WER bist du, HELMO? Reiner Ringsdorf - FFH

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WER bist du, HELMO? Reiner Ringsdorf - FFH
Reiner Ringsdorf

                           WER bist du, HELMO?

                   Die Geschichte eines Findelkindes im Mittelalter
WER bist du, HELMO? Reiner Ringsdorf - FFH
Der zehnjährige Helmo lebt auf Burg Felsenstein. Als Säugling am Burgtor ausgesetzt,
von den Burgbewohnern aufgenommen und großgezogen, möchte er nun unbedingt
wissen, wer seine Eltern sind und woher er kommt.

Ein rätselhaftes Medaillon, das in seinem Körbchen lag, soll ihm nun helfen, seine
Herkunft herauszufinden.

Hildegundis, die Tochter des Ritters Enzo von Felsenstein, ein Jahr älter als Helmo,
möchte dem kleinen Knecht ihres Vaters helfen.
Ob es ihnen gelingt, das Geheimnis seiner Herkunft zu lösen?

Wie sieht seine Zukunft aus?

                                           Für

                                         EMILIA

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WER bist du, HELMO? Reiner Ringsdorf - FFH
Vom Autor bereits erschienen und im Buchhandel erhältlich:

„Die kleine Eidechse im Bienengarten“
Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt, 2019
ISBN 9 783749 470204

„Abenteuer der kleinen Eidechse im Bienengarten“
Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt, 2020
ISBN 9 783750 499232

2021 Ringsdorf, Reiner

Herstellung und Vertrieb durch den Autor

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WER bist du, HELMO? Reiner Ringsdorf - FFH
Ein neuer Tag

„Helmo!“, ein Schrei schallte am frühen Morgen durch die Scheune. Die Tiere im
angrenzenden Stall - Pferde, Kühe, Schweine - wurden unruhig, wieherten, muhten,
grunzten.
„Helmo!“, noch einmal hallte die schrille Stimme der Magd Berta durch die Scheune. Die
kräftigen Arme in die Seite gestützt, stand Berta am Fußende der Leiter, die von der
Scheune hinauf auf den Heuboden führte. „Was denkt sich der Bursche dabei, die Arbeit
zu verschlafen? Na warte, das gibt eine deftige Tracht Prügel - wenn ich dich erwische!“
Verärgert stapfte Berta davon, nicht ohne vor sich hinzubrummeln: „Hat sich bestimmt
wieder die halbe Nacht herumgetrieben. Wenn das mal gutgeht!“
Schließlich hatte Helmo die Aufgabe, ihr bei der Versorgung der vielen Tiere auf Burg
Felsenstein zur Hand zu gehen.
Berta war in gewisser Weise für Helmo verantwortlich geworden, nachdem Ursel, die
den kleinen Helmo aufgezogen hatte, vor vier Jahren verstorben war. Ursel hatte sich
ihm gegenüber wie eine Mutter verhalten, so empfand es Helmo in seiner Erinnerung.
Mit Berta war es da schon anders.
Eigentlich mochte er die dicke Berta, wie die anderen Bediensteten der Burg sie
nannten. Sie war hilfsbereit, gutmütig und steckte ihm auch immer wieder mal einen
kleinen Leckerbissen zu.
Ihm, der ständig hungrig war und nie satt wurde von dem, was ihm am Ende der Tafel
im großen Saal der Burg Felsenstein zufiel.
Ihm, dem Niemand, von dem keiner wusste, woher er kam und wer seine Eltern waren.
Aufgetaucht aus dem Nichts, am Burgtor abgelegt, aus Mitleid aufgenommen, geduldet,
aber mittlerweile auch zu einem brauchbaren Mitglied der Burggemeinschaft geworden.
Meistens jedenfalls, außer an einem Tag wie heute, wo er nun wirklich keine Lust
verspürte, am Alltagsleben der Burgbewohner teilzunehmen.
Helmo räkelte sich auf seinem stacheligen Heulager unter dem Dach der Scheune. Hier
oben war nicht nur sein Schlafplatz, hierher konnte er sich auch zurückziehen, wenn er
nachdenken und alleine sein wollte.
Berta würde es nie wagen, die wacklige Leiter hochzuklettern.

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          Achtung: Bei diesem Zeichen gibt es immer eine Frage! Wenn du möchtest,
          kannst du sie beantworten!
          Wie heißt die Burg, auf der Helmo lebt?   _________________________

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Natürlich wusste Helmo, dass es für ihn sehr unangenehm werden konnte, wenn er
seine ihm übertragenen Aufgaben nicht erledigte. Die vielen Prügel, die der nun
Zehnjährige bisher einstecken musste, hielten ihn nicht davon ab, seinen eigenen
Dickkopf durchzusetzen.
Was er heute Nacht bei einem seiner Streifzüge durch die Burg entdeckt hatte, war ihm
eine Tracht Prügel wert. Natürlich war er jetzt unausgeschlafen und müde und hatte
keine Lust, seinen täglichen Aufgaben nachzukommen.
Aber, um die ganze Sache nicht noch schlimmer zu machen, musste er in den sauren
Apfel beißen und hinab in das Unausweichliche klettern.
Insgeheim hatte er gehofft, dass Berta seine nächtlichen Ausflüge nicht mitbekam. Sie
hatte ihr Schlaflager in einer Ecke der Scheune. Weil sie dort manchmal nicht alleine
war, sondern Besuch von ihrem Freund Bruno, dem Schmied, bekam, konnte sich Helmo
nicht sicher sein, ob sie etwas merkte oder nicht.

Helmos erste Aufgabe am Tag bestand darin, die Eier der großen Hühnerschar
einzusammeln und in die Küche zu bringen.
In einem kleinen Anbau an die Scheune, der als Hühnerstall diente, waren die Nester
vorbereitet, in denen die Hühner ihre Eier legten.
Natürlich kannte Helmo auch die Stellen, an denen ein Huhn mal außer der Reihe ein Ei
hinlegte.
Und natürlich wusste Helmo, was er mit einem solchen Ei zu machen hatte:
auszuschlürfen. Denn das bedeutete für den immer Hungrigen eine kleine
Entschädigung für das armselige Essen am Ende der ritterlichen Tafel.

Mit einem tiefen Seufzer wälzte sich Helmo durch das Heu Richtung Luke und Leiter.
Ein kurzer Blick nach unten genügte ihm, um zu wissen, dass Berta nicht auf ihn wartete.
Also kletterte er rasch die Leiter hinunter und schnappte sich den Korb, den er für seine
erste Tätigkeit neben der Leiter abgestellt hatte.
Weil er ja spät war, nahm er nur die Eier aus den Nestern im Hühnerstall und verzichtete
darauf, in den Geheimverstecken nachzuschauen.
Mit gut zwei Dutzend Eiern im Korb beeilte er sich in die Küche zu kommen, immer
darauf bedacht, mit seinen nackten Füßen nicht im Dreck des Burghofes auszurutschen
und hinzufallen.
Zwar besaß er ein Paar Holzschuhe, die aber waren ihm mehr hinderlich als dass sie
etwas nützten. Jetzt zu Beginn des Frühjahrs und den ganzen Sommer über lief er lieber
barfuß.
Dann war er auch schneller. Und schnell musste er manchmal sein!

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So früh am Morgen, als es allmählich hell wurde, war es noch recht ruhig auf dem
Burghof. Nur wenige der Bediensteten begegneten ihm und erwiderten seinen Gruß nur
mürrisch und unausgeschlafen. Sie führte ihr Weg in den Stall oder dahinter, um ihre
morgendliche Notdurft zu verrichten.
Nach der „Morgentoilette“ begann jeder mit der ihm zugedachten Aufgabe. Eine erste
Mahlzeit gab es erst später, wenn die Köchin alles vorbereitet hatte.

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Eine Toilette, ein Plumpsklo, ein einziges, gab es nur im
Schlaftrakt der Burg, der Kemenate, und war natürlich nur
den Herrschaften zugänglich. Durch ein Loch im Fußboden
fiel der Kot an den Fenstern der unteren Geschosse vorbei
oder, wenn der Wind es wollte, schon einmal gegen das
Gemäuer oder in die Fensteröffnung.

