Einführung ins Recht I - Skriptum zur Vorlesung Herbstsemester 2020/2021 Dr. iur. Andreas Güngerich, Rechtsanwalt, LL.M., Kellerhals Carrard

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Skriptum zur Vorlesung

Einführung ins Recht I
    Herbstsemester 2020/2021

 Dr. iur. Andreas Güngerich, Rechtsanwalt, LL.M.,
    Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht
                 Kellerhals Carrard
Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I   HS 2020/2021

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1. Einleitung

I.   System der Rechtsordnung

Ohne es bewusst wahrzunehmen, begleitet uns das Recht durch das tägliche Leben.
Oft tritt es erst in Erscheinung, wenn es verletzt worden ist. Als verbindliche Ord-
nung schafft es die Voraussetzung für ein aktives Zusammenleben der Menschen.
Das Recht kann grundsätzlich in drei grosse Rechtsgebiete aufgeteilt werden:

A.   Privatrecht

Das Privatrecht regelt das rechtliche Verhältnis zwischen Privatpersonen. Die wich-
tigsten Gesetze des Privatrechts sind das Obligationenrecht (OR) und das Zivilge-
setzbuch (ZGB). Das Privatrecht wird getragen vom Grundsatz der Privatauto-
nomie. Dieses Prinzip besagt, dass in einer freien Gesellschaft jede/r seinen/ihren
Willen frei bilden, äussern und entsprechend handeln kann und für seine/ihre Hand-
lungen grundsätzlich auch die volle Verantwortung tragen muss. Bedeutsamster
Teilgehalt der Privatautonomie ist die Vertragsfreiheit, die sich unter anderem in
der Abschluss-, der Partnerwahl-, Form-, Inhalts- sowie der Änderungs- und Aufhe-
bungsfreiheit äussert.

B.   Öffentliches Recht

Das öffentliche Recht regelt neben dem Verhältnis zwischen Trägern der öffentli-
chen Gewalt und einzelnen Privatrechtssubjekten (z.B. BürgerInnen), auch die Or-
ganisation und Funktion des Staates (z.B. Einteilung der Schweiz in 26 Kantone).
Dabei ist die Behörde dem/der BürgerIn meist übergeordnet und hat die Befehls-
gewalt (im Gegensatz zum Privatrecht, wo Behörden und Private einander gleichge-
stellt sind). Der Grundsatz der gesetzmässigen Verwaltung bildet das Legalitäts-
prinzip (Art. 5 Abs. 1 der Schweizerischen Bundesverfassung, BV), welches das
Kernstück eines jeden Rechtsstaates darstellt und besagt, dass kein staatliches
Handeln ohne gesetzliche Grundlage möglich ist.

C.   Strafrecht

Als Strafrecht wird jede Rechtsvorschrift betrachtet, die ein bestimmtes menschli-
ches Verhalten mit Strafe bedroht. Das auch im Strafrecht geltende Legalitäts-
prinzip besagt, dass ein Verhalten nur strafbar ist, wenn es von einer Strafnorm
erfasst ist („nullum crimen sine lege“ = kein Verbrechen ohne Gesetz / „nulla poena

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sine lege“ = keine Strafe ohne Gesetz; Art. 1 Schweizerisches Strafgesetzbuch,
StGB).

Nebst diesem Grundsatz kommt im Strafrecht auch dem Prinzip „Unwissenheit
schützt vor Strafe nicht“ grosse Bedeutung zu. Weiter ist das schweizerische
Strafrecht ein Verschuldensstrafrecht, das den Täter nach seinem subjektiven
Verschulden und nicht nach der Wirkung seiner Tat (sog. Erfolgsstrafrecht, z.B. an-
gewandt in den USA) bestraft. Primäre Gesetzesquelle ist das Schweizerische Straf-
gesetzbuch (StGB).

II. Rechtsquellen

Rechtsquellen sind Formen, in denen Rechtssätze in Erscheinung treten. Man unter-
scheidet gesetztes Recht (Verfassung, Gesetze, Verordnungen, allgemeinverbind-
lich erklärte Verträge) und nicht gesetztes Recht (Gewohnheits- und Richter-
recht).

A.   Primäre Rechtsquellen

a) Materielles Recht

Das materielle Recht ordnet direkt die Lebensverhältnisse. Es sagt, was „rechtens“
ist und wie sich die Rechtsunterworfenen zu verhalten haben. Rechtsquellen, die
überwiegend materiell rechtliche Bestimmungen enthalten, sind im Privatrecht bei-
spielsweise das Schweizerische Obligationenrecht (OR) und das Schweizerische Zi-
vilgesetzbuch (ZGB), im Strafrecht das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) so-
wie das Verwaltungsrecht als Teil des öffentlichen Rechts.

Die Kompetenz zur Setzung materiellen Zivil- und Strafrechts liegt beim Bund (s.
Art. 122 und 123 BV).

Beispiel:

     Art. 1 OR legt fest, was es braucht, damit ein Vertrag entsteht: Die überein-
     stimmende gegenseitige Willensäusserung der Parteien.

b) Formelles Recht

Das formelle Recht (auch Verfahrens- oder Prozessrecht genannt), dient der Durch-
setzung des materiellen Rechts. Es regelt das Verfahren und die Zuständigkeiten

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von Behörden und Gerichten. Formelles Recht sind Zivil-, Straf- und Verwaltungs-
prozessordnungen sowie das Recht über die Gerichtsorganisation und das Vollzugs-
recht (insbesondere Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz, SchKG).

Beispiel:
     Art. 199 Abs. 1 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) bestimmt, dass
     bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten mit einem Streitwert von mindestens
     CHF 100‘000.00 die Parteien gemeinsam auf die Durchführung eines Schlich-
     tungsverfahrens verzichten können.

Die Kompetenz zur Schaffung von Prozessrecht auf den Gebieten des Privat- und
Strafrechts liegt erst seit 2007 bzw. 2003 beim Bund. Sowohl die eidgenössische
Zivilprozessordnung (ZPO) als auch die Strafprozessordnung (StPO) sind erst am 1.
Januar 2011 in Kraft getreten. Davor bestanden in der Schweiz 26 verschiedene
kantonale Zivil- und Strafprozessordnungen. Die sachliche und funktionelle Zustän-
digkeit der Gerichte wird im Zivilrecht jedoch weiterhin durch das kantonale Recht
geregelt (Art. 4 Abs. 1 ZPO). Im Strafprozessrecht regeln der Bund und die Kantone
die Wahl, Zusammensetzung, Organisation und Befugnisse der Strafbehörden, so-
weit die StPO oder andere Bundesgesetze dies nicht abschliessend regeln (Art. 14
Abs. 2 StPO).

Materielles und formelles Recht spielen zusammen. Vorschriften des Verfahrens-
rechts wirken auf die materiellen Rechtspositionen ein; so lässt die ZPO (formelles
Recht) z.B. Anträge der Parteien nur bis zu einem bestimmten Prozessstadium zu,
was zur Folge hat, dass eine Partei ihr Recht unter Umständen nicht mehr geltend
machen kann, obwohl die materielle Verjährungsfrist nach Bundesrecht noch nicht
abgelaufen ist (z.B. Art. 228 f. ZPO).

B.   Sekundäre Rechtsquellen

a) Gewohnheitsrecht

Beim Gewohnheitsrecht handelt es sich nicht um erlassenes, gesetztes (positives)
Recht. Es ist ungesetztes Recht, das aus einer lang anhaltenden Übung und der
Überzeugung entsteht, es müsse als rechtlich verbindlich angewandt werden.

Die Bestimmung von Art. 1 Abs. 2 ZGB verweist für den Fall, in welchem dem ge-
schriebenen Recht keine Vorschrift entnommen werden kann, auf das Gewohnheits-
recht. Die Bedeutung des Gewohnheitsrechts ist in der Schweiz jedoch gering.

