Eine unwichti ge Geschichte - Alterswohnheim St. Martin

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Eine unwichti ge Geschichte - Alterswohnheim St. Martin
Eine unwichti ge Geschichte
                             Als endlich Friede herrschte, fängt für Bertha   Putz das Elend erst an. Am Ende des Zweiten
                            Weltkriegs werden drei Millionen Deutsche aus     dem Sudetenland vertrieben. Mittendrin – die
                            elfjährige Bertha. Heute wohnt sie in Muri AG.    Ihr Leben ohne Heimat und mit Heimweh.

                                                                                                                                   Bertha Putz, 86,
                                                                                                                                   im Aufenthaltsraum
                                                                                                                                   des Altersheims
                                                                                                                                   St. Martin in
                                                                                                                                   Muri AG. Sie zeigt
                                                                                                                                   alte Fotos und
                                                                                                                                   erzählt von ihrer
                                                                                                                                   Flucht 1945.

50 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                                                                                    SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 51
Eine unwichti ge Geschichte - Alterswohnheim St. Martin
«Der katholische
                                                    Glaube ist die
                                                 Stütze in meinem
                                                   Leben.» Bertha
                                                 Putz In ihrem Zim-
                                                 mer im Altersheim.

                                                 Als 17-Jährige lernt
                                                  Bertha in Bayern
                                                  den Jungbauern
                                                 Dieter kennen. «Ihn
                                                  hätte ich so gern
                                                     geheiratet.»

                                                   1945. Links der

                       «Innert Stunden mussten    Kriegsgefangene
                                                  Julius, rechts die

                          wir weg. Und flohen    Mama. In der Mitte
                                                 die Brüder und Ber-
                                                 tha mit ihrem Büsi.
                         mit Ochs und Karren»
                               BERTHA PUTZ

52 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                               SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 53
Eine unwichti ge Geschichte - Alterswohnheim St. Martin
T E X T M A RC E L H U W Y L E R F OTO S KU RT R E I C H E N B AC H                          Durch Zufall kam sie
                                                                                                                                mit 17 in den Aargau.
                                                                                                                                Seither arbeitete
          Es mag an diesen verseuchten Zeiten liegen,                 ländisch. «Was ich noch heute tue», unterbricht           Bertha Putz hier als
          dass bei manchen Menschen lebenslang Ver-                   ­Bertha Putz ihre Erzählung. «Wenn ich allein bin,        Pflegerin in Spitälern.
          drängtes plötzlich hochkommt. Anders ist es nicht            rede ich mit mir selbst Egerländisch.» Borschte-
          zu erklären, dass Bertha Putz, 86, zu Hause im               wiesch bedeutet Besen, Aaräppelmauke ist der
          ­Altersheim St. Martin in Muri AG, als stille, in            Kartoffelbrei, und wenns bleedert, ists windig.
           sich gekehrte Mitbewohnerin bekannt, letzthin                   Die Familie hat zwei Ochsen, zwei Kühe, ein
           beim Kafi nach dem Zmittag plötzlich aus ihrem              Kalb und baut Kartoffeln an. Ein karges Leben, eine
           Leben zu erzählen beginnt. Und Ungeheuerliches              ungewisse Zukunft, Krieg bricht aus. Der Vater
           zu berichten weiss. Von Krieg, Hass und Unrecht.            kämpft in der deutschen Wehrmacht in Russland.
           Von ihrer Vertreibung aus der Heimat und dem                Als Arbeitskraft wird der Familie ein Kriegsgefan-
           Heimweh. Und von einer unmöglichen Liebe.                   gener zugewiesen: Julius aus Nordfrankreich, ein
                                                                       Maurer, ein lustiger Kerl, der nur dann verstummt,
          Seit dem Mittelalter leben Deutsche in den                   wenn er an Frau und Kinder daheim denkt. «Hier
          Grenzregionen von Böhmen, Mähren und Schle-                  ist er, unser Julius.» Frau Putz deutet auf ein ver-
          sien – dem Sudetenland. Immer wieder sind                    waschenes Schwarz-Weiss-Foto auf welligem Pa-
          sie Opfer von Macht- und Grenzpolitik. 1918, mit             pier. Darauf ein Ochse, der Leute auf dem Holzkar-
          der Gründung der Tschechoslowakei, werden                    ren zieht. Julius, die Frau Mama, die drei Brüder,
          drei Millionen Sudetendeutsche, immerhin ein                 «und das Mädchen bin ich. Zehn Jahre alt. Mit mei-
          Drittel der Bewohner, zur Minderheit im eigenen              nem Büsi auf dem Schoss. Das Büsi ist später auf
          Land deklariert. Eine tiefe Kränkung. 1938 holt              der Flucht …» Aber nein, sie wolle ihrer Geschichte
          Adolf Hitler sie «heim ins Reich», indem er                  nicht vorgreifen. Nach vier Jahren kommt der ­Vater
          seine Wehrmacht einmarschieren lässt und das                 heim. Ohne linke Hand. Eine Granate. Hitlers
          Sudetenland dem Deutschen Reich einverleibt.                 Reich ist am Ende, der Krieg ist aus. Es ist Mai 1945.
          Ein Jahr später bricht der Zweite Weltkrieg aus.             Ein Lastwagen des Roten Kreuzes holt Julius ab, er
                                                                       darf zurück nach Frankreich. Sie hätten nie wieder
          Mit kleinen Schritten betritt Bertha Putz den                etwas von ihm gehört, sagt Bertha Putz.
          Besucherraum des Altersheims. Ihr
          Blick ist wach, das perlgraue Haar flott                                 Der Hass der Tschechen auf die Sude-
          onduliert, und etwas Keckes umspielt                                     tendeutschen ist gross, sie sollen büs-
          ihren Mund. Am linken Handgelenk                   fakt.                 sen für die Barbarei der Nazis. Da wird
          eine Armbanduhr, am rechten das                                          nicht gross gefragt, wer NS-Täter war,

                                                                 14
          Notrufarmband. «Drücken musste ich                                       wer Mitläufer oder Antifaschist. Man
          den Alarmknopf erst zweimal», sagt                                       sucht nicht nach Schuldigen oder Un-
          sie. Ihr rechter Unterschenkel ist ein­                                  schuldigen – sondern nur nach Deut-
                                                           MILLIONEN
          ban­da­giert. Frau Putz hat ein Couvert      Deutsche wurden             schen. «Die wollten uns nicht mehr
          mit­gebracht: «Aus der Heimat» steht          nach Kriegsende            haben, aber ich begriff nicht, warum.
          mit zittriger Filzstiftschrift drauf. «Par-  aus Polen, Rumä-            Wir konnten doch nichts dafür.» Zum
          kinson halt», meint sie mit jener gleich-       nien, Ungarn,            ersten Mal an diesem Nachmittag at-
          mütigen Art, wie sie Menschen eigen           Jugoslawien und            met die alte Dame schwer, ihre Lippen
                                                       der Tschechoslo-
          ist, die nichts im Leben mehr erschüt-                                   werden zu einem schmalen Strich.
                                                       wakei vertrieben.
          tern kann. «Aber ich will nicht jam-                                     Sie bittet um ein Glas Wasser. Vor eini­
          mern.» Etwas Fremdartiges färbt ihren                                    gen Wochen sei es noch aufwühlender
          Aargauer Dialekt. Sie klaubt Fotogra-
          fien aus dem Umschlag, fächert diese
                                                             19 000                für sie gewesen, zum ersten Mal nach
                                                                                   Jahrzehnten des Schweigens, beim
                                                            DEUTSCHE
          wie Spielkarten auf den Tisch und fragt      leben heute noch            Kafi nach dem Zmittag. Gewürgt habe
          nach, ob sie wirklich von damals erzäh-        im ehemaligen             es sie, und das Herz sei kalt geworden.
          len solle. «Weil … meine Geschichte ist Sudentenland (von                Aber sie wolle nicht hadern; andere
                                                      einst 3,2 Millionen).
          doch eigentlich gar nicht so wichtig.»
              1934 wird Bertha Putz geboren,
                                                                                   hätten nicht überlebt. «Drum ist meine
                                                                                   Geschichte gar nicht so wichtig.»                                         «Der Hass auf alles
          drei Brüder kommen später dazu. Die
          Eltern Adolf und Theresia sind Bauern,           300 000                 Den Sudetendeutschen wird nach
                                                                                                                                                          Deutsche war unerträglich.
          ihr kleiner Hof steht im Egerland,
                                                           TSCHECHEN
                                                        wurden während
                                                                                   Kriegsende verboten, öffentliche Ver-                                  Wir büssten für alle Nazis»
          ­einem Gebiet im Westen des Sudeten- der Nazi-Herrschaft                 kehrsmittel zu benützen, «und wir
                                                                                                                                                                    BERTHA PUTZ
           lands, nah der tschechoslowakischen            getötet, davon           muss­ten uns kennzeichnen». Sie zeigt
           Stadt Marienbad. Man spricht Eger­            200 000 Juden.            ein Foto: eine Armbinde mit einem auf-

54 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                                                                                                                                         SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 55
Eine unwichti ge Geschichte - Alterswohnheim St. Martin
In Güterbahnwaggons werden die Flüchtlinge
                                                                                                                      ins 300 Kilometer entfernte ostdeutsche Köthen
                                                                                                                      gefahren, Sowjet-Besatzungszone. Auch hier
                                                                                                                      sind sie unerwünscht, Schmarotzer, Konkurrenz
                                                                                                                      auf dem Arbeitsmarkt. Familie Putz wird einem
                                                                                                                      Bauern zugewiesen, der ihnen gegen Feldarbeit
                                                                                                                      Kost und Logis gewährt. Sie hausen im Raum über
                                                                                                                      dem Schweinestall. Sieben Jahre bleiben sie hier.
                                                                                                                      Als Ostdeutschland sich einzumauern beginnt,
                                                                                                                      flieht die Familie erneut. Mit der Bahn nach Ber-
                                                                                                                      lin. Zwar kontrollieren DDR-Soldaten den Zug,
                                                                                                                      «doch weil wir im letzten Abteil sassen und das
                                                                                                                      Militär weiter vorn mit dem Verhaften an­derer
                                                                                                                      Flüchtlinge beschäftigt war, erreichten wir ­Berlin,
                                                                                                                      ehe sie uns fanden», erinnert sich Bertha. Ein
                                                                                                                      US-Truppentransporter fliegt sie nach Frankfurt,
                                                                                                                      von dort geht es nach Bayern – wo Familie Putz
                                                                                                                      nach Jahren der Flucht sesshaft werden darf.
                                                                                                                          Bertha ist jetzt 17 und eine adrette, junge Frau.
                                                                                                                      Da gab es sicher Verehrer? «Och», sagt sie und
                                                                                                                      zupft an ihrer Bluse. «Das ist jetzt wirklich nicht
                                                                                                                      wichtig.» Viel lieber spricht sie über das Inserat,
                                                                                                                      das sie eines Tages in der Zeitung entdeckt. In
                                       Einmal nur, vor ein                                                            der Schweiz werden Mägde gesucht. «Man sagte
                                       paar Jahren, reiste
                                       sie in ihre alte Hei-     gemalten N. Das N stand für «Němec», übersetzt       mir, die Schweiz sei ein Wunderland voller netter
                                        mat. Es war nichts       «Deutscher». Dann überschlagen sich die Ereig-       Menschen.» Es ist 1952, als Bertha bei einem
                                       mehr da, was an Fa-       nisse. Mit Gewalt werden die Sudetendeutschen        ­Bauern im Aargau ihre Stelle antritt. «Ein grober
                                       milie Putz erinnerte.
                                                                 innert Stunden zum Verlassen ihrer Heimat ge-         Mensch, er schlug sein Vieh und machte mir ­einen
                                                                 zwungen. Immobilien und Vermögen werden               Heiratsantrag.» Bertha zieht weiter. Die Ehe habe
                                          Lange Jahre ver-       konfisziert. Drei Millionen Menschen verlieren        sie nie «gluschtet». Wobei … Sie senkt den Blick,
                                           drängte sie das       Hab und Gut. Und vor allem Heimat. «Kinder, sie       geht in sich, lächelt dann versonnen und zeigt das
