Ein ungleichheitssoziologischer Blick auf "Die Doppelte Spaltung Europas"
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Soziologische Revue 2023; 46(1): 4–10 OLDENBOURG Symposium Ein ungleichheitssoziologischer Blick auf „Die Doppelte Spaltung Europas“ Martin Heidenreich, Die doppelte Spaltung Europas: Territoriale und soziale Un- gleichheiten als zentrale Herausforderungen der europäischen Integration. Wiesbaden: Springer VS 2022, 456 S., gb., 79,99 € Besprochen von PD Dr. Nikola Tietze: Centre Marc Bloch, E ˗ Mail: nikola.tietze@wiku-hamburg.de https://doi.org/10.1515/srsr-2023-2010 Schlüsselwörter: Europäisierung, Ungleichheitssoziologie, räumliche Bezüge in Un- gleichheitsregimen Die Frage nach der europäischen Vergesellschaftung ist in den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb zum Dreh- und Angelpunkt der europaso- ziologischen Forschung geworden. Heidenreichs Buch über die doppelte Spaltung Europas fügt einen weiteren Baustein zur Beantwortung dieser Frage hinzu – und zwar mit einer wirtschafts- und arbeitsmarktdatengesättigten Analyse sozialer und territorialer Ungleichheiten in Europa. Der Autor stellt seine Befunde, die er im Wesentlichen auf der Grundlage der europäischen Erhebungen über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) seit 2004 herausarbeitet, „als Ergebnis von un- terschiedlichen grenzüberschreitenden Vergesellschaftungsprozessen in Europa“ (S. 30) dar. Gleichzeitig betont er immer wieder die Bedeutung der nationalstaat- lichen Handlungsebene für die beobachteten Ungleichheitsstrukturen. „Der so- genannte ‚methodologische Nationalismus‘ der Ungleichheitsforschung ist somit keinesfalls überholt. Nationale Strukturen, Institutionen und Politiken sind immer noch zentrale Bestimmungsfaktoren sozialer Ungleichheiten und ihrer Muster und Dynamiken.“ (S. 406) Die gleichwohl von Heidenreich festgestellte Europäisierung sozialer Ungleichheiten, welche in sozialen und territorialen Spaltungen (und nicht in einer europäischen Schichtungspyramide) zum Ausdruck kommt, ist das Resultat (i) einer „komparativ-internationalen Perspektive“ auf die nationalen Bestimmungs- faktoren sozialer Ungleichheit, (ii) der Auswirkungen der EU-Politiken „auf die Einkommens- und Lebensbedingungen der Menschen und die nationalstaatlich ver- fassten Gesellschaften“, (iii) der „transnationale[n] Wahrnehmungen und Einstellun- gen“ und (iv) der europäisch strukturierten Handlungsfelder, grenzüberschreiten- Open Access. © 2023 Nikola Tietze, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
OLDENBOURG Ein ungleichheitssoziologischer Blick 5 den Karrieren, Strategien und Alltagspraktiken (kursiv im Original, S. 30, 31). Mit dieser Unterscheidung greift der Autor auf die Überlegungen und Befunde der von ihm koordinierten DFG-Forschergruppe „Europäische Vergesellschaftungspro- zesse – Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler Ver- gesellschaftung“ zurück, deren Mitglieder und Teilprojekte neben den englischspra- chigen Klassikern der Europaforschung den zentralen Literaturkanon des Buchs bilden. Das hier besprochene Buch ist das Ergebnis des siebten Teilprojekts der For- schergruppe. Die Zentralität der Vergesellschaftungsfrage in der Europaforschung des deutschsprachigen Wissenschaftsbetriebs beruht sicherlich auf der Eingängigkeit des Vergesellschaftungsbegriffs in der deutschsprachigen Soziologie (Bielefeld, 