Eine Geschichte von Parzivâl - Adolf Muschg: Der rote Ritter
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
MASARYK - UNIVERSITÄT IN BRÜNN Philosophische Fakultät Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik Bakkalaureatsarbeit Adolf Muschg: Der rote Ritter Eine Geschichte von Parzivâl Der Autor: Jiří Vašek Der Arbeitsleiter: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. Brünn 2008
Ich erkläre, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig geschrieben habe und dass ich nur die im Literaturverzeichnis angeführte Literatur verwendet habe. .......................................... Jiří Vašek 2
Danksagung Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank vor allem dem Betreuer meiner Diplomarbeit, Herrn PhDr. Kovář für seine Hilfsbereitschaft und ausserordentliche Hilfe aussprechen. 3
Inhaltsverzeichnis 1. Die Einführung 5 2. Die Biographie von Adolf Muschg 7 3. Die Inhaltsangabe 10 4. Rezeption des Werkes 10 5. Die Analyse des Textes 12 5.1 Die Sprache 12 5.2 Die Erzählinstanz 14 5.3 Neuschöpfungen in dem Werk 15 5.4 Die 3 Eier 16 5.5 Parzivâl 17 5.6 Die Frauenfiguren 17 5.7 Die Gralswanderung und das Konzept des Grals 18 5.8 Der Artushof 21 6. Das Spiel mit dem Spiel in dem Werk 22 7. Zusammenfassung des inhaltlichen Vergleichs mit Wolframs Parzivâl anhand von Herzeloydefigur 23 8. Parzivâl im Theater 25 8.1 Die Uraufführung im Hannover 25 8.2 Die Reminiszenzen zur Theateraufführungen 27 8.2 Adolf Muschgs Kommentare zur Theateraufführung 28 9. Kommentare des Werkes 29 10. Zusammenfassung 31 11. Literaturverzeichnis 32 4
1. Die Einführung Der weltbekannte Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg nennt sein Werk Der rote Ritter mit dem Untertitel Eine Geschichte von Parzivâl. Muschg machte es sich nicht zu einer Aufgabe, Wolframs Epos in unserer Prosa nachzuerzählen, aber es geht um einen besonderen Kunststück. Mit seinem Werk zitiert der Autor nicht nur mittelalterliche Literatur, aber es gelang ihm, die Ebene der Romanhandlung und die Zeitebene der vermutlichen Entstehung von Wolframs Text in seinem Werk miteinander zu verschränken. Der Roman umfasst sozialhistorische Studien über die Epochenschwelle vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Der Autor selbst benutzte das Motto von Lessings Nathan: „Mit dem Spiele spielen“, mit dem er sein Ritterroman voranstellte. Das Spiel, mit dem gespielt wird, ist ein der markanten Werke in unserer literarischen Überlieferung. Muschg benutzte als eine Vorlage nicht nur das mittelhochdeutsche Epos Parzival von Wolfram von Eschenbach, sondern teilweise auch der französische Ritterroman von Chrétien de Troyes und passagenweise finden wir auch einige Fragmente von Titurel, von einem anderen Werk Wolframs. Es ist nötig folgendes zu sagen, es sei in diesem Fall ein pures Vergnügen ein solches Buchstück lesen zu können. Es ist ein monumentales Werk mit einem Umfang von etwa tausend Seiten. Muschg folgt darin weitgehend der Wolframschen Vorlage, begnügt sich indessen nicht mit einer bloßen Nacherzählung oder einer forcierten Aktualisierung, sondern sucht sich einen eigenen, bisher nicht begangenen Weg. Wo er strukturierende Eigenheiten übernimmt, etwa die abschweifende Erzählweise Wolframs, und diese dann erweitert, um neue Möglichkeiten, Fabel und Reflexion der Erzählung miteinander zu verknüpfen. Es handelt sich um einen aktualisierten Parzival-Roman; es kommen hier Computer-und andere Gegenwartsbezüge vor. Er führt drei Erzählinstanzen ein: drei Eier, von denen eines reden, eines hören usw. kann. Diese Eier erklären, warum der Roman so archaisch geschrieben ist. Die bekannten Figuren und deren zentrale Konflikte behält er weitgehend bei, Sigune etwa, Herzeloydes Nichte, oder Schionatulander, Gahmurets Knappen, oder Gurnemanz und Condwîr Amûr. Das Register nennt beinahe zweihundert Namen, darunter auch die von Pferden, Gewässern und Burgen. Schon die ersten Seiten ziehen in ihren Bann, und das nicht nur durch die lebendige Sprache. Zahlreiche Schauplätze und über hundert Personen auf ihren miteinander verwobenen Lebenswegen werden ideenreich und liebevoll detailliert 5
vorgestellt, das Namenregister ist dabei sehr hilfreich für diejenigen, die mit der Legende von Parzival nicht so vertraut sind. Der Rote Ritter wartet mit einigen Überraschungen auf, die wohl auch im Sinne Wolframs gewesen wären; schließlich hat der „schreibende Ritter“ sich selbst in seinen Werken mehr als einmal als großer Humorist bewiesen. Parzivâl ist wieder auf der Reise um seinen kranken Onkel Anfortas zu befreien. Schon diese Reise ist ein Symbol der Liebe zu den Mitmenschen, der später in dem Werk vielmals verwendet wird. Zum Unterschied von der Vorlage von Eschenbach, läβt Muschg seine Hauptfigur die Relativität der menschlichen Existenz zu entdecken. Darin versteht er die Suche für die Antwort auf die ultimative Frage der Menschheit. Diese Suche ist aber für jeden zu schwer und man muss in seinem Leben für jeden Preis fortsetzen. Parzivâl fühlt sich am Ende seiner Wanderung eher enttäuscht. Er wollte zuerst ein Retter sein und jetzt, am Ende, erfasst er, daβ er nur ein lediglicher Entdecker ist. Der Author lieβ ihn meisterhaft diese innerliche Lebensverknüpfung mit dem menschlichen Dasein zu begreifen. Der Held glaubt immer an Gott, aber lernte etwas dank seiner Rettungsreise. „Wir müssen das Gottesspiel spielen and er fragt uns immer, welche Bewegung werden wir wählen um meist effektiv zu sein …“1 Adolf Muschg führt mit diesem ungewöhnlichen Roman durch eine "Weltgeschichte", die uns die Denkweise der Menschen im Mittelalter näher bringt. Eschenbach setzte in seinem Werk die gröβte Betonung auf die Wanderschaft zum Gott, Muschg dagegen führte seinen Held zum Gott mithilfe der Liebe zu seiner Frau. Mit einem grundlegenden Kunstgriff hat der Autor einen exzellenten Spielrahmen gesetzt. Dazu gehören gewagte Sprünge, Paradestücke der Prosa, witzige Ausgefallenheiten und auch einfache Szenen voll von Intimität und Zartheit. Adolf Muschg, dem die Sätze unter den Händen wuchern, ist ein verköperte Gegenteil eines wortkargigen Autors. Im Parzivâl stöβt er auf eine Fülle von Bildern, an denen er dann weitermalt und die Handlung zusammenfügt. Manchmal tritt er aus den Ufern, aber die Fabel zwingt ihn sehr schnell zum Rückkehr. Das Werk entdeckt das neue Niveau der mittelalterlichen Sprache, Menschengesellschaft und der menschlichen Geistlichkeit. Es ist dann kein Wunder, dass uns der Author in die tiefsten Geheimnisse von Parzivâl und seiner Frau anschauen lässt. Der Leser ist der Nöte ausgesetzt, Kapitel für Kapitel die ganze Geschichte bis zum Ende zu folgen. Der Author macht uns damit klar, dass die damalige 1 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt. Suhrkamp, 1993. S. 984. 6
Sicht der Dinge teilweise auf unsere Zeit übertragen werden kann. Für dieses Werk wurde Adolf Muschg im Jahre 1994 mit dem Georg-Büchner Preis abgeschätzt. 2. Die Biografie von Adolf Muschg Adolf Muschg ist zu den wichtigsten, noch lebenden, Schweizerischen Autoren nach Dürrenmatt und Frisch gezählt. Er ist berühmt vor allem für seine Romane, Erzählungen, Vorträge und insgesamt für seine ganze Arbeit, die er der Kultur und Prosa widmet. Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 als Sohn eines Volksschullehrers in Zollikon im Kanton Zürich geboren. Er ist der wesentlich der jüngere Halbbruder des berühmten Literaturwissenschaftlers Walter Muschg. Sein Vater ist früh gestorben, was für ihn ein traumatisches Erlebnis war. Er studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Zürich und Cambridge. Dann promovierte er bei Emil Staiger über Ernst Barlach. Von 1959 bis 1962 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Zürich. Dann folgten verschiedene Stellen zum Beispiel als Hochschullehrer im In- und Ausland, vor allem Deutschland, Japan oder USA. Im Jahr 1965 erschien sein Debütwerk "Im Sommer des Hasen". Darin schildert er in komplexer Weise unter anderem seine Eindrücke, die er während des Japanaufenthaltes sammeln konnte. Bereits mit diesem Erstling beweist Muschg seine souveräne Stärke im Erzählen, die vom Wechsel der Zeitenebenen oder von den Motivverschränkungen geprägt ist. Er heiratete eine Frau Namens Hanna Johansen und hatte mit ihr zwei Kinder. Sie stammt aus Norddeutschland, wo sie im Jahre 1937 geboren wurde. In den 60er Jahren kam sie in die Schweiz und lebte auch eine kürze Weile ind den Vereinigten Staaten. Sie war auch ein Schriftsteller, in ihrer Erstling „Die stehende Uhr“ geht es um eine Frau, die immer im Kreis herumfährt. Seine Sprache trägt das Merkmal der Assoziation, die somit die Grenzen der Eindeutigkeit überschreitet. 1967 wurde sein Werk "Gegenzauber" veröffentlicht. 1970 ging er als Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich. Von 1974 bis 1977 war Muschg tätig in der Kommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung. 1975 war er Züricher Ständeratskandidat der Schweizer 7
Sozialdemokraten. Im gleichen Jahr erschien sein bekannter Kriminalroman "Albissers Grund", der über die Aufarbeitung einer individuellen Leidensgeschichte auf die Schweizer Volksmentalität und Gesellschaft hinaufweist. Dabei greifte Muschg manchmal auch zur Satire. In einer Poetik-Vorlesung im Frankfurt/M. in den Jahren 1979 und 1980 wählte Muschg das Thema "Literatur als Therapie?“ Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilsame", das er ein Jahr darauf als ein erfolgreiches und bekanntes Essay verfasste. Seine Interessen an der Psychologie und Psychoanalyse kommen gleichfalls in dem Porträt "Gottfried Keller" (1977) zum Tragen. Für Muschg steht fest, dass die Kunst ein Mittel gegen die Zerrissenheit ist, die in der Hoffnung auch zur Lebenskunst werden könnte. Er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Muschgs Themen in seinen Romanen und Erzählungen sind die inneren Deformationen durch das bürgerlich-familiäre Leben, das Verhältnis zwischen Geist und Macht oder die Schuldfrage. Auch interessiert er sich nach der therapeutischen Hilfe durch Kunst. Zur Realisierung seiner Themen verpackt er sie auch schon einmal in einen Kriminalroman, wie die Titel "Albissers Grund" oder "Baiyun oder die Fremdschaftsgesellschaft" zeigen. In diesen Werken wird die gesamte Palette der 68er Generation vorgeführt. Hier sagt man, dass Muschg nicht mehr versucht, sich durch seine aufgeblähte Sprache zu retten. Es ist eine Entwicklung von der sprachlichen Virtuosität zur sprachlichen Sensibilität hin bemerkbar. Viele seiner Werke sind autobiografisch gefärbt. Mit schwarzem Humor oder der Satire schildert er die Sprachlosigkeit der Protagonisten in seinen Werken. Der 1984 verfasste Roman "Das Licht und der Schlüssel. Erziehungsroman eines Vampirs" gibt sich als ironischer Erziehungsroman. In dem Werk "Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz. Erinnerungen aus meinem Land vor 1991" nimmt er in heiterer Weise die Schweizer Mentalität auseinander. Im Jahr 1993 erschien der Ritterroman "Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival", in dem der Parzival-Stoff verarbeitet wird. Seine kürzeren Erzählungen, die 1972 mit "Liebesgeschichten" beginnen, sind in einer einfacheren und eindeutigen Sprache geschrieben. Sie genießen deswegen bei vielen Kritikern einen höheren Stellenwert als seine Romane, die wegen ihrer Sprachartistik sich zu sehr distanzieren vom Stoff und den Darstellungen. Zu den weiteren Werken von Adolf Muschg zählen unter anderem "Fremdkörper" (1968), "Mitgespielt" (1969), "Die Aufgeregten von 8
Goethe. Ein politisches Drama" (1971), "Entfernte Bekannte" (1976), "Kellers Abend. Ein Stück aus dem 19. Jahrhundert" (1976), "Noch ein Wunsch" (1979), "Leib und Leben" (1982), "Goethe als Emigrant" (1986), "Nur ausziehen wollte sie sich nicht" (1995), "Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat. Sieben Gesichter Japans" (1995), "Sutters Glück" (2001), "Der Schein trügt nicht. Ueber Goethe" (2004) oder "Eikan, du bist spät" (2005). Der berühnmte Autor selbst bezeichnet sich als Hypochonder und jemanden, der gerne psychosomatische Krankheiten hat. Er ist in zweiter Ehe in Japan verheiratet und beschäftigt sich mit dem Zen-Buddhismus. Adolf Muschg lebt zur Zeit in Kilchberg bei Zürich. Auszeichnungen und Preise 1965 Literaturpreis der Stadt und des Kanton Zürich 1965 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 1966 Förderpreis des Landes Niedersachsen 1967 Georg-Westermann-Preis 1967 Hamburger Leserpreis 1967 Georg-Mackensen-Literaturpreis 1968 Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 1974 Hermann-Hesse-Preis 1984 Großer Literaturpreis der Stadt Zürich 1990 Carl-Zuckmayer-Medaille 1993 Ricarda-Huch-Preis 1994 Georg-Büchner-Preis 1995 Vilencia-Literaturpreis 1995 Internationaler Literaturpreis Chianti Ruffino-Antico Fattore 2001 Grimmelshausen-Preis 2001 Ehrengabe des Kantons Zürich 2004 Bundesverdienstkreuz 9
3. Die Inhaltsangabe Muschg gliedert seinen umfassenden Roman in 4 Bücher, wobei jedes Buch aus 25 Kapiteln besteht. Buch 1 trägt den Titel „Niederkunft“ und erzählt die Geschichte von Parzivâls Eltern, aber auch von Sigûne und Schionatulander und endet mit Parzivâls Geburt. Buch 2 mit dem Namen „Auszug“ schildert Parzivâls Jugend in Soltane, die Vergewaltigung, die er an Jeschute begeht, den Mord an Ritter Ither, seinen Sieg in Pelrapeire und seine Heirat mit der jungen Herrscherin Condwîr amûrs, die ihm später Zwillinge schenkt. In Buch 3 mit dem Titel „Engführung“ trifft Parzivâl auf den Artushof, wo er von Kundrie verflucht wird. Er gelangt auf die Gralsburg, versagt und trifft auf Trevrizent, der ihn zu sich selbst finden lässt, indem er Parzivâl das Schicksal seiner Verwandten wie sein eigenes auf wundersame Weise vor Augen hält. In diesem Abschnitt passieren auch Gâwâns Erlebnisse. Buch 4 mit dem Namen „Die Krone“ schildert die Erlösung Anfortas durch Parzivâl, der Gralskönig wird. Condwîr amûr trifft samt Kinder und Onkel in Parzivâls neuem Reich ein – ein reich, das nach seiner Erlösung mit der Gralskonzept nicht mehr regierbar ist. 4. Rezeption des Werkes Schon im Namen des Werkes finden wir, dass der Untertitel Eine Geschichte von Parzivâl etwa unzutreffend einschränkend wirken kann. Warum soll es nur „eine“ Geschichte sein? Fest steht, dass es sich bei dem Roten Ritter um Adolf Muschgs Geschichte von Parzivâl handelt. Zugleich scheint mit dem Untertitel die Hoffnung auf die Kompetenz des Lesers signalisiert zu werden, mit dem Namen Parzivâl eigenes Wissen über die Parzivâlgeschichte aufrufen zu können. In einer realitätsnah anmutenden Alltagswelt treten Figuren auf, die angepasst in sozialgesellschaftlichen Zwängen leben sowie Figuren, die damit unzufrieden sind und aus diesem Leben ausbrechen möchten. Dem Leser wollte der Autor damit ermöglichen, für eigene Fragen und Probleme sensibel zu werden. Er zeichnet seine Figuren mit ausgeprägter Sensibilität für soziale und psychologische Problematiken. An Beziehungen, vor allem an Liebespaar- und Mutter-Sohn-Beziehungen, stellt er in Gesprächszenen mithilfe der Beschreibung von Mimik und Gestik die Symptome der Entfremdung, Ängste und positive Entwicklungen dar. Das private steht im Mittelpunkt, der Mensch als Individuum und der Mensch in seinen Beziehungen zur Umwelt. In den 10
Lebensentwürfen der Figuren zeigt sich eine Entwicklung. Der Autor bezeichnet diese Entwicklung als eine Wendung vom Mythos Oidipus2 zur Kunstfigur Orpheus. Muschgs psychologisch – mythologisches Orpheusmotiv hat eine ästhetische Seite, bei der es um Muschg als Erzähler und um seine literarischen Texte geht. Die Tendenz der Figurengestaltung rückt hier von einer Ausschlieβlichkeit und von schematischer Typisierung ab. Es gibt nicht mehr nur die Hauptfiguren, die sich im Erleiden eines unabwendbaren Schicksals gefallen. Vielmehr treten hier die Protagonisten auf, die aus den Verhaltensmustern ausbrechen, die das gesellschaftliche Umfeld von ihnen erwartet und die sich auf die Suche nach ihren Bedürfnissen, Wünschen und dem Lebenssinn begeben. Der Raum, die Identitäten und die Zeit erscheinen nicht eindeutig und vertiefen den Eindruck von Bodenlosigkeit, der diesen Roman begleitet. Das alles bildet keinen offenen Kontrast zum traditionellen Erzählmodell mit den typischen Elementen. Muschg löst sich leise von tradierten ich- und wirklichkeitsbezogenen Erzählformen, die er selbst in zahlreichen Texten praktiziert hat. Diese Entwicklung ergibt den Texten eine ganz neue Qualität. Nach seinen eigenen Wörtern wurde alles im Leben ohne seinen Gegensatz undenkbar. Die Darstellung der männlichen Figuren bildet in dem literarischen Werk von Muschg einen Schwerpunkt. Bis auf die neuesten Texte lassen sich diese Figuren auf wenige Typen zusammenfassen. Dagegen sind bei der Darstellung der Frauenfiguren deutliche Veränderungen erkennbar. Muschg beschränkt die Farbsymbolik als erzähltechniches Mittel nicht nur auf Parzivâls Vater, sondern dehnt sie auf Figuren der Grals- und Artuswelt aus. Er stattet Gahmuret als Zeuger des kommenden Gralskönig mit einem schwarz – weiβ gefleckten Pferd aus. Parzivâls Lebenskrisen wiederholen die des Autors. Der Parzivâlstoff kann durch die Thematisierung gesellschaftlicher Probleme – getrennte Ehepartner, alleinerziehende Mutter, abwesender Vater usw. Gesehen werden. Ganz klar werden zwei poetische Ansätze des Autors. Erstens ist es der spielerische Umgang mit dem Stoff, der es ermöglicht, Wertvorstellungen zu präsentieren, die veränderbar sind und wodurch der Leser und Autor selbst bestimmen, wie weit sie mitspielen. Zweitens bedeutet es, dass der Mensch nur ganz Mensch ist. Er muss seine halbheit und daraus resultierende psychische Krise verarbeiten. Der Mensch bringt Gutes und Böses in sich, das Leben und der Tod bestimmen unsere Existenz, die Liebe und der Hass sind ohne einander nicht mehr eindeutig. Diese Dialektik durchzieht das ganze Werk, in dem Parzivâl durch das Fragenlernen zu einem Glied der menschlichen Gesellschaft wird. 2 Muschg, Adolf: Psychoanalyse und Manipulation – oder warum ich mit diesem Thema nicht fertig werde. In: Dierks, 1989. S 293 – 318. 11
5. Die Analyse des Textes 5.1 Die Sprache Muschg behandelt barvourös unterschiedliche Sprachstile, sei es der gespreizte Stil des 18. Jh. bei Gâwân und Sigûne, oder sei es der moderne Jargon der zeitgenössischen jüngeren Generation und endlich auch die derb anmutende Sprache, mit der Sexualität metaphorisiert wird. Stilpluralismus und Metaphernreichtum kennzeichnen sein Werk. Sîgûne, Herzeloydes Nichte, das Gralsfräulein behrrscht als heimliche Hauptgestalt das schönste der vier Bücher dieses Romans, das erste. Aus dem zartem, wüdigem Kind wird langsam ein Mensch der „ich“ sagt. In diesem Fall mittelhochdeutsch „ih“, „Ih bins Gâwân, Gottes Kind.“ 3 Zu ihrer Hoheit verhelfen ihr der eigene Minneweg und mehr noch die Entdeckung der Lese- und Sprachkunst. Sîgûne liebt Schiônatulander, der als Knappe Gahmurets den Orient schon kennt und auch zu schildern weiβ. In Sîgûne kreuzen sich Ost und West auf neue Weise – wobei sie es sogar versteht, die Erzählungen Schiônatulanders von einer rätselhaften Tafel, genannt Gardevîas, wie von einem Bildschirm abzulesen und abzuspeichern. Sie ist die Liebende und die Künstlerin. Zu den ganz wenigen, die ebenfalls den Mut aufbringen, „ich“ zu sagen, gehört auch Gâwân, der wortmächtig wie Sîgûne ist. Das Ich-Sagen hat mit der Sprache viel zu tun und der schreibfreudige Gâwân wird neben Parzivâl zu einer Hauptgestalt. Das Geheimnis der Sprache und der Sprachfähigkeit ist auch mit einem Herzstück aler Romane aus dem Artuskreis, mit dem Gral, verbunden. Bei Muschg ist er nicht eindeutig definiert, bei Wolfram übrigens auch nicht. Der Gral ist der Stein, das Gefäβ, der Kelch, oder möglicherweise auch die gläserne Lese- und Schreibtafel. Der Text, den Sigûne liest, hat eine Gralsqualität. Er handelt beispielweise von den farbigen Wüsten zwischen den Menschen, den grünen Wüsten im Abendland und den offenen, gelben und roten Wüstenträumen. Diese Texteinschiebsel sind in diesem Werk mit einer unbeschreiblichen Eleganz und Treffsicherheit geschrieben. Sie geben Kommentare ab zu den den unterschiedlichsten Geschichten, zu den allen Figuren. Diese Figuren bestehen nicht nur aus Frauen und Männern, Damen und Rittern, sondern auch aus Katzen, Pferden und Fabelwesen aler Art. In diesem Buch sind alle Spielfelder über 3 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 102. 12