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Beispiel:
     Unter Flumser Bauern gelten Tret- und Weiderechte. Sobald im Winter der Bo-
     den gefriert, ist es den Bauern erlaubt, ihre Holzstämme über die Nachbar-
     grundstücke zu führen. Dies gilt auch gegen den Willen eines Ferienhausbesit-
     zers.

b) Richterrecht

Auch das Richterrecht ist keine gesetzte Rechtsquelle. Es beinhaltet die „Rechtset-
zung“ durch den Richter, wenn dem geschriebenen Recht sowie dem Gewohnheits-
recht keine Vorschrift entnommen werden kann und eine Gesetzeslücke vorliegt.
In dieser Situation soll der Richter nach den Regeln entscheiden, die er als Gesetz-
geber aufstellen würde, wobei er bewährter Lehre und Überlieferung zu folgen hat
(Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB).

Eine Lücke des Gesetzes liegt vor, wenn sich eine gesetzliche Regelung als unvoll-
ständig erweist, weil sie auf eine bestimmte Frage keine Antwort gibt. Bevor jedoch
von einer ausfüllungsbedürftigen Lücke ausgegangen werden darf, ist durch Ausle-
gung zu prüfen, ob das Fehlen einer Regelung nicht eine bewusst negative Antwort
des Gesetzes bedeutet. Dann hätte der Gesetzgeber also nicht vergessen, die Frage
zu regeln, sondern die Rechtsfrage stillschweigend im negativen Sinne entschieden
(sog. „qualifiziertes Schweigen“).

Beispiel:
     Das ZGB enthält keine Bestimmungen darüber, wer die Begräbniskosten zu be-
     zahlen hat. Das Bundesgericht hat im Sinne von Art. 1 Abs. 2 ZGB als unge-
     schriebenes Recht anerkannt, dass diese Kosten grundsätzlich aus der Erb-
     schaft des Verstorbenen zu zahlen sind. War der Verstorbene mittellos, so ha-
     ben jene Personen, welche die gesetzliche Unterstützungspflicht trugen (Ehe-
     gatte, Kinder, Eltern) dafür aufzukommen.

C.   Hierarchie der Rechtsquellen

Die Rechtssätze der verschiedenen Rechtsquellen sind hierarchisch geordnet. Das
bedeutet, sie stehen zueinander in einem Über-/Unterordnungsverhältnis. Stehen
die Normen zweier Rechtsquellen im Widerspruch, so geht grundsätzlich die über-
geordnete der untergeordneten vor.

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a) Völkerrecht

In der herkömmlichen Weltanschauung wurde unter dem Völkerrecht das Recht der
zwischenstaatlichen Beziehungen verstanden. Heutzutage regelt das Völkerrecht
aber nicht mehr nur bloss das Verhältnis der Staaten zueinander, sondern auch die
hoheitsfreien Räume wie das Weltall, die Weltmeere, internationale Organisationen
sowie die Rechte und Pflichten Privater innerhalb der einzelnen Staaten.

Grundlage für das Völkerrecht bildet der Konsens zweier oder mehrerer Staaten
über einen vertraglich geregelten Punkt, da es auf der internationalen Ebene an
einem Gesetzgeber fehlt. Da der UNO nur in eng umschriebenen Bereichen die
Kompetenz zukommt, verbindliche Entscheidungen zu treffen, kann sie diesen Platz
eines internationalen Gesetzgebers nicht einnehmen.

Beispiel:
     Das an der Klimaschutzkonferenz von 1997 in Kyoto ausgehandelte, 2005 in
     Kraft getretene und bis 2020 verlängerte Zusatzprotokoll zur Ausgestaltung der
     Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (sog. Kyoto-Protokoll), statu-
     iert für die beigetretenen Staaten verbindliche Zielwerte für den Ausstoss von
     Treibhausgasen.

b) Verfassung

In der Schweiz stellt die Bundesverfassung (BV) als Rahmenordnung die oberste
Stufe der nationalen Rechtsordnung dar. Die BV regelt im Wesentlichen drei Berei-
che: Die Organisation des Bundes und dessen Organe (Volk, Bundesversammlung
[National- und Ständerat, Art. 148-173 BV], Bundesrat, Bundesverwaltung [Art.
174-187 BV] und das Bundesgericht [Art. 188-191 BV]), die Kompetenzverteilung
zwischen Bund und Kantonen (Art. 3 und 42 BV) und die Rechtsstellung des Indivi-
duums (z.B. Schweizerbürgerrecht, politische Rechte, Freiheitsrechte als Bestand-
teile des Grundrechtskatalogs). Die heute geltende Fassung wurde zuletzt im Jahre
1999 komplett revidiert. Einzelne Artikel werden aber immer wieder durch Volksab-
stimmungen neu geschaffen, geändert oder gelöscht.

c)   Gesetz

Das Gesetz ist ein hoheitlicher Erlass, der Rechtssätze enthält. Folgende Unter-
scheidung kann getroffen werden:

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    Gesetz im formellen Sinne ist jeder Erlass, der ein Gesetzgebungsverfahren
     einer Legislative (gesetzesgebende Gewalt, beim Bund der National- und Stän-
     derat) durchlaufen hat;

    Gesetz im materiellen Sinne ist jeder hoheitliche Erlass, der Rechtssätze
     enthält, also auch Verordnungen (vgl. sogleich lit. d) oder kantonale Dekrete.

d) Verordnung

Verordnungen sind hoheitliche Erlasse, die namentlich auf der Ebene der Exekutive
(gesetzesausführende Gewalt, z.B. Bundesrat) oder deren Verwaltungseinheiten
(z.B. Bundesamt für Gesundheit, usw.) erlassen wurden. Zudem gibt es Parla-
mentsverordnungen (vgl. Art. 163 Abs. 1 BV).

Voraussetzung für die Verordnungszuständigkeit ist eine Gesetzgebungsbefugnis,
die auf einer Delegation durch den formellen Gesetzgeber (Legislative) beruht. Eine
Ausnahme bilden die sog. selbständigen Verordnungen, welche sich direkt auf
die Bundesverfassung stützen.

e) Allgemeinverbindlich erklärte Verträge

Gesamtarbeitsverträge (GAV; d.h. Verträge zwischen Arbeitgebern oder Arbeitge-
berverbänden und Arbeitnehmerverbänden [Gewerkschaften]) können von der zu-
ständigen Behörde allgemein verbindlich erklärt werden (s. Bundesgesetz über die
Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen vom 28. September
1956; AVEG). Diese Allgemeinverbindlicherklärung hat zur Folge, dass der Gel-
tungsbereich des GAV auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer des betreffenden
Wirtschaftszweiges oder Berufes ausgedehnt wird.

f)   Gewohnheitsrecht

Vgl. B oben.

g) Richterrecht

Vgl. b) oben.

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III. Abgrenzung Privatrecht – öffentliches Recht

A.   Methoden der Abgrenzung

Die Zuordnung ist im Einzelfall schwierig; die Methoden zur Einteilung in öffentli-
ches oder privates Recht sind vielfältig:

a) Funktionstheorie

Das öffentliche Recht dient der Erfüllung öffentlicher, das Privatrecht privater Auf-
gaben.

b) Interessentheorie

Das öffentliche Recht dient (vorwiegend) der Durchsetzung öffentlicher Interessen,
das Privatrecht den Interessen Privater.

c)   Subjektstheorie

Das öffentliche Recht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Privaten
bzw. staatlichen Organisationen unter sich, das Privatrecht die Rechtsbeziehungen
unter Privaten.

d) Subordinationstheorie

Der Staat tritt im öffentlichen Recht als Träger von Hoheitsrechten auf, weshalb ein
Subordinations- bzw. Unterordnungsverhältnis besteht.

Keine dieser Theorien kann für sich allein bestehen. Das Bundesgericht hat sie da-
her seit jeher kombiniert und den konkreten Umständen des Einzelfalls angepasst
(vgl. etwa BGE 138 I 274 ff.).