Kein schöner Anblick, fand Helmo.

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        Hier kannst du sehen, aus welchen Gebäuden und Einrichtungen eine Burg im
        Mittelalter bestand.
        Die Burg, auf der Helmo lebt, sieht etwas anders aus.

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Helmo erreichte die Küche, als die ersten Sonnenstrahlen den Bergfried in ein
glänzendes Licht verwandelten. Aber dieses Schauspiel zu bewundern, hatte er nun
wirklich keine Zeit.
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          So könnte die Küche ausgesehen haben, in die Helmo die Eier bringt.

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Kaum hatte er die Tür geöffnet, ertönte die schrille Stimme der Köchin Agnes.
„Beehrt mich der Herr endlich, schön Euer Gnaden. Wie soll ich pünktlich Essen auf den
Tisch bringen, wenn mir die Eier fehlen? Mach voran, Bursche, oder ich zieh dir die
Ohren lang!“
Vorsichtig näherte sich Helmo der mageren Bohnenstange, immer darauf bedacht, nicht
in ihre Reichweite zu gelangen. Wie konnte eine Köchin nur so hager und mager sein,
bekam ihr das selbst gekochte Essen etwa nicht? Oder traute sie ihren eigenen
Fähigkeiten nicht?
Helmo war es eigentlich gleichgültig, bestand sein Essen doch größtenteils aus Brei in
allen Variationen, dünnen Suppen und harten Kanten vom tagealten Brot.
Fleisch kannte er so gut wie gar nicht. Wenn er Glück hatte, fiel an Sonn- oder
Feiertagen mal ein Knochen für ihn ab. Und wenn er viel Glück hatte, hing noch ein
Zipfel Fleisch daran.
„Stell den Korb auf die Anrichte und sieh zu, dass du genug Feuerholz heranschleppst!“,
wies ihn Agnes an.
„Das ist gar nicht meine Aufgabe, ich muss Berta bei den Tieren helfen“, versuchte
Helmo sich vor der Aufgabe zu drücken.
„Nichts da, du machst das, was ich dir sage. Kuno ist gestern Abend gestürzt und kann
nicht laufen, also wirst du seine Aufgaben übernehmen. Verschwinde!“
Der alte Kuno lebte schon immer als Knecht auf Burg Felsenstein.
Mit zunehmendem Alter nahm seine Kraft ab und er konnte nur noch leichte Arbeiten
verrichten. Auch wurde er immer anfälliger für Krankheiten. Man munkelte, es sei
sowieso ein Wunder, dass er den strengen Winter überlebt habe. Manchmal hatte man
ihn tagelang sein Lager in einer Ecke hinter der Herdstelle nicht verlassen sehen.
Helmo tat der alte Mann leid, war er doch einer der wenigen Menschen auf der Burg,
die immer ein freundliches Wort für ihn hatten.
Und spannende Geschichten über wilde Tiere, Geister, Turniere und Schlachten der
Ritter konnte er stundenlang erzählen.

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Also beschloss Helmo, dem alten Kuno zuliebe das Feuerholz heranzuschaffen.
Kaum näherte er sich jedoch den Stallungen, kam auch schon Berta aus der Stalltür, in
jeder Hand einen Milcheimer.
„Es ist höchste Zeit, Bürschchen, dass du kommst. Hier, nimm die Eimer und trag sie zur
Agnes, die wartet bestimmt! Und sieh zu, dass du die Schweine herauslässt! Du weißt,
dass du heute die Schweine hüten musst“, ereiferte sie sich.

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Helmo ersparte sich jede Bemerkung, nahm die vollen Eimer entgegen und marschierte
erneut über den Burghof Richtung Küche.
Als er gerade überlegte, wie er denn die Tür öffnen sollte, flog sie auf und mit einem
heftigen Wumms gegen einen der Eimer. Dadurch schwappte natürlich Milch aus dem
Eimer auf den Boden. „Das gibt ja schon wieder Ärger“, durchzuckte es Helmo.
Vor ihm stand strahlend Georg, einer der beiden Knappen des Ritters Enzo von
Felsenstein. „Heute ist ein herrlicher Tag zum Kämpfen! Also sieh zu, dass du nach dem
Frühmahl im Zwinger erscheinst!“, befahl er in herrischem Tonfall. Das hatte dem armen
Helmo zu seinem Glück heute noch gefehlt, sich von dem größeren Georg an einem der
ersten warmen Frühlingstage verprügeln zu lassen.

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Ritter Enzo bildete zwei Knappen aus. Georg hatte mit seinen 12 Jahren bereits einige
Jahre der Ausbildung hinter sich, der neunjährige Johann lebte dagegen erst seit einem
Jahr auf dem Felsenstein.
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                       Knappe             Ritter               Gefolgsmann

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Bei einem Sturz vom Pferd hatte Johann sich vor wenigen Tagen die Schulter
ausgekugelt und konnte so an den täglichen Kampfübungen nicht teilnehmen.
Also musste Helmo einspringen, was bedeutete, dass er Prügel bezog, denn er kam ja
nicht in den Genuss einer ritterlichen Ausbildung. Immerhin besaß Georg so viel
Freundlichkeit, ihm die Tür aufzuhalten.
Agnes, die mit dem Rücken zur Tür vor dem Herd stand, fing sofort an zu keifen.
„Wird auch Zeit, dass du das Holz bringst. Wie soll ich sonst den Brei kochen?“
Als sie sich drohend umdrehte, fiel ihr die Kinnklappe nach unten.
„Das ist doch …! Das ist doch …!“ Weiter kam sie nicht, denn plötzlich stand Ritter Enzo
in der Tür. Seine mächtige Gestalt füllte den ganzen Türrahmen aus.
„Agnes, gib mir ein Stück Brot, und du, Helmo, lauf zum Stallmeister, er soll meinen
Hengst Adalwin und drei weitere Pferde satteln lassen. Los, verschwinde!“
Fast hätte Helmo die Eimer fallen lassen. „Oh, nein, keinen neuen Ärger“, erfasste ihn
ein schrecklicher Gedanke. Er stellte die Eimer mitten in der Küche ab und machte sich
schleunigst auf den Weg, ohne nur ein Wort hervorgebracht zu haben.
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Quer über den Burghof, am Brunnen vorbei, rannte er Richtung Torhaus. Das kleine
Fachwerkhaus wurde vom Burgvogt, der auch gleichzeitig Stallmeister war, mit seiner
Familie bewohnt.
Schon weit vor der Eingangstür brüllte Helmo los: „Stallmeister! Stallmeister Richard!“
Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und Richard heraustrat. „Was schreist du
so, brennt es? Oder sind gar Feinde im Anmarsch?“
„Ihr sollt ganz schnell Adalwin und noch drei Pferde satteln!“
„Befiehlt wer?“, entgegnete der Stallmeister in seiner gewohnt ruhigen Art.

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„Der Herr natürlich, er will gleich losreiten.“
„Gestern hieß es, nach dem Frühmahl. Warum jetzt die Eile?“
„Das wollt Ihr von mir nicht wissen, mir sagt doch keiner was.“
„Sei nicht so vorlaut, Junge. Du weißt, wozu das führen kann!“
Richard eilte davon und schrie nach den beiden Stallburschen.
Helmo wandte sich dem Schuppen hinter den Stallungen zu, um von dem dort
gelagerten Feuerholz in die Küche zu schleppen. Einen großen Weidenkorb füllte er so
voll, dass er ihn sich kaum auf die Schulter wuchten konnte.
Helmo war für sein Alter zwar kein Schwächling, aber die kärgliche Kost und der harte
Winter hatten ihm zugesetzt. Mit Georg konnte er nie und nimmer mithalten.

                                            Nachdem er zwei weitere Körbe in die
                                            Küche geschleppt und dort neben der
                                            offenen Herdstelle gestapelt hatte, fand er
                                            dann endlich die Zeit, die Schweine aus
                                            ihrem Stall zu lassen.
                                            Sollten sie sich die nächste Stunde auf dem
                                            Burghof tummeln, genug zu fressen
                                            würden sie in dem angesammelten Unrat
                                            allemal finden.

