Einstein in der Kindertageseinrichtung - Von der Betreuungseinrichtung zur Bildungseinrichtung
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Einstein in der Kindertageseinrichtung Von der Betreuungseinrichtung zur Bildungseinrichtung Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Wie Valentin sich eine Kindertagesstätte vorstellt Zeichnung von Valentin Lill, 8 Jahre
Einstein in der Kindertageseinrichtung Qualitätsentwicklungsprozess zur Unterstützung eines neuen pädagogischen Handelns in Kindertageseinrichtungen der Landeshauptstadt Stuttgart Von der Betreuungseinrichtung zur Bildungseinrichtung Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 1
Lieber Dr. Einstein, mein Vater und ich wollen eine Rakete bauen und zum Mars und Venus fliegen. Wir hoffen, dass Sie mitkommen... Macht es Ihnen etwas aus, wenn Mary auch mitkommt? Sie ist zwei Jahre alt. Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Jeder muss für seine Verpflegung selbst sorgen, weil wir pleite gehen, wenn wir alles zahlen! Ich hoffe, Sie haben eine gute Reise, wenn Sie mitkommen. Herzlich John Jürgensen 2 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, spätestens seit Pisa ist uns allen bewusst, dass sich die Bildungsbedingungen für unsere Kinder grundlegend verbessern müssen. Das gilt vor allem für die unter Sechsjährigen. Denn von ihnen wissen wir, dass sie besonders wissbegierig und lernfähig sind. So hat das Jugendamt bereits 2001 begonnen, das Konzept “Einstein in der Kita” zu entwickeln. Ein Jahr später beauftragte es “infans”, das Institut für angewandte Sozialisationsforschung in Berlin, ein neuartiges Konzept unter Stuttgarter Bedingungen zu erproben. Das geschah in acht so genannten „Laborkitas“, mit rund 700 Kindern, ihren Eltern und über 100 Fachkräften des Jugendamtes. Die Erprobung verlief so erfolgreich, dass diese Kindertageseinrichtungen in einem bundesweiten Wettbewerb als die besten Deutschlands ausgezeichnet wurden. Was „Einstein in der Kita“ bedeutet, wollen wir Ihnen in dieser Broschüre vorstellen. Viel Spaß beim Lesen wünschen Ihnen Ihre Gabriele Müller-Trimbusch Bruno Pfeifle Bürgermeisterin Leiter des Jugendamtes Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 3
Warum „Einstein“? „Jedes Kind bringt Das bedauerte Albert Einstein, „Das Schönste und Tiefste, eine göttliche Neugier der in Ulm geborene weltbe- was der Mensch erleben kann, mit… die so oft rühmte Physiker, schon 1930 in ist das Gefühl des Geheimnis- frühzeitig verkümmert“ seiner Rede über Bildung und vollen”, Erziehung. betonte Albert Einstein. Damit Seinen eigenen kindlichen Wis- beschrieb er eine Erfahrung, die sensdrang konnte er sich zeit für Kinder zum Alltag gehört, seines Lebens bewahren. während sie für Erwachsene immer seltener wird. So sagte er über sich selbst: „Ich habe keine besondere Für den berühmten Physiker Begabung; ich bin nur leiden- war das Geheimnisvolle keine schaftlich neugierig“. Privatsache. Er war weltoffen und bereit, Verantwortung für Heute wissen wir aus der mo- ein friedliches Zusammenleben dernen Hirnforschung, Ent- der Menschen zu übernehmen. wicklungspsychologie und Pä- So erschien uns Einstein als der dagogik, dass die natürliche passende Namenspate für den Neugier des Kleinkindes von neuen Bildungsauftrag der grundlegender Bedeutung ist: städtischen Kindertageseinrich- Aus diesem frühen Forscher- tungen. Seitdem gibt es „Ein- geist entwickeln sich Kreativität stein in der Kita” und der Name und lebenslange Lust am Ler- ist Programm: nen. 4 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Fantasie ist wichtiger als Wissen! Fantasie umspannt die Welt!" Albert Einstein Es gilt, die vielfältigen Talente ihre Potenziale optimal ent- der Kinder frühzeitig und um- wickeln können. fassend zu fördern – nicht nur Lieber Herr Einstein, ihr Weltwissen, sondern auch Zu solch vorbildlichen Orten ihre emotionale und soziale In- wollen wir in den nächsten ich bin ein Mädchen und sechs telligenz. Sie sollen Team- und Jahren die städtischen Kinder- Jahre alt. Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Forschergeist zugleich ent- tageseinrichtungen in Stuttgart Ich glaube, Sie sollten sich Ihre wickeln können. entwickeln. Haare schneiden lassen, dann können Sie besser aussehen. Dabei hat jedes Kind sein eige- nes Lern- und Bewegungstem- Herzliche Grüße Ann G. Kocin po, sein eigenes Entwicklungs- profil. Es entsteht in einem in- teraktiven Prozess mit anderen Kindern und Erwachsenen. Früher wuchs das „Naturtalent Kind” im Umfeld vieler Vorbil- der auf, mit Erwachsenen, die greifbar waren und denen es nacheifern konnte. Heute müs- sen wir für unsere Kleinkinder ein besonderes Umfeld schaf- fen, in das sie ihre ganze Neu- gier einbringen und in dem sie Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 5
Unsere Ziele und wie wir sie erreichen wollen Forschergeist, Sprachkompetenz und Teamfähigkeit Kinder lernen am besten, Die Räume der „Einstein-Kita“ die Erzieher/innen aufwendig. wenn sie ihrem natürlichen bieten dazu vielfältige Anre- Denn erste Eindrücke führen Wissensdrang folgen. Wenn gungen: Statt des klassischen häufig auf die falsche Fährte. sie ihren eigenen Interessen Gruppenraums gibt es Naturla- nachgehen und dabei mög- bors und Sinnespfade, Bewe- So beobachten und notieren sie lichst viele Sinne nutzen. gungsbaustellen und Ruhebe- regelmäßig, wie sich jedes Kind Das tun sie spielerisch alleine reiche, Musikzimmer und verhält, was und wie es spielt. und mit anderen Kindern. Kunstateliers, Vorlese-Sofas Dann analysieren sie ihre ge- Konflikte, die sie dabei aufhal- und Bücherecken, Konstrukti- sammelten Eindrücke im Team ten, lernen sie zu lösen. So onsräume und „Auseinander- und erstellen daraus einen indi- sind Team- und Forschergeist, Bau-Werkstätten“. viduellen Bildungsplan: soziales und sachbezogenes Das sind zum einen Maßnah- Lernen, Spaß und Wissen un- Auch die Ausstattung der Räu- men, die die aktuellen Fragen trennbar miteinander verbun- me ist anders: Statt klassi- und Themen des Kindes auf- den (ähnlich wie in der „Sen- schem Spielzeug liegen Natur- greifen. Zum anderen Maßnah- dung mit der Maus“). und Baustoffe bereit, diverse men, die den nächsten Schritt Forschungsmaterialien und Ge- in seiner Entwicklung anbah- genstände aus der Erwachse- nen und unterstützen. Dabei nenwelt. Dazu jede Menge wird das Kind auch mit neuen, Fachbücher, Bilder und andere noch unbekannten Bildungs- Medien zu wechselnden The- themen konfrontiert, die ihm men. bewusst zugemutet werden. Welche Themen die Kinder ge- rade interessieren, welche Fra- Festgehalten werden die Beo- gen sie umtreiben, ergründen bachtungen, Auswertungen 6 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Erkläre alles so einfach, wie möglich, aber nicht einfacher." Albert Einstein und Förderpläne (sowie die Re- Projekt großen Wert darauf, aktion des Kindes darauf) in ei- dass die Kinder ein ausgepräg- nem Entwicklungsbuch. Dieses tes Ernährungs- und Körperbe- „Portfolio“, das nach der Kin- wusstsein entwickeln. Dazu dergartenzeit in den Besitz der gehören vielfältige Bewe- Familie übergeht, können die gungserfahrungen, die am Eltern jederzeit einsehen. besten mit Rhythmus und Mu- sik verbunden sind. So erlan- Wichtig für gelingende Bil- gen die Kinder höhere Konzen- dungsprozesse ist die Gesund- trationsfähigkeit, körperliche heit. Deshalb legt das Einstein- und geistige Ausdauer. Außer- dem steigert Bewegung die Wahrnehmungsschärfe der Sinne, auf deren Grundlage sich die verschiedenen Intelli- genzbereiche entwickeln. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 7