labyrinthische Verbindungsgänge verbunden. Menschen spiegeln sich in den Tieren, das Mitteralterliche in dem Modernen, Reflexion steht über die Romanfabel und wird zur Reflexion über die Begeisterung und die Nöte des Autors. Dem Autor steht die dichterische Freiheit komplett offen und er ist imstande und er tut es auch, die Fabel neu zu deuten, oder die bekannten Charaktere in ungewohntem Licht zu zeigen. Muschg jongliert mit Mittelhochdeutschem, Alt- und Neufranzösischem, „Die drei Worten lauteten übrigens: Soyez le bienvenu!“ 4, benutzt auch Anglizismen, „Pick item“ 5. Durch das Einflechten französischer Ausdrücke betont Muschg nicht nur die kulturelle Dominanz des westeuropäischen Raumes im Mittelalter, sondern er wird damit auch Wolframs sprachlicher Vielfalt gerecht. An Thomas Mann erinnern wir uns bei der ironischen Erzählweise mit ihrer Freude an Details und Figurencharakteristik, mit ihrer Transparenz auf Zeitgenössisches. Wenn die von Gâwân unbeirrbar geliebte Orgelûse mit seinem sexuellen Begehren in drastischer Rede spielt, tut sie das in einem Kunstmittelhochdeutsch. Muschg spannt sprachlich den Bogen von der geschmeidigen Prosa bis zur rhytmisierten und ironisch gebrochenen Reimversuchen. Er wechselt vom Sprachwitz und Sprachspiel bis zu schwebender poetischer Einfachheit. Die Fabel nimmt offt wechselnde Positionen ein. Zu den vielen Skurrilitäten gehört zum Beispiel das Verstecken in den drei Eiern, die sich immer kritisch einmischen und alles kommentieren. In den langen Briefen von Gâwân verzichtet sich Muschg auf die liebevolle Ironie, die Wolframs Umgang mit dieser Figur bestimmt. Der Leser erfährt allerlei über mittelalterliche Realitäten, von der Kleidung, Waffentechnik und auch über mittelaterliche Denkformen. Die unterschiedlichen Heldinnen und Helden der Liebe finden Muschg hingegen auf der Höhe seiner Darstellungs- und Erzählkunst. Die Fülle des Menschlichen, die Muschg für den Leser entfaltet, leistet seine Arbeit ganz von selbst. Und so wurde dieser Menschenroman zu einem groβen Lesevergnügen. Das Erzählen triumphiert insgesamt in seinem Buntheit und der Faszination der fernen Zeit, ebenso wie in der immer wieder sich herstellenden Nähe, in der Liebe zu den Katzen, den jungen und älteren Kindern, den Liebenden und Suchenden. Im modernen Roman ist die Gralsidentität nicht mehr in einem Ding symbolisiert, weder positiv noch negativ. Die Suche selbst ist das Ziel und gerade das, ist auch das Ziel des Erzählens. 4 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 21. 5 Ebenda, S. 226. 13
Muschg hält sich manchmal sehr viel an Wolframs Version und putzt sie nur sprachlich prätentiös auf. Schon in dem ersten der vier Groβkapitel zeigt sich ein origineller Ansatz mit manchen zaghaften Zeitdurchbrüchen und Selbstironie. Schon dieses erste Kapitel lässt ahnen, was der Autor eigentlich beabsichtigt und wofür ihm auf den restlichen Seiten die erzählerische Kraft fehlte. Zum Beispiel die Gâwân – Episoden sind bei Wolfram sehr ausführlich und im Text können wie ein Fremdkörper wirken. Schon Richard Wagner wuβte es und auch bei Dieter Kühn gibt es schon deutliche Verkürzungen. Bei Muschg fehlt die Entschlossenheit, sich von Gâwân endgültig zu verabschieden und er lässt ihn lange Briefe über seine Heldentaten schreiben. Die Saelbstverliebtheit der Darstellung wird besonders in den seitenlangen Beschreibungen von Waffen, Rüstungen, Turnieren und Kämpfen lästig. Man merkt, wie gründlich der Autor seine Sekundärliteratur vorbereitete. Muschgs Sprache ist in einem diffamierenden Sinn schön. Es ist wie in der Odyssee. Auch in diesem Werk muss der Held einen langen Weg zurücklegen, bis er wirklich nach Hause kommt. Neben der Sprache, in der die Fabel erzählt wird, ist es vor allem die verschriftlichte Ebene derselben, die als Medium der Erkenntnis ( Parzivâls Lesestunden, Sigûnes Leselust usw. ) für die Romanfiguern identitätsbestimmend wirkt. 5.2 Die Erzählinstanz Die Erzählinstanz in diesem Werk wirkt sehr unpersönlich und aus der sicheren Distanz erzählend. Die Erzählweise nähert sich immer wieder einem mehr personalen Erzählen, sucht die Nähe von Figuren und beschränkt sich kurzfristig auf deren Perspektive. Erst mit der Geburt Parzivâls und nach seinem Auftreten im Roman, findet die Erzählinstanz die Figur. Auch die Rezipientenseite bleibt gewissermaβen ausgeklammert. Die Rezipientenseite bleibt unbestimmt, gleich wie diejenige der Erzählinstanz. Es gibt Momente, in denen diese Unbestimmtheit der Kommunikation aufgebrochen wird, in denen sich plötzlich der Sprecher und der Hörer ausmachen lassen, doch auch wenn es vielleicht ab und zu scheinen mag, als sei dies ein Sprechen auf der Ebene der Erzählinstanz, als trete diese plötzlich deutlicher hervor und habe vielleicht sogar einen genaure bestimmbaren Adressaten. Die Erzählung steht nicht „über“ die Zeit, in der sich die Handlung abspielt und kann daher in die Zukunft der Romanfiguren un ihrer Welt schauen. Es zeigt sich schon kurz nach ein paar Seiten, dass die Erzählinstanz vollständig über Zeit und Raum der erzählten Welt verfügt. Auffälig 14
ist die Groβschreibung des Pronomens, zum Beispiel „Wir“, das nur als Pluralis majestatis oder als Pluralis modestiae der Erzählinstanz gelesen werden kann. Sie hebt das Pronomen hervor, gibt ihm eine gewisse Würde und Umständlichkeit, die jedoch der Erklärung harrt. Deutlich ist auch ein Tempuswechsel ins Präsens, der Text verlässt die Erzählebene, wechselt auf die Ebene des Erzählens und wird zum reflektierenden, besprechenden Text. Das weitgehend unkörperliche und bisher kaum zu fassende „Wir“ spricht gewissermaβen vor sich hin, ohne sich in eine Kommunikationssituation einzuordnen. Die Auflösung des Rätsels und der alles entscheidende Bruch in dem Buch erfolgt nach knapp hundert Seiten. Das Geheimnis, das bisher um das „Wir“ lag, wird gelüftet und die erzählinstanz verrät sich. „Jemand muss diese Fabel doch erzählen.“ 6 steht da und aus diesem Satz spricht der Wunsch nach einer genaueren Bestimmung dieser Erzählinstanz, welche die bisherige Geschichte zu erzählen scheinte. 5.3. Neuschöpfungen in dem Werk Die folgende Neuschöpfungen erschienen in diesem Werk und manche zusätzlich zur Erschaffung der „3 Eier“. Im Roten Ritter erfolgt eine Zusammenführung des Parzivâl- mit dem Titurelstoff durch den Einbau der Sigûne – Schionatulander Geschichte. Die zarte Liebe des jungen paares kann als Kontrast zur schwierigen Beziehung von Parzivâls Eltern gesehen werden. Kyberg, der treue Untergebene von Herzeloyde, der sich nach Soltane begleitet, ist eine ganz neue Figur, die bei Wolfram nicht existiert. Gahmurets Abenteuer werden uns nicht von einem Erzähler geschildert, sondern man erfährt sein Schicksal aus einem Gespräch zwischen Herzeloyde und Sigûne. Katzen – der höfische Kater Gurzgri treibt es mit der Gralskatze Maui, spiegeln hier die unausgewogene Beziehung zwischen Schionatulander und Sigûne bzw. zwischen ausgelebter und gestörter Sexualität wider. Bei der Interpretation der Herkunft des Grals vereint Muschg zwei Ansätze. Ursprünglich sei der Gral eine Schale gewesen, in der Josef von Arimathia das Blut Christi aufgefangen habe. Mit der Zeit mutierte sie jedoch zu einem Stein, der aus Luzifers Krone vom Himmel gefallen war. Parzivâl wird im Roten Ritter Vater von Zwillingen noch bevor er seine Frau verlässt, dagegen Wolfram erwähnt nicht einmal die Schwangerschaft. Ein Novum ist Parzivâls Phase als „blaues Wunder“. Während bei Wolfram der Held nach Kundrys Verfluchung einsam 6 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 104. 15
jahrelang umherirrt, mischt er sich im Roten Ritter als verkleideter Knecht mit blauem Drillich unter das Gefolge Gâwâns und bleibt bis zur Antikonie – Episode in dieser Rolle. Gâwâns Abenteuer erzählt primär Gâwân selbst in seinen Briefen. Diese Briefe shcreibt er seiner geliebter Tante Ginover und es handelt sich um ein Briefroman im Roman. 5.4 Die 3 Eier Wer ist „Wir“ in diesem Werk? Niemand anders als der Geist der Erzählung. Muschg geht auch in diesem Fall in Wolframs Spuren. Eine Kapitel trägt die befremdliche Übreschrift „Die 3 Eier“. Der Geist der Erzählung begleitet die Fabel nicht nur in Allgegenwart, aber auch in gehobener Mitwisserschaft. Die drei Eier namens Kadipê, Pekadî und Dipekâ werden mit hintehältigem Witz vorgestellt und legitimieren nicht nur die Abschweifungen im Text, sondern das ganze schriftstellerische Unternehmen. Sie sind das Autorhirn, denn jemand muss diese Fabel doch erzählen. Es sind drei allwissende Eier mit grenzenloser Witterung. Eines ist nur Mund, ein zweites ist ein Ohr und ein drittes ist eine Auge. Sie haben dünne Schalen und müssen innerhlab der Geschichte viel und viel ertragen. Trotz ihrer verschieden Funktionen sind die 3 Eier aber kaum zu unterscheiden, sie sind zwar identische Drillinge, aber sind nicht gleich. Man bleibt an einer Ebene des Wortspiels und man umstellt nur die Silben in ihren Namen, sie siend Kombinationen der Silben „Pe“, „Ka“ und „Di“ und somit silbische Anagramme. Jeder der drei Namen enthält das Wort „Epik“ als Anagramm und das weist vielleicht nochmals darauf hin, dass die 3 Eier das Erzählen beinhalten und damit alles Erzählen von ihnen ausgehen muss. Die Einheit der 3 Eier zeigt sich auch in der Schreibung, denn „3 Eier“ die feste Schreibung für die Erzählinstanz ist. Die „höhere Warte“, von der aus die 3 Eier die Ereignisse des Romans betrachten und berichten, erlaubt ihnen nicht nur eine bessere Sicht der Dinge, sie werden, obwohl Romanfiguren, an den Rand dieser Romanwelt gesetzt. Die „höhere Warte“ bedeutet, dass sie weder echte Romanfiguren noch reale Figuren sind, sie stehen zwischen den Welten. Bevor sie gegen Schluβ vom Meierlein in die Pfanne gehauen werden, üben sie die Rittertugend der Geduld, denn sie sind sich einig, dass die Langsamkeit der Fabel am schwierigsten auszuhalten sei. Damit schlägt der Autor eine raffinierte Brücke zwischen altertümlichen Erzählung und moderner Selbstreflexion in diesem Werk. 16
5.5 Parzivâl Wer die Fabel so ausdehnt und überstrpaziert? Es ist ein Naiver, ein Waldkind, einer, dem die höfische Lebensweise nicht in die Wiege gelegt wurde. Parzivâl. Die Kindheit der Hauptfigur interessiert Muschg nur sehr wenig. Er schnurrt die Kindheit etwas beiläufig mit allen bekannten Begegnungen ab. Die Wege von Parzivâl sind nach dem Auszug sehr lang und krumm. Er ist ein Held, zu dem sich Muschg eigentlich recht durchringen muss, denn er beinahe sprachlos ist. Erst spät stellt er auf Munslvaesche die erlösende Frage und bekommt Zugang zum Grâl. Auch bei Parzivâl ist der eigentliche Gewinn also mit einer Sprachfähigkeit verbunden. Anderseits ist Parzivâl einer, der in seinen Handlungen etwa mittendurch geht und der seinem Namen ein Tal durchdringen kann. Muschg dachte seinem Parzivâl eine ganz andere Ausrichtung zu, diese Ausrichtung beruhigt das alte soziale Gewissen des üppigen Sprachkünstlers. Der Titelheld bricht im Innersten mit dem Ritterwesen und dem Feudalismus. Muschg schlieβt sich hier an Deutungen an. Parzivâl wird ein demokratischer, etwas selbstzweiflerischer König, der seine Entscheidungen ständig überprüft. In Condwîr amûr hat er eine emanzipierte, nicht weniger demokratisch denkende und gleichberechtigte Ehefrau, noch von ihren Zwillingen Kardeiz und Loherangrîn gestützt. Am Schluβ des Buches sehen wir den Helden mit seiner Familie, sie campieren zusammen auf dem ehemaligen Platz des Turniers um Herzeloyde. Parzival wird seine Macht jedenfalls als eine Art Bürgerkönig prägen. Bei Munsalvaesche findet wir auch pikante Züge der grössten Schweizer Stadt. Der Gralsburg schwor Parzivâl ab und damit began der Bruch des Feudalismus. Die fromme Erkenntnis Parzivâls gibt Nathans Wort vom Spiel mit dem Spiel einen dunkleren Sinn. Es ist der Sinn,der mit dr ritik verborgen ist. Man soll redlich spielen und mitspielen und nicht mit dem Spiele spielen. 5.6 Die Frauenfiguren Die ertragreichste Umgestaltung betrifft die Frauenfiguren: Herzeloyde – die Mutter von Pârzival, Sigûne, seine Cousine und seine Geliebte Condwîr amûrs. Diese Frauen sind mit dem feinsten erotischen Gespür jede neuund anders gezeichnet. Was bei Wolframs Vorlage etwa unter dem Stichwort „Gahmuret Vorgeschichte“ zusammenfasst, muss bei Muschg „Herzeloyde Geschichte“ heiβen. 17
Herzeloyde, die jungfräuliche Witwe, erspäht bei einem Turnier vor en Toren ihrer Stadt den Ritter Gahmuret aus dem Haus Anschouwe. Sie umwirbt ihn und liebt ihn rückhaltlos, ohne die Antwort, oder Ruhe zu finden. Gahmuret bleibt aber mit seinem Herzen bei seiner einstigen Liebe, Mohrenkönigin Belakâne gefangen. Er ist müde und gleichgültig erwartet er mehr von seinem Leben, wenig von den Frauen und schon gar nichts von dem Rittertum. Da steigert aber Herzeloyde ihre weibliche Persönlichkeit ins Unheimliche und wächst über sich hinaus, während der Held und Mann bis zur Entpersönlichung zusammenschrumpft. Herzeloyde blieb eine bittere Jungfrau und erkennt sich dann im Gebet und noch besser in einem kollegialen Gespräch mit der Mutter Gottes, was sie eigentlich will. Ihr gewünschtes Kind empfängt sie über die eigene Minnemystik in einem Liebesakt mit Gahmuret. Doch sie wurde von der Jungfrau Maria gewarnt, sie möge keinen Erlöser aus ihrem Sohn machen. Sie tut es aber doch und brachte ihr Abkommen mit der Tradition und mit dem Rittertum des Artushofs in Munsalvaesche. Se zog in die Wildnis Soltâne um ihren Sohn abzuschirmen. Die Entfernung nach diesem Schutzort wird sich aber ganz anders entwickelt, als sie am Anfang dachte. Sie ist noch eine höfische Dame und ihr Sohn muss noch viel ertragen bis er endlich die Freiheit findet. Bei Wolfram dient die Herzeloydefigur dazu, die Parzivâl – Handlung vorzubereiten. Der Erzähler bestätigt diese Ausrichtung, indem er nach Parzivâls Geburt erklärt, nun erst beginne die eigentliche Geschichte. Die Herzeloyde ist vor allem die Mutter von Parzivâl. Ebenso ist die Condwîr amûrs – Figur bei Wolfram auf parzivâl hingeordnet. Sie erhält die Rolle der Frau an der Seite des Gralskönig. Im Roten Ritter gehören beide diese Figuren zu den Hauptfiguren des Romans und erscheinen oft in manchen Kapitelüberschriften. Für weitere Romanfiguren haben diese zwei eine Bedeutung als Bekannte, Gesprächspartner, Vertraute und Vorbild. Auf die zentrale Bedeutung der beiden Frauenfiguren für das Gesamtwerk weisen auch anderen Handlungsstränge hin. Der Roman beginnt mit der Herzeloydehandlung auf Kanvoleis und endet mit der Condwîr amûrs – Handlung auf dem Weg nach Kanvoleis. 5.7 Die Gralswanderung und das Konzept des Grals „Das Leben ist eine Wanderung. Führt es uns nicht von Ort zu Ort, zwingt es uns aus Be-rufsgründen, unser Zelt irgendwo dauerhaft aufzuschlagen, so führt es uns doch durch verschiedene Entwicklungsstufen. Aber auch diese belehren uns, daß das Leben 18
im Grunde ein immerwährendes Wandern ist. Die Art der Freuden, die Anteilnahme an den Menschen und Dingen um uns, alles das unterliegt wechselnden Einstellungen, bedingt durch den eigenen stufenmäßigen Entwicklungsweg. Und doch sehnt man sich zu erleben, daß der Weg dennoch irgendwie bergan führt, daß er nicht durch dunkle nebelhafte Gründe und Täler allzusehr verschleiert wird, daß er lichter und lichter wird, sei es auch durch Kämpfe und Enttäuschungen hindurch.“ 7 Neben der Artuslegende gehört zu dem Kern von den Parzivâlgeschichten auch sehr wichtige Gralsage. Ihrer Ursprung und vor allem ihre Verbindung mit Parzivâl und seiner Legende, bleiben bis heute meistens sehr unklär und unklargelegt. Es gibt vier Quellen, die uns eigentlich die eigene Gralsage ein bißchen erleuchtern können. Zu diesen Quellen gehört erstens ein christlicher Bronn. Das bedeutet die Zeugenaussagen der Evangelisten über dem letzten Nachtessen des Gottes, über dem Longinspeer und über Josef von Arimatia. Alle diese Aussagen wurden dann später ind den Apokryfen ausgeführt. Ebenso können wir aber auch von dem zweiten Ausgangspunkt sprechen und sogar von einer keltischen Tradition, wie zum Beispiel drei Blutentropfen im Schnee, das Füllhornsage, oder der Fischerkönig Bran. Den dritten und vierten Ausgangspunkt vertreten heidnische und orientalische Einflüße. Viele Fragenzeichen und Fragen enstanden ganz klar wegen der niedrigen Informiertheit und der Not an die eindeutigen Materiellen. Der getrennte historische Werdegang von der Artus- und Gralsage bedeutete, daß manche Forscher diese Ebenen gegeneinander setzten. Zum Beispiel Wilhelm Stapel charakterisiert näher die beiden Ebenen mit Begriffen wie „Ordensrittertum“ und „Minnerittertum“. Der erste Begriff hat seinen Ziel im Gralsburg, der zweite Minneburg, anders Chastel Merveille, wo Gâwân den Reich von feierlichem, franko – normannischem Leben gründet, wo alles der Liebe untergeordnet ist. Dagegen Mont Salvage ist ein Platz des Kampfes von Parzivâl um „seinen Gott“.8 Der Autor versuchte das Weg von Parzivâl am bestens wie möglich zu beschrieben. Manchmal ist es so weit weg vom Artushof und von der Ritterschaft, dass die ultimativen Fragen irgendwo in der Futur liegen. So ist es auch in diesem Fall. Der Held sitzt neben seiner Frau beim Lagerfeuer und beobachten ihre schlafende Kinder. Diese Szene scheint kaum als eine Gralssuche, aber erst hier findet Parzivâl seinen inneren Frieden und sein Begreifen, das Gral. Das Mittelalter ist erzählt als eine Zeit voll von Veränderungen und Übergängen. Die Artusritter sind zwar ins Reich der Fabel verwiesen, die Gralssuche ist aber 7 http://deutschland.white-society.org/?p=1193319654 (vom 4.4.2008). 8 Eschenbach, Wolfram von: Parzial.Praha: Aula, 2000. S. 447. 19
säkkularisiert und verbürgerlicht. Muschg nimmt sich , angesichts der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen heute, die Freiheit heraus, zu träumen, wie es auch verlaufen können hätte. Suche nach dem Gral verwandelt sich in Muschgs Roman konsequent in eine Geschichte der Persönlichkeitswerdung. Nicht das pseudochristliche Amt der Gralswacht steht am Ende seiner Reifprüfungen, sondern die Erkenntnis von zwischenmenschlicher Verantwortung. Glücklich mit seiner Frau und Kindern tritt er den Beruf des Bürgerkönigs an. Ein echtes Happyend der männlichen Fehlbarkeit also. Muschgs Gralskonzept grenzt sich klar von einer esoterischen Auslegung ab. Neomystische Tendenzen und Heilsversprechungen durch ein Kulturobjekt wurden gar nicht erst zugelassen. Vielmehr schlieβt Muschgs philosophischer Ansatz von der zusammenführenden Existenz des Gegensätzlichen ( z.B. Mann – Frau, Freund – Feind ) auch den Gral mit ein. „Der Gral ist ein Symbol für die Untrennbarkeit der Gegensätze im Kern aller Dinge.“ 9 Aber mit welchen äuβerlichen Merkmalen stattet Muschg seinen Gral aus? Wie kam der überirdische Gegenstand in den Besitz des Gralsgeschlechts? Man wird berichtet quellentreu, dass Titurel das Gefäβ geerbt habe, „in dem Joseph von 10 Arimathia, Besitzer des Heiligen Grabes, das Blut des Herrn aufgefangen hatte“ Muschg zitiert hier die christliche Auslegung, spricht aber nicht von einem Kelch, sondern von einer Schale wie in Chrétiens Perceval. Die Schale veränderte laut Erzähler im Roten Ritter ihr Aussehen und mutierte zu einem Stein. Der Gral wird hier bereits in seiner Entstehungsgeschichte einem Wandel unterzogen. Die Blutschale, die „durch die Zeiten weitergereicht worden“ 11 war, veränderte sich mit ihren Besitzern und diese sich mit ihrem Besitz. Durch die Mitation des Grals im Laufe seiner Geschichte kombiniert der Autor die Schale- mit der Steinvariante. In dem Art von Stein finden wir einen wesentlichen Unterschied zu Wolfram. Im Parzival von Wolfram wird der Gral zwar charakterisiert, seine Stellung, Funktion und Wirkung beschrieben, es fehlt uns jedoch die Beantwortung der Frage, wie der Gral enstand. Muschg hingegen zeigt uns den Gral ambivalent wie das menschliche Wesen. Der Gral als höchstes Ziel der Artusritter entstammt der Krone jenes Engels, der den Kampf gegen Gott aufnahm. Die Schale mutiert zum Stein des Bösen, zur Metapher des gefallenen Engels. Die neutralen Engel werden im Roten Ritter auch als Strafe für ihre Unentschiedenheit als Gralshüter 9 „Liebe, Literatur und Leidenschaft.“ Adolf Muschg im Gespräch mit Meinhard Schmidt – Degenhard, Zürich: Pendo, 1995. S. 187. 10 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 205 11 Ebenda, S. 205. 20
bestimmt. Die Doppeldeutigkeit des Grals ist in dem Text auffälliger als in dem Buch von Wolfram. 5.8 Der Artushof Muschg erzählt die Lebesnweise des asketischen Gralsvolkes sehr interessant. Sie ähneln Untotetn einer erloschenen Welt, Munsalvaesche gleicht einem Gefängnis. Durch Parzivâl und Feirefiz verändert sich das Gralsvolk und übernimmt begeistert höfische Rituale wie z.B. den Turnierkampf. Einige Vorfälle im Roten Ritter können als unhöfisch bezeichnet werden – z.B. die körperliche Züchtigung der Hofdame Cunneware, das Hinnehmen eines Verwandtenmordes mit dem Tod Ithers usw. Das alles ist bei Chrétien, Wolfram und bei Muschg zu finden. In dem Werk finden sich neben der Darstellung des Artushofes als zeitweiligen Schauplatz des Geschehens auch Szenen, in denen auf die arturische Gesellschaft Bezug genommen wird, indem einzelen Romanfiguren mit ihren Aussagen über die Artusgesellschaft die Verfasstheit derselben wiedergeben. Im weiteren Verlauf des Romans wird sich zeigen, dass auch das arturische Heil ein zerbrechliches Ding ist. In dem Roman von Muschg lassen sich die Stellen, die die arturische Gesellschaft behandeln, in drei Bereiche gliedern. Erstens sind es die Schauplätze der Artuswelt, die Burg, die Stadt und das Feld. Der erste Punkt konzentriert sich auf die Darstellung der geographischen und objektbezogenen Lebenswelt. Welche Rolle der runde Tisch, die Burg in Nantes, sowie Schauplätze eines mobilen, reisenden Artushofes im Roten Ritter einnehmen. Zweitens handelt es sich um Artus selbst, er wird als König zwischen Lustbarkeit und Diplomatie bezeichnet. Und drittens is es die arturische Gesellschaft, die Rittertum und Minne. Hauptsitz des Artushofes ist in diesem Roman und auch in dem Epos von Wolfram die Stadt Nantes. Heute ist es die Hauptstadt der region Pays de la Loire, im Mittelalter ein Sitz der Herzöge der Bretagne. Der arturische Stammsitz kommt von auβen betrachtet einem verwïnschenen Märschenschloβ gleich. Er sieht unwirklich, aber stolz und kunstvoll aus. Die zahlreichen runden Türme lassen an eine Burganlage wie Carcassonne im Languedoc denken. Bisherige Lebensumgebung Parzivâls war der Wald von Soltane. Nun begegnet ihm ein Bauwerk, das mit der Metapher „steinerner Wald“ auf Parzivâls gewohnte Umgebung anspielt und sie so in Bezug zu dieser neuen und 21
fremden Welt setzt. Muschg scheint hier eher das Neuartige, für parzivâl Fremde hervorheben zu wollen, als die Pracht und den Reichtum zu schildern. 6. Das Spiel mit dem Spiel in dem Werk Die Ausgestaltung des Vermittlungsprozesses und die Reflexion der Mittelbarkeit sind im Roman Der rote Ritter zentrale Momente. Die komplexe erzählerische Anlage des Romans verhindert eine einfache Einordnung der Erzählsituation in ein erzähltheoretisches Modell. Der Roman spielt nicht nur mit seinen Inhalten und Figuren, sondern insbesondere auch mit seinem Erzählen. In dem dritten Teil des Buches ist es der Augenblick, als Parzivâl die Gralsburg erreicht. In der ausführlichen Überschrift zum Kapitel heiβt es so auch, Parzivâl gelange hier ins „Zentrum seiner Geschichte“ 12. Dies erweist sich als Zentrum in vielerlei Hinsicht, dass gerade hier auch vom Erzählen die Rede ist, zeigt auf, wi wichtig für diesen Roman die Auseinandresetzung mit seinem Erzählen ist. Parzivâl kommt später nicht nur ins Zentrum der Erzählung, er kommt zugleich in das Erzählzentrum. Auf oberster Ebene reflektiert das Werk nicht nur den wichtigen Bezug zur Vorlage zu diesem Roman, sondern macht von Anfang an deutlich, dass hier erzählt wird. Die Untersuchung zum Spiel zeigt es in dem Werk auf mehreren Ebenen und Verständnisstufen. Das mittelaterliche Geschehen wird teilweise verfremdet, aber auch betsimmten Rezipienten nähergebracht, wenn etwas mithilfe einer umgangssprachlichen Wendung aus dem Neuhochdeutschen erklärt wird. Solche und ähnliche Brüche schaffen spielerisch die Aufmerksamkeit des Rezipienten und binden ihn gleichzeitig in die Handlung mit ein. Besonders auffälig sind Textelemente aus den Sequenzen mit Bildschirmtexten von Gardevîas. Anweisungen und ein Inhaltsverzeichnis stehen in Kapitälchen und vom anderen Flieβtext abgesetzt. Die Sprache besteht aus Mittelhochdeutsch, Fränkisch, veralteten und umgangssprachlichen Begriffen. Autors Spiel mit Sprach- und Zeitepochen findet seinen Niederschlag auch auf lexikalischer 13 Ebene. Gramovlanz erholt sich auf einem „Wasserbett“ , Sigûne spielt mit einem Notebook, beides Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Die Artusgesellschaft probiert das „grüne Eis“ 14 und ein Kanvoleiser Bürger nimmt die Zukunft voraus, indem er ausruft: 12 Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 489. 13 Ebenda, S. 815. 14 Ebenda , S. 545. 22
„Wenn doch das Fernglas erfunden wäre!“ 15 Zu erwähnen sind auch Muschgs Vorliebe für rhetorische Figuren, insbesondere für rhetorische Fragen, wie zum Beispiel „Strenge […] Stränge“ 16 oder „Lesen und Leben […] Haut und Haar.“ 17 „Der Ausdruck von der Literatur als Spiel hat gerade bei diesem Werk eine so deutliche und vielgestaltige Anschaulichkeit, dass sich das Spiel auf keinem Rezeptionsniveau, keiner Textebene und selbst bei sehr rudimentärer Leseart nie auf die der Literatur eigenen Fiktionalität reduziert.“ 18 Muschg zeigt damit, dass er am Schreiben für einen Relativ unspezialisierten Leserkreis immer noch festhält. Bei diesem Buch wird der literarische Spielbegriff unter der Annahme des Konzeptes vom Autor als empirische Person und intentionale Instanz erweitert. 7. Zusammenfassung des inhaltlichen Vergleichs mit Wolframs Parzivâl anhand von Herzeloydefigur Muschgs Herzeloyde ist ernsthaft, streng, willenstark und gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Als Gralstochter distanziert sie sich von anderen Menschen und sieht auf diese herab, mit Ausnahme von Sigûne, die ihre Nichte ist und auch vom Gral stammt. Bei Wolfram tritt Herzeloyde als höfische Königin auf. Ihre Schönheit ist Ausdruck ihrer Tugendhaftigkeit. Der Erzähler betont Herzeloydes Hingabe und Liebe zu Gahmuret und Parzivâl. Als Gahmuret in Kanvoleis erscheint, erregt er in beiden Erzählwerken Herzeloydes Aufmerksamkeit und wird von ihr begehrt. Doch der Weg zu diesem Ziel und das Ziel sind in beiden Meisterwerken unterschiedlich. Muschgs Herzeloyde fühlt sich durch Gahmurets provokante Gelassenheit gereizt. Angetrieben durch ihren Machtwillen zwingt sie Gahmuret in ihren Dienst. Ihre Anteilnahme an seinem Turniergeschick zeigt die Stärke ihrer Gefühle für ihn. Ohne Zögern verstöβt sie gegen höfiscche und christliche Gebote und erklärt Gahmuret gegen seinen Widerstand und den anderer zum Sieger. Hinter dem Willen, Gahmuret zu heiraten, steht der Wunsch nach einem Kind und der Drang, aus den Gralsnormen auszubrechen, sich maβlos ihrer sexuellen Lust hinzugeben. Nichts davon findet sich bei Wolfram. Zwar wirbt sie auch hier um Gahmuret, doch dieser bestimmt das weitere 15 Ebenda, S. 29. 16 Ebenda, S. 200. 17 Ebenda, S. 660. 18 Niermann, Anabel: Das ästhetische Spiel von Text, Leser und Autor : Intertextualität neu gedacht an Adolf Muschgs "Parzival"-Rezeption "Der Rote Ritter" ; eine Geschichte von Parzival am Beispiel der Frauenfiguren . Frankfurt a. M: P.Lang Verlag, 2004. S. 251. 23
Geschehen und der Empfang verläuft nach höfischr Art. Bei Muschg erkennt Herzeloyde, dass sie Gahmuret gleichgültig ist. Mithilfe einer List erreicht sie, dass sie von ihm schwanger wird. Sie erwartet nun einen Sohn, den sie als Gottesmutter zum Erlöser erziehen will und damit ist Gahmuret für Herzeloyde für sie unwichtig geworden. Bei Wolfram weren Herzeloydes Gefühle von Gahmuret erwidert. Sein Tod trifft sie existentiell. Die Trauer um ihn ist stärker als die Freude über Parzivâls Geburt. In beiden Werken ist Herzeloyde der Erziehung von Parzivâl nicht gewachsen. Im Wunsch, ihn bei sich zu behalten, erzählt sie Missverständliches und Falsches und enthält ihm Wissen vor. Hinter ihrer Lehre steht vor allem die Einsicht, Parzivâl an die höfische Welt zu verlieren und ihn deshalb auf diese vorbereiten zu müssen. Sie bereitet sich innerlich auf Parzivâls Aufbruch vor, indem sie mit ihrem Leben abschlieβt. Bei Wolfram realisiert sie erst bei Parzivâls Aufbruch, dass er sie verlassen wird. Bei Wolfram erscheint Herzeloyde als tugendhafte Heilige. Im Roten Ritter wirkt sie eher egoistisch, wie sie Gahmuret benutzt und sich durch Parzivâl verwirklicht. Die Herzeloydefigur zeigt sich in dem Werk von Muschg als ein widersprünglicher Charakter, der in einem diktatorischen Gesellschaftsystem als Elite aufgewachsen ist. Trotz ihrer Intelligenz gelingt es ihr nicht, sich von der Gralsart zu lösen. Essays und komentierende Texte von Muschg zeugen davon, dass der Autor in der Condwîr amûrs – Handlung deutlicher und differenzierter als in der Herzeloydehandlung eigene Wunschvorstellungen verarbeitet hat. Religiöse Haltungen, Werte und Normen und das Idealbild einer Ehe und Partnerschaft werden hier zum Groβteil in der Figur von Condwîr amûrs bzw. Anhand ihres Verhaltens vorgestellt, diskutiert und entwickelt. Beide Figurencharaktere werden bei Wolfram als treu liebende, tugende Schönheiten darfestellt, bei Muschg wird Herzeloyde zumeist als ehrgeizige Gralsfrau dargestellt. Condwîr amûrs verändert Muschg dagegen zur emanzipierten, engagierten Ehefrau, Landesherrin und Mutter. Wolfram preist die Schönheit beider Frauenfiguren mit typischer mittelalterlichen Preismetaphorik, zugleich auf die Tugendhaftigkeit der Frauenfiguren verweist. Während Herzeloydes Äuβeres als Mutter nicht mehr beschrieben wird, steht Condwîr amûrs Äuβeres nach ihrer Berufung zur Gralskönigin im Vordergrund ihrer Darstellung und wird mit Begriffen der Metaphorik über die Schönheit aller anderen Frauen gestellt. Übereinstimmungen zwischen dem Roten Ritter und dem Parzivâl von Wolfram sind das weiβe Hemd, das Herzeloyde Gahmuret als ein Minnezeichen mitgibt und die Ehehaube, die sich Condwîr amûrs nach der ersten Hochzeitsnacht umbindet. Während 24
die Ehehaube in beiden literarischen Texten die liebende Verbundenheit zum Ehemann symbolisiert, wird das weiβe Hemd bei Wolfram zu einem Symbol für die anteilnehmende Liebe und im Roten Ritter zum Symbol für die Gefährlichkeit des Ritterdaseins. Kleidung signalisiert bei Wolfram den Status und das Anlegen von Kleidung symbolisiert das dazugehören zu einer bestimmten Lebensform sowie gesellschaftlichen Schicht und die Erlangung von Identität. 19 8. Parzivâl im Theater 8.1 Uraufführung in Hannover Adolf Muschgs Neufassung von Parzivâl erzählt vom Ritter als modernem Menschen. Sein Lebenswerk kommt auf die Bühne in einer Uraufführung in Hannover am 27. März 2004. Muschg hatte nach dem Anruf des Regisseurs Stefan Otteni eine eigene dramatische Skizze seines Werkes angefertigt. Otteni, der vorher Die Brüder Löwenherz für das Schauspiel im Hannover bearbeitete, bestand aber auf dem Roman, nicht auf der Bearbeitung und beteuerte, daß er gerade dessen enorme Komplexität des Werkes schätze. Muschg läßt ihm seitdem freie Hand und Otteni nahm diese mehr als 1000 Seiten auf die Bühne. Clemens Schick ist der Schauspieler, der in der Adaptation des Romans für das Schauspiel Hannover den menschlichen Helden aus dem Heilsritter gewinnen soll. Und dabei gehört ihm die schwierige Aufgabe, maßlose Dummheit zu spielen. Im Schauspielhaus Hannover hebt sich der Vorhang und ein Trio am Rand der Bühne, von elektrisch verstärkter Geige und Harfe begleitet, bestimmt das Tempo des Spieles. Es beginnt eine wilde Revue, die den größten Teil der Zuschauer lang begeistert, amüsiert und auch etwas ratlos macht. In der knapp dreistündigen Inszenierung von Stefan Otteni beginnt Parzivâl seine Reise zur Menschenwerdung mit der Pubertät. Aus dem rebellischen Konflikt zwischen der totalen Naivität, in der seine Mutter Herzeloyde ihn als Eignung für das Gralsamt halten will und einer pochenden Geilheit, lebt er das Rücksichtslose von Unschuld aus. Daß der Wert des Lebens in einer Mäßigung von Extremen, wie Morden, Stehlen und Prahlen, liegt, ist zunächst nur in einem begleitenden Stirnrunzeln versteckt. Die Entwicklungsparabel inszeniert Otteni mit leichter Hand und mit dem Sinn für Situationskomik. Vorzüglich der kraftvolle Clemens Schick als zunächst tumber, dann 19 Speckenbach, Klaus: Ritter – geselle – herre. Überlegungen zu Iweins Identität. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Tübingen, 1998 S. 115 – 146. 25
Sie können auch lesen