2012). In der englisch- oder französischsprachigen Europaforschung scheint die Vergesellschaftungsfrage zwar in der Untersuchung von Europäisierungsprozessen auf, aber nimmt ein geringeres Gewicht für die wissenschaftliche Produktion ein und wird weitaus leidenschaftsloser verhandelt. Doch erklärt das Übersetzungspro- blem nur zu Teilen die Zentralität der Vergesellschaftungsfrage in der deutschspra- chigen Europasoziologie. Entscheidend scheint vielmehr die im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb über mehrere Jahre geführte und auch in Heidenreichs Buch aufscheinende Auseinandersetzung über die soziale Integration und nicht zuletzt europäische Identität, die mit dem politischen Projekt der Europäischen Gemein- schaften und der Europäischen Union (EU) verbunden sind oder werden können (Eigmüller, 2021). Zunächst als „Europa ohne Gesellschaft“ (Bach, 2008) kritisiert, wurden die Institutionalisierung sowie Verrechtlichung der europäischen Integration und die hiermit einhergehende Marktorientierung zunehmend in Bezug auf die gesell- schaftlichen Beziehungen diskutiert, welche sie begründen, ordnen oder regulieren und welche sie aufgrund der Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht beeinflussen. Im Hinblick auf diese Problemstellung konträre Positionen, die im Übrigen in der gegenüberstellenden Untersuchung europäischer und mitgliedstaatlicher Kom- petenzen auf die internationale Europaforschung und andere sozialwissenschaftli- che Disziplinen treffen (Ferrera, 2005; Lechevalier & Wielgohs, 2015; Patel & Röhl 2020; Vauchez, 2015), haben die Europasoziologie des deutschsprachigen Wissen- schaftsbetriebs nachhaltig geprägt. Auch Heidenreich positioniert seine Analyse der europäischen Ungleichheiten in diesem Spannungsfeld und meint, die Thesen in der deutschsprachigen Europasoziologie „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen durch die Erkenntnis, dass sich „die Europäisierung der Deutungsmuster sozialer Un- gleichheiten – durchaus im Weberschen Sinne – als Weichensteller für die Schaf- fung und Vertiefung europaweiter Formen des Zusammenhalts [erweist]“ (S. 424). Nicht zuletzt hat die Auseinandersetzung in der deutschsprachigen Europasoziolo- gie dazu geführt, dass die jeweils untersuchten Themen wie etwa Solidarität (Ger-
6 Nikola Tietze OLDENBOURG hards et al., 2019), Migrations- und Asylverwaltung (Lahusen & Wacker, 2019) oder grenzüberschreitende Praktiken (Delhey et al., 2020) beweisen sollen, wie voll oder leer das europäische Wasserglas der Vergesellschaftung ist. Dementsprechend ar- gumentiert auch Heidenreich und legt in geradezu unermüdlicher Weise dar, dass die von ihm herausgearbeiteten ungleichen Einkommens-, Lohn-, Arbeitsmarkt- und Bildungschancen zum einen das Ergebnis europäisierter Deutungsmuster so- zialer Ungleichheiten und zum anderen das Resultat von EU-Politiken vor, während und nach der Finanzmarkt- und Eurokrise (2008–2013) sind. Ist dieses Ergebnis nicht zu erwarten gewesen oder besser gesagt die Voraus- setzung des gesamten Buchs? Heidenreichs Datenanalyse, die zwischen den EU-Mit- gliedstaaten, Norwegen und der Schweiz in dem Zeitraum 2004–2018 vergleicht, und die von ihm etablierten Zusammenhänge zwischen einzelnen statischen Posi- tionen bzw. zwischen jenen und EU-Politiken bauen auf zwei im Vorfeld definierte europäische Vergesellschaftungsprozesse auf, welche Heidenreich mit den