„Die frühe Kindheit ist in der modernen Gesellschaft eine Hauptursache für wirtschaftliche Ungleichheit.” James Heckman Bildungschancen für jedes Kind Kinder sind nicht nur neugie- der. Wenn ein sportliches Kind eigenen Versuchen motiviert. rig. Sie haben auch Fähigkei- beispielsweise sprachliche Dabei lernen sie, Geschicklich- ten. Von diesen Stärken her Schwächen hat, verknüpfen sie keit zu entwickeln und ihr versuchen wir sie zu begreifen. Bewegungsspiele gezielt mit Werken sinnvoll zu planen. Dadurch können wir sie auch Sprache, Rhythmus und Musik. in Bereichen besser fördern, an Über Lieder, zu denen sich alle Dieser Brückenschlag zwischen denen sie noch zu wenig Inter- bewegen, kann das Kind seine den Kindern macht ihre Unter- esse haben – oder in denen sie sprachlichen Fähigkeiten be- schiedlichkeit als Wert erfahr- bereits Schwächen zeigen: sonders gut erweitern. bar. Das verhindert, dass Kin- Die Erzieher/innen fördern die der mit Schwierigkeiten zu wenig entwickelten Gebiete ei- Die zweite Brücke schlagen die Außenseitern werden oder nes Kindes, in dem sie zweier- Erzieher/innen zwischen Kin- Lernblockaden entwickeln. lei Brücken schlagen: dern mit unterschiedlichen Zum einen verbinden sie seine Stärken und Schwächen. Da Die Erzieher/innen achten starken und seine schwach Kinder am meisten von ande- sorgsam darauf, dass alle Kin- ausgeprägten Entwicklungsfel- ren Kindern lernen, nutzen die der zu einem gewissen Zeit- Erzieher/innen die Fähigkeiten punkt bestimmte Entwick- Einzelner. lungsschritte gemacht haben. Zum Beispiel im handwerklich- Das sind für uns die „Grenz- konstruktiven Bereich: Sie un- steine der Entwicklung“. terstützen gemeinsame Bau- Wenn ein Kind sie nicht er- und Werkaktivitäten mit Kin- reicht, beraten sich die Erzie- dern, die in diesem Bereich her/innen mit den Eltern. Da- noch ungeschickt sind. So wer- bei planen sie gemeinsame den diese zu Nachahmung und und gezielte Förderangebote. 8 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Sprachentwicklung Sprachförderung ist für die Bil- bad“. Zugleich motivieren sie dung entscheidend. Besonders die Kinder, ihre Beobachtun- sensibel ist das Gehirn dafür im gen, Gedanken und Gefühle Alter von einem bis vier Jahren, mitzuteilen und sich dabei also in der Krippen- und frühen möglichst klar auszudrücken. Kindergartenzeit. Dann folgt Mit Rollenspielen, Exkursionen, die weitere Ausprägung von Einkäufen oder Bücherei-Besu- Sprachverständnis und Artiku- chen erweitern die Erzieher/in- lationsfähigkeit. Die Weichen nen den Raum für kindliche für den Bildungserfolg werden Spracherfahrungen. Die All- also weit vor der Schulzeit ge- tagssprache ergänzen sie um stellt. anspruchsvolle Materialien, zum Beispiel Gedichte, Reime, Die Erzieher/ innen sind sich ih- Lieder und vielfältige Texte. rer Verantwortung als Sprach- All das hat umso größeren Er- vorbilder bewusst. Sie vermit- folg, je häufiger die Eltern für teln einen breiten Wortschatz, ihre Kinder offene Ohren ha- differenzierte und vielfältige ben: Wenn sie nachfragen und Ausdrucksformen. Sie benen- Interesse an ihren Erzählungen nen und kommentieren die Ak- zeigen; wenn sie die Fragen tivitäten der Kinder, sprechen der Kinder ausführlich beant- viel mit ihnen darüber. So „tau- worten und wenn sie ihren chen“ sie die Forschungs- und Kindern Geschichten und Lie- Erfahrungsprozesse der Kinder der, Bücher und Hörspiele nahe gewissermaßen in ein „Sprach- bringen. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 9