                                         ­Erlebte. Jetzt, mit
                                           86, kommen die        wollen uns hier nicht mehr. Wir gehen nach            Foto eines jungen Mannes. Dieter. Aus Bayern.
                                       ­bösen Erinnerungen       Deutschland.» Die Worte ihres Vaters hat Bertha       «Den hätte ich gern geheiratet. Und er mich.»
                                            wieder hoch.         heute noch im Ohr. Pro Person sind 25 Kilo Ge-        Aber das sei damals unmöglich gewesen. «Dieter
                                                                 päck erlaubt. Die elfjährige Bertha stopft Kleider    war reformiert, ich bin katholisch.»
                                                                 in ihr Köfferchen, den prächtigen böhmischen
                                         «Aus der Heimat».
                                     Frau Putz hat Parkinson.    Weihnachtschmuck – und ihr Büsi.                     Sie bleibt im Aargau, macht eine Pflegeaus­
                                      Die Finger gehorchen          Mit Ochs und Karren flieht Familie Putz nach      bildung und arbeitet in Heimen und Spitälern.
                                        ihr nicht mehr, ihre     Marienbad, dann auf Fussmärschen weiter Rich-        Die Religion gibt ihr Halt, sie liest theologische
                                          Schrift ist zittrig.
                                                                 tung Grenze. Eine lange Karawane von Flücht­         Bücher und betet den Rosenkranz. 24-mal pilgert
                                                                 lingen. Plötzlich platzt Berthas Köfferchen auf.     sie nach Lourdes, zweimal ist sie im Heiligen
                                                                 Ihr Büsi wetzt davon, und die Menschenkolonne        Land – und einmal nur noch, vor ein paar Jahren,
                                                                 zertrampelt den Weihnachtsschmuck. «Wenn du          zurück im Egerland. Das Elternhaus steht nicht
                                                                 Kind bist und dein Zuhause verlierst, klammerst      mehr, auch sonst findet sie nichts, was an die
           «Man zwang                                            du dich umso mehr an das wenige Wichtige, das
                                                                 dir bleibt. Wenn das dann auch noch zerstört
                                                                                                                      ­Familie Putz erinnert. Einzig auf dem Friedhof
                                                                                                                       entdeckt sie den Grabstein einer Verwandten.
          uns, Armbinden                                         wird, bist du nichts mehr.» Frau Putz hat nie wie-    In Stücke zerschlagen.
                                                                 der böhmischen Weihnachtsschmuck gekauft.
         zu tragen. Das N                                                                                             Bertha Putz hat keinen Groll auf jene Menschen,

        stand für ‹Nĕmec› –                                      Noch heute streiten Historiker über die angemes­
                                                                 sene Wortwahl der Ereignisse. War es Aussied-
                                                                                                                      die sie vertrieben. «Ich bin Katholikin, da hat man
                                                                                                                      keine Wut.» Aber auch keine Heimat mehr. Sie
            Deutscher»                                           lung, Abschiebung, Deportation? Sogar bei den
                                                                 Opferzahlen herrscht bis heute Zwist. Zwischen
                                                                                                                      nickt. Ja, das Heimweh … Es werde nie vergehen.
                                                                                                                      Dann schiebt sie all ihre Fotos zusammen und
                       BERTHA PUTZ                               30 000 und 250 000 Menschen kamen zu Tode.           versorgt sie im Briefumschlag. «Ich wollte doch
                                                                 ­Einige starben bei «wilden Strafgerichten», die     gar nicht so viel über mein Leben sprechen.» Sie
                                                                  meisten auf den Märschen an Erschöpfung, oder       macht mit der Hand eine Jänu-Geste. «Weil, es ist
                                                                  sie wurden von Begleitpersonal umgebracht.          doch nur …» Eben. Eine unwichtige Geschichte.

56 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                                                                                                                   SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 57
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