Als Faustregel gilt, dass es sich um öffentliches Recht handelt, wenn der Staat (o-
der ein anderer Hoheitsträger) am Rechtsverhältnis beteiligt ist und mit „hoheitli-
cher“ Gewalt auftritt (Unterordnungsverhältnis). Andererseits liegt Privatrecht dann
vor, wenn die gleichgeordneten Rechtssubjekte – im Rahmen der Rechtsordnung –
ihre Rechtsverhältnisse frei gestalten können.

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B.   Funktionen der Einteilung

Im Privatrecht nehmen die einzelnen Rechtssubjekte ihre Interessen selbst wahr.

Das öffentliche Recht hat die Aufgabe, die öffentlichen Interessen zu wahren und zu
ordnen. Da die Vorschriften sowohl für die BürgerInnen als auch für die rechtsan-
wendenden Behörden zwingend sind, können sie von den Beteiligten weder im Ein-
vernehmen geändert, noch von ihnen abgewichen werden.

Die Einteilung in öffentliches und privates Recht hat im geltenden Recht mehrere
Funktionen:

a) Zuständigkeit für die Rechtssetzung

Der Bund ist für die Schaffung von materiellem und formellem Zivil- und Strafrecht
zuständig. Die Kantone können jedoch im Rahmen der nicht dem Bund vorbehalte-
nen Aufgaben öffentliches Recht frei erlassen. Art. 6 Abs. 1 ZGB bestimmt daher:
„Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen Befugnissen durch das Bundes-
zivilrecht nicht beschränkt“. Sie dürfen deshalb auch öffentlich-rechtliche Vorschrif-
ten aufstellen, die das Bundesprivatrecht ergänzen oder präzisieren. Allerdings dür-
fen sie nicht „gegen Sinn und Geist des Bundeszivilrechts verstossen“ (vgl. etwa
BGE 146 I 70). Ein Kanton überschreitet z.B. seine Befugnisse gemäss Art. 6 ZGB,
wenn er durch öffentlich-rechtliche Normen die Eintragung des Eigentumsüber-
gangs im Grundbuch (als privatrechtlichen Vorgang) durch Gebühren erschwert und
dadurch die bundesprivatrechtliche Eigentumsordnung beeinträchtigt (BGE 106 II
81 ff.).

b) Zuständigkeit für die Rechtsanwendung

Je nach Qualifikation der Rechtsnorm sind für die Beurteilung einer Frage die Ver-
waltungsbehörden oder die Zivilgerichte zuständig.

c)   Anwendbarkeit der Rechtsnormen

Es ist z.B. entscheidend, ob die Tätigkeit eines Arztes in einem öffentlichen Spital
als „hoheitliche“ (öffentlich-rechtliche) oder als privatrechtliche Tätigkeit qualifiziert
wird. Im ersten Fall richtet sich die Haftung für Kunstfehler nach dem kantonalen
Staatshaftungsgesetz, im zweiten nach den Regeln des OR (BGE 111 II 149 ff und
BGE 112 Ib 334 ff.).

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Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass in jüngerer Vergangenheit die Unter-
scheidung an Bedeutung verloren hat, weil zahlreiche Erlasse (v.a. im Wirtschafts-
recht) sowohl öffentlich-rechtliche als auch privatrechtliche Normen enthalten und
die beiden Rechtsgebiete oft auf denselben Grundgedanken basieren (z.B. Art. 6 BV
und Art. 2 ZGB).

IV. Norminhalt

Die Rechtsordnung setzt sich aus einzelnen Rechtssätzen (Normen) zusammen. Der
Rechtssatz weist zwei Bestandteile auf, nämlich

      die Umschreibung des abstrakten Tatbestands und

      die Rechtsfolge

Beispiel:
     Art. 111 StGB (vorsätzliche Tötung) Tatbestand: „Wer vorsätzlich einen Men-
     schen tötet, ohne dass eine der besonderen Voraussetzungen der nachfolgen-
     den Artikel zutrifft...,“. Rechtsfolge: „...wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf
     Jahren bestraft“.

     Die eigentliche Rechtsanwendung besteht in der Ermittlung des Sachverhalts
     und der anschliessenden Unterstellung des Sachverhalts unter den Tatbestand
     des gefundenen Rechtssatzes (sog. Subsumption).

A.   Ermittlung des Sachverhalts

Zur vollständigen Erfassung des Sachverhalts gehört die Sammlung und Untersu-
chung aller relevanten Tatsachen (z.B. Toter Mensch  Todesursache natürlich oder
durch Fremdeinwirkung? Liegt Vorsatz vor?). Anschliessend muss ermittelt werden,
ob diese Tatsachen in einem Rechtssatz gegeben sind. Gewisse Tatsachen können
manchmal nicht bewiesen oder nicht mehr festgestellt werden. Bei der Feststellung
des Tatbestandes muss also manchmal bereits mit gewissen Annahmen, d.h. Hypo-
thesen, gearbeitet werden.

Geschieht die Ermittlung des Tatbestandes in einem Verfahren vor einer staatlichen
Behörde (z.B. einem Gericht oder einer Verwaltungsinstanz), liegt diese entweder in
den Händen der Behörde („Ermittlung von Amtes wegen“, Grundsatz im Straf- und

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öffentlichen Recht) oder ist Aufgabe der beteiligten Parteien (Grundsatz im Privat-
recht).

B.   Subsumption

Bei der Subsumption muss kontrolliert werden, ob der Sachverhalt sämtliche Tatbe-
standsmerkmale eines Rechtsatzes erfüllt. D.h. es erfolgt eine Überprüfung, ob der
vermutete Artikel tatsächlich in diesem Fall Anwendung findet.

Beispiel:

     Sachverhalt:
     Der Einbrecher Joe wird vom Hausherr Franke auf frischer Tat ertappt, zieht
     daraufhin seine Pistole und erschiesst den liebenswürdigen Herrn Franke.

     Ermittlung des Sachverhaltes:
     Joe schiesst; Franke stirbt.

     Vermutete Artikel:
     - Art. 111 StGB (Vorsätzliche Tötung)
     Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besonderen Voraus-
     setzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter
     fünf Jahren bestraft.

     - Art 112 StGB (Mord)
     Handelt der Täter besonders skrupellos, sind namentlich sein Beweggrund, der
     Zweck der Tat oder die Art der Ausführung besonders verwerflich, so ist die
     Strafe lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jah-
     ren.

     - Art. 117 StGB (Fahrlässige Tötung)
     Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis
     zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

     Subsumption:
     Wurde ein Mensch getötet? Hat Joe Herrn Franke vorsätzlich getötet? Ist keine
     der „besonderen Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel“ gegeben? D.h. in
     diesem Fall: Hat Joe z.B. besonders skrupellos gehandelt in Bezug auf Beweg-
     grund, Zweck der Tat oder Ausführungsart (damit wäre der Tatbestand des
     Mordes gemäss Art. 112 StGB gegeben und die Strafe wäre lebenslängliche

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     Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren) oder hat er Herrn
     Franke ungewollt erschossen (damit wäre der Tatbestand der fahrlässigen Tö-
     tung gegeben und die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren).

     Rechtsfolge:
     Sind die jeweiligen sog. Tatbestandsmerkmale (bei Art. 111 StGB toter Mensch
     und Vorsatz) erfüllt, tritt die Rechtsfolge ein. Im vorliegenden Fall würde Joe zu
     mind. 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden.

V.   Auslegungsmethoden

A.   Grundlagen

Unter Auslegung des Gesetzes wird die Ermittlung des Sinnes und des Inhaltes ei-
ner Rechtsnorm verstanden.

Die Gesetzesauslegung ist immer dann besonders wichtig, wenn der Inhalt oder
Sinn einer Norm unklar oder zweifelhaft ist, oder wenn das Gesetz mit derart abs-
trakten Begriffen arbeitet, dass sie durch rechtsanwendende Organe (wie z.B. Ge-
richte) konkretisiert werden müssen. Von Auslegung spricht man aber auch dann,
wenn aus einer Norm klar ersichtlich ist, was sie regelt. Die Auslegung ist folglich
immer Teil der Gesetzesanwendung.

B.   Grammatikalische Auslegung

Diese stellt auf Wortlaut, Wortsinn und Sprachgebrauch ab. Als solche ist sie Aus-
gangspunkt jeder Auslegung.

C.   Systematische Auslegung

Sie versucht, den Sinn eines Rechtssatzes aus dem Verhältnis zu andern Rechts-
normen, aus dem Zusammenhang im Gesamtaufbau eines Gesetzes oder mehrerer
relevanter Erlasse zu ermitteln.

D. Historische Auslegung

Die historische Auslegung fragt als subjektiv historische Methode nach dem Wil-
len des damaligen konkreten Gesetzgebers, weitgehend unter Berücksichtigung der
Unterlagen zur Gesetzgebung (Materialien).

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Als objektiv historische Auslegung eruiert sie den Sinn eines Rechtssatzes, wie
er durch die allgemeine Betrachtung zur Zeit der Entstehung gegeben war. Massge-
bend ist für sie das damals übliche Verständnis.

E.   Teleologische Auslegung

Diese betont die Zweck-Zielvorstellung, die mit dem Rechtssatz verbunden ist.
In den Mittelpunkt rückt der Sinn einer Vorschrift, und zwar nach den beiden Ge-
sichtspunkten des Zwecks in der Sache und der dem Rechtssatz immanenten Wer-
tung. Diese Art von Auslegung erhöht den schöpferischen Spielraum, darf aber die
Rechtssicherheit nicht beeinträchtigen. Sie drängt sich dort auf, wo der Zweckaus-
richtung grosse Bedeutung zukommt.

Beispiel:
     Gemäss Art. 36 Abs. 1 aBV (aBV=alte Bundesverfassung; heute Art. 92 BV)
     sind das Post- und Fernmeldewesen Bundessache.
     Eine eigentliche Marktordnung legte die BV aber nicht fest. Art. 36 aBV musste
     deshalb ausgelegt werden, um zu ermitteln, ob die Liberalisierung des Tele-
     kommunikationswesens ohne Verfassungsänderung möglich sei. Der grammati-
     kalische Ansatz vermittelt keine weiteren Anhaltspunkte. Historisch lässt sich
     feststellen, dass die Verfassung von 1848 bewusst ein Bundesmonopol schaffen
     wollte (ausschliessliche Bundeskompetenz). Im Rahmen der systematischen
     Auslegung fällt in Betracht, dass der Ausdruck „ist Bundessache“ in der aBV
     nicht einheitlich verwendet wird, was bei der Auslegung der Marktordnung im
     Sinne der Regelung des Telekommunikationsmarktes kaum behilflich erscheint.

     Teleologisch steht die Aufgabenerfüllung im öffentlichen Interesse im Vorder-
     grund; zu gewährleisten ist ein allgemeiner Dienst zu vernünftigen finanziellen
     Bedingungen (Art. 36 Abs. 3 aBV).

     Fazit: Eine BV-Änderung erschien nicht notwendig.

F.   Exkurs: Die Auslegung von Rechtsgeschäften

Nicht nur Gesetzesnormen, sondern auch rechtsgeschäftliche Willenserklärungen
sind auszulegen. Anders als bei Normen ist dabei jedoch primär der wirkliche Wille
der Parteien massgebend (sog. Willensprinzip; Art. 18 Abs. 1 OR). Es ist deshalb
unerheblich, ob die Parteien ihren Willen für einen aussenstehenden Dritten unver-
ständlich geäussert haben (falsa demonstratio non nocet).

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Da es sich beim Parteiwillen um eine innere Tatsache handelt, welche kaum je ver-
lässlich festgestellt werden kann, führt das Willensprinzip nicht selten zu Proble-
men. Deshalb ist – als Ausfluss des Prinzips von Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1
ZGB; vgl. sogleich Ziff. VI unten) – ergänzend auf das Vertrauensprinzip abzu-
stellen. Danach sind Willenserklärungen so auszulegen, wie sie vom Erklärungs-
empfänger in guten Treuen verstanden werden konnten. Dabei muss in objektiver
Betrachtungsweise von einem Durchschnittsverhalten eines sorgfältig handelnden
Dritten ausgegangen werden. Die Willenserklärung wird also so ausgelegt, wie sie
eine vernünftige Person in den Schuhen des Erklärungsempfängers nach Treu und
Glauben verstehen durfte und musste.

VI. Handeln nach Treu und Glauben

A.   Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB)

Gemäss Art. 2 Abs. 1 ZGB ist jedermann verpflichtet, seine Rechte und Pflichten
nach Treu und Glauben zu erfüllen resp. wahrzunehmen.

Dabei umschreibt die Wendung „Treu und Glauben“ das Verhalten eines redlich und
anständig handelnden Menschen.

Der Begriff „Treu und Glauben“ spielt besonders bei der Auslegung von Willenser-
klärungen (vgl. F oben) eine bedeutsame Rolle, aber auch alle staatlichen Organe
sind dem Handeln nach Treu und Glauben verpflichtet (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV).

B.   Rechtsmissbrauchsverbot (Art. 2 Abs. 2 ZGB)

Art. 2 Abs. 2 ZGB umschreibt den qualifizierten Verstoss gegen Treu und Glauben,
den sog. Rechtsmissbrauch; er setzt der Ausübung von Rechten eine allgemeine
Schranke.

Scheinbares Recht und wirkliches Recht decken sich in diesem Fall nicht. Es besteht
zwar ein formales Recht, aber kein materielles Interesse an dessen Ausübung. Da-
her soll dieser Rechtsanspruch auch nicht geschützt werden. Dabei ist z.B. an jenen
Fall zu denken, wo jemand einzig und allein sein Recht dazu benutzt, jemand ande-
rem einen Schaden zuzufügen oder ihn zu schikanieren. Es muss sich dabei aller-
dings um einen offenbaren Rechtsmissbrauch handeln.

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Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I                        HS 2020/2021

Beispiel:
     Ein Vermieter versucht, die erkrankte Mieterin am Tag des Ablaufs der Miet-
     dauer aus der Wohnung auszuweisen, obwohl er die Wohnung gerade nicht
     braucht.

C.   Schutz des guten Glaubens (Art. 3 ZGB)

Ein Rechtsverhältnis kann einen Mangel aufweisen, wovon eine Person, die zu die-
sem Rechtsverhältnis eine bestimmte Beziehung hat, nichts weiss. Obgleich der
Rechtsmangel objektiv vorhanden ist, fehlt jener Person das Unrechtsbewusstsein,
sie ist gutgläubig.

Die schweizerische Rechtsordnung kennt keinen allgemeinen Gutglaubensschutz.
Zwar wird das Vorhandensein des guten Glaubens vermutet, diese Vermutung wirkt
sich jedoch nur dort aus, wo das Gesetz an den guten Glauben eine Rechtswirkung
knüpft.

Beispiel:
     Im Zusammenhang mit der Rückleistung von Vermögenswerten, die jemandem
     zugewendet worden sind, statuiert Art. 528 ZGB: „Wer sich in gutem Glauben
     befindet, ist zur Rückleistung nur insoweit verbunden, als er zur Zeit des Erb-
     ganges aus dem Rechtsgeschäfte mit dem Erblasser noch bereichert ist.“ Kennt
     die Person hingegen den Rechtsmangel, ist sie bösgläubig und muss z.B. die
     Vermögenswerte, die ihr ohne Grund zugewendet worden sind, gesamthaft
     rückerstatten (vgl. Art. 64 OR).