Mehrsprachigkeit als Chance Viele Stuttgarter Kinder erle- nen, dass ihre erstsprachlichen lichst häufig und differenziert ben im Kindergarten erstmals Fähigkeiten wertvoll sind. Sie auszudrücken. Und fördern sie eine mehrsprachige Welt. Das ermutigen die Kinder bei ihren bei Bedarf zusätzlich in kleinen birgt für alle hohe Bildungspo- Versuchen, sich deutsch auszu- Gesprächsgruppen. tenziale: Sie erfahren von an- drücken und unterstützen ers- deren Sprach- und Schriftkul- te freundschaftliche Kontakte Tageseinrichtungen, in denen turen, lernen die Mehrspra- und Kooperationen zwischen mehr als 60 Prozent der Kinder chigkeit der modernen Stadt- den Kindern. Migrationshintergrund oder gesellschaft kennen, erleben undifferenzierte Deutschkennt- die Vielfalt der globalen Kom- Wichtig für die Sprachentwick- nisse haben, bieten eine zu- munikation. lung ist eine klare sprachliche sätzliche Sprachförderung an. Rollenverteilung zwischen Fa- Dort verbindet sich „Einstein in Die meisten Kinder mit Migrati- milie und Kindertagesstätte. So der Kita“ mit dem Projekt onshintergrund werden in der ist die Familie für die Pflege der „Ganzheitliche Sprachförde- Tageseinrichtung mit einer Erstsprache verantwortlich, die rung“, das Stuttgart seit über neuen Sprache konfrontiert. Tageseinrichtung für das Erler- zehn Jahren erfolgreich prakti- Für sie bedeutet das anfangs nen der Sprache Deutsch. ziert. Verunsicherung und Schwierig- keiten im Kontakt. Im Alltag achten die Er- Die Qualität der Sprachförde- zieher/innen darauf, dass rung wird gesichert, indem wir Die Erzieher/innen reagieren Deutsch lernende Kinder täg- zweimal pro Jahr den Sprach- darauf mit Zuwendung und lich viel Gelegenheit haben, stand der Kinder erheben. Aus Verständnis. Sie beziehen die dies zu sprechen und zu hören. den Ergebnissen entwickeln Kinder besonders in die Grup- Sie motivieren die Kinder, sich wir gemeinsam mit den Eltern pe mit ein und vermitteln ih- in der neuen Sprache mög- weitere Förderschritte. 10 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Kinder haben Hundert Sprachen.” Loris Malaguzzi Kulturelle Vielfalt Kinder mit Migrationshinter- grund erfahren in der „Einstein- Kita“ Respekt vor ihrem An- derssein. Sie erleben, dass ihre Kultur den Kindergartenalltag interessanter und reicher macht. Dass ihre Kultur keine Randerscheinung ist, sondern in einer weltoffenen, kinder- freundlichen Stadt ihren Platz hat. Dafür greifen die Erzieher/innen Wissenswertes und Besonderes der jeweiligen Kultur auf (Fest- tage, Essgewohnheiten, Musik, Schrift oder Länderkunde). Sie thematisieren es auf verschie- dene Weise und versuchen, die kundigen Eltern dabei einzubin- den. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 11
Willkommene Unterschiede Kinder lernen in der „Einstein- Ihre Identität entwickeln die großen Raum ein. Sie werden Kita“ frühzeitig mit Unterschie- Kinder im Dialog mit anderen durch verschiedene Rituale ge- den umzugehen, sie wertzu- Kindern. In Kinderkonferenzen fördert, die im Tagesablauf ver- schätzen. So werden auch ihre zum Beispiel nehmen sie ge- ankert sind. Außerdem werden mädchen- oder jungenhaften schlechtsspezifische, soziale sie im Umgang mit Konflikten Eigenheiten und ihre Zu- und kulturelle Unterschiede trainiert. Dabei stärken die Er- gehörigkeit zur entsprechen- wahr, lernen sie zu respektie- zieher/innen das Bewusstsein den Gruppe respektiert. Eine ren und ihre Grenzen zu über- der Kinder für Menschen- und Gesprächsrunde nur für Jun- winden. Kinderrechte. gen oder ein Raum nur für Soziale Lernprozesse nehmen Mädchen kann dies widerspie- im Kindergartenalltag einen geln. 12 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Ich war größer, als ich kleiner war.” Pippi Langstrumpf (Astrid Lindgren) Erzieher/innen als Lernende Von Vorbildern lernen Kinder Fortbildungen ergänzen den „Wenn man Höhenangst besonders gut. Daher sind wis- Prozess. So entsteht im Kinder- hat, muss man dann sensdurstige Erwachsene, