Eine Geschichte von Parzivâl - Adolf Muschg: Der rote Ritter

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MASARYK - UNIVERSITÄT IN BRÜNN
                   Philosophische Fakultät
   Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik

                        Bakkalaureatsarbeit

                Adolf Muschg: Der rote Ritter
                  Eine Geschichte von Parzivâl

Der Autor: Jiří Vašek

Der Arbeitsleiter: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc.

                           Brünn 2008
Ich erkläre, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig geschrieben habe und dass
ich nur die im Literaturverzeichnis angeführte Literatur verwendet habe.

                                                        ..........................................
                                                                      Jiří Vašek

                                     2
Danksagung

Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank vor allem dem Betreuer
meiner Diplomarbeit, Herrn PhDr. Kovář für seine Hilfsbereitschaft und
ausserordentliche Hilfe aussprechen.

                                       3
Inhaltsverzeichnis

1. Die Einführung                                                       5
2. Die Biographie von Adolf Muschg                                      7
3. Die Inhaltsangabe                                                   10
4. Rezeption des Werkes                                                10
5. Die Analyse des Textes                                              12
     5.1 Die Sprache                                                   12
     5.2 Die Erzählinstanz                                             14
     5.3 Neuschöpfungen in dem Werk                                    15
     5.4 Die 3 Eier                                                    16
     5.5 Parzivâl                                                      17
     5.6 Die Frauenfiguren                                             17
     5.7 Die Gralswanderung und das Konzept des Grals                  18
     5.8 Der Artushof                                                  21
6. Das Spiel mit dem Spiel in dem Werk                                 22
7. Zusammenfassung des inhaltlichen Vergleichs mit Wolframs Parzivâl
    anhand von Herzeloydefigur                                         23
8. Parzivâl im Theater                                                 25
     8.1 Die Uraufführung im Hannover                                  25
     8.2 Die Reminiszenzen zur Theateraufführungen                     27
     8.2 Adolf Muschgs Kommentare zur Theateraufführung                28
9. Kommentare des Werkes                                               29
10. Zusammenfassung                                                    31
11. Literaturverzeichnis                                               32

                                     4
1. Die Einführung

       Der weltbekannte Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg nennt sein Werk Der
rote Ritter mit dem Untertitel Eine Geschichte von Parzivâl. Muschg machte es sich
nicht zu einer Aufgabe, Wolframs Epos in unserer Prosa nachzuerzählen, aber es geht
um einen besonderen Kunststück. Mit seinem Werk zitiert der Autor nicht nur
mittelalterliche Literatur, aber es gelang ihm, die Ebene der Romanhandlung und die
Zeitebene der vermutlichen Entstehung von Wolframs Text in seinem Werk miteinander
zu   verschränken.   Der     Roman   umfasst   sozialhistorische   Studien   über   die
Epochenschwelle vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Der Autor selbst benutzte das Motto
von Lessings Nathan: „Mit dem Spiele spielen“, mit dem er sein Ritterroman
voranstellte. Das Spiel, mit dem gespielt wird, ist ein der markanten Werke in unserer
literarischen Überlieferung. Muschg benutzte als eine Vorlage nicht nur das
mittelhochdeutsche Epos Parzival von Wolfram von Eschenbach, sondern teilweise
auch der französische Ritterroman von Chrétien de Troyes und passagenweise finden
wir auch einige Fragmente von Titurel, von einem anderen Werk Wolframs.
       Es ist nötig folgendes zu sagen, es sei in diesem Fall ein pures Vergnügen ein
solches Buchstück lesen zu können. Es ist ein monumentales Werk mit einem Umfang
von etwa tausend Seiten. Muschg folgt darin weitgehend der Wolframschen Vorlage,
begnügt sich indessen nicht mit einer bloßen Nacherzählung oder einer forcierten
Aktualisierung, sondern sucht sich einen eigenen, bisher nicht begangenen Weg. Wo er
strukturierende Eigenheiten übernimmt, etwa die abschweifende Erzählweise Wolframs,
und diese dann erweitert, um neue Möglichkeiten, Fabel und Reflexion der Erzählung
miteinander zu verknüpfen.
       Es handelt sich um einen aktualisierten Parzival-Roman; es kommen hier
Computer-und andere Gegenwartsbezüge vor. Er führt drei Erzählinstanzen ein: drei
Eier, von denen eines reden, eines hören usw. kann. Diese Eier erklären, warum der
Roman so archaisch geschrieben ist.      Die bekannten Figuren und deren zentrale
Konflikte behält er weitgehend bei, Sigune etwa, Herzeloydes Nichte, oder
Schionatulander, Gahmurets Knappen, oder Gurnemanz und Condwîr Amûr. Das
Register nennt beinahe zweihundert Namen, darunter auch die von Pferden, Gewässern
und Burgen. Schon die ersten Seiten ziehen in ihren Bann, und das nicht nur durch die
lebendige Sprache. Zahlreiche Schauplätze und über hundert Personen auf ihren
miteinander verwobenen Lebenswegen werden ideenreich und liebevoll detailliert

                                          5
vorgestellt, das Namenregister ist dabei sehr hilfreich für diejenigen, die mit der
Legende von Parzival nicht so vertraut sind.
          Der Rote Ritter wartet mit einigen Überraschungen auf, die wohl auch im Sinne
Wolframs gewesen wären; schließlich hat der „schreibende Ritter“ sich selbst in seinen
Werken mehr als einmal als großer Humorist bewiesen. Parzivâl ist wieder auf der Reise
um seinen kranken Onkel Anfortas zu befreien. Schon diese Reise ist ein Symbol der
Liebe zu den Mitmenschen, der später in dem Werk vielmals verwendet wird. Zum
Unterschied von der Vorlage von Eschenbach, läβt Muschg seine Hauptfigur die
Relativität der menschlichen Existenz zu entdecken. Darin versteht er die Suche für die
Antwort auf die ultimative Frage der Menschheit. Diese Suche ist aber für jeden zu
schwer und man muss in seinem Leben für jeden Preis fortsetzen. Parzivâl fühlt sich am
Ende seiner Wanderung eher enttäuscht. Er wollte zuerst ein Retter sein und jetzt, am
Ende, erfasst er, daβ er nur ein lediglicher Entdecker ist. Der Author lieβ ihn meisterhaft
diese innerliche Lebensverknüpfung mit dem menschlichen Dasein zu begreifen. Der
Held glaubt immer an Gott, aber lernte etwas dank seiner Rettungsreise. „Wir müssen
das Gottesspiel spielen and er fragt uns immer, welche Bewegung werden wir wählen
um meist effektiv zu sein …“1
          Adolf Muschg führt mit diesem ungewöhnlichen Roman durch eine
"Weltgeschichte", die uns die Denkweise der Menschen im Mittelalter näher bringt.
Eschenbach setzte in seinem Werk die gröβte Betonung auf die Wanderschaft zum Gott,
Muschg dagegen führte seinen Held zum Gott mithilfe der Liebe zu seiner Frau. Mit
einem grundlegenden Kunstgriff hat der Autor einen exzellenten Spielrahmen gesetzt.
Dazu gehören gewagte Sprünge, Paradestücke der Prosa, witzige Ausgefallenheiten und
auch einfache Szenen voll von Intimität und Zartheit. Adolf Muschg, dem die Sätze
unter den Händen wuchern, ist ein verköperte Gegenteil eines wortkargigen Autors. Im
Parzivâl stöβt er auf eine Fülle von Bildern, an denen er dann weitermalt und die
Handlung zusammenfügt. Manchmal tritt er aus den Ufern, aber die Fabel zwingt ihn
sehr schnell zum Rückkehr. Das Werk entdeckt das neue Niveau der mittelalterlichen
Sprache, Menschengesellschaft und der menschlichen Geistlichkeit. Es ist dann kein
Wunder, dass uns der Author in die tiefsten Geheimnisse von Parzivâl und seiner Frau
anschauen lässt. Der Leser ist der Nöte ausgesetzt, Kapitel für Kapitel die ganze
Geschichte bis zum Ende zu folgen. Der Author macht uns damit klar, dass die damalige

      1
       Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt. Suhrkamp, 1993. S.
      984.

                                               6
Sicht der Dinge teilweise auf unsere Zeit übertragen werden kann. Für dieses Werk
wurde Adolf Muschg im Jahre 1994 mit dem Georg-Büchner Preis abgeschätzt.

2. Die Biografie von Adolf Muschg

       Adolf Muschg ist zu den wichtigsten, noch lebenden, Schweizerischen Autoren
nach Dürrenmatt und Frisch gezählt. Er ist berühmt vor allem für seine Romane,
Erzählungen, Vorträge und insgesamt für seine ganze Arbeit, die er der Kultur und
Prosa widmet.

   Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 als Sohn eines Volksschullehrers in Zollikon
im Kanton Zürich geboren. Er ist der wesentlich der jüngere Halbbruder des berühmten
Literaturwissenschaftlers Walter Muschg. Sein Vater ist früh gestorben, was für ihn ein
traumatisches Erlebnis war. Er studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in
Zürich und Cambridge. Dann promovierte er bei Emil Staiger über Ernst Barlach. Von
1959 bis 1962 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Zürich. Dann folgten verschiedene
Stellen zum Beispiel als Hochschullehrer im In- und Ausland, vor allem Deutschland,
Japan oder USA. Im Jahr 1965 erschien sein Debütwerk "Im Sommer des Hasen". Darin
schildert er in komplexer Weise unter anderem seine Eindrücke, die er während des
Japanaufenthaltes sammeln konnte. Bereits mit diesem Erstling beweist Muschg seine
souveräne Stärke im Erzählen, die vom Wechsel der Zeitenebenen oder von den
Motivverschränkungen geprägt ist. Er heiratete eine Frau Namens Hanna Johansen und
hatte mit ihr zwei Kinder. Sie stammt aus Norddeutschland, wo sie im Jahre 1937
geboren wurde. In den 60er Jahren kam sie in die Schweiz und lebte auch eine kürze
Weile ind den Vereinigten Staaten. Sie war auch ein Schriftsteller, in ihrer Erstling „Die
stehende Uhr“ geht es um eine Frau, die immer im Kreis herumfährt.

       Seine Sprache trägt das Merkmal der Assoziation, die somit die Grenzen der
Eindeutigkeit überschreitet. 1967 wurde sein Werk "Gegenzauber" veröffentlicht. 1970
ging er als Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische
Technische Hochschule in Zürich. Von 1974 bis 1977 war Muschg tätig in der
Kommission      für   die    Vorbereitung   einer    Totalrevision   der   Schweizerischen
Bundesverfassung.     1975     war   er   Züricher   Ständeratskandidat    der   Schweizer

                                             7
Sozialdemokraten. Im gleichen Jahr erschien sein bekannter Kriminalroman "Albissers
Grund", der über die Aufarbeitung einer individuellen Leidensgeschichte auf die
Schweizer Volksmentalität und Gesellschaft hinaufweist. Dabei greifte Muschg
manchmal auch zur Satire. In einer Poetik-Vorlesung im Frankfurt/M. in den Jahren
1979 und 1980 wählte Muschg das Thema "Literatur als Therapie?“ Ein Exkurs über das
Heilsame und das Unheilsame", das er ein Jahr darauf als ein erfolgreiches und
bekanntes Essay verfasste. Seine Interessen an der Psychologie und Psychoanalyse
kommen gleichfalls in dem Porträt "Gottfried Keller" (1977) zum Tragen. Für Muschg
steht fest, dass die Kunst ein Mittel gegen die Zerrissenheit ist, die in der Hoffnung auch
zur Lebenskunst werden könnte. Er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften
und der Literatur Mainz sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in
Darmstadt. Muschgs Themen in seinen Romanen und Erzählungen sind die inneren
Deformationen durch das bürgerlich-familiäre Leben, das Verhältnis zwischen Geist und
Macht oder die Schuldfrage. Auch interessiert er sich nach der therapeutischen Hilfe
durch Kunst. Zur Realisierung seiner Themen verpackt er sie auch schon einmal in einen
Kriminalroman,     wie    die   Titel   "Albissers   Grund"   oder   "Baiyun    oder   die
Fremdschaftsgesellschaft" zeigen. In diesen Werken wird die gesamte Palette der 68er
Generation vorgeführt. Hier sagt man, dass Muschg nicht mehr versucht, sich durch
seine aufgeblähte Sprache zu retten. Es ist eine Entwicklung von der sprachlichen
Virtuosität zur sprachlichen Sensibilität hin bemerkbar. Viele seiner Werke sind
autobiografisch gefärbt. Mit schwarzem Humor oder der Satire schildert er die
Sprachlosigkeit der Protagonisten in seinen Werken. Der 1984 verfasste Roman "Das
Licht und der Schlüssel. Erziehungsroman eines Vampirs" gibt sich als ironischer
Erziehungsroman. In dem Werk "Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz.
Erinnerungen aus meinem Land vor 1991" nimmt er in heiterer Weise die Schweizer
Mentalität auseinander.

       Im Jahr 1993 erschien der Ritterroman "Der Rote Ritter. Eine Geschichte von
Parzival", in dem der Parzival-Stoff verarbeitet wird. Seine kürzeren Erzählungen, die
1972 mit "Liebesgeschichten" beginnen, sind in einer einfacheren und eindeutigen
Sprache geschrieben. Sie genießen deswegen bei vielen Kritikern einen höheren
Stellenwert als seine Romane, die wegen ihrer Sprachartistik sich zu sehr distanzieren
vom Stoff und den Darstellungen. Zu den weiteren Werken von Adolf Muschg zählen
unter anderem "Fremdkörper" (1968), "Mitgespielt" (1969), "Die Aufgeregten von

                                             8
Goethe. Ein politisches Drama" (1971), "Entfernte Bekannte" (1976), "Kellers Abend.
Ein Stück aus dem 19. Jahrhundert" (1976), "Noch ein Wunsch" (1979), "Leib und
Leben" (1982), "Goethe als Emigrant" (1986), "Nur ausziehen wollte sie sich nicht"
(1995), "Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat. Sieben Gesichter Japans" (1995),
"Sutters Glück" (2001), "Der Schein trügt nicht. Ueber Goethe" (2004) oder "Eikan, du
bist spät" (2005). Der berühnmte Autor selbst bezeichnet sich als Hypochonder und
jemanden, der gerne psychosomatische Krankheiten hat. Er ist in zweiter Ehe in Japan
verheiratet und beschäftigt sich mit dem Zen-Buddhismus. Adolf Muschg lebt zur Zeit
in Kilchberg bei Zürich.

Auszeichnungen und Preise

1965 Literaturpreis der Stadt und des Kanton Zürich
1965 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung
1966 Förderpreis des Landes Niedersachsen
1967 Georg-Westermann-Preis
1967 Hamburger Leserpreis
1967 Georg-Mackensen-Literaturpreis
1968 Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis
1974 Hermann-Hesse-Preis
1984 Großer Literaturpreis der Stadt Zürich
1990 Carl-Zuckmayer-Medaille
1993 Ricarda-Huch-Preis
1994 Georg-Büchner-Preis
1995 Vilencia-Literaturpreis
1995 Internationaler Literaturpreis Chianti Ruffino-Antico Fattore
2001 Grimmelshausen-Preis
2001 Ehrengabe des Kantons Zürich
2004 Bundesverdienstkreuz

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3. Die Inhaltsangabe

       Muschg gliedert seinen umfassenden Roman in 4 Bücher, wobei jedes Buch aus
25 Kapiteln besteht. Buch 1 trägt den Titel „Niederkunft“ und erzählt die Geschichte
von Parzivâls Eltern, aber auch von Sigûne und Schionatulander und endet mit Parzivâls
Geburt. Buch 2 mit dem Namen „Auszug“ schildert Parzivâls Jugend in Soltane, die
Vergewaltigung, die er an Jeschute begeht, den Mord an Ritter Ither, seinen Sieg in
Pelrapeire und seine Heirat mit der jungen Herrscherin Condwîr amûrs, die ihm später
Zwillinge schenkt. In Buch 3 mit dem Titel „Engführung“ trifft Parzivâl auf den
Artushof, wo er von Kundrie verflucht wird. Er gelangt auf die Gralsburg, versagt und
trifft auf Trevrizent, der ihn zu sich selbst finden lässt, indem er Parzivâl das Schicksal
seiner Verwandten wie sein eigenes auf wundersame Weise vor Augen hält. In diesem
Abschnitt passieren auch Gâwâns Erlebnisse. Buch 4 mit dem Namen „Die Krone“
schildert die Erlösung Anfortas durch Parzivâl, der Gralskönig wird. Condwîr amûr trifft
samt Kinder und Onkel in Parzivâls neuem Reich ein – ein reich, das nach seiner
Erlösung mit der Gralskonzept nicht mehr regierbar ist.

4. Rezeption des Werkes

       Schon im Namen des Werkes finden wir, dass der Untertitel Eine Geschichte von
Parzivâl etwa unzutreffend einschränkend wirken kann. Warum soll es nur „eine“
Geschichte sein? Fest steht, dass es sich bei dem Roten Ritter um Adolf Muschgs
Geschichte von Parzivâl handelt. Zugleich scheint mit dem Untertitel die Hoffnung auf
die Kompetenz des Lesers signalisiert zu werden, mit dem Namen Parzivâl eigenes
Wissen über die Parzivâlgeschichte aufrufen zu können. In einer realitätsnah
anmutenden Alltagswelt treten Figuren auf, die angepasst in sozialgesellschaftlichen
Zwängen leben sowie Figuren, die damit unzufrieden sind und aus diesem Leben
ausbrechen möchten. Dem Leser wollte der Autor damit ermöglichen, für eigene Fragen
und Probleme sensibel zu werden. Er zeichnet seine Figuren mit ausgeprägter
Sensibilität für soziale und psychologische Problematiken. An Beziehungen, vor allem
an Liebespaar- und Mutter-Sohn-Beziehungen, stellt er in Gesprächszenen mithilfe der
Beschreibung von Mimik und Gestik die Symptome der Entfremdung, Ängste und
positive Entwicklungen dar. Das private steht im Mittelpunkt, der Mensch als
Individuum und der Mensch in seinen Beziehungen zur Umwelt. In den

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Lebensentwürfen der Figuren zeigt sich eine Entwicklung. Der Autor bezeichnet diese
Entwicklung als eine Wendung vom Mythos Oidipus2 zur Kunstfigur Orpheus. Muschgs
psychologisch – mythologisches Orpheusmotiv hat eine ästhetische Seite, bei der es um
Muschg als Erzähler und um seine literarischen Texte geht. Die Tendenz der
Figurengestaltung rückt hier von einer Ausschlieβlichkeit und von schematischer
Typisierung ab. Es gibt nicht mehr nur die Hauptfiguren, die sich im Erleiden eines
unabwendbaren Schicksals gefallen. Vielmehr treten hier die Protagonisten auf, die aus
den Verhaltensmustern ausbrechen, die das gesellschaftliche Umfeld von ihnen erwartet
und die sich auf die Suche nach ihren Bedürfnissen, Wünschen und dem Lebenssinn
begeben. Der Raum, die Identitäten und die Zeit erscheinen nicht eindeutig und
vertiefen den Eindruck von Bodenlosigkeit, der diesen Roman begleitet. Das alles bildet
keinen offenen Kontrast zum traditionellen Erzählmodell mit den typischen Elementen.
Muschg löst sich leise von tradierten ich- und wirklichkeitsbezogenen Erzählformen, die
er selbst in zahlreichen Texten praktiziert hat. Diese Entwicklung ergibt den Texten eine
ganz neue Qualität. Nach seinen eigenen Wörtern wurde alles im Leben ohne seinen
Gegensatz undenkbar. Die Darstellung der männlichen Figuren bildet in dem
literarischen Werk von Muschg einen Schwerpunkt. Bis auf die neuesten Texte lassen
sich diese Figuren auf wenige Typen zusammenfassen. Dagegen sind bei der
Darstellung der Frauenfiguren deutliche Veränderungen erkennbar.
         Muschg beschränkt die Farbsymbolik als erzähltechniches Mittel nicht nur auf
Parzivâls Vater, sondern dehnt sie auf Figuren der Grals- und Artuswelt aus. Er stattet
Gahmuret als Zeuger des kommenden Gralskönig mit einem schwarz – weiβ gefleckten
Pferd aus. Parzivâls Lebenskrisen wiederholen die des Autors. Der Parzivâlstoff kann
durch die Thematisierung gesellschaftlicher Probleme – getrennte Ehepartner,
alleinerziehende Mutter, abwesender Vater usw. Gesehen werden. Ganz klar werden
zwei poetische Ansätze des Autors. Erstens ist es der spielerische Umgang mit dem
Stoff, der es ermöglicht, Wertvorstellungen zu präsentieren, die veränderbar sind und
wodurch der Leser und Autor selbst bestimmen, wie weit sie mitspielen. Zweitens
bedeutet es, dass der Mensch nur ganz Mensch ist. Er muss seine halbheit und daraus
resultierende psychische Krise verarbeiten. Der Mensch bringt Gutes und Böses in sich,
das Leben und der Tod bestimmen unsere Existenz, die Liebe und der Hass sind ohne
einander nicht mehr eindeutig. Diese Dialektik durchzieht das ganze Werk, in dem
Parzivâl durch das Fragenlernen zu einem Glied der menschlichen Gesellschaft wird.
     2
       Muschg, Adolf: Psychoanalyse und Manipulation – oder warum ich mit diesem Thema nicht
     fertig werde. In: Dierks, 1989. S 293 – 318.

                                            11
5. Die Analyse des Textes
5.1 Die Sprache

         Muschg behandelt barvourös unterschiedliche Sprachstile, sei es der gespreizte
Stil des 18. Jh. bei Gâwân und Sigûne, oder sei es der moderne Jargon der
zeitgenössischen jüngeren Generation und endlich auch die derb anmutende Sprache,
mit der Sexualität metaphorisiert wird. Stilpluralismus und Metaphernreichtum
kennzeichnen sein Werk.
          Sîgûne, Herzeloydes Nichte, das Gralsfräulein behrrscht als heimliche
Hauptgestalt das schönste der vier Bücher dieses Romans, das erste. Aus dem zartem,
wüdigem Kind wird langsam ein Mensch der „ich“ sagt. In diesem Fall
mittelhochdeutsch „ih“, „Ih bins Gâwân, Gottes Kind.“ 3 Zu ihrer Hoheit verhelfen ihr
der eigene Minneweg und mehr noch die Entdeckung der Lese- und Sprachkunst.
Sîgûne liebt Schiônatulander, der als Knappe Gahmurets den Orient schon kennt und
auch zu schildern weiβ. In Sîgûne kreuzen sich Ost und West auf neue Weise – wobei
sie es sogar versteht, die Erzählungen Schiônatulanders von einer rätselhaften Tafel,
genannt Gardevîas, wie von einem Bildschirm abzulesen und abzuspeichern. Sie ist die
Liebende und die Künstlerin. Zu den ganz wenigen, die ebenfalls den Mut aufbringen,
„ich“ zu sagen, gehört auch Gâwân, der wortmächtig wie Sîgûne ist. Das Ich-Sagen hat
mit der Sprache viel zu tun und der schreibfreudige Gâwân wird neben Parzivâl zu einer
Hauptgestalt.
          Das Geheimnis der Sprache und der Sprachfähigkeit ist auch mit einem
Herzstück aler Romane aus dem Artuskreis, mit dem Gral, verbunden. Bei Muschg ist er
nicht eindeutig definiert, bei Wolfram übrigens auch nicht. Der Gral ist der Stein, das
Gefäβ, der Kelch, oder möglicherweise auch die gläserne Lese- und Schreibtafel. Der
Text, den Sigûne liest, hat eine Gralsqualität. Er handelt beispielweise von den farbigen
Wüsten zwischen den Menschen, den grünen Wüsten im Abendland und den offenen,
gelben und roten Wüstenträumen. Diese Texteinschiebsel sind in diesem Werk mit einer
unbeschreiblichen Eleganz und Treffsicherheit geschrieben. Sie geben Kommentare ab
zu den den unterschiedlichsten Geschichten, zu den allen Figuren. Diese Figuren
bestehen nicht nur aus Frauen und Männern, Damen und Rittern, sondern auch aus
Katzen, Pferden und Fabelwesen aler Art. In diesem Buch sind alle Spielfelder über

     3
      Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S.
     102.

                                              12
labyrinthische Verbindungsgänge verbunden. Menschen spiegeln sich in den Tieren, das
Mitteralterliche in dem Modernen, Reflexion steht über die Romanfabel und wird zur
Reflexion über die Begeisterung und die Nöte des Autors. Dem Autor steht die
dichterische Freiheit komplett offen und er ist imstande und er tut es auch, die Fabel neu
zu deuten, oder die bekannten Charaktere in ungewohntem Licht zu zeigen. Muschg
jongliert mit Mittelhochdeutschem, Alt- und Neufranzösischem, „Die drei Worten
lauteten übrigens: Soyez le bienvenu!“ 4, benutzt auch Anglizismen, „Pick item“ 5.
Durch das Einflechten französischer Ausdrücke betont Muschg nicht nur die kulturelle
Dominanz des westeuropäischen Raumes im Mittelalter, sondern er wird damit auch
Wolframs sprachlicher Vielfalt gerecht.
            An Thomas Mann erinnern wir uns bei der ironischen Erzählweise mit ihrer
Freude       an     Details   und     Figurencharakteristik,       mit     ihrer     Transparenz     auf
Zeitgenössisches. Wenn die von Gâwân unbeirrbar geliebte Orgelûse mit seinem
sexuellen         Begehren    in    drastischer     Rede     spielt,     tut   sie    das   in   einem
Kunstmittelhochdeutsch. Muschg spannt sprachlich den Bogen von der geschmeidigen
Prosa bis zur rhytmisierten und ironisch gebrochenen Reimversuchen. Er wechselt vom
Sprachwitz und Sprachspiel bis zu schwebender poetischer Einfachheit. Die Fabel
nimmt offt wechselnde Positionen ein. Zu den vielen Skurrilitäten gehört zum Beispiel
das Verstecken in den drei Eiern, die sich immer kritisch einmischen und alles
kommentieren. In den langen Briefen von Gâwân verzichtet sich Muschg auf die
liebevolle Ironie, die Wolframs Umgang mit dieser Figur bestimmt. Der Leser erfährt
allerlei über mittelalterliche Realitäten, von der Kleidung, Waffentechnik und auch über
mittelaterliche Denkformen.
             Die unterschiedlichen Heldinnen und Helden der Liebe finden Muschg
hingegen auf der Höhe seiner Darstellungs- und Erzählkunst. Die Fülle des
Menschlichen, die Muschg für den Leser entfaltet, leistet seine Arbeit ganz von selbst.
Und so wurde dieser Menschenroman zu einem groβen Lesevergnügen. Das Erzählen
triumphiert insgesamt in seinem Buntheit und der Faszination der fernen Zeit, ebenso
wie in der immer wieder sich herstellenden Nähe, in der Liebe zu den Katzen, den
jungen und älteren Kindern, den Liebenden und Suchenden. Im modernen Roman ist die
Gralsidentität nicht mehr in einem Ding symbolisiert, weder positiv noch negativ. Die
Suche selbst ist das Ziel und gerade das, ist auch das Ziel des Erzählens.

      4
          Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S. 21.
      5
          Ebenda, S. 226.

                                                    13
Muschg hält sich manchmal sehr viel an Wolframs Version und putzt sie nur
sprachlich prätentiös auf. Schon in dem ersten der vier Groβkapitel zeigt sich ein
origineller Ansatz mit manchen zaghaften Zeitdurchbrüchen und Selbstironie. Schon
dieses erste Kapitel lässt ahnen, was der Autor eigentlich beabsichtigt und wofür ihm
auf den restlichen Seiten die erzählerische Kraft fehlte. Zum Beispiel die Gâwân –
Episoden sind bei Wolfram sehr ausführlich und im Text können wie ein Fremdkörper
wirken. Schon Richard Wagner wuβte es und auch bei Dieter Kühn gibt es schon
deutliche Verkürzungen. Bei Muschg fehlt die Entschlossenheit, sich von Gâwân
endgültig zu verabschieden und er lässt ihn lange Briefe über seine Heldentaten
schreiben. Die Saelbstverliebtheit der Darstellung wird besonders in den seitenlangen
Beschreibungen von Waffen, Rüstungen, Turnieren und Kämpfen lästig. Man merkt,
wie gründlich der Autor seine Sekundärliteratur vorbereitete. Muschgs Sprache ist in
einem diffamierenden Sinn schön. Es ist wie in der Odyssee. Auch in diesem Werk
muss der Held einen langen Weg zurücklegen, bis er wirklich nach Hause kommt.
Neben der Sprache, in der die Fabel erzählt wird, ist es vor allem die verschriftlichte
Ebene derselben, die als Medium der Erkenntnis ( Parzivâls Lesestunden, Sigûnes
Leselust usw. ) für die Romanfiguern identitätsbestimmend wirkt.

5.2 Die Erzählinstanz

       Die Erzählinstanz in diesem Werk wirkt sehr unpersönlich und aus der sicheren
Distanz erzählend. Die Erzählweise nähert sich immer wieder einem mehr personalen
Erzählen, sucht die Nähe von Figuren und beschränkt sich kurzfristig auf deren
Perspektive. Erst mit der Geburt Parzivâls und nach seinem Auftreten im Roman, findet
die Erzählinstanz die Figur. Auch die Rezipientenseite bleibt gewissermaβen
ausgeklammert. Die Rezipientenseite bleibt unbestimmt, gleich wie diejenige der
Erzählinstanz. Es gibt Momente, in denen diese Unbestimmtheit der Kommunikation
aufgebrochen wird, in denen sich plötzlich der Sprecher und der Hörer ausmachen
lassen, doch auch wenn es vielleicht ab und zu scheinen mag, als sei dies ein Sprechen
auf der Ebene der Erzählinstanz, als trete diese plötzlich deutlicher hervor und habe
vielleicht sogar einen genaure bestimmbaren Adressaten. Die Erzählung steht nicht
„über“ die Zeit, in der sich die Handlung abspielt und kann daher in die Zukunft der
Romanfiguren un ihrer Welt schauen. Es zeigt sich schon kurz nach ein paar Seiten, dass
die Erzählinstanz vollständig über Zeit und Raum der erzählten Welt verfügt. Auffälig

                                          14
ist die Groβschreibung des Pronomens, zum Beispiel „Wir“, das nur als Pluralis
majestatis oder als Pluralis modestiae der Erzählinstanz gelesen werden kann. Sie hebt
das Pronomen hervor, gibt ihm eine gewisse Würde und Umständlichkeit, die jedoch der
Erklärung harrt. Deutlich ist auch ein Tempuswechsel ins Präsens, der Text verlässt die
Erzählebene, wechselt auf die Ebene des Erzählens und wird zum reflektierenden,
besprechenden Text. Das weitgehend unkörperliche und bisher kaum zu fassende „Wir“
spricht gewissermaβen vor sich hin, ohne sich in eine Kommunikationssituation
einzuordnen. Die Auflösung des Rätsels und der alles entscheidende Bruch in dem Buch
erfolgt nach knapp hundert Seiten. Das Geheimnis, das bisher um das „Wir“ lag, wird
gelüftet und die erzählinstanz verrät sich. „Jemand muss diese Fabel doch erzählen.“ 6
steht da und aus diesem Satz spricht der Wunsch nach einer genaueren Bestimmung
dieser Erzählinstanz, welche die bisherige Geschichte zu erzählen scheinte.

5.3. Neuschöpfungen in dem Werk

         Die folgende Neuschöpfungen erschienen in diesem Werk und manche
zusätzlich zur Erschaffung der „3 Eier“. Im Roten Ritter erfolgt eine Zusammenführung
des Parzivâl- mit dem Titurelstoff durch den Einbau der Sigûne – Schionatulander
Geschichte. Die zarte Liebe des jungen paares kann als Kontrast zur schwierigen
Beziehung von Parzivâls Eltern gesehen werden. Kyberg, der treue Untergebene von
Herzeloyde, der sich nach Soltane begleitet, ist eine ganz neue Figur, die bei Wolfram
nicht existiert. Gahmurets Abenteuer werden uns nicht von einem Erzähler geschildert,
sondern man erfährt sein Schicksal aus einem Gespräch zwischen Herzeloyde und
Sigûne. Katzen – der höfische Kater Gurzgri treibt es mit der Gralskatze Maui, spiegeln
hier die unausgewogene Beziehung zwischen Schionatulander und Sigûne bzw.
zwischen ausgelebter und gestörter Sexualität wider. Bei der Interpretation der Herkunft
des Grals vereint Muschg zwei Ansätze. Ursprünglich sei der Gral eine Schale gewesen,
in der Josef von Arimathia das Blut Christi aufgefangen habe. Mit der Zeit mutierte sie
jedoch zu einem Stein, der aus Luzifers Krone vom Himmel gefallen war. Parzivâl wird
im Roten Ritter Vater von Zwillingen noch bevor er seine Frau verlässt, dagegen
Wolfram erwähnt nicht einmal die Schwangerschaft. Ein Novum ist Parzivâls Phase als
„blaues Wunder“. Während bei Wolfram der Held nach Kundrys Verfluchung einsam

     6
      Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S.
     104.

                                              15
jahrelang umherirrt, mischt er sich im Roten Ritter als verkleideter Knecht mit blauem
Drillich unter das Gefolge Gâwâns und bleibt bis zur Antikonie – Episode in dieser
Rolle. Gâwâns Abenteuer erzählt primär Gâwân selbst in seinen Briefen. Diese Briefe
shcreibt er seiner geliebter Tante Ginover und es handelt sich um ein Briefroman im
Roman.

5.4 Die 3 Eier

       Wer ist „Wir“ in diesem Werk? Niemand anders als der Geist der Erzählung.
Muschg geht auch in diesem Fall in Wolframs Spuren. Eine Kapitel trägt die
befremdliche Übreschrift „Die 3 Eier“. Der Geist der Erzählung begleitet die Fabel nicht
nur in Allgegenwart, aber auch in gehobener Mitwisserschaft. Die drei Eier namens
Kadipê, Pekadî und Dipekâ werden mit hintehältigem Witz vorgestellt und legitimieren
nicht nur die Abschweifungen im Text, sondern das ganze schriftstellerische
Unternehmen. Sie sind das Autorhirn, denn jemand muss diese Fabel doch erzählen. Es
sind drei allwissende Eier mit grenzenloser Witterung. Eines ist nur Mund, ein zweites
ist ein Ohr und ein drittes ist eine Auge. Sie haben dünne Schalen und müssen innerhlab
der Geschichte viel und viel ertragen. Trotz ihrer verschieden Funktionen sind die 3 Eier
aber kaum zu unterscheiden, sie sind zwar identische Drillinge, aber sind nicht gleich.
Man bleibt an einer Ebene des Wortspiels und man umstellt nur die Silben in ihren
Namen, sie siend Kombinationen der Silben „Pe“, „Ka“ und „Di“ und somit silbische
Anagramme. Jeder der drei Namen enthält das Wort „Epik“ als Anagramm und das
weist vielleicht nochmals darauf hin, dass die 3 Eier das Erzählen beinhalten und damit
alles Erzählen von ihnen ausgehen muss. Die Einheit der 3 Eier zeigt sich auch in der
Schreibung, denn „3 Eier“ die feste Schreibung für die Erzählinstanz ist. Die „höhere
Warte“, von der aus die 3 Eier die Ereignisse des Romans betrachten und berichten,
erlaubt ihnen nicht nur eine bessere Sicht der Dinge, sie werden, obwohl Romanfiguren,
an den Rand dieser Romanwelt gesetzt. Die „höhere Warte“ bedeutet, dass sie weder
echte Romanfiguren noch reale Figuren sind, sie stehen zwischen den Welten. Bevor sie
gegen Schluβ vom Meierlein in die Pfanne gehauen werden, üben sie die Rittertugend
der Geduld, denn sie sind sich einig, dass die Langsamkeit der Fabel am schwierigsten
auszuhalten sei. Damit schlägt der Autor eine raffinierte Brücke zwischen
altertümlichen Erzählung und moderner Selbstreflexion in diesem Werk.

                                           16
5.5 Parzivâl

        Wer die Fabel so ausdehnt und überstrpaziert? Es ist ein Naiver, ein Waldkind,
einer, dem die höfische Lebensweise nicht in die Wiege gelegt wurde. Parzivâl. Die
Kindheit der Hauptfigur interessiert Muschg nur sehr wenig. Er schnurrt die Kindheit
etwas beiläufig mit allen bekannten Begegnungen ab. Die Wege von Parzivâl sind nach
dem Auszug sehr lang und krumm. Er ist ein Held, zu dem sich Muschg eigentlich recht
durchringen muss, denn er beinahe sprachlos ist. Erst spät stellt er auf Munslvaesche die
erlösende Frage und bekommt Zugang zum Grâl. Auch bei Parzivâl ist der eigentliche
Gewinn also mit einer Sprachfähigkeit verbunden. Anderseits ist Parzivâl einer, der in
seinen Handlungen etwa mittendurch geht und der seinem Namen ein Tal durchdringen
kann.
        Muschg dachte seinem Parzivâl eine ganz andere Ausrichtung zu, diese
Ausrichtung beruhigt das alte soziale Gewissen des üppigen Sprachkünstlers. Der
Titelheld bricht im Innersten mit dem Ritterwesen und dem Feudalismus. Muschg
schlieβt sich hier an Deutungen an. Parzivâl wird ein demokratischer, etwas
selbstzweiflerischer König, der seine Entscheidungen ständig überprüft. In Condwîr
amûr hat er eine emanzipierte, nicht weniger demokratisch denkende und
gleichberechtigte Ehefrau, noch von ihren Zwillingen Kardeiz und Loherangrîn gestützt.
Am Schluβ des Buches sehen wir den Helden mit seiner Familie, sie campieren
zusammen auf dem ehemaligen Platz des Turniers um Herzeloyde. Parzival wird seine
Macht jedenfalls als eine Art Bürgerkönig prägen. Bei Munsalvaesche findet wir auch
pikante Züge der grössten Schweizer Stadt. Der Gralsburg schwor Parzivâl ab und damit
began der Bruch des Feudalismus. Die fromme Erkenntnis Parzivâls gibt Nathans Wort
vom Spiel mit dem Spiel einen dunkleren Sinn. Es ist der Sinn,der mit dr ritik verborgen
ist. Man soll redlich spielen und mitspielen und nicht mit dem Spiele spielen.

5.6 Die Frauenfiguren

        Die ertragreichste Umgestaltung betrifft die Frauenfiguren: Herzeloyde – die
Mutter von Pârzival, Sigûne, seine Cousine und seine Geliebte Condwîr amûrs. Diese
Frauen sind mit dem feinsten erotischen Gespür jede neuund anders gezeichnet. Was bei
Wolframs     Vorlage    etwa   unter   dem      Stichwort   „Gahmuret     Vorgeschichte“
zusammenfasst, muss bei Muschg „Herzeloyde Geschichte“ heiβen.