In beiden Fällen macht das Gesetz somit die Rechtsfolgen vom guten und vom bö-
sen Glauben abhängig. Der Beweis, dass man einen bestimmten Rechtsmangel
nicht kannte, kann sehr schwierig sein. Das Vorliegen des guten Glaubens muss
daher gemäss Art. 3 Abs. 1 ZGB nicht bewiesen werden, sondern wird vermutet.
Die Gegenpartei kann aber den Beweis erbringen, dass die betreffende Person bös-
gläubig war.

Die Vermutung des guten Glaubens wird in Art. 3 Abs. 2 ZGB eingeschränkt. Gut-
gläubig ist nur derjenige, der auch bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit den
Rechtsmangel nicht erkennen konnte. Man kann sich daher nicht auf Unkenntnis
berufen und den Gutglaubensschutz in Anspruch nehmen, wenn man den Rechts-
mangel aufgrund seines eigenen leichtfertigen oder fahrlässigen Verhaltens nicht
bemerkt hat. Die Beurteilung, ob eine Partei genügend Aufmerksamkeit walten liess

                                                                                       16
Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I                        HS 2020/2021

und einen Rechtsmangel hätte erkennen können, bleibt dem richterlichen Ermessen
überlassen.

2. Privatrecht

I.   Grundlagen

A.   Kodifikation

a) Schweizerisches Zivilgesetzbuch

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (ZGB; SR 210) be-
steht aus vier Teilen:

          1. Teil: Personenrecht (Art. 11 – 89c ZGB);

          2. Teil: Familienrecht (Art. 90 – 456 ZGB);

          3. Teil: Erbrecht (Art. 457 – 640 ZGB);

          4. Teil: Sachenrecht (Art. 641 – 977 ZGB).

Diese vier Teile werden von den sogenannten Einleitungs- (Art. 1-9 ZGB) und
Schlusstiteln (Art. 1 – 61 SchlT ZGB) des ZGB umschlossen. Während die Einlei-
tungstitel einige für die Rechtsauslegung und Rechtsanwendung wesentliche
Grundsätze enthalten, regeln die Schlusstitel das Verhältnis zum früheren Recht.
Das ZGB ist in Teile, Titel und Abschnitte gegliedert.

b) Obligationenrecht

Das Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizeri-
schen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) (OR; SR 220) bildet ne-
ben dem Sachenrecht den zweiten Teil des Vermögensrechts. Das OR ist ein Spezi-
alfall, da es sowohl die Stellung eines besonderen Bundesgesetzes, als auch jene
des 5. Teils des Zivilgesetzbuches einnimmt, indem es dem ZGB als fünfter Teil
angegliedert ist. Ungeachtet dieser Stellung hat das OR seine eigene Paragrafie-
rung, d.h. es beginnt mit dem Artikel 1.

Die oberste Hierarchiestufe des OR bilden die Abteilungen. Die ersten beiden Abtei-
lungen des OR beschäftigen sich mit den Allgemeinen Bestimmungen und den ein-
zelnen Vertragsverhältnissen, welche auch Obligationenrecht allgemeiner Teil (OR
AT) bzw. Obligationenrecht besonderer Teil (OR BT) genannt werden.

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Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I                          HS 2020/2021

In der dritten Abteilung werden die Handelsgesellschaften und die Genossenschaft
geregelt, während die vierte Abteilung das Handelsregister, die Geschäftsfirmen
und die kaufmännische Buchführung normiert. Als letzte und fünfte Abteilung gelten
die Bestimmungen zu den Wertpapieren. In der dritten, vierten und fünften Abtei-
lung werden mithin die Grundzüge des schweizerischen Wirtschaftsrechts gesetzlich
verankert.

Das OR ist in Abteilungen, Titel und Abschnitte gegliedert. Die einzelnen Artikel sind
sodann, wie beim ZGB, in Absätze, Ziffern und Buchstaben gegliedert.

Nicht alle obligationenrechtlichen Materien sind im OR geregelt. Das OR wird durch
eine grosse Fülle von Sondergesetzen, wie zum Beispiel das Produktehaftpflichtge-
setz (PrHG, SR 221.112.944), ergänzt.

B.   Subjektive Rechte

Subjektive Rechte sind Berechtigungen einer einzelnen Person gegenüber anderen.
Es liegt folglich eine „Recht-Pflicht-Beziehung“ zwischen mindestens zwei Rechts-
subjekten vor.

Jedem subjektiven Recht liegt ein objektives Recht zugrunde. Objektives Recht ist
die Summe aller Normen, die zu einer bestimmten Zeit und für einen bestimmten
Rechtsraum gelten. Jede subjektive Berechtigung, die man aus dem objektiven
Recht ableitet, bildet das spezifische subjektive Recht.

Beispiel:
     Anhand von Art. 41 Abs. 1 OR:
     Die Voraussetzungen finden sich im objektiven Recht, also dem Tatbestand der
     Norm

     Tatbestandsmerkmale von Art. 41 Abs. 1 OR sind:

     1. Schaden
     2. Widerrechtlichkeit
     3. Verschulden
     4. Adäquater Kausalzusammenhang

     Wenn alle Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, tritt die Rechtswirkung (-
     folge) ein. Das subjektive Recht entsteht, in unserem Fall ein Schadenersatzan-
     spruch.

                                                                                         18
Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I                                HS 2020/2021

Grundsatz: Kein subjektives Recht ohne Norm (objektives Recht)!

     Bei den subjektiven Rechten wird zwischen primären und sekundären sub-
       jektiven Rechten unterschieden.

     Die primären subjektiven Rechte umfassen Ansprüche, welche auf einer
       vertraglichen Abmachung basieren oder direkt aus einer gesetzlichen Grund-
       lage resultieren.

Beispiel:
    Aus Vertrag: Im Rahmen eines Kaufvertrages hat der Verkäufer Anspruch auf
    Bezahlung des Kaufpreises und der Käufer Anspruch auf Übereignung der Kauf-
    sache zu Eigentum (Art. 184 OR).

    Aus Gesetz: A schädigt B widerrechtlich; A hat Anspruch auf Ersatz des Scha-
    dens (Art. 41 OR). Die sekundären subjektiven Rechte (sog. Gestaltungs-
    rechte) setzen ein primäres Recht voraus. Wird ein Gestaltungsrecht ausgeübt,
    handelt es sich um einen einseitigen Eingriff in die Rechtsphäre der Gegenpar-
    tei. Derjenige, der das Gestaltungsrecht ausübt, kann ohne Zustimmung der
    anderen am Rechtsverhältnis beteiligten Personen gestaltend in das Rechtsver-
    hältnis eingreifen. Gestaltungsrechte können sich wie die primären subjektiven
    Rechte ebenfalls aus Vertrag oder Gesetz ergeben. Ein vertragliches Gestal-
    tungsrecht ist bspw. ein Vorkaufsrecht (Art. 216c OR). Das Rücktrittsrecht des
    Gläubigers im Verzug des Schuldners (Art. 107 Abs. 2 OR) ist demgegenüber
    bspw. ein gesetzliches Gestaltungsrecht. S. zu den Gestaltungsrechten im De-
    tail Bst. 0, S. 25 ff.

In der Übersicht:

                                   Subjektive Rechte

                      Primäre                                    Sekundäre

                                                                 Gestaltungsrechte

     Relative Rechte            Absolute Rechte
     (Forderungen)              (Dingliche Rechte, Persönlichkeits-
                                rechte, Immaterialgüterrechte)

                                                                                            19
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                        Vermögensrechte
                   (alle geldwerten subjektiven Rechte,
                       die einer Person zustehen)
Beispiel:
    Schuldnerverzug

    Art. 107 OR – Rücktritt und Schadenersatz

    1
        Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so
    ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Er-
    füllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.

    2
        Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger
    immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt
    dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leis-
    tung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen
    Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.