                                            Dann war es endlich soweit, dass Agnes die
                                            Glocke neben dem Eingang zur Küche
                                            läutete, ein Zeichen, sich zum Essen in der
                                            großen Halle einzufinden.

Aus allen Richtungen strömten Mägde und Knechte
herbei und stiegen die wenigen Stufen der breiten
Treppe hinauf, die zur Halle führte. Die Halle lag
genau wie die Küche im Erdgeschoss des größten
Gebäudes der Burg.
Nur durch einen Flur und das Treppenhaus, das in das
erste Obergeschoss führte, waren Saal und Küche
getrennt. Das erleichterte das Auftragen des Essens
gewaltig.

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Gab es ein Fest zu feiern oder waren adlige Gäste auf der Burg, benutzte man den
Rittersaal im ersten Obergeschoss. Dann hieß es für alle Bediensteten, das Essen die
steile Treppe nach oben zu schleppen.
Helmo hatte seinen Platz zwar auf der Seite zur Küche, aber was bedeutete das schon?
Die Köstlichkeiten wurden stets auf der anderen Seite der Halle, vor dem großen
offenen Kamin, dort wo die Herrschaften saßen, abgestellt.
Heute saßen dort nur die Kinder des Ritters, Burgherrin Hildegard und Ritter Enzo
fehlten, was nur sehr selten vorkam. Auch Burgvogt und Stallmeister Richard fehlte
genau wie einige der Gefolgsleute des Ritters.
Das war der Grund, warum heute die Mahlzeit nicht schweigend eingenommen wurde,
sondern eifrig und lautstark durcheinander gesprochen wurde.

Nach einem kurzen Gebet von Pater Konrad, das mit der Bitte an den Herrn für einen
segensreichen Tag endete, setzte nämlich allgemeines Geplapper ein.
Dem auf der langen Tafel in Schüsseln verteilten Haferbrei wurde fleißig zugesprochen.
Tafel war nicht unbedingt die richtige Bezeichnung. Auf Holzböcke hatte man längs
durch den großen Raum Holzplatten gelegt, das war es.

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Allein am Ende, da wo die Familie des Ritters speiste, war ein leinenes Tischtuch
ausgelegt. Nach jeder der beiden Mahlzeiten am Tag wurden Böcke und Holztafeln
entfernt. Nachts wurde der Platz benötigt, weil ein Teil der Mägde und Knechte hier auf
dem Fußboden schlief. Waren Gäste auf der Burg, mussten deren Bedienstete ebenfalls
in der Halle schlafen.
Helmo hatte an diesem Tag zum ersten Mal ein Gefühl von Glück. Die beiden Stall-
burschen, die ihren Platz in seiner direkten Nachbarschaft hatten, waren noch nicht
erschienen. Auch der verletzte Knappe Johann fehlte, sodass weniger Löffel als sonst in
die Schüssel mit dem Haferbrei eintauchten.
So schnell es eben ging, schaufelte Helmo den Brei in sich hinein.
Vom harten Brot hatte er sich ein großes Stück abgerissen und unter seinem
schmutzigen Hemd verschwinden lassen. Für alle Fälle eine kleine Notration.

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           Hast du gut aufgepasst? Was bekommt Helmo zu essen?

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Helmo konnte nur erahnen, dass Pater Konrad am anderen Ende der Tafel ein
angeregtes Gespräch mit den adligen Kindern führte. Gespräch war vielleicht nicht ganz
richtig, denn eigentlich redete nur der Pater auf die Kinder ein.
Helmo hatte das Gefühl, als würde Hildegundis manchmal die Augen rollen, wenn sie in
seine Richtung blickte. Er kam zu dem Entschluss, heute unbedingt Kontakt zur Tochter
des Ritters aufzunehmen.
Durfte er sie in das, was er in der Nacht herausgefunden hatte, hineinziehen?
War es sinnvoll, sie um Hilfe zu bitten?
Helmo wusste, dass Hildegundis sich heimlich Lesen und ein bisschen Schreiben
beigebracht hatte. Für ein Mädchen, selbst der Tochter eines Ritters, undenkbar.
Hildegundis aber hatte ihm anvertraut, dass sie sich oft mit ihren Stickarbeiten in dem
Raum aufhielt, in dem Pater Konrad vor allem im langen Winter ihre Brüder und die
Knappen unterrichtete. Alles sog sie in sich auf und übte heimlich.

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Geheimnisse

Helmo hatte im letzten Jahr Hildegundis´ Vertrauen gewonnen, als er ihr in einer
unerfreulichen Lage geholfen hatte. Hildegundis ritt für ihr Leben gern, aber nicht im
Damensattel. Ob Sommer oder Winter, sie nutzte jede Gelegenheit, sich ihren Stick- und
Näharbeiten zu entziehen.
                                                 Sie konnte von Glück reden, dass sie
                                                 der Liebling ihres Vaters war und sich
                                                 einige Freiheiten herausnehmen
                                                 konnte, ohne dass sie gleich seinen
                                                 Zorn auf sich zog.
                                                 Also hatte sie sich an einem heißen
                                                 Sommertag, als alle in der Mittagszeit
                                                 vor sich hindösten, heimlich ein Pferd
                                                 aus der Koppel unterhalb des
                                                 Burgberges geholt und einen
                                                 ausgiebigen Ausritt unternommen.
                                                 Einem der Stallknechte war das
                                                 durchschwitzte und nur notdürftig
                                                 abgeriebene Pferd dann aufgefallen.
                                                 Auch glaubte er gesehen zu haben,
                                                 dass sich die Tochter des Ritters von
                                                 der Koppel entfernt hatte. Nach seiner
                                                 Meldung beim Stallmeister wurde das
                                                 Geschehen Ritter Enzo vorgetragen.
Mitten auf dem Burghof stellte Enzo seine Tochter zur Rede. Helmo, der zufällig in der
Nähe war, konnte alles mitansehen und zuhören, was Hildegundis vorgeworfen wurde.

Im letzten Augenblick, als sie ansetzte sich trotzig zu den Vorwürfen zu äußern, sprang
Helmo auf, warf sich vor die Füße des Ritters und bekannte sich schuldig, das Pferd
entwendet zu haben. Ungläubig zog Ritter Enzo seine Augenbrauen hoch, schien einen
Augenblick nachzudenken und meinte dann: „Eine Tracht Prügel wird wohl genug sein
für deinen Tatendrang. Burgvogt, walte deines Amtes!“
Damit wandte er sich um, würdigte seine Tochter keines Blickes und eilte mit langen
Schritten davon. Obwohl Burgvogt Richard einige Zweifel an der Schilderung des
Tatvorgangs hatte, bestellte er sich Helmo sofort in den Pferdestall.
Kein Zeuge, weder Mensch noch Pferd, war anwesend, als Richard den Auftrag
erledigte. Die halbherzig auf das Hinterteil des Delinquenten verteilten Stockhiebe
ließen sogar Helmo grinsen, der schon Schlimmeres erlebt hatte.

                                           16
„Junge, Junge, was soll aus dir bloß werden?“, war alles, was ihm Richard mit auf den
Weg gab.
Mit Hildegundis hatte er jedenfalls seit dieser Zeit einen Menschen gefunden, dem er
vertrauen konnte und der ihm ebenfalls helfen würde.

Einige Tage nach dem Vorfall hatte sie ihn, der sich gerade Wasser aus dem Brunnen
schöpfte, gefragt, ob er ihr helfen könnte, einige Sachen aus dem Kräutergarten zu
holen.
                                                                  Verwundert folgte er
                                                                  ihr durch das obere
                                                                  Tor zur steilen Treppe,
                                                                  die in den Zwinger
                                                                  führte.
                                                                  Hier, zwischen erster
                                                                  und zweiter Vertei-
                                                                  digungsmauer, nutzte
                                                                  man den Platz für die
                                                                  täglichen Übungen der
                                                                  Knappen und der
                                                                  Wachmänner. Einen
                                                                  Teil hatte man als
                                                                  Kräutergarten
                                                                  angelegt.

Mit ihrem Weidekorb für die Kräuter im Arm stieg Hildegundis vor Helmo die Treppe
hinab und ging zielstrebig auf eine Bank zu, die am Ende des Gartens unter der inneren
Mauer stand und von oben nicht zu sehen war. Sie stellte den Korb ab und nahm Platz.
„Warum hast du das für mich getan? Ich hab mich nicht einmal bei dir bedankt. Ich mag
mir gar nicht ausdenken, was mein Vater mit mir gemacht hätte. Ich wollte …“,
plapperte sie los, aber Helmo fiel ihr ins Wort.
„Ich weiß nicht. Einfach so. Vielleicht hast du mir leidgetan.“
„Einfach so eine Tracht Prügel einstecken? Das glaube ich nicht. Es hätte ja noch
schlimmer kommen können. Was wäre gewesen, wenn mein Vater dich von der Burg
gejagt hätte?“, fragte Hildegundis mit Sorgenfalten auf der Stirn.
„Pah, es gibt Schlimmeres. Hier bin ich doch sowieso nur ein Niemand, der von allen
herumgeschubst und nur geduldet wird. Ich hätte mich durchgeschlagen und mich auf
die Suche nach meinen Eltern gemacht. Ich will endlich wissen, wer ich bin und woher
ich komme.“

                                           17
„Das kannst du vergessen, alle auf der Burg wissen, dass du ein Findelkind bist.
Du musst froh sein, dass du hier leben kannst. Bei uns bekommst du zumindest zu
essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf! Das ist auch etwas. Was willst du mehr?
Hätte man dich weggejagt, wärst du verhungert!“
“Ich weiß, was ich suchen muss“, machte Helmo eine vage Andeutung.
Verblüfft schaute Hildegundis Helmo an: „Was soll das denn heißen?“
„Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann, ich könnte dir etwas zeigen!“
„Na, hör auf, wer für mich eine Tracht Prügel einsteckt, der kann sicher sein, dass ich
ihm helfe. So wahr, wie das Amen, das Pater Konrad am Ende seiner Predigten spricht!“
Helmo saß einen Augenblick ganz still, in Gedanken versunken, schließlich meinte er
nach einem langen Seufzer. „Na gut, ich zeig dir was. Sammel du mal deine Kräuter, ich
bin gleich zurück!“
Helmo sprang auf, flitzte quer durch den Zwinger, stürmte die Treppe hinauf und war
verschwunden.

                                  --------------------------

           In einem Kräutergarten findet man eine große Anzahl von Pflanzen für die
           Küche. Aber auch Heilmittel gegen allerlei Krankheiten werden hier
           angepflanzt. Hier siehst du drei Beispiele:

              Melisse                      Minze                Liebstöckel

                                  -------------------------

Es dauerte nicht lange, Hildegundis hatte gerade erst etwas Schnittlauch und Melisse in
ihrem Korb untergebracht, da tauchte Helmo wieder auf.
„Jetzt bin ich gespannt, was du mir zu zeigen hast!“, meinte Hildegundis neugierig.

                                             18
Helmo streckte zögerlich seine rechte Hand vor, öffnete sie langsam und ließ ein kleines
Medaillon sehen.
                                                 „Woher hast du das denn?“, konnte
                                                 Hildegundis ihre Verwunderung nicht
                                                 verbergen. „So etwas Feines besitze nicht
                                                 einmal ich!“
                                                 „Das hatte ich wohl dabei, als man mich
                                                 vor dem unteren Burgtor gefunden hat.
                                                 Jahrelang habe ich es um den Hals
                                                 getragen, aber als ich größer wurde,
                                                 haben mich die anderen Kinder auf der
                                                 Burg damit immer gehänselt. Irgendwann
                                                 habe ich es abgenommen und an meinem
Schlafplatz versteckt. Jetzt weiß kaum noch jemand von diesem Medaillon.“
„Ich wusste auch nichts davon. Was ist das Besondere daran?“
„Schau es dir doch an!“
Hildegundis nahm das Medaillon in die Hand.
Die Rückseite war glatt, auf der Vorderseite waren
Blumenranken zu erkennen. Mit einem leichten
Druck auf die rechte Seite ließ es sich aufklappen.
Ein Marienbild erschien. Maria mit traurigem Blick,
die Augen gesenkt, auf ihrem Arm das Jesuskind.
Auf dem anderen Teil des aufgeklappten
Medaillons waren ebenfalls nur Blumenranken
zu sehen.
„Na ja, es ist halt ein Marienbild. Das tragen viele
Menschen bei sich, um sich gegen Krankheiten
oder lebensgefährliche Situationen zu schützen“,
meinte Hildegundis.
„Wenn du meinst. Hier, nimm mein Messer,
dann kannst du das Marienbild herauslösen“, brummelte Helmo, fast schon beleidigt,
und reichte Hildegundis das Messer. Hildegundis löste vorsichtig mit der Spitze des
Messers das Marienbild heraus.
„Dreh es um! Was siehst du?“, fragte Helmo jetzt mit einem gewissen Stolz in der
Stimme.
„Tatsächlich, da stehen Buchstaben drauf!“
„Na so was, kaum zu glauben, die kenne ich ja, ich, ein Niemand!“
„O, R, E, G, R, A“, buchstabierte Hildegundis. „Was soll das denn heißen? Ist das
vielleicht ein Name?“

                                            19
„Wenn ich das nur wüsste! Ich kann ja nicht einmal richtig lesen, die Buchstaben kenne
ich, aber Lesen und Schreiben hat mir, dem Findelkind, keiner beigebracht. Kannst du
denn lesen?“
„Eigentlich darf es niemand wissen. Ich habe immer versucht, wenn meine Brüder und
die Knappen Unterricht hatten, in der Nähe zu sein. Dadurch habe ich viel
mitbekommen. War das ein Spaß, wenn die Holzköpfe nicht kapierten, was ihnen Pater
Konrad beibringen wollte. Wie oft hat er den Stock tanzen lassen.“
„Und du? Wieso kannst du es?“
„Ich habe immer gelauscht und mir alles eingeprägt. Und dann bin ich heimlich in die
Bibliothek, wie mein Vater stolz seine zwei Dutzend Bücher nennt, und habe die
Buchstaben gesucht, zusammengesetzt und …
Na ja, mehr musst du nicht wissen. Ein bisschen Lesen kann ich also.“
„Was dieses Wort bedeutet, weißt du auch nicht, oder? Dann dreh mal die andere Seite
um, da steht noch was!“
Hildegardis steckte das kleine Stück Pergament zurück, nahm das Messerchen und löste
auf der anderen Seite des Medaillons das Bildchen mit den Blumenranken heraus. Auf
der Rückseite waren ebenfalls Buchstaben notiert.
„A, D, M, C, C, L, X, X, V“, buchstabierte sie.
Nach einer Zeit, die Helmo wie zwei Ewigkeiten vorkamen, murmelte Hildegundis:
„Das kenne ich! Das kenne ich! Wieso komme ich nicht sofort darauf? Es könnte eine
Zahl bedeuten, aber „A“ und „D“ passen überhaupt nicht dazu!“, meinte sie, fast
verzweifelnd. „Wir können Pater Konrad befragen, der kennt sich doch mit allem aus.“
„Nein, um Gottes willen, nein, das will ich nicht. Lass es gut sein für heute. Vielleicht fällt
dir ja in nächster Zeit etwas ein. Ich muss auch längst wieder an meine Arbeit.
Noch eine Tracht Prügel muss nicht sein!“

Fast schon gewaltsam entriss er Hildegundis das
Medaillon, umfasste es fest in seiner rechten Hand
und wollte davonstürzen.
 „Warte, Helmo, du darfst das Medaillon nicht
irgendwo in einem Versteck aufbewahren. Du musst
es um den Hals hängen und auf deinem Herzen
tragen, nur dann hat es eine Wirkung und schützt
dich!“, belehrte sie den beleidigten Helmo.

„Werd´s mir überlegen“, war die kurze Antwort.
Etwas ratlos zurückgelassen ging Hildegundis zu den
Kräuterbeeten, um endlich ihren Auftrag zu Ende zu
bringen.

                                              20
Probleme

Helmo war in den Wochen und Monaten nach ihrer Begegnung nicht untätig geblieben.
Immer wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, war er heimlich in die Bibliothek des Ritters
geschlichen.
Alle Türen der Burg bis auf die zur Vorratskammer hinter der Küche, deren Schlüssel die
strenge Köchin Agnes verwahrte, waren stets unverschlossen.
Nicht nur Bücher, auch Dokumente aller Art, Schriftrollen, wurden hier aufbewahrt.
In diesem Raum fand Pater Konrads Unterricht statt. Die Schiefertafeln, auf denen seine
Schüler mit mehr oder weniger Erfolg ihre Schreibkünste zeigten, halfen Helmo sehr,
sich mühsam die einzelnen Buchstaben einzuprägen.

Was er aber am liebsten machte, war vorsichtig
in der großen Familienbibel, die einen
besonderen Platz auf einer Art Pult in der Ecke
des Raumes hatte, zu blättern und sich staunend
die Zeichnungen anzusehen.
Am Anfang jedes einzelnen Kapitels war eine
Illustration zu sehen, die eine Szene aus dem
Kapitel zeigte.
Dabei konnte Helmo seine Fantasie schweifen
lassen und so für einen Moment den Alltag
vergessen.
Er musste sich vorsehen, nicht zu sehr in seine
Träume zu verfallen, denn jeden Augenblick
konnte ihn jemand bei diesem unerlaubten
Verhalten erwischen.
Und das wollte Helmo auf keinen Fall.

Nach dem Frühmahl half Helmo, die Tischplatten und Böcke auf die Seite zu räumen.
Gerade als er die Halle verlassen hatte, wurde er von Georg aufgehalten.
„Wir treffen uns gleich im Zwinger, denk dran!“, meinte der mit einem hämischen
Grinsen im Gesicht.
Helmo lief zur Scheune, versteckte seine Notration und machte sich mit seinem
Eichenknüppel, der ihm als Schwert dienen musste, auf den Weg zum Zwinger.
Nur wenig später tauchte Georg auf, mit Übungsschwert und Schild bewaffnet.
Ehe sich beide gegenüber aufgestellt hatten, schrie er: „Los, greif an!“
Helmo schwang seinen Knüppel und ließ ihn auf Georg niedersausen. Der Zweck dieses
„Kampfes“ bestand für Georg allein darin, mit seinen Waffen einen Angreifer

                                          21
abzuwehren. Deswegen musste Helmo seine Schläge variieren. Er versuchte alles,
deutete einen Schlag an, um im nächsten Moment die Richtung zu ändern. Georg war
auf alles vorbereitet und so kam es, dass er nichts einstecken musste.
Natürlich war er so fair zu seinem Trainingspartner, dass er mit seinen Waffen nicht
konterte, zumindest nicht mit dem Schwert. Mit seinem Schild stieß er allerdings
manchmal zu, sodass Helmo den einen oder anderen Schlag abbekam.
War Georg der Meinung, ausreichend geübt zu haben, warf er ohne Vorankündigung
Schild und Schwert zur Seite und es entbrannte ein Ringkampf, bei dem sich beide bald
auf dem Boden des Zwingers wälzten.
Hierbei hatte Helmo keine Chance, den kräftigeren Georg zu besiegen. Allerdings hatte
er sich im Laufe der Zeit einige Tricks seines Gegners angeeignet, sodass er ihm nicht
ganz hilflos ausgesetzt war. Eine Niederlage aber war damit nicht zu vermeiden.
Hatte Georg Helmo schließlich auf dem Rücken liegen, war der ungleiche Kampf
beendet, mit dem Ergebnis, dass Helmo wieder einige blaue Flecken davontrug.

                                         Als Helmo seinen Eichenknüppel zur Scheune
                                         zurückbringen wollte, sah er Hildegundis am
                                         Brunnen stehen. Weil sich sonst niemand in ihrer
                                         Nähe befand, wagte er es, auf sie zuzugehen.
                                         „Na, Helmo, hast du endlich Georg besiegt?“,
                                         war ihre nicht so ernst gemeinte Frage.
                                         „Warte nur ab, irgendwann passiert es!“,
                                         entgegnete er ihr mehr aus Trotz als aus Über-
                                         zeugung. „Schön, dass ich dich treffe, ich muss dir
                                         etwas erzählen – und, ich brauche deine Hilfe!“
                                         Hildegundis zog die Augenbrauen hoch.
                                         „Da bin ich aber gespannt!“
                                         „Nicht jetzt und hier. Ich muss die Schweine auf
das Brachland vor dem Eichenwäldchen treiben. Kannst du im Laufe des Tages dorthin
kommen?“, fragte Helmo etwas verzagt.
Er war sich überhaupt nicht sicher, ob Hildegundis auf seinen Vorschlag eingehen
würde. Dabei musste er sie unbedingt in seine nächtliche Entdeckung einweihen.
„Versprechen kann ich es nicht, meine Mutter hat mir schon einige Arbeiten
aufgetragen. Ich versuche, mich nach Mittag davonzuschleichen“, machte Hildegundis
ihm Mut.
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Helmo, trug seine „Waffe“ in die Scheune,
steckte sich das stibitzte Brotstück ein und trieb die Schweine, die über den gesamten
Burghof verteilt Nahrung suchten, zusammen.

                                    --------------------------
                                               22
Wenn du willst, kannst du Helmo und Hildegundis „anziehen“.
            Welche Kleidung werden sie wohl getragen haben?
------

                                --------------------------

Die den Sommer über gemästeten Schweine waren zu Beginn des Winters, kurz vor
Weihnachten, geschlachtet worden. Nur wenige, für die Zucht bestimmte Sauen wurden
den Winter über gehalten. Der einzige Eber der Herde musste im Stall bleiben.
Helmos Herde bestand aus einigen Sauen und vielen Jungtieren.
Um zu wissen, ob er alle Tiere beisammen hatte, war er, der immer nur aushilfsweise

                                           23
auf die Schweine aufpassen musste,
                                              auf die Idee mit den kleinen Kieselsteinen
                                              gekommen. Für jedes Tier hatte er ein
                                              Steinchen in der Tasche seiner Hose.
                                              Mittlerweile aber konnte er soweit zählen,
                                              dass er auf diese Hilfsmittel verzichten
                                              konnte.
                                              Nach einigem Hin und Her hatte Helmo
                                              seine Herde beisammen und trieb sie durch
                                              die beiden Burgtore den steilen Weg hinab
                                              Richtung Eichenwald.
                                              Hier lag ein großes Stück Brachland, auf
                                              dem er heute den ganzen Tag die Schweine
                                              hüten sollte.

                                  -------------------------

             Es war üblich, das für den Ackerbau bestimmte Land in drei etwa gleich
             große Stücke aufzuteilen. Auf den Feldern des ersten Teils war bereits im
             vergangenen Herbst das Wintergetreide ausgesät, auf denen des zweiten
Teils erfolgte demnächst im Frühling die Aussaat des Sommergetreides. Die Knechte aus
der Burg und die Bauern aus den umliegenden Dörfern mussten jetzt diese Äcker für die
Aussaat vorbereiten.
Das restliche Land aber ließ man ein Jahr lang unbearbeitet, damit sich die Nährstoffe
im Boden erneuern konnten. Auf diesem Stück wuchs ein einzigartiges Durcheinander
von Pflanzen, die dann als Dünger untergeackert wurden. Hier fanden die Schweine viel
zu fressen.
                                   --------------------------

Helmo musste höllisch aufpassen, dass sich kein Tier auf das angrenzende Stück Land
mit dem ausgesäten Wintergetreide verirrte. Das hätte schlimme Folgen für ihn gehabt.
Er hatte sich ausgedacht, die Schweine in das Eichenwäldchen zu treiben, sollte
Hildegundis tatsächlich kommen können. Dort fanden die Schweine bestimmt noch
genug Eicheln. Er aber musste weniger aufpassen.
So verging der späte Vormittag. Das Hüten der Schweine war nicht schwierig, nur ein
wenig langweilig, und so freute er sich, als plötzlich Elmar vor ihm auftauchte, als er
gedankenverloren neben seiner Schweineherde stand.
Elmar wohnte im Dorf Tiefenweiler, war der Sohn des Dorfältesten und oft als
Laufbursche für seinen Vater oder auch den Burgherrn unterwegs. Elmar war etwa zwei

                                             24
Jahre älter als Helmo, größer und kräftiger. Er behandelte Helmo wie seinesgleichen. Nie
hatte Helmo von ihm ein böses Wort gehört.
„Helmo! Sind noch alle Schweine da? Pass auf, dass du keinen Ärger bekommst, wenn
du träumst und dir deine Viecher entwischen!“, rief er Helmo zu.
„Ich und träumen – wie soll das gehen? Von was soll ich träumen?“, meinte Helmo
beleidigt. „Vielleicht von der Prinzessin, die ich einmal heiraten werde?“

                                  --------------------------

           Helmo und Elmar träumen davon, einmal eine Prinzessin heiraten zu können.
           Kann das für Helmo oder Elmar wahr werden? Wovon träumst du denn?