                                           17
Herzeloyde, die jungfräuliche Witwe, erspäht bei einem Turnier vor en Toren
ihrer Stadt den Ritter Gahmuret aus dem Haus Anschouwe. Sie umwirbt ihn und liebt
ihn rückhaltlos, ohne die Antwort, oder Ruhe zu finden. Gahmuret bleibt aber mit
seinem Herzen bei seiner einstigen Liebe, Mohrenkönigin Belakâne gefangen. Er ist
müde und gleichgültig erwartet er mehr von seinem Leben, wenig von den Frauen und
schon gar nichts von dem Rittertum. Da steigert aber Herzeloyde ihre weibliche
Persönlichkeit ins Unheimliche und wächst über sich hinaus, während der Held und
Mann bis zur Entpersönlichung zusammenschrumpft. Herzeloyde blieb eine bittere
Jungfrau und erkennt sich dann im Gebet und noch besser in einem kollegialen
Gespräch mit der Mutter Gottes, was sie eigentlich will. Ihr gewünschtes Kind empfängt
sie über die eigene Minnemystik in einem Liebesakt mit Gahmuret. Doch sie wurde von
der Jungfrau Maria gewarnt, sie möge keinen Erlöser aus ihrem Sohn machen. Sie tut es
aber doch und brachte ihr Abkommen mit der Tradition und mit dem Rittertum des
Artushofs in Munsalvaesche. Se zog in die Wildnis Soltâne um ihren Sohn
abzuschirmen. Die Entfernung nach diesem Schutzort wird sich aber ganz anders
entwickelt, als sie am Anfang dachte. Sie ist noch eine höfische Dame und ihr Sohn
muss noch viel ertragen bis er endlich die Freiheit findet.
       Bei Wolfram dient die Herzeloydefigur dazu, die Parzivâl – Handlung
vorzubereiten. Der Erzähler bestätigt diese Ausrichtung, indem er nach Parzivâls Geburt
erklärt, nun erst beginne die eigentliche Geschichte. Die Herzeloyde ist vor allem die
Mutter von Parzivâl. Ebenso ist die Condwîr amûrs – Figur bei Wolfram auf parzivâl
hingeordnet. Sie erhält die Rolle der Frau an der Seite des Gralskönig. Im Roten Ritter
gehören beide diese Figuren zu den Hauptfiguren des Romans und erscheinen oft in
manchen Kapitelüberschriften. Für weitere Romanfiguren haben diese zwei eine
Bedeutung als Bekannte, Gesprächspartner, Vertraute und Vorbild. Auf die zentrale
Bedeutung der beiden Frauenfiguren für das Gesamtwerk weisen auch anderen
Handlungsstränge hin. Der Roman beginnt mit der Herzeloydehandlung auf Kanvoleis
und endet mit der Condwîr amûrs – Handlung auf dem Weg nach Kanvoleis.

5.7 Die Gralswanderung und das Konzept des Grals

       „Das Leben ist eine Wanderung. Führt es uns nicht von Ort zu Ort, zwingt es uns
aus Be-rufsgründen, unser Zelt irgendwo dauerhaft aufzuschlagen, so führt es uns doch
durch verschiedene Entwicklungsstufen. Aber auch diese belehren uns, daß das Leben

                                            18
im Grunde ein immerwährendes Wandern ist. Die Art der Freuden, die Anteilnahme an
den Menschen und Dingen um uns, alles das unterliegt wechselnden Einstellungen,
bedingt durch den eigenen stufenmäßigen Entwicklungsweg. Und doch sehnt man sich
zu erleben, daß der Weg dennoch irgendwie bergan führt, daß er nicht durch dunkle
nebelhafte Gründe und Täler allzusehr verschleiert wird, daß er lichter und lichter wird,
sei es auch durch Kämpfe und Enttäuschungen hindurch.“ 7
         Neben der Artuslegende gehört zu dem Kern von den Parzivâlgeschichten auch
sehr wichtige Gralsage. Ihrer Ursprung und vor allem ihre Verbindung mit Parzivâl und
seiner Legende, bleiben bis heute meistens sehr unklär und unklargelegt. Es gibt vier
Quellen, die uns eigentlich die eigene Gralsage ein bißchen erleuchtern können. Zu
diesen Quellen gehört erstens ein christlicher Bronn. Das bedeutet die Zeugenaussagen
der Evangelisten über dem letzten Nachtessen des Gottes, über dem Longinspeer und
über Josef von Arimatia. Alle diese Aussagen wurden dann später ind den Apokryfen
ausgeführt. Ebenso können wir aber auch von dem zweiten Ausgangspunkt sprechen
und sogar von einer keltischen Tradition, wie zum Beispiel drei Blutentropfen im
Schnee, das Füllhornsage, oder der Fischerkönig Bran. Den dritten und vierten
Ausgangspunkt vertreten heidnische und orientalische Einflüße. Viele Fragenzeichen
und Fragen enstanden ganz klar wegen der niedrigen Informiertheit und der Not an die
eindeutigen Materiellen. Der getrennte historische Werdegang von der Artus- und
Gralsage bedeutete, daß manche Forscher diese Ebenen gegeneinander setzten. Zum
Beispiel Wilhelm Stapel charakterisiert näher die beiden Ebenen mit Begriffen wie
„Ordensrittertum“ und „Minnerittertum“. Der erste Begriff hat seinen Ziel im Gralsburg,
der zweite Minneburg, anders Chastel Merveille, wo Gâwân den Reich von feierlichem,
franko – normannischem Leben gründet, wo alles der Liebe untergeordnet ist. Dagegen
Mont Salvage ist ein Platz des Kampfes von Parzivâl um „seinen Gott“.8 Der Autor
versuchte das Weg von Parzivâl am bestens wie möglich zu beschrieben. Manchmal ist
es so weit weg vom Artushof und von der Ritterschaft, dass die ultimativen Fragen
irgendwo in der Futur liegen. So ist es auch in diesem Fall. Der Held sitzt neben seiner
Frau beim Lagerfeuer und beobachten ihre schlafende Kinder. Diese Szene scheint
kaum als eine Gralssuche, aber erst hier findet Parzivâl seinen inneren Frieden und sein
Begreifen, das Gral.
         Das Mittelalter ist erzählt als eine Zeit voll von Veränderungen und Übergängen.
Die Artusritter sind zwar ins Reich der Fabel verwiesen, die Gralssuche ist aber
     7
         http://deutschland.white-society.org/?p=1193319654 (vom 4.4.2008).
     8
         Eschenbach, Wolfram von: Parzial.Praha: Aula, 2000. S. 447.

                                                 19
säkkularisiert und verbürgerlicht. Muschg nimmt sich , angesichts der politischen und
wirtschaftlichen Bedingungen heute, die Freiheit heraus, zu träumen, wie es auch
verlaufen können hätte. Suche nach dem Gral verwandelt sich in Muschgs Roman
konsequent in eine Geschichte der Persönlichkeitswerdung. Nicht das pseudochristliche
Amt der Gralswacht steht am Ende seiner Reifprüfungen, sondern die Erkenntnis von
zwischenmenschlicher Verantwortung. Glücklich mit seiner Frau und Kindern tritt er
den Beruf des Bürgerkönigs an. Ein echtes Happyend der männlichen Fehlbarkeit also.
         Muschgs Gralskonzept grenzt sich klar von einer esoterischen Auslegung ab.
Neomystische Tendenzen und Heilsversprechungen durch ein Kulturobjekt wurden gar
nicht erst zugelassen. Vielmehr schlieβt Muschgs philosophischer Ansatz von der
zusammenführenden Existenz des Gegensätzlichen ( z.B. Mann – Frau, Freund – Feind )
auch den Gral mit ein. „Der Gral ist ein Symbol für die Untrennbarkeit der Gegensätze
im Kern aller Dinge.“ 9 Aber mit welchen äuβerlichen Merkmalen stattet Muschg seinen
Gral aus? Wie kam der überirdische Gegenstand in den Besitz des Gralsgeschlechts?
Man wird berichtet quellentreu, dass Titurel das Gefäβ geerbt habe, „in dem Joseph von
                                                                                                 10
Arimathia, Besitzer des Heiligen Grabes, das Blut des Herrn aufgefangen hatte“
Muschg zitiert hier die christliche Auslegung, spricht aber nicht von einem Kelch,
sondern von einer Schale wie in Chrétiens Perceval. Die Schale veränderte laut Erzähler
im Roten Ritter ihr Aussehen und mutierte zu einem Stein. Der Gral wird hier bereits in
seiner Entstehungsgeschichte einem Wandel unterzogen. Die Blutschale, die „durch die
Zeiten weitergereicht worden“ 11 war, veränderte sich mit ihren Besitzern und diese sich
mit ihrem Besitz. Durch die Mitation des Grals im Laufe seiner Geschichte kombiniert
der Autor die Schale- mit der Steinvariante. In dem Art von Stein finden wir einen
wesentlichen Unterschied zu Wolfram. Im Parzival von Wolfram wird der Gral zwar
charakterisiert, seine Stellung, Funktion und Wirkung beschrieben, es fehlt uns jedoch
die Beantwortung der Frage, wie der Gral enstand. Muschg hingegen zeigt uns den Gral
ambivalent wie das menschliche Wesen. Der Gral als höchstes Ziel der Artusritter
entstammt der Krone jenes Engels, der den Kampf gegen Gott aufnahm. Die Schale
mutiert zum Stein des Bösen, zur Metapher des gefallenen Engels. Die neutralen Engel
werden im Roten Ritter auch als Strafe für ihre Unentschiedenheit als Gralshüter

     9
        „Liebe, Literatur und Leidenschaft.“ Adolf Muschg im Gespräch mit Meinhard Schmidt –
     Degenhard, Zürich: Pendo, 1995. S. 187.
     10
         Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S.
     205
     11
        Ebenda, S. 205.

                                               20
bestimmt. Die Doppeldeutigkeit des Grals ist in dem Text auffälliger als in dem Buch
von Wolfram.

5.8 Der Artushof

       Muschg erzählt die Lebesnweise des asketischen Gralsvolkes sehr interessant.
Sie ähneln Untotetn einer erloschenen Welt, Munsalvaesche gleicht einem Gefängnis.
Durch Parzivâl und Feirefiz verändert sich das Gralsvolk und übernimmt begeistert
höfische Rituale wie z.B. den Turnierkampf. Einige Vorfälle im Roten Ritter können als
unhöfisch bezeichnet werden – z.B. die körperliche Züchtigung der Hofdame
Cunneware, das Hinnehmen eines Verwandtenmordes mit dem Tod Ithers usw. Das
alles ist bei Chrétien, Wolfram und bei Muschg zu finden.
       In dem Werk finden sich neben der Darstellung des Artushofes als zeitweiligen
Schauplatz des Geschehens auch Szenen, in denen auf die arturische Gesellschaft Bezug
genommen wird, indem einzelen Romanfiguren mit ihren Aussagen über die
Artusgesellschaft die Verfasstheit derselben wiedergeben. Im weiteren Verlauf des
Romans wird sich zeigen, dass auch das arturische Heil ein zerbrechliches Ding ist. In
dem Roman von Muschg lassen sich die Stellen, die die arturische Gesellschaft
behandeln, in drei Bereiche gliedern. Erstens sind es die Schauplätze der Artuswelt, die
Burg, die Stadt und das Feld. Der erste Punkt konzentriert sich auf die Darstellung der
geographischen und objektbezogenen Lebenswelt. Welche Rolle der runde Tisch, die
Burg in Nantes, sowie Schauplätze eines mobilen, reisenden Artushofes im Roten Ritter
einnehmen. Zweitens handelt es sich um Artus selbst, er wird als König zwischen
Lustbarkeit und Diplomatie bezeichnet. Und drittens is es die arturische Gesellschaft,
die Rittertum und Minne.
       Hauptsitz des Artushofes ist in diesem Roman und auch in dem Epos von
Wolfram die Stadt Nantes. Heute ist es die Hauptstadt der region Pays de la Loire, im
Mittelalter ein Sitz der Herzöge der Bretagne. Der arturische Stammsitz kommt von
auβen betrachtet einem verwïnschenen Märschenschloβ gleich. Er sieht unwirklich, aber
stolz und kunstvoll aus. Die zahlreichen runden Türme lassen an eine Burganlage wie
Carcassonne im Languedoc denken. Bisherige Lebensumgebung Parzivâls war der Wald
von Soltane. Nun begegnet ihm ein Bauwerk, das mit der Metapher „steinerner Wald“
auf Parzivâls gewohnte Umgebung anspielt und sie so in Bezug zu dieser neuen und

                                          21
fremden Welt setzt. Muschg scheint hier eher das Neuartige, für parzivâl Fremde
hervorheben zu wollen, als die Pracht und den Reichtum zu schildern.

6. Das Spiel mit dem Spiel in dem Werk

          Die   Ausgestaltung   des   Vermittlungsprozesses        und     die   Reflexion    der
Mittelbarkeit sind im Roman Der rote Ritter zentrale Momente. Die komplexe
erzählerische Anlage des Romans verhindert eine einfache Einordnung der
Erzählsituation in ein erzähltheoretisches Modell. Der Roman spielt nicht nur mit seinen
Inhalten und Figuren, sondern insbesondere auch mit seinem Erzählen. In dem dritten
Teil des Buches ist es der Augenblick, als Parzivâl die Gralsburg erreicht. In der
ausführlichen Überschrift zum Kapitel heiβt es so auch, Parzivâl gelange hier ins
„Zentrum seiner Geschichte“ 12. Dies erweist sich als Zentrum in vielerlei Hinsicht, dass
gerade hier auch vom Erzählen die Rede ist, zeigt auf, wi wichtig für diesen Roman die
Auseinandresetzung mit seinem Erzählen ist. Parzivâl kommt später nicht nur ins
Zentrum der Erzählung, er kommt zugleich in das Erzählzentrum.
          Auf oberster Ebene reflektiert das Werk nicht nur den wichtigen Bezug zur
Vorlage zu diesem Roman, sondern macht von Anfang an deutlich, dass hier erzählt
wird. Die Untersuchung zum Spiel zeigt es in dem Werk auf mehreren Ebenen und
Verständnisstufen. Das mittelaterliche Geschehen wird teilweise verfremdet, aber auch
betsimmten Rezipienten nähergebracht, wenn etwas mithilfe einer umgangssprachlichen
Wendung aus dem Neuhochdeutschen erklärt wird. Solche und ähnliche Brüche
schaffen spielerisch die Aufmerksamkeit des Rezipienten und binden ihn gleichzeitig in
die Handlung mit ein. Besonders auffälig sind Textelemente aus den Sequenzen mit
Bildschirmtexten von Gardevîas. Anweisungen und ein Inhaltsverzeichnis stehen in
Kapitälchen und vom anderen Flieβtext abgesetzt. Die Sprache besteht aus
Mittelhochdeutsch, Fränkisch, veralteten und umgangssprachlichen Begriffen. Autors
Spiel mit Sprach- und Zeitepochen findet seinen Niederschlag auch auf lexikalischer
                                                                 13
Ebene. Gramovlanz erholt sich auf einem „Wasserbett“                  , Sigûne spielt mit einem
Notebook, beides Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Die Artusgesellschaft probiert das
„grüne Eis“ 14 und ein Kanvoleiser Bürger nimmt die Zukunft voraus, indem er ausruft:

     12
        Muschg,, Adolf: Der rote Ritter. Die Geschichte von Parzival.Frankfurt: Suhrkamp, 1993. S.
     489.
     13
        Ebenda, S. 815.
     14
        Ebenda , S. 545.

                                               22
„Wenn doch das Fernglas erfunden wäre!“ 15 Zu erwähnen sind auch Muschgs Vorliebe
für rhetorische Figuren, insbesondere für rhetorische Fragen, wie zum Beispiel „Strenge
[…] Stränge“ 16 oder „Lesen und Leben […] Haut und Haar.“ 17 „Der Ausdruck von der
Literatur als Spiel hat gerade bei diesem Werk eine so deutliche und vielgestaltige
Anschaulichkeit, dass sich das Spiel auf keinem Rezeptionsniveau, keiner Textebene
und selbst bei sehr rudimentärer Leseart nie auf die der Literatur eigenen Fiktionalität
reduziert.“    18
                    Muschg zeigt damit, dass er am Schreiben für einen Relativ
unspezialisierten Leserkreis immer noch festhält. Bei diesem Buch wird der literarische
Spielbegriff unter der Annahme des Konzeptes vom Autor als empirische Person und
intentionale Instanz erweitert.