In Art. 107 Abs. 2 OR sieht das Gesetz ein Wahlrecht des Gläubigers vor (Gestal-
tungsrecht): Er kann auf die primäre Leistung (primäres subjektives Recht: bspw.
Herausgabe des geliehenen Buches) verzichten und stattdessen Schadenersatz we-
gen Nichterfüllung verlangen oder den Rücktritt vom Vertrag erklären.

a) Absolutes subjektives Recht

Zu den absoluten subjektiven Rechten gehören:

     dingliche Rechte = Sachenrechte (Bsp.: Eigentum)

     Persönlichkeitsrechte

     Immaterialgüterrechte

Absolute Rechte stehen jedem berechtigten Rechtssubjekt (z.B. einem Eigentümer)
gegenüber allen anderen Rechtssubjekten zu (Wirkung gegenüber jedermann =
Wirkung „erga omnes“). Die absoluten Rechte zielen darauf ab, Eingriffe in die
Herrschaft über ein subjektives Recht abzuwehren. Demgegenüber wirken relative
Rechte nur „inter partes“ (zwischen den beteiligten Parteien; vgl. sogleich b).

                                                                                      20
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1.   Dingliche Rechte

(i) Eigentum

Das wohl wichtigste dingliche Recht ist das Eigentum (Art. 641 ff. ZGB): Wer Eigen-
tümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach
seinem Belieben verfügen. Dem Eigentümer steht somit die unmittelbare Herrschaft
an seinen Sachen zu. Er kann sein Eigentum gegenüber jedermann geltend ma-
chen, der ihm die Sache vorenthält oder ihn sonst wie in der Ausübung seines Ei-
gentumsrechts beeinträchtigt. Als rechtliches Mittel steht dem Eigentümer dazu die
Herausgabeklage (sog. Vindikation) zum Schutz seines Eigentums gegenüber je-
dermann zu, der ihm bei der Ausübung seines Herrschaftsrechtes entgegensteht
(vgl. dazu ausführlich Ziff. B, S. 42).

Beispiel:
     A stiehlt den im Eigentum des E stehenden Ring.

     Es entsteht ein Anspruch zwischen E und A auf Rückgabe des Eigentums (Klage
     auf Herausgabe des vorenthaltenen Eigentums). Das absolute subjektive Recht
     (Eigentum) des E gibt diesem also das Recht, die Sache von A heraus zu ver-
     langen. Weil es sich um eine bewegliche Sache handelt, die dem E gestohlen
     wurde, kann er seinen Herausgabeanspruch auch auf Art. 934 Abs. 1 ZGB stüt-
     zen.

(ii) Beschränkte dingliche Rechte

Die beschränkten dinglichen Rechte vermitteln ihrem/ihrer InhaberIn im Unter-
schied zum Eigentum lediglich partielle Befugnisse, welche verschiedener Art sein
können: Beispielsweise gewähren die Dienstbarkeiten die Nutzung oder den Ge-
brauch einer Sache (Nutzungs- und Gebrauchsrechte). Die Pfandrechte dienen zur
Sicherstellung einer Forderung. Sie berechtigen unter bestimmten Voraussetzungen
zur Verwertung der Sache und zur vorrangingen Befriedigung aus dem Verwer-
tungserlös (Sicherungs- und Verwertungsrechte). Gleich wie das Eigentum wirken
auch beschränkte dingliche Rechte gegenüber jedermann („erga omnes“). Sie ver-
mitteln dieselben Schutzrechte gegenüber unbefugten Dritten wie das Eigentum.

2.   Persönlichkeitsrechte

Persönlichkeitsrechte sind Rechte, die dem/der Einzelnen um seiner/ihrer selbst
willen zustehen und untrennbar mit seiner Person verknüpft sind.

                                                                                      21
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Zu den anerkannten Teilbereichen des Persönlichkeitsrechts gehören z.B. das Recht
auf Leben, die persönliche Freiheit, das Recht auf den Namen, das Recht auf Ach-
tung der Privatsphäre und das Recht auf Ehre. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte
steht allen Rechtssubjekten zu (d.h. sowohl natürlichen, als auch juristischen Per-
sonen, soweit nicht natürliche Eigenschaften des Menschen notwendige Vorausset-
zungen bilden [Art. 53 ZGB]). Die Persönlichkeitsrechte berechtigten ihre TrägerIn-
nen dazu, gegen jedermann vorzugehen, der diese verletzt oder an deren Verlet-
zung mitwirkt (vgl. Art 28 Abs. 1 ZGB; Wirkung „erga omnes“). Nähere Ausführun-
gen zu den Personenrechten folgen in Kapitel II unten.

3.   Immaterialgüterrechte

Immaterialgüterrechte sind Ausschliesslichkeitsrechte, die vom Gesetz gewährt
werden. Sie wirken gegenüber jedermann. Das Immaterialgüterrecht ist stark in-
ternational verflochten, so dass zahlreiche Staatsverträge bestehen, die jeweils von
einer grossen Anzahl von Vertragsparteien ratifiziert wurden. Es existieren insbe-
sondere die folgenden Immaterialgüterrechte:

(i) Patentrecht

Das Patentrecht dient dem Schutz von Erfindungen. Zu Erfindungen zählen Produk-
te (z.B. beheizbare Skischuhe, chemische Verbindungen wie Aspirin, etc.) und Ver-
fahren (z.B. Verfahren zur Gefriertrocknung von Kaffee). Ein Erfinder kann unter
gewissen Voraussetzungen ein Ausschliesslichkeitsrecht an seiner Erfindung bean-
spruchen. Grundsätzlich erlischt der Patentschutz 20 Jahre nach der Anmeldung der
Erfindung. Die Erfindung soll danach allen offen stehen. Daher wird ein Patent nur
erteilt, wenn in der Anmeldung die technische Lehre der Erfindung in der Weise
offenbart wird, dass sie von einem Fachmann nachvollzogen und ausgeführt werden
kann. Die Schutzwirkung des Patentrechts gegenüber jedermann tritt erst mit Ein-
tragung des Patentes in das Patentregister ein (konstitutive Wirkung des Eintrags).

(ii) Designrecht

Das Designrecht schützt Gestaltungen von Erzeugnissen oder Teilen von Erzeugnis-
sen, die namentlich durch die Anordnung von Linien, Flächen, Konturen oder Farben
oder durch das verwendete Material charakterisiert sind (äussere Gestaltung von
etwas Zweidimensionalem [Muster; z.B. Stoffmuster] oder von etwas Dreidimensi-
onalem [Modell; z.B. Zahnbürste]). Designschutz geniesst somit die äusserlich
wahrnehmbare Gestaltung von Gegenständen.

                                                                                       22
Skriptum zur Vorlesung Einführung ins Recht I                         HS 2020/2021

Diese Gestaltung muss zudem ästhetisch motiviert sein. Die Schutzdauer beträgt
fünf Jahre und ist viermal erneuerbar. Wie bei den Patentrechten besteht auch bei
den Designrechten ein Register. Erst mit Eintrag in das Register entsteht die
Schutzwirkung des Designrechts.

(iii) Markenrecht

Die Marke ist ein Zeichen, das geeignet ist, Waren oder Dienstleistungen eines Un-
ternehmens von solchen anderer Unternehmen zu unterscheiden. Die Marke kann
in Worten (z.B. Victorinox), Buchstaben (z.B. SBB), Zahlen (z.B. 501), bildlichen
Darstellungen (z.B. Swisscom-Logo), dreidimensionalen Formen (z.B. Mercedes-
Stern), akustischen Zeichen, abstrakten Farben oder Slogans (z.B. „Katzen würden
Whiskas kaufen“) bestehen. Auch hier entfaltet sich die Schutzwirkung erst mittels
Eintragung in das entsprechende Register. Für die eingetragenen Marken ist die
Schutzdauer unbegrenzt.