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„Warum nicht! Wieso soll einer von uns nicht mal Glück haben. Aber du hast recht, bis
das eintrifft, geht die Sonne im Westen auf und im Osten unter!“
„Dann sag mir doch, bevor es so weit ist, warum du unterwegs bist.“
„Das darf ich dir eigentlich nicht sagen, aber, du bist ja mein Freund. Ich kann mich auf
dich verlassen, dass du mich nicht verrätst? Ich muss eine ganz wichtige Urkunde von
der Burg holen. Ritter Enzo kam heute Morgen mit seinen Gefolgsleuten in unser Dorf
gestürmt, hat meinem Vater und mir befohlen mitzukommen. Als wir uns Burg
Rabenstein näherten, fiel ihm plötzlich etwas ein und er befahl mir, auf schnellstem
Weg zur Burg Felsenstein zu laufen und eine Urkunde zu holen, die mir Pater Konrad
aushändigen sollte. Deswegen darf ich mit dir eigentlich gar nicht sprechen, ich muss
unbedingt zur Burg.“
„Dann will ich dich nicht aufhalten, ich kann dir dabei ohnehin nicht helfen. Um welche
Urkunde handelt es sich denn eigentlich?“
„Das darf ich dir wirklich nicht verraten, nur so viel, es geht um irgendwelche
Grenzstreitigkeiten mit Ritter Otto vom Rabenstein. Pater Konrad wüsste Bescheid.“
Elmar eilte den Weg zum Felsenstein hinauf.

Helmo wurde es plötzlich schummrig, er sah alles nur vernebelt, konnte keinen klaren
Gedanken mehr fassen. Er griff sich an die Stirn? Was war los mit ihm?
Er war sich keiner Schuld bewusst – und doch, da war etwas, was sich in sein
Unterbewusstsein einschlich.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da kam Elmar im Laufschritt den Burgberg
heruntergerannt.
„Ist der Satan hinter dir her?“, rief Helmo lachend seinem Freund zu, der etwa hundert
Meter entfernt an ihm vorbeiraste.
Elmar blieb kurz stehen, schnaufte tief durch und rief Helmo zu: „Das gibt Ärger. Pater
Konrad konnte die Urkunde nicht finden. Hoffentlich lässt Ritter Enzo seine Wut nicht an
mir aus. Ich muss weiter!“
Und schon lief Elmar auf dem ausgefahrenen Weg weiter Richtung Burg Rabenstein.

Helmo verharrte bewegungslos. Sein ungutes Gefühl verstärkte sich. Er wollte es sich
nicht eingestehen. Hatte er vielleicht heute Nacht …? Er wollte diesen Gedanken gar
nicht weiterspinnen. Dennoch: Musste er etwas unternehmen? Aber was?
Er kam aus dem Grübeln nicht heraus. Doch dann, die Sonne hatte ihren frühlingshaften
Höchststand bereits um einiges überschritten, tauchte unvermittelt Hildegundis auf.
Helmo hatte sie nicht kommen sehen, weil er gerade eins von den jungen Schweinen
einfangen musste, das sich zu weit von der Herde entfernt hatte. Das kam nur davon,
dass seine Gedanken ständig abschweiften, ärgerte sich Helmo.
Da stand sie plötzlich vor ihm.

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„Helmo, was gibt es so Wichtiges, das du mir zu berichten hast. Was glaubst du, welche
Schwierigkeiten ich hatte, aus der Burg wegzukommen. Also, was willst du mir sagen?“
„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Heute Nacht habe ich mich wieder einmal in
eure Bibliothek eingeschlichen.“
Als Hildegundis ihm ins Wort fallen wollte, zischte er nur: „Sei still, ich weiß, wie
gefährlich das ist, weil es verboten ist, aber …“
„Helmo, was willst du denn eigentlich damit bezwecken?“
„Ich will endlich wissen, wer ich bin, woher ich komme und auch warum ich hier auf
dieser Burg bin. Ist das so schwer zu begreifen? Ich weiß es, hier auf der Burg muss die
Antwort auf meine Fragen liegen!“
„Na gut, was hast du denn bis jetzt herausgefunden?“
„Heute Nacht habe ich in der Bibliothek ein Schriftstück gefunden, das, du wirst es mir
bestimmt nicht glauben, die Buchstaben O R E G R A enthalten hat.“
„Wie? Ich verstehe das nicht. Was soll das für ein Schriftstück gewesen sein?“
„Das weiß ich doch nicht. Kann ich Latein? Die Unterschrift unter diesem Dokument
bestand aus den Buchstaben O R E G R A, das konnte ich lesen. Sie sahen irgendwie
gemalt aus.“
„Wie bist du überhaupt an das Schriftstück gekommen?“
„Es lag mit anderen zusammen auf einem Haufen von Papieren.“
„Pater Konrad ist immer sehr darauf bedacht, Ordnung in der Bibliothek zu halten. Das
verstehe ich nicht. Vielleicht hat er es ja herausgelegt, weil es benötigt wird“, vermutete
Hildegundis.
Aus heiterem Himmel schoss Helmo ein Blitz durch den Kopf.
„Genau. Das ist es. Was bin ich nur für ein Tölpel! Warum ist mir das nicht eingefallen?“,
ärgerte sich Helmo.
„Ich versteh überhaupt nichts. Kannst du dich bitte mal deutlicher ausdrücken“, meinte
Hildegundis verärgert.
„Hast du mitbekommen, dass Elmar vorhin bei Pater
Konrad war?“, fragte Helmo.
„Ja, und ich habe gehört, wie der Pater tobend und
schreiend aus der Bibliothek kam. Ich kann sie nicht
finden, ich kann sie nicht finden, so hat er gebrüllt,
dass es durch die ganze Burg schallte. Ich bin
hingerannt und wollte wissen, was los ist, aber der
Pater war nicht ansprechbar, er hat sich seine wenigen
Haare gerauft und …!“
Hildegundis schwieg augenblicklich, stand ganz still wie
eine Salzsäule und starrte Helmo ungläubig an. Auch
der verharrte regungslos.

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„Das ist doch die Lösung!“, flüsterte Hildegundis nach einem langen gemeinsamen
Schweigen. „Er hat die Urkunde gesucht, die du heute Nacht gefunden hast. Hast du sie
etwa …? Hast du sie etwa mitgehen lassen? Hast du sie irgendwo versteckt?“,
stammelte Hildegundis aufgeregt.
„Du hast Recht, so muss es sein. Ich habe die Urkunde nicht mitgenommen, ich habe sie
nur in eurer Familienbibel, ganz hinten, versteckt, damit ich sie mir noch näher
anschauen kann!“, meinte Helmo zerknirscht.
„Und? Was machen wir jetzt. Ich will mir nicht vorstellen, was mein Vater mit Konrad
macht, wenn er heimkommt und ihn zur Rede stellt. Armer Konrad!“
„Und armer Elmar. Was passiert, wenn er ohne Urkunde bei deinem Vater auftaucht?
Was kann ich tun, um ihnen zu helfen?“, überlegte Helmo laut.
„Du? Du machst überhaupt nichts. Du hütest weiter deine Schweine. Ich laufe jetzt
zurück und versuche unbemerkt in die Bibliothek zu kommen. Ich hole die Urkunde aus
der Bibel heraus und lege sie an einen Platz, wo Konrad bestimmt nicht gesucht hat.
Vielleicht unter den großen Schrank. Da fällt mir noch etwas ein“, überlegte Hildegundis
laut.
Sie drehte sich um, ließ den verdutzten Helmo stehen und eilte Richtung Burg davon.

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             Hier kannst du gerne selbst ein Bild zur Helmo – Geschichte malen!

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Wiedergefunden

Kaum war Hildegundis durch das zweite Burgtor gekommen, da wurde sie von Berta
erwischt.
„Hildegundis, wo treibst du dich wieder herum? Deine Mutter sucht schon geraume Zeit
nach dir. Sieh zu, dass du sie aufsuchst!“, meinte sie vorwurfsvoll.
Ohne etwas zu erwidern lief Hildegundis über den Hof zur Treppe, die zu den Wohn-
räumen der Ritterfamilie führte.
Steil und eng war die Treppe, die Treppenstufen
glatt und verschieden hoch, sodass selbst ein
junges Mädchen aufpassen musste, um nicht zu
fallen.
Als sie im zweiten Stock an der Tür zur Bibliothek
vorbeikam, hörte sie innen eine Stimme.
Neugierig wie sie nun einmal war, öffnete sie
vorsichtig die Tür ein Stückchen, spähte hindurch
und sah Pater Konrad mit dem Rücken zur Tür am
Schreibpult stehen.
Sie hörte ihn murmeln: „Mein Gott, womit habe
ich das verdient? Was habe ich Unrechtes getan,
dass du mich strafst? Sag mir, wo ich diese verd…,
oh Verzeihung, fast wäre mir dieses lästerliche
Wort herausgerutscht, wo ich diese Urkunde finde!“
Hildegundis machte sich durch ein leichtes Hüsteln bemerkbar.
Der Pater fuhr erschrocken herum. „Ach, du bist es, Hildegundis“, brachte er gerade so
hervor.
„Pater Konrad, was ist mit Euch, Ihr seht so blass aus?“, fragte Hildegundis
teilnahmsvoll. „Ich glaube, Ihr zittert an Armen und Beinen.“
Konrad ging einen Schritt auf Hildegundis zu, breitete die Arme aus, als wollte er sie
umarmen, und sagte mühsam: „Ich finde die Urkunde nicht. Dein Vater wirft mich in
den Kerker, wenn ich sie nicht finde. Gerade jetzt, wo er sie im Streit mit Otto so
dringend braucht, kann ich sie einfach nicht finden. Dabei habe ich sie erst gestern hier
auf diesen Stapel mit Dokumenten gelegt.“
„Pater Konrad, bitte bleibt ruhig, sie kann ja nicht so einfach verschwunden sein.
Ich muss nur schnell zu meiner Mutter, dann komme ich zurück und helfe Euch suchen.
Vier Augen sehen mehr als zwei“, fügte sie etwas altklug hinzu.
„Stärkt Ihr Euch erst mal bei einem Becher Wein. Agnes in der Küche wird Euch
bestimmt einen einschenken, in der Lage, in der Ihr seid“, schlug sie vor, bevor sie sich
zur Tür wandte und zu ihrer Mutter rannte.

                                           29
Kaum hatte sie am Gemach ihrer Mutter angeklopft, ertönte die Stimme ihrer Mutter:
„Komm nur herein, Töchterchen, und lass deine Ausreden hören!“
Hildegundis schloss geräuschlos die Tür hinter sich und wollte mit ihrer Entschuldigung
beginnen, doch Hildegard ließ sie nicht zu Wort kommen.
                                                  „Ach was, ich muss mir deine Ausreden
                                                  gar nicht mehr anhören, ich kenne sie
                                                  alle. Du treibst dich ständig überall dort
                                                  herum, wo du als zukünftige Burgherrin
                                                  nichts zu suchen hast.
                                                  Dein Vater und ich müssen dich so
                                                  erziehen, dass du alles weißt, was eine
                                                  zukünftige Burgherrin können muss.
                                                  Und dazu gehört nicht, sich mit dem
                                                  Schweinehirten herumzutreiben oder
                                                  ohne Damensattel zu reiten. Soll ich
                                                  mehr aufzählen?
                                                  Wenn du erst mit dem ältesten Sohn von
                                                  Ritter Kauz vom Schwalbensee
                                                  verheiratet bist, musst du wissen, was du
                                                  als Burgherrin zu tun hast. Und dazu
                                                  gehört auf keinen Fall das
                                                  Schweinehüten!“
Hildegard holte tief Luft, um mit ihrer Belehrung fortzufahren.
Doch Hildegundis fiel ihr ins Wort. „Liebste Mutter, ich tue ja alles, was Ihr mir auftragt,
aber es gibt noch viel mehr, was mich interessiert. Zum Beispiel jetzt gerade, warum
Pater Konrad außer sich vor Angst ist. Er fürchtet sich vor Eurem Gemahl, weil er eine
Urkunde nicht findet. Könnt Ihr nicht mit ihm reden und herausfinden, um was es da
eigentlich geht!“
„Pater Konrad außer sich vor Angst? Das kann ich mir nicht vorstellen. Bevor wir beide
weiterreden, hole mir den Priester hierher. Ich möchte selbst mit ihm sprechen, bevor
mein Gemahl zurückkehrt.“
Hildegundis musste laut lachen – aber nur innerlich. Genau das hatte sie beabsichtigt.
„Sofort, liebste Mutter, ich hole ihn“, meinte sie gehorsam.
Schon war sie durch die Tür geschlüpft und zur Bibliothek geeilt. Pater Konrad saß an
seinem Schreibpult, einen großen Becher mit Rotwein hatte er auf dem Tisch abgestellt.
„Verzeiht, Hochwürden, meine Mutter möchte Euch sofort sprechen“, sagte sie leise,
aber bestimmt zu dem Mönch.
„Ja, sofort, vielleicht kann sie ein gutes Wort für mich bei deinem Vater einlegen“,
meinte Konrad, nahm aus seinem Becher auf dem Tisch einen kräftigen Schluck,
seufzte tief und eilte davon.
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Hildegundis stürzte sich auf die Familienbibel in der Ecke des Raumes. Sie lag so
aufgeschlagen auf dem Pult, dass jeweils etwa eine Hälfte nach links und eine nach
rechts verteilt war. Hektisch blätterte Hildegundis die Seiten weiter nach hinten.
Nach zwei bis drei Seiten schaute sie zwischendurch immer mal zur Tür. Das würde
gerade noch fehlen, wenn sie jetzt hier in der Bibliothek ertappt würde.
Tatsächlich, weit hinten lag die Urkunde. Sie war von ihren Ausmaßen kleiner als die
Bibel und von daher hier gut versteckt.
                                                             Hildegundis nahm sie an
                                                             sich, schaute sich in dem
                                                             Raum um, und wirklich,
                                                             der kleine Zwischenraum
                                                             unter dem großen Schrank
                                                             schien ihr besonders
                                                             geeignet, die Urkunde zu
                                                             verstecken.
                                                             Schnell schob sie das
                                                             Dokument unter den
                                                             Schrank, so weit, dass es
                                                             nicht mehr zu sehen war.