7. Zusammenfassung des inhaltlichen Vergleichs mit Wolframs
Parzivâl anhand von Herzeloydefigur

           Muschgs Herzeloyde ist ernsthaft, streng, willenstark und gewohnt, ihren Willen
durchzusetzen. Als Gralstochter distanziert sie sich von anderen Menschen und sieht auf
diese herab, mit Ausnahme von Sigûne, die ihre Nichte ist und auch vom Gral stammt.
Bei Wolfram tritt Herzeloyde als höfische Königin auf. Ihre Schönheit ist Ausdruck
ihrer Tugendhaftigkeit. Der Erzähler betont Herzeloydes Hingabe und Liebe zu
Gahmuret und Parzivâl. Als Gahmuret in Kanvoleis erscheint, erregt er in beiden
Erzählwerken Herzeloydes Aufmerksamkeit und wird von ihr begehrt. Doch der Weg zu
diesem Ziel und das Ziel sind in beiden Meisterwerken unterschiedlich.
           Muschgs Herzeloyde fühlt sich durch Gahmurets provokante Gelassenheit
gereizt. Angetrieben durch ihren Machtwillen zwingt sie Gahmuret in ihren Dienst. Ihre
Anteilnahme an seinem Turniergeschick zeigt die Stärke ihrer Gefühle für ihn. Ohne
Zögern verstöβt sie gegen höfiscche und christliche Gebote und erklärt Gahmuret gegen
seinen Widerstand und den anderer zum Sieger. Hinter dem Willen, Gahmuret zu
heiraten, steht der Wunsch nach einem Kind und der Drang, aus den Gralsnormen
auszubrechen, sich maβlos ihrer sexuellen Lust hinzugeben. Nichts davon findet sich bei
Wolfram. Zwar wirbt sie auch hier um Gahmuret, doch dieser bestimmt das weitere

      15
         Ebenda, S. 29.
      16
         Ebenda, S. 200.
      17
         Ebenda, S. 660.
      18
         Niermann, Anabel: Das ästhetische Spiel von Text, Leser und Autor : Intertextualität
      neu gedacht an Adolf Muschgs "Parzival"-Rezeption "Der Rote Ritter" ; eine Geschichte von
      Parzival am Beispiel der Frauenfiguren . Frankfurt a. M: P.Lang Verlag, 2004. S. 251.

                                                 23
Geschehen und der Empfang verläuft nach höfischr Art. Bei Muschg erkennt
Herzeloyde, dass sie Gahmuret gleichgültig ist. Mithilfe einer List erreicht sie, dass sie
von ihm schwanger wird. Sie erwartet nun einen Sohn, den sie als Gottesmutter zum
Erlöser erziehen will und damit ist Gahmuret für Herzeloyde für sie unwichtig
geworden. Bei Wolfram weren Herzeloydes Gefühle von Gahmuret erwidert. Sein Tod
trifft sie existentiell. Die Trauer um ihn ist stärker als die Freude über Parzivâls Geburt.
       In beiden Werken ist Herzeloyde der Erziehung von Parzivâl nicht gewachsen.
Im Wunsch, ihn bei sich zu behalten, erzählt sie Missverständliches und Falsches und
enthält ihm Wissen vor. Hinter ihrer Lehre steht vor allem die Einsicht, Parzivâl an die
höfische Welt zu verlieren und ihn deshalb auf diese vorbereiten zu müssen. Sie bereitet
sich innerlich auf Parzivâls Aufbruch vor, indem sie mit ihrem Leben abschlieβt. Bei
Wolfram realisiert sie erst bei Parzivâls Aufbruch, dass er sie verlassen wird. Bei
Wolfram erscheint Herzeloyde als tugendhafte Heilige. Im Roten Ritter wirkt sie eher
egoistisch, wie sie Gahmuret benutzt und sich durch Parzivâl verwirklicht. Die
Herzeloydefigur zeigt sich in dem Werk von Muschg als ein widersprünglicher
Charakter, der in einem diktatorischen Gesellschaftsystem als Elite aufgewachsen ist.
Trotz ihrer Intelligenz gelingt es ihr nicht, sich von der Gralsart zu lösen. Essays und
komentierende Texte von Muschg zeugen davon, dass der Autor in der Condwîr amûrs –
Handlung deutlicher und differenzierter als in der Herzeloydehandlung eigene
Wunschvorstellungen verarbeitet hat. Religiöse Haltungen, Werte und Normen und das
Idealbild einer Ehe und Partnerschaft werden hier zum Groβteil in der Figur von
Condwîr amûrs bzw. Anhand ihres Verhaltens vorgestellt, diskutiert und entwickelt.
Beide Figurencharaktere werden bei Wolfram als treu liebende, tugende Schönheiten
darfestellt, bei Muschg wird Herzeloyde zumeist als ehrgeizige Gralsfrau dargestellt.
Condwîr amûrs verändert Muschg dagegen zur emanzipierten, engagierten Ehefrau,
Landesherrin und Mutter. Wolfram preist die Schönheit beider Frauenfiguren mit
typischer mittelalterlichen Preismetaphorik, zugleich auf die Tugendhaftigkeit der
Frauenfiguren verweist. Während Herzeloydes Äuβeres als Mutter nicht mehr
beschrieben wird, steht Condwîr amûrs Äuβeres nach ihrer Berufung zur Gralskönigin
im Vordergrund ihrer Darstellung und wird mit Begriffen der Metaphorik über die
Schönheit aller anderen Frauen gestellt.
       Übereinstimmungen zwischen dem Roten Ritter und dem Parzivâl von Wolfram
sind das weiβe Hemd, das Herzeloyde Gahmuret als ein Minnezeichen mitgibt und die
Ehehaube, die sich Condwîr amûrs nach der ersten Hochzeitsnacht umbindet. Während

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die Ehehaube in beiden literarischen Texten die liebende Verbundenheit zum Ehemann
symbolisiert, wird das weiβe Hemd bei Wolfram zu einem Symbol für die
anteilnehmende Liebe und im Roten Ritter zum Symbol für die Gefährlichkeit des
Ritterdaseins. Kleidung signalisiert bei Wolfram den Status und das Anlegen von
Kleidung symbolisiert das dazugehören zu einer bestimmten Lebensform sowie
gesellschaftlichen Schicht und die Erlangung von Identität. 19

8. Parzivâl im Theater
8.1 Uraufführung in Hannover

          Adolf Muschgs Neufassung von Parzivâl erzählt vom Ritter als modernem
Menschen. Sein Lebenswerk kommt auf die Bühne in einer Uraufführung in Hannover
am 27. März 2004. Muschg hatte nach dem Anruf des Regisseurs Stefan Otteni eine
eigene dramatische Skizze seines Werkes angefertigt. Otteni, der vorher Die Brüder
Löwenherz für das Schauspiel im Hannover bearbeitete, bestand aber auf dem Roman,
nicht auf der Bearbeitung und beteuerte, daß er gerade dessen enorme Komplexität des
Werkes schätze. Muschg läßt ihm seitdem freie Hand und Otteni nahm diese mehr als
1000 Seiten auf die Bühne. Clemens Schick ist der Schauspieler, der in der Adaptation
des Romans für das Schauspiel Hannover den menschlichen Helden aus dem Heilsritter
gewinnen soll. Und dabei gehört ihm die schwierige Aufgabe, maßlose Dummheit zu
spielen. Im Schauspielhaus Hannover hebt sich der Vorhang und ein Trio am Rand der
Bühne, von elektrisch verstärkter Geige und Harfe begleitet, bestimmt das Tempo des
Spieles. Es beginnt eine wilde Revue, die den größten Teil der Zuschauer lang
begeistert, amüsiert und auch etwas ratlos macht.
          In der knapp dreistündigen Inszenierung von Stefan Otteni beginnt Parzivâl
seine Reise zur Menschenwerdung mit der Pubertät. Aus dem rebellischen Konflikt
zwischen der totalen Naivität, in der seine Mutter Herzeloyde ihn als Eignung für das
Gralsamt halten will und einer pochenden Geilheit, lebt er das Rücksichtslose von
Unschuld aus. Daß der Wert des Lebens in einer Mäßigung von Extremen, wie Morden,
Stehlen und Prahlen, liegt, ist zunächst nur in einem begleitenden Stirnrunzeln versteckt.
Die Entwicklungsparabel inszeniert Otteni mit leichter Hand und mit dem Sinn für
Situationskomik. Vorzüglich der kraftvolle Clemens Schick als zunächst tumber, dann

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       Speckenbach, Klaus: Ritter – geselle – herre. Überlegungen zu Iweins Identität. In: Erkennen
     und Erinnern in Kunst und Literatur. Tübingen, 1998 S. 115 – 146.

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