(iv) Urheberrecht und verwandte Schutzrechte

Das Urheberrechtsgesetz (URG, SR 231.1) regelt den Schutz der UrheberInnen von
Werken der Literatur und Kunst sowie den Schutz der ausübenden KünstlerInnen,
der HerstellerInnen von Ton- und Tonbildträgern sowie Sendeunternehmen. Das
Urheberrecht schützt somit Werke. Als Werke gelten geistige Schöpfungen in den
Bereichen Literatur und Kunst, die individuellen Charakter haben. Ein Werk muss
nicht in ein spezielles Register eingetragen werden, damit der Urheberrechtsschutz
entsteht. Dieser Schutz entsteht vielmehr bereits, sobald das Werk geschaffen ist.
Die Schutzdauer erstreckt sich 70 Jahre (für Computerprogramme 50 Jahre) über
den Tod des Urhebers oder der Urheberin hinaus.

(v) Firmenrecht

Die Firma ist der für den Handelsverkehr gewählte und im Handelsregister einge-
tragene Name eines Unternehmens. Die Firma dient somit ähnlich wie die Marke
der Individualisierung von Unternehmen. Einzelunternehmen, Kollektivgesellschaf-
ten,   Kommanditgesellschaften,    Aktiengesellschaften    (AGs),   Kommandit-AGs,
GmbHs und Genossenschaften können eine Firma haben. Dagegen verfügen der
Verein, die Stiftung und die einfache Gesellschaft nicht über eine Firma.

                                                                                     23
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b) Relatives subjektives Recht

Das relative subjektive Recht (Forderung/Anspruch) richtet sich nicht gegenüber
jedermann (wie die absoluten subjektiven Rechte), sondern nur gegen eine be-
stimmte, verpflichtete Person. Mit anderen Worten handelt es sich bei den relativen
subjektiven Rechten um Rechte, aus denen der Berechtigte von einem Verpflichte-
ten eine Leistung verlangen kann.

Beispiel:
     A schuldet B Schadenersatz, weil A das Fenster von B mit einem Fussball zer-
     schlagen hat.

     B steht das relative subjektive Recht der Forderung zu. Sollte A nicht für den
     Schaden aufkommen, kann B die Bezahlung der Schadenssumme auf dem
     Rechtsweg geltend machen.

c)   Abgrenzung Forderung – Anspruch

Als Forderung wird die Situation verstanden, bei welcher eine Partei von einer (o-
der mehreren) bestimmten Person(en) ein Tun, Dulden oder Unterlassen verlangen
kann. Eine Forderung kann durch Vertrag (Art. 1 ff. OR), unerlaubte Handlung (Art.
41 ff. OR), ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 ff.), aus Vertrauen oder Ge-
schäftsführung ohne Auftrag entstehen (vgl. Teil B unten). Nach Art. 75 OR werden
Forderungen grundsätzlich mit der Entstehung fällig. Die Parteien können indessen
auch etwas anderes vereinbaren (bspw. einen bestimmten Lieferzeitpunkt). Dies-
falls wird die Forderung erst mit diesem Zeitpunkt fällig. Sobald die Forderung fällig
ist und damit rechtlich durchgesetzt werden kann (bspw. mittels Klage), wird sie
Anspruch genannt.

Beachte:
     -   Z.B. Art. 513 OR: aus Spiel und Wette entsteht kein Anspruch.
     -   Die Verjährung trifft nur den Anspruch, eine Forderung kann nicht verjähren,
         sie besteht ewig weiter bis sie erfüllt wird.
     -   Die Einrede hemmt den Anspruch.
     -   Die Forderung geht unter bei Erfüllung, Erlass und Neuerung durch Rechts-
         geschäft.

                                                                                         24
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d) Gestaltungsrechte

Gestaltungsrechte (sekundäre subjektive Rechte) räumen einem Rechtssubjekt die
Befugnis ein, ohne Mitwirkung der betroffenen Partei (d.h. einseitig) eine Verände-
rung im Bestand der subjektiven Rechte dieser Partei herbeizuführen. Die Ausübung
eines Gestaltungsrechts erfordert grundsätzlich eine einseitige, rechtsgeschäftliche
und empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Ausübung eines Gestaltungsrechts
hat frei von Bedingungen zu erfolgen. Einmal ausgeübt, ist ein Gestaltungsrecht
zudem unwiderruflich, d.h. die ausübende Partei kann ohne Einverständnis der an-
deren Partei nicht darauf zurückkommen.

1.   Rechtsbegründende Gestaltungsrechte

Rechtsbegründende Gestaltungsrechte schaffen/begründen ein neues Rechtsver-
hältnis.

Beispiel:
     A will sein Land verkaufen. B hat ein Vorkaufsrecht. Das heisst, sobald A das
     Land verkaufen will, hat B das Recht, das Land von A zu kaufen. Weiss B nun,
     dass A das Land verkaufen will, hat er die Möglichkeit, einseitig über ein Zu-
     standekommen eines Kaufvertrages zwischen ihm und A über das Land zu ent-
     scheiden. Durch die Ausübung des Vorkaufsrechts entsteht unmittelbar ein
     neues Rechtsverhältnis, nämlich ein Kaufvertrag.

2.   Rechtsändernde Gestaltungsrechte

Rechtsändernde Gestaltungsrechte ändern bzw. verändern ein bestehendes Rechts-
verhältnis.

Beispiel:
     A muss B am 20. Oktober 1 kg Äpfel liefern. A liefert nicht. Er gerät daher ab
     dem 21. Oktober in Verzug.

     Nach dem Verstreichen einer angemessenen Nachfrist, steht B das Wahlrecht
     zu (Art. 107 OR). Er kann entweder an der Erfüllung (nebst Ersatz des Ver-
     spätungsschadens) festhalten oder auf die verspätete Leistung verzichten und
     Schadenersatz für den aus der Nichterfüllung entstandenen Schaden verlangen.

                                                                                       25
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3.   Rechtsaufhebende Gestaltungsrechte

Rechtsaufhebende Gestaltungsrechte heben ein bestehendes Rechtsverhältnis auf.

Beispiel:
     A wohnt seit 3 Jahren in der Mietwohnung von B. Er kündigt die Wohnung mit
     der im Mietvertrag vorgesehenen Frist von 3 Monaten.

Eine Möglichkeit, die Durchsetzung der Ansprüche einer anderen Partei zu hemmen,
sind die sogenannten Einreden. Sie werden vor Gericht aber nur dann berücksich-
tigt, wenn sie der Schuldner auch tatsächlich erhebt („auf Antrag hin“). Im Gegen-
satz dazu lassen die Einwendungen eine Forderung untergehen (resp. nicht entste-
hen), was vom Gericht von Amtes wegen zu berücksichtigen ist.

(i) Einreden

Dilatorische Einrede

Die dilatorische Einrede (dilatio [lat.] = Aufschub, Verzögerung) hemmt den An-
spruch des Gläubigers gegen den Schuldner vorübergehend, d.h. ein Anspruch kann
vom Gläubiger während einer gewissen Zeitspanne nicht durchgesetzt werden. Die
in der Praxis wichtigste dilatorische Einrede ist die Einrede des nicht erfüllten Ver-
trages.

Beispiel:
     A und B schliessen einen Vertrag ab. Um sicherzugehen, dass A auch wirklich
     leistet, steht B nach Art. 82 OR eine aufschiebende Einrede zu. Damit darf B bis
     zur Erbringung oder zum Angebot der Gegenleistung von A seine geschuldete
     Leistung zurückbehalten.

Peremptorische Einrede

Die peremptorische Einrede (peremptio [lat.] = Vernichtung) führt dazu, dass ein
Anspruch von der fordernden Partei bei der Gegenpartei dauerhaft nicht durchsetz-
bar ist. Die wohl bekannteste peremptorische Einrede ist die Einrede der Verjährung
(Art. 127-142 OR).