Ergeb- nissen der Untersuchung der Ungleichheiten zu beweisen versucht. Der Autor ar- beitet zudem mit Daten, die in europäischer Perspektive mit europäisch vereinheit- lichen Instrumenten und Methoden auf der Basis des nationalstaatlichen Musters erhoben worden sind. Der Vergesellschaftungscocktail des Wasserglases ist gewis- sermaßen durch das empirische Material vorgegeben. Auch sind er selbst mit dem hier besprochenen Buch sowie seinen vorausgehenden Veröffentlichungen (z. B. Heidenreich, 2016) ebenso wie die von ihm koordinierte DFG-Forschergruppe zu europäischen Vergesellschaftungsprozessen entscheidende und aktive Unterneh- mer in der Europäisierung soziologischer Deutungsmuster. Am Ende stellt sich da- rüber hinaus die Frage, was man unter einem ungleichheitssoziologischen Blick- winkel eigentlich gewonnen hat, wenn man etwa den indirekten EU-Einfluss auf die subjektiven Wahrnehmungen sozialer Ungleichheiten verstanden hat, welche der Autor aus der Korrelation zwischen den Positionsveränderungen in der europäi- schen Einkommenshierarchie während der Finanzmarkt- und Eurokrise (2008– 2013) und den Veränderungen des subjektiven wirtschaftlichen Stresses ableitet (Kapitel 7.5). Heidenreich führt eine an der klassischen nationalstaatlichen Strukturanalyse angelehnte Untersuchung „der nationalen und transnationalen Muster sozialer Un- gleichheiten in Europa“ durch. Hierbei verfolgt er das Ziel, „die jeweiligen Länder und sozialen Gruppen zu identifizieren, die auf der Gewinner- und der Verlierersei- te stehen.“ (S. 9) In dieser Hinsicht arbeitet er zunächst unter einem wirtschafts- strukturellen Blickwinkel eine territoriale Spaltung heraus. Auf der Basis des Ver- gleichs von Staatsschulden, nationalen Austeritätspolitiken, Wirtschaftsmodellen und Beschäftigungsregimen unterscheidet er zwischen einem nord- und kontinen- taleuropäischen Zentrum und einer süd-, mittel- und osteuropäischen Peripherie, die er anhand der Beobachtung von zwei unterschiedlichen Entwicklungspfaden
OLDENBOURG Ein ungleichheitssoziologischer Blick 7 untergliedert. Für Mittel- und Osteuropa stellt er „auch während der Finanzmarkt- und Eurokrise eine steigende Wirtschaftsleistung und sinkende Arbeitslosenquo- ten“ (S. 79) fest, was er u. a. auf den „signifikanten Einfluss“ der wirtschaftlichen und monetären Europäisierung zurückführt (ebd.). Die wirtschaftliche Ausrichtung „auf personenbezogene Dienstleistungen und auf eine Dualisierung der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte“ (ebd.) hat hingegen in Südeuropa in der Krise zu „[ü]ber- durchschnittliche[n] Einbrüche[n] der Wirtschaftsleistungen, hohe Arbeitslosen- quoten und de[n] Wegfall einfacherer, entweder industrieller oder tertiärer Tätig- keiten“ (S. 89) geführt. Die Spaltungslinien sind insofern territorial zu verstehen, als dass sie die von Heidenreich herausgearbeiteten Ungleichheiten zwischen den Nationalstaaten in Bezug auf die Segmentierung sowie Marginalisierung auf den Arbeitsmärkten, den Lohn, das Einkommen, Armutsrisiko und die Bildung widerspiegeln. Sie führen das Ende der automatischen wirtschaftlichen Konvergenz der „alten“ 15 EU-Mitglieds- länder (S. 268), die erfolgreiche Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in den europäischen Wirtschaftsraum (S. 307), den geringen Einfluss der Austeri- tätspolitiken auf die Arbeitsmarktchancen (S. 243) oder auch den Erfolg europäi- scher sowie nationaler Aktivierungspolitiken (S. 136) vor Augen. Allerdings erlau- ben sie darüber hinaus wenig Rückschlüsse auf die räumlichen Bezüge der unter- suchten sozialen Ungleichheiten. Nicht nur gehen die „feinen“, die Spaltungslinien transzendierenden Differenzierungen und Prozesse (S. 396) verloren, die Heiden- reich aus seinem Datenmaterial etwa für die Lohnungleichheiten oder Einkom- mensverteilung herausarbeitet und vor dem Hintergrund bereits veröffentlichter Studien analysiert. Auch lässt die Konstruktion territorialer Blöcke die Ungleichhei- ten im Dunkeln, die durch die wissensintensiven Dienstleistungs- und technologi- schen Industriemetropolen mit einem hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräf- ten wie auch an Niedriglohn-Serviceleister:innen im Norden und Westen wie auch im Süden und Osten Europas produziert werden (Brenner, 1999). Diese Ungleichhei- ten werden mit der herausgestellten Zentrum-Peripherie-Struktur nicht erfasst und stellen für Heidenreich scheinbar unerhebliche Relativierungen der territorialen Spaltungen dar (S. 61). Gleichwohl kann im Anschluss an Heidenreichs Ergebnisse gefragt werden, ob das Ungleichheitsmuster, das sich jenseits der nationalen Wirt- schaftsordnungen und Arbeitsmarktpolitiken entwickelt und den politischen men- talen Landkarten Europas widerspricht (Müller, 2018), eine spezifische Europäisie- rungsform darstellt. Diese zeichnet sich weniger durch ungleiche Verteilungen als durch ungleichen Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen, Arbeitsmarkt, Qualifizie- rung, Gesundheit, Digitalisierung, Bildung etc. aus. Ebenfalls gibt die unbefriedigen- de territoriale Blockbildung Anlass zu Überlegungen darüber, ob die von Heiden- reich untersuchten Einkommens-, Armuts- und Bildungsdaten lediglich eins der eu- ropäischen Ungleichheitsregime, nämlich das nationalstaatlich strukturierte der
8 Nikola Tietze OLDENBOURG Verteilungen, abbildet, dieses jedoch durch ein weiteres Regime überlagert, ergänzt und verstärkt wird, das aufgrund der räumlichen Bezüge von europäischen Un- gleichheiten über Zugang zu und Ausschluss von entscheidet. Die Stärke von Heidenreichs Buch liegt in der detaillierten Auswertung der EU- SILC-Daten von 2004 bis 2018 und entsprechenden Analyse der sozialen Ungleich- heiten. Indem der Autor die Datenreihe in drei Phasen unterteilt – 2004 bis zu den Boomjahren 2007/2008, die Finanzmarkt- und Eurokrise von 2009 bis 2013 und der daran anschließende Aufschwung bis 2018, bildet er detailliert Entwicklungen so- wie Kontinuitäten der sozialen Ungleichheiten ab. Jedes Kapitel gleicht einer Daten- bank, aus der in einer weiteren Forschung sowohl einzelne Informationen als auch kausale Zusammenhänge geschöpft werden können. Zudem werden in den Kapi- teln, die jeweils mit einer Literaturliste schließen und quasi als eigenständige Auf- sätze gelesen werden können, die herausgearbeiteten Entwicklungen und Kontinui- täten systematisch ländervergleichend und in Bezug auf Arbeitsmarkt- und Sozial- politiken wie auch im Hinblick auf bereits veröffentlichte Analysen diskutiert. Heidenreich stellt u. a. heraus, dass Niedriglohntätigkeiten und atypische Be- schäftigungsformen (und nicht nur Arbeitslosigkeit) maßgeblich die sozialen Un- gleichheiten und Armutsrisiken in Europa bestimmen und sich bei bestimmten Gruppen konzentrieren: Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen und Geringqualifi- zierten in ausführenden Tätigkeiten (S. 310–311; S. 393–394). Die Kumulation dieser Risiken im Fall von überschneidenden Gruppenzugehörigkeiten wird in dem Buch allerdings nicht thematisiert. Während in ost- und mitteleuropäischen Ländern Ar- muts- und Benachteiligungsrisiken verdichtet sind, so herrschen dem Autor zufolge in den südeuropäischen Ländern Beschäftigungsrisiken vor (S. 305). Heidenreich hebt gleichzeitig den Erfolg der nationalen und europäischen Aktivierungspolitiken für die Schaffung inklusiverer Arbeitsmärkte und den Bei- trag flexibilisierter Beschäftigungsverhältnisse für egalitärere Verteilungen hervor (S. 124; 137; 239). „Die Ungleichheit zwischen Haushalten verringert sich in erhebli- chem Maße dadurch, dass Haushaltsmitglieder unterschiedliche und unterschied- lich gut bezahlte Beschäftigungsverhältnisse eingehen.“ (S. 235) Hier scheint sich die Katze in den Schwanz zu beißen: Haben Aktivierungspolitiken und die Flexibilisie- rung des Normalarbeitsverhältnisses nicht zu einer Verstärkung von Niedriglohn- tätigkeiten und atypischen Beschäftigungsverhältnisse beigetragen, die für die so- zialen Ungleichheiten und Armutsrisiken verantwortlich sind? Analysen der natio- nalen und europäischen Sozialpolitiken lassen dies zumindest vermuten (Bureau et al., 2019; Betzelt & Bothfeld, 2011; Eydoux, 2014; Giraud & Perrier, 2022; Morel et al., 2011). Nicht zuletzt legt Heidenreichs Schlussfolgerung, wonach für die „Reduzie- rung nationaler Ungleichheitsmuster“ die „Bedeutung der interfamilialen Umver- teilung innerhalb der Haushalte […] deutlich höher als der Stellenwert der staatli- chen Umverteilung durch Steuern und Sozialabgaben [ist]“ (S. 239), einen Rückzug
OLDENBOURG Ein ungleichheitssoziologischer Blick 9 der Mitgliedstaaten und der EU aus der Kompensation sozialer Ungleichheiten nahe. Dieser Rückzug wie auch die Ökonomisierung der sozialen Sicherungssyste- me (insbesondere der Gesundheitsvorsorge, aber auch zu Teilen der Altersvorsorge oder der beruflichen Weiterbildung), welche charakteristisch für die von Heiden- reich analysierte Periode ist, werden in ihren Bezügen zu den analysierten Un- gleichheitsmustern nicht thematisiert. Insgesamt gilt Heidenreichs Aufmerksamkeit vor allem den „Verlierer“-Struktu- ren und denjenigen, die ein Abrutschen auf die Verliererseite zur Bedrohung wer- den lassen. Über die Gewinner erfährt man in dem beeindruckend kleinteiligen und länderspezifisch gezeichneten Porträt europäischer Ungleichheiten wenig. Folgt man Heidenreich, entsteht durch die Ungleichheitsstrukturen lediglich ein Legitima- tionsproblem, weil die europäische Integration in wesentlicher Weise auf einem meritokratischen Prinzip aufbaut. Doch drängt sich die Frage auf, welche Gruppen in welchen EU-Mitgliedstaaten von den wirtschaftlichen Spaltungslinien in Europa profitieren (Lechevalier, 2018; Thompson, 2018). Thomas Piketty (2014, 2020) hat den Erkenntnisgewinn gezeigt, den der Fokus auf die „Gewinnerseite“ hat, um die Pro- duktion und Aufrechterhaltung von sozialen und territorialen Ungleichheiten zu verstehen und die hiermit verbundenen ökonomischen und politischen Machtver- hältnisse in den Blick zu rücken. Es ist in dieser Hinsicht in einer ungleichheits- soziologischen Perspektive zu hoffen, dass ein zukünftiges Forschungsprojekt sich der Aufgabe annimmt, Heidenreichs sozialstrukturelle Analyse auf der „Verlierer- seite“ in Europa mit Pikettys Ansatz zu verbinden. So könnten die Strukturen am unteren Ende der europäischen Ungleichheiten auf die Akteure am oberen Ende, ihre Interessen und Handlungsfelder in den europäischen Ungleichheitsregimen bezogen werden. Literatur Bach, M. (2008). Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Betzelt, S. & Bothfeld, S. (2011). Activation and labour market reforms in Europe. Challenges to social citi- zenship. Palgrave Macmillan. Bielefeld, U. (2012). Von Gemeinschaft zu Gesellschaft: Bemerkungen zu einer Theorie europäischer Vergesellschaftung. In M. Eigmüller (Hrsg.) Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Sozialpolitik in historisch-soziologischer Perspektive, (S. 252–268). Beltz Juventa. Brenner, N. (1999). Globalisation as Reterritorialisation: The Re-scaling of Urban Governance in the European Union. Urban Studies, 3, 431–451. Bureau, M.-C.; Corsani, A.; Giraud, O. & Rey, F. (2019). Les zones grises des relations de travail et d’emploi. Teseo Press. Delhey, J.; Deutschmann, E. & Verbayle, M (2020). Netzwerk Europa. Wie ein Kontinent durch Mobilität und Kommunikation zusammenwächst. Springer VS.
10 Nikola Tietze OLDENBOURG Eigmüller, M. (2021). Europe. In B. Hollstein; R. Greshoff; U. Schimank & A. Weiß, A. (Hrsg.) Soziologie – Sociology in the German-Speaking World, (S. 83–98). Special Issue Soziologische Revue 2020. De Gruyter Oldenbourg. Eydoux, A. (2014). Rendre la protection sociale favorable à l'emploi. In A. Eydoux & B. Gomel (Hrsg.) Apprendre (de l'échec) du RSA. Une solidarité active en question, (S. 27–41). Editions Liaisons. Ferrera, M. (2005). The boundaries of welfare: European integration and the new spatial politics of social protection. Oxford University Press. Gerhards, J.; Ignácz, Z.; Lengfeld, H.; Priem, M. & Kley, F. K. (2019). European Solidarity in Times of Crisis: Insights from a Thirteen-Country Survey. Taylor and Francis. Giraud, O. & Perrier, G. (2022). Politiques sociales: l’état des savoirs. La Découverte. Heidenreich, M., (Hrsg.) (2019). Horizontal Europeanisation. Routledge. Heidenreich, M. (Hrsg.) (2016). Exploring Inequality in Europe: Diverging Income and Employment Opportu- nities in the Crisis. Edward Elgar. Lahusen, C. & Wacker, M. (2019). A European field of public administration?: Administrative cooperation of asylum agencies in the Dublin system. In M. Heidenreich (Hrsg.), Horizontal Europeanisation, (S. 153–174). Routledge. Lechevalier, A. (2018). Social Europe and Eurozone crisis: The divided states of Europe. Culture, Practice & Europeanization, 3, 5–29. Lechevalier, A. & Wielgohs, J. (Hrsg.) (2015). Social Europe - a dead end. What the eurozone crisis is doing to Europe's social dimension. DJØF. Morel, N.; Palier, B. & Palme, J., (Hrsg.) (2015). Towards a Social Investment Welfare State? Ideas, Policies and Challenges. Bristol Policy Press. Müller, P. (2018). Raumbegehung. Zu den Verortungen Südeuropas. Mittelweg 36, 5, 3–12. Patel, K. K. & Röhl, H. C. (2020). Transformation durch Recht. Mit einem Kommentar von Andreas Wirsching. Mohr Siebeck. Piketty, T. (2014). Das Kapital im 21. Jahrhundert. Beck. Piketty, T. (2020). Kapital und Ideologie. Beck. Thompson, H. (2018). Sündenbock und Lastensesel. Südeuropas Rolle in einer dysfunktionalen Wäh- rungsunion. Mittelweg 36, 5, 96–120.
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