Völkern. Aus Sicht eines russischen
                 hatte, war Aserbaidschan nicht bereit gewe-     Militärexperten lautet die Botschaft des
                 sen, eine Rückkehr des De-facto-Staats          Kreml: »Wir sind neutral. Wir respektieren
                 an den Verhandlungstisch zu akzeptieren.        beide Völker und werden nicht die eine
                 Auch die Co-Vorsitzenden der Minsker            Seite gegen die andere unterstützen.« Das
                 OSZE-Gruppe zeigten sich zurückhaltend          steht im Kontrast zur Konfliktpolitik, die
                 gegenüber einer Änderung des bestehenden        Russland gegenüber Georgien und seinen
                 Verhandlungsformats.                            abtrünnigen Landesteilen praktiziert. Dort
                                                                 unterstützt es Abchasien und Südossetien
                                                                 politisch und militärisch gegen Georgien
                 Die Haltung externer Akteure                    und nutzt dies als Hebel gegen die Ausrich-
                                                                 tung des Landes nach Westen.
                 Von anderen Streitfällen im Raum der ehe-          Dabei steht Russland in einem Vertrags-
                 maligen Sowjetunion wie den Sezessions-         verhältnis strategischer Partnerschaft mit
                 konflikten Georgiens oder den Kämpfen in        Armenien und unterhält dort eine Militär-
                 der Ostukraine hat sich der Konflikt um         basis. Russische Kommentatoren äußerten
                 Berg-Karabach bislang dadurch unterschie-       aber schon vor der neuerlichen Eskalation
                 den, dass er nicht in einen Kontext mit         Kritik an der Konfliktrhetorik des strategi-
                 geopolitischer Rivalität oder einem neuen       schen Partners Armenien. So tadelte Außen-
                 Ost-West-Konflikt gesetzt wurde. Russland       minister Lawrow auf dem Treffen des Val-
                 stellte sich hier nicht gegen die westlichen    dai-Klubs in Sotschi im Oktober 2019 Aus-
                 Akteure. Neben den USA und Frankreich           sagen wie »Karabach ist Armenien« und
                 hat es die Position eines Co-Vorsitzenden       verglich dies mit der Äußerung des albani-
                 der Minsker OSZE-Gruppe inne. Zwischen          schen Premierministers, Kosovo sei Alba-
                 Washington, Paris und Moskau traten keine       nien. Diese Rhetorik trage nicht dazu bei,
                 grundsätzlichen Meinungsverschiedenhei-         eine Atmosphäre für die Wiederaufnahme
                 ten über die Konfliktvermittlung zutage,        des politischen Prozesses zu schaffen.
                 auch wenn Russland bemüht ist, die führen-         In Armenien dagegen wuchs die Skepsis,
                 de Rolle in der Konfliktmediation zu spielen.   dass man sich in einer militärischen Aus-
                 In der neuerlichen Eskalationsphase riefen      einandersetzung mit Aserbaidschan auf
                 mahnende Stimmen aus Moskau, Washing-           seine »Verbündeten« verlassen könne, also
                 ton und Brüssel sowohl Armenien als             auf Russland und die von ihm geleitete
                 auch Aserbaidschan dazu auf, keinen Krieg       Organisation des Vertrags über kollektive
                 heraufzubeschwören. Eine einseitige Erklä-      Sicherheit (OVKS), der Armenien als einzi-
                 rung kam lediglich aus der Türkei, die sich     ger Staat im Südkaukasus angehört. Zudem
                 ganz auf die Seite Aserbaidschans stellte.      hat sich nach dem Machtwechsel von 2018
                 Einige Kommentatoren deuteten die Gefahr        das politische Verhältnis zwischen Armeni-
                 eines Stellvertreterkriegs an – mit Blick       en und Russland abgekühlt, auch wenn