Beispiel:
     A bestellt beim Bäcker B eine Torte zu seiner Hochzeit. Sie vereinbaren, dass B
     nach der Hochzeit A eine Rechnung schicken wird. Wenn B 5 Jahre nach Auslie-
     ferung der Torte noch immer keine Rechnung gestellt hat, so verjährt seine

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     Forderung (Art. 128 Ziff. 2 OR). Stellt B nach diesem Zeitpunkt doch noch eine
     Rechnung, so kann A die Einrede der Verjährung erheben und muss die Torte
     nicht mehr bezahlen. Die Forderung (Bezahlung der Torte) besteht zwar noch
     und kann erfüllt werden, aber der Anspruch ist nach 5 Jahren untergegangen.

(ii) Einwendungen

Die Einwendung richtet sich im Unterscheid zur Einrede nicht nur gegen die Durch-
setzbarkeit eines Anspruchs, sondern gegen den Bestand einer Forderung. Man un-
terscheidet zwischen rechtsvernichtenden und rechtshindernden Einwendungen.
Rechtshindernde Einwendungen lassen das geltend gemachte Recht erst gar
nicht entstehen (z.B. Nichtigkeit eines Vertrages wegen eines Verstosses gegen die
guten Sitten, Art. 20 OR). Bei den rechtsvernichtenden Einwendungen erlischt
ein zunächst wirksam entstandenes Recht nachträglich wieder (z.B. durch Rücktritt
vom Vertrag oder durch Erfüllung).

C.   Rechtsgeschäft

Ein Rechtsgeschäft ist ein Tatbestand, bei welchem die Rechtsordnung an eine oder
mehrere Willenserklärungen die von den Parteien gewünschte Rechtsfolge knüpft.

Unter Willenserklärung versteht man die private Willenskundgabe, die auf die Erzie-
lung einer Rechtsfolge gerichtet ist.

Liegt dem Rechtsgeschäft eine einzige Willenserklärung zugrunde, so liegt ein ein-
seitiges Rechtsgeschäft vor (z.B. Kündigung). Sind dagegen die übereinstimmenden
Willensäusserungen mehrerer erforderlich, handelt es sich um ein zwei- bzw. mehr-
seitiges Rechtsgeschäft (z.B. Vertrag). Die Willenserklärungen können ausdrücklich
oder stillschweigend (konkludent) erfolgen. Bei einer ausdrücklichen Willenserklä-
rung kommt der Geschäftswille des Erklärenden unmittelbar in der Erklärung zum
Ausdruck (Beispiel: „Ich nehme Ihr Angebot an“).

Demgegenüber kann bei einer stillschweigenden (konkludenten) Willenserklärung
nur aufgrund des Verhaltens einer Person darauf geschlossen werden, dass diese
ein Rechtsgeschäft abschliessen will (Beispiel: Das Versandhaus versendet die vom
Käufer schriftlich bestellte Ware; darin liegt eine gleichzeitige Annahme des Ver-
tragsangebots).

In der Regel können Rechtsgeschäfte formfrei abgeschlossen werden. In Ausnah-
mefällen gelten aber Formvorschriften, meist deshalb, um die beteiligten Parteien

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vor einer übereilten Handlung zu schützen. Der Schutz äussert sich durch im Gesetz
vorgesehene Formerfordernisse (v.a. Schriftlichkeit, notarielle Beurkundung) für
gewisse Handlungen (z.B. beim Testament [Art. 498 ff. ZGB]).

Die Rechtsgeschäfte können wie folgt gegliedert werden:

a) Rechtsbegründende, -ändernde, -aufhebende Rechtsgeschäfte

Beim rechtsbegründenden Rechtsgeschäft werden Rechte und Pflichten zwischen
zwei Rechtssubjekten begründet (z.B. Abschluss eines Kaufvertrags).

Beim rechtsändernden Rechtsgeschäft wird die Rechtsstellung zweier Rechtssubjek-
te in Bezug auf ein Rechtsobjekt geändert (z.B. Eigentumsübertragung an Fahrnis-
sache durch Besitzübergabe).

Beim rechtsaufhebenden Rechtsgeschäft wird das Rechtsverhältnis als Ganzes auf-
gehoben (z.B. Kündigung eines Mietvertrages [Gestaltungsrecht]; Aufhebungsver-
einbarung [sog. „contrarius actus“]).

b) Einseitiges und zwei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft

Beim einseitigen Rechtsgeschäft bedarf es nur der Willensäusserung eines einzigen
Rechtssubjekts, wie z.B. Errichtung eines Testaments (Art. 498 ZGB), Einräumung
einer Vollmacht, Gründung einer Stiftung oder Ausübung von Gestaltungsrechten.

Bei zwei- oder mehrseitigen Rechtsgeschäften bedarf es übereinstimmende Willens-
erklärungen mehrerer Parteien.

Beispiele:

        Ehevertrag (zweiseitiges Rechtsgeschäft, Art. 184 ZGB),

        Gründung oder Beschlüsse von Gesellschaften (mehrseitige Rechtsgeschäf-
         te).

c)   Rechtsgeschäft unter Lebenden und Rechtsgeschäft von Todes wegen

Nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Wirkungen können Rechtsgeschäfte unterteilt
werden in solche unter Lebenden und solche von Todes wegen.

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Rechtsgeschäfte unter Lebenden sollen zu Lebzeiten der Beteiligten Wirksamkeit
entfalten (z.B. Kauf, Miete usw.) und sind regelmässig formfrei gültig.

Rechtsgeschäfte von Todes wegen gestalten die Erbfolge. Sie sind formgebunden
(vgl. z.B. Art. 498 ff. ZGB: öffentliche Beurkundung oder Eigenhändigkeit des Tes-
taments). Der Grund für die Formstrenge liegt darin, dass diese Rechtsgeschäfte
erst nach dem Tod des Erklärenden wirksam werden und dieser über seine Auffas-
sungen und Absichten nicht mehr befragt werden kann.

d) Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft

Das Verpflichtungsgeschäft begründet eine oder mehrere Verpflichtungen zu einem
Tun, Dulden oder Unterlassen (Obligationen) und damit ein Schuldverhältnis (z.B.
Vertrag). Verpflichtungsgeschäfte kann jeder Handlungsfähige abschliessen.

Beispiel:
    V und K schliessen einen Kaufvertrag über einen Rolls Royce ab. Der Käufer K
    wird verpflichtet, V den Kaufpreis zu bezahlen und V wird verpflichtet, K diesen
    Wagen zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen. Mit Ab-
    schluss des Kaufvertrages ändert sich allerdings an den Eigentumsverhältnissen
    noch nichts: V bleibt Eigentümerin des verkauften Rolls Royce. Die Aktiven von
    V werden also durch den Kaufvertrag (das Verpflichtungsgeschäft) nicht ver-
    mindert, wohl aber werden die Passiven von V vermehrt.

Das Verfügungsgeschäft ändert unmittelbar und endgültig den Bestand oder den
Inhalt eines Rechts (z.B. Übergabe der Sache [traditio]). Durch das Verfügungsge-
schäft werden Rechte übertragen, belastet, geändert oder aufgehoben. Für ein Ver-
fügungsgeschäft bedarf es der Verfügungsmacht über den betreffenden Gegen-
stand.

Beispiel:
    Durch die Übergabe des Besitzes und der dadurch bewirkten Eigentumsver-
    schaffung (Verfügungsgeschäft) wird K neuer Eigentümer des Rolls Royce.
    Durch das Verfügungsgeschäft vermindern sich unmittelbar die Aktiven des
    Verfügenden.

    Das Verpflichtungsgeschäft geht dem Verfügungsgeschäft als Grundgeschäft
    zeitlich vor (z.B. geht der Kaufvertrag [Grundgeschäft] der Übergabe der Kauf-
    sache zu Eigentum an den Käufer [Verfügungsgeschäft] voraus).

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