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Kaum hatte sie ihr Werk vollendet, tauchte auch Pater Konrad wieder auf.
„Hildegundis, ein Segen, dass du eine so nachsichtige Person als Mutter hast. Sie wird
mich unterstützen. Lass uns suchen. Dein Vater wird wohl bald zurück sein!“
Hildegundis tat so, als suche sie die Regale, die Nischen, den Tisch und den Schrank ab.
Dann kniete sie sich vor dem Schrank auf den Boden, stocherte mit der rechten Hand
unter dem Schrank – und, siehe da, eine Urkunde!
„Hier, Pater Konrad, hier liegt etwas!“
Freudestrahlend hielt Hildegundis die Urkunde in die Höhe.
„Ist das die gesuchte Urkunde, Pater?“, fügte sie stolz hinzu.
Sie reichte das Dokument dem Pater. Ein kurzer Blick genügte dem Mönch, erleichtert
schrie er auf: „Das ist sie! Das ist sie! Mädchen, du hast mein Leben gerettet. Jetzt
werde ich wohl den Zorn deines Vaters auf mich etwas abmildern können. Obwohl?
Vielleicht ist es zu spät. Wenn er bei Ritter Otto nichts ausrichten konnte, wird er
bestimmt erst recht seinen Ärger an mir auslassen!“
„Warten wir einfach ab, die Unterstützung meiner Mutter habt Ihr auf jeden Fall.
Pater, eine Bitte hätte ich, darf ich einen Blick auf die Urkunde werfen?
Ich habe noch nie ein so wertvolles Dokument in den Händen gehabt?“, fragte
Hildegundis unterwürfig.
„Gerne doch, gerne, hier, nimm sie und schau sie dir an!“, meinte der Pater
vertrauensvoll.
Hildegundis nahm die Urkunde vorsichtig in die Hände, hielt sie gegen das Licht und
erkannte OREGRA als Unterschrift unten am Rand des Dokuments neben der ihres
Vaters.
„Pater, darf ich Euch fragen, was diese Urkunde zu bedeuten hat. Wer hat sie eigentlich
da unten unterzeichnet?“
„Mädchen, das ist eine Geschichte, die einige Jahre zurückreicht.
Ausführlich kann ich sie dir jetzt nicht erzählen, aber die
Unterschrift ist von Otto von Rabenstein.
Das „O“ steht für Otto, das „REG“ für Regens, also Herrscher, und
das „RA“ für Rabenstein.
Da Otto genau wie dein Vater nicht Lesen und Schreiben kann, hat er sich diese
Buchstaben für seine Unterschrift ausgewählt. Wenn er ein Dokument unterzeichnen
muss, malt er mühevoll diese Buchstaben darunter.“

Hildegundis wusste nicht, was sie sagen sollte. Verwundert blickte sie auf das
Dokument. Waren diese Buchstaben der Unterschrift die gleichen wie in Helmos
Medaillon? Wie passte das zusammen?
Ratlos reichte sie Pater Konrad die Urkunde, murmelte eine Entschuldigung und verließ
die Bibliothek.

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Helmo war unterdessen mit seinen Schweinen auf dem Heimweg zur Burg. Kurz vor dem
äußeren Burgtor musste er sich beeilen, seine kleine Herde seitwärts zu treiben. In
scharfem Galopp näherte sich ihnen nämlich Ritter Enzo mit seinen drei Begleitern.
Ohne auf Helmo zu achten, stürmten sie durch das Tor.

                                   -------------------------

           Auf dem Schild ist das Wappen Enzos vom Felsenstein zu sehen.
           Wie könnte es aussehen? Zeichne es!

                                   -------------------------

Kaum hatte Enzo sein Pferd gezügelt, sprang er aus dem Sattel, gab seinem Hengst
einen Klaps, dass der sich Richtung Stall in Bewegung setzte, drückte Schwert und Schild
einem Knecht in die Hände und stürmte über den Burghof.
„Pater Konrad! Schafft mir den Pfaffen herbei!“, schrie er so laut, dass alle Bediensteten
in der Nähe ängstlich zusammenzuckten.
Als er die Treppe zum Wohntrakt erreichte, kam ihm ein zitternder Konrad entgegen,
warf sich Enzo vor die Füße und flehte: „Verzeiht mir, Herr. Es ist meine Schuld. Vergebt
mir meine Unachtsamkeit. Gnade, Herr, die Urkunde ist wieder da!“
Enzo, der den armen Pater mit Fußtritten traktieren wollte, hielt inne.
„Was sagst du? Wo war sie?“, fragte Enzo zornig.
„Sie lag unter dem großen Schrank. Ich habe keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen
ist. Ich hatte sie auf den Tisch zu den anderen Akten gelegt!“, entgegnete Pater Konrad,
indem er zu Enzo aufblickte.
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„Sei froh, Mönch, dass ich nicht ganz unschuldig an der Situation bin. Ich hätte heute
Morgen selbst an die Urkunde denken müssen. Erhebe dich! Und bring sie mir sofort!“
Mit diesen Worten stürmte Enzo die Treppe hoch und war verschwunden.

Am Ende des sehr schweigsam eingenommenen Abendessens erhob sich Ritter Enzo
von seinem Platz. Alle Blicke richteten sich auf ihn.
„Ihr wisst alle, dass ich mit Otto im Streit um die Grenzziehung bei Tiefenweiler liege.
Hat der Kerl es doch gewagt, seine Leute im Wald an der Ache Bäume fällen zu lassen.
Sie sollen über die Ache bis Rabenstein geflößt werden.
Als ich ihn heute zur Rede gestellt habe, hat er allen Ernstes behauptet, dieser Teil des
Waldes gehöre ihm. Auf meinen Einwand, die Grenze sei in einer Urkunde festgelegt,
hat er nur gelacht und mich aufgefordert, den Beweis zu erbringen. Morgen werde ich
ihm diese Urkunde hier zeigen und seine Leute, wenn es sein muss, gewaltsam aus
meinem Gebiet vertreiben.“
                                     -------------------------

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„Richard, morgen nach dem Frühmahl reite ich mit sechs Männern in leichter Rüstung,
aber vollständig bewaffnet, nach Tiefenweiler. Pater Konrad, Eure Hilfe benötige ich
natürlich auch. Vor Morgengrauen will ich Euch auf dem Weg wissen. Lasst Euch Pferd
und Karren geben, damit Ihr rechtzeitig in Tiefenweiler seid.
                                                 Ihr alle wisst, dass wir in nächster Zeit
                                                 wachsam sein müssen. Es könnte sich
                                                 eine handfeste Fehde ergeben!
                                                 Richard, schick heute Abend noch Bo-
                                                 ten zu den Dorfältesten und warne sie.
                                                 Ich möchte von ihnen über alles
                                                 Auffällige in den nächsten Tagen
                                                 unterrichtet werden. Ihr seid
                                                 entlassen!“
Als Helmo sich ans Ab- und Aufräumen machte, hörte er plötzlich hinter sich eine
Stimme flüstern: „Nachher am Brunnen.“

Als die Tische weggeräumt und die Schlafplätze hergerichtet waren, schlenderte Helmo
zur Scheune, schnappte sich einen Eimer und trieb sich in der Nähe des Brunnens
herum. Begegnete ihm jemand, tat er, als wolle er Wasser schöpfen. Es dauerte nicht
lange, bis Hildegundis erschien, ebenfalls einen Eimer in der Hand.
Sofort kam sie zur Sache. „Ich weiß, was die Buchstaben bedeuten.
OREGRA ist das Namenszeichen von Otto von Rabenstein. Das hättest du nicht gedacht,
oder?“ Helmo blieb stumm. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Hildegundis erzählte: „Ich habe Pater Konrad geholfen, die Urkunde zu finden. Sie lag
doch tatsächlich unter dem Schrank.
Und dann habe ich ihn gebeten, sie anschauen zu dürfen, und ihn nach den Buchstaben
gefragt. Was die anderen Buchstaben in deinem Medaillon für eine Bedeutung haben,
weiß ich aber nicht.“
Hildegundis hatte während ihrer Mitteilung Wasser in den Eimer geschöpft.
„Jetzt füll dir auch deinen Eimer, sonst fallen wir noch auf. Lass uns morgen weiter
reden. Gute Nacht.“
Sie drehte sich um und war in der Dämmerung verschwunden.

Helmo schleppte den Eimer in die Scheune, stellte ihn ab und kletterte hinauf zu seiner
Schlafstätte. In dieser Nacht fand Helmo zunächst keinen Schlaf. Er grübelte, wie er
vorgehen könnte, um eine Erklärung zu finden, warum Ottos Name in dem Medaillon zu
finden war.
Sollte er zur Burg Rabenstein laufen und darauf hoffen, dass er bis zu Otto vordringen
konnte.

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