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September 2020

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sich beide weiterhin zu ihrer strategischen     agentur Interfax führte das in Armenien
Partnerschaft bekennen. Diese Bekundung         stationierte russische Militär während der
bedeutet aber nicht, dass sich Russland von     Eskalationsphase gemeinsame Übungen
Aserbaidschan distanziert. Gerade in den        mit dem armenischen Militär durch, an
letzten zwei Jahren war Moskau bemüht,          denen 1 500 russische Soldaten, MiG-29-
Baku für eine Annäherung an die Eurasi-         Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Kampf-
sche Wirtschaftsgemeinschaft zu gewinnen.       drohnen beteiligt waren.
   Die Türkei hingegen unterstützt Aser-           Drohte also doch ein Stellvertreterkrieg?
baidschan im Konflikt mit Armenien. Ihre        Am 27. Juli führten Putin und Erdoğan ein
Beziehung zu Aserbaidschan folgt der Parole     Telefongespräch, bei dem der russische Prä-
»Eine Nation, zwei Staaten«, steht das Land     sident betonte, »wie wichtig es ist, Schritte
ihr doch unter den postsowjetischen Staaten     zu verhindern, die zu einer Eskalation der
mit turkstämmiger Titularnation am näch-        Spannungen führen könnten«. In den
sten. Dagegen ist das Verhältnis Armeniens      folgenden Wochen blieben die russischen
zur Türkei historisch zutiefst gestört –        Kommentare in staatlichen Medien zur
vor allem wegen des Genozids, der 1915 im       Türkei eher zurückhaltend, auch bei inter-
ausgehenden Osmanischen Reich an der            national höchst umstrittenen Themen wie
armenischen Volksgruppe begangen wurde.         Ankaras Erdgaspolitik im östlichen Mittel-
2010 schlossen Ankara und Baku ein Ab-          meer. Russland ist derzeit mit anderen
kommen über strategische Kooperation und        Problemen beschäftigt. Dazu gehört die
gegenseitige Unterstützung. Es gab gemein-      Protestwelle im eigenen Fernen Osten und
same Militärmanöver, zudem Solidaritäts-        im Nachbarland Belarus.
bekundungen für Aserbaidschan aus Ankara           Die angeblich neutrale Politik Moskaus
bei Gewaltzwischenfällen im Umfeld des          gegenüber den Konfliktparteien Armenien
Karabach-Konflikts, wie im April 2016.          und Aserbaidschan hat in den letzten Jahren
   Allerdings kam Zweifel daran auf, dass       allerdings zu erheblicher Aufrüstung in
sich die Türkei an einem regelrechten Krieg     beiden Ländern beigetragen. Russland spielt
auf der Seite ihres »Bruderlandes« beteiligen   die äußerst fragwürdige Doppelrolle eines
würde. Im Kontext der Konflikteskalation        Hauptmediators in dem Konflikt und zu-
vom Juli 2020 waren aus Ankara gleichwohl       gleich des größten Waffenlieferanten beider
Aussagen zu vernehmen, die in diese Rich-       Konfliktparteien und begründet dies mit
tung deuteten. Am 29. Juli wurden im Rah-       »Balancewahrung«. Der strategische Partner
men des Abkommens über militärische Zu-         Armenien bezieht russische Waffen zum
sammenarbeit die bislang größten gemein-        Vorzugspreis, Aserbaidschan zum Markt-
samen Militärübungen in aserbaidschani-         preis. Auch andere Drittstaaten hatten ihren
schen Landesteilen eingeleitet, so in Baku,     Anteil an der Aufrüstung in dem Konflikt-
Nachitschewan, Ganja und Kurdamir. An           feld. Israel wurde nach Russland zum zweit-
den dreizehntägigen Manövern von Artille-       größten Waffenlieferanten für Aserbaid-
rie und Luftverteidigung beteiligten sich       schan, wofür das Empfängerland Kritik aus
laut aserbaidschanischen Medien bis zu          dem islamischen Ausland erntete. 2016
11 000 Soldaten aus der Türkei. Diese Zahl      hatte Baku langfristige Verträge mit Israel
wurde offiziell jedoch nicht bestätigt. Aus     zum Kauf militärischer Güter im Wert von
dem armenischen Verteidigungsministerium        5 Milliarden US-Dollar geschlossen. Aser-
hieß es, gemeinsam mit Russland werde           baidschan seinerseits beklagte sich über
man die türkisch-aserbaidschanischen Mili-      eine Waffenlieferung Serbiens an Armeni-
täraktivitäten mit allen zur Verfügung          en kurz vor dem Ausbruch der neuerlichen
stehenden Aufklärungsmitteln überwachen         Eskalation. Aus Belgrad kam die Antwort,
und analysieren. Baku beschwerte sich dar-      Serbien habe in den letzten Jahren Waffen
über, dass Armenien und Russland gemein-        an beide Staaten verkauft, dabei an Aser-
same Luftverteidigungsübungen abgehalten        baidschan zehnmal mehr als an Armenien.
hätten. Laut der russischen Nachrichten-

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                                                                                                September 2020

                                                                                                             7
So entstand im Umfeld des ungelösten                    falls nicht ausgeschlossen werden. Ein
                               Karabach-Konflikts ein erschreckendes Aus-                  solcher Krieg würde heute auf einem weit
                               maß an Militarisierung. Im Globalen Milita-                 höheren militärischen Niveau ausgetragen
                               risierungsindex des Bonner Internationalen                  als der Karabach-Krieg von 1992 bis 1994
                               Zentrums für Konversion (BICC), das Militär-                und würde den gesamten Südkaukasus
                               ausgaben in Relation zur Bevölkerungs- und                  erschüttern. Deshalb kamen vor allem aus
                               Wirtschaftsgröße eines Landes misst, ran-                   Georgien besorgte Kommentare über die
                               gieren Armenien und Aserbaidschan unter                     neuen Gewaltzwischenfälle unweit seiner
                               den ersten zehn. In absoluten Zahlen hat                    eigenen Staatsgrenze zu den beiden
                               Aserbaidschan, der südkaukasische Staat                     Nachbarländern.
© Stiftung Wissenschaft        mit der höchsten Bevölkerungszahl und der                      Auch wenn die Aussicht auf eine fried-
und Politik, 2020              größten Wirtschaft, mehr in die Aufrüstung                  liche Lösung des Karabach-Konflikts erneut
Alle Rechte vorbehalten        investieren können als Armenien. Bakus                      in Frage gestellt wurde, sollten sich die
                               Militäretat übersteigt längst Armeniens                     Mediationsbemühungen nicht darauf be-
Das Aktuell gibt die Auf-
                               gesamten Staatshaushalt. Armenien reagiert                  schränken, die Gefahr einer militärischen
fassung des Autors wieder.
                               auf diese materielle Überlegenheit des                      Eskalation einzudämmen. Nicht lange vor
In der Online-Version dieser   Gegners mit verstärkter militärischer Mobi-                 dem erneuten Schusswechsel wurden auf
Publikation sind Verweise      lisierung. Ende August 2020 forderte das                    beiden Konfliktseiten Signale gesetzt, auf
auf SWP-Schriften und          armenische Verteidigungsministerium in                      welche die internationale Politik zurück-
wichtige Quellen anklickbar.
                               einem Gesetzesentwurf, eine landesweite                     greifen sollte. Das gilt etwa für die Ansage,
SWP-Aktuells werden intern
                               Miliz aufzustellen, in der Freiwillige – Män-               die eigene Bevölkerung auf Kompromisse
einem Begutachtungsverfah-     ner und Frauen unter 70 Jahren – neue                       vorbereiten zu wollen, humanitäre Kon-
ren, einem Faktencheck und     Hilfstruppen bilden. Diese könnten auch an                  takte zwischen den strikt voneinander ge-
einem Lektorat unterzogen.     »gefährdeten Grenzabschnitten« eingesetzt                   trennten Gesellschaften Berg-Karabachs
Weitere Informationen          werden.                                                     und Aserbaidschans zu ermöglichen, die
zur Qualitätssicherung der
                                                                                           eigene Bevölkerung besser über die Kon-
SWP finden Sie auf der SWP-
Website unter https://www.                                                                 fliktmediation zu informieren und zivil-
swp-berlin.org/ueber-uns/      Ausblick                                                    gesellschaftliche Gruppen stärker in letztere
qualitaetssicherung/                                                                       einzubeziehen.
                               Eine weitere Eskalation des militärischen
SWP
                               Gewaltzwischenfalls vom Juli 2020 blieb
Stiftung Wissenschaft und
Politik
                               zunächst aus. Im August hatte sich die
Deutsches Institut für         internationale Aufmerksamkeit bereits
Internationale Politik und     weitgehend auf andere Themen gerichtet,
Sicherheit                     wie die Entwicklung in Belarus und die ver-
                               schärfte politische Krise zwischen Europa
Ludwigkirchplatz 3–4
                               und Russland wegen des Giftanschlags auf
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0        den Oppositionsführer Nawalny. Doch der
Fax +49 30 880 07-100          Vorfall an der armenisch-aserbaidschani-
www.swp-berlin.org             schen Staatsgrenze hat die internationale
swp@swp-berlin.org             Gemeinschaft abermals davor gewarnt, sich
                               darauf zu verlassen, dass der über drei
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A71
                               Jahrzehnte alte zwischenstaatliche Konflikt
                               im Status eines »frozen conflict« verharrt.
                               Zwar halten die meisten Analysten einen
                               geplanten Krieg (»intentional war«) nicht
                               für wahrscheinlich. Dennoch kann ein »war
                               by accident« durch eine aus dem Ruder
                               laufende Eskalation eines Gewaltzwischen-

                               Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

      SWP-Aktuell 71
      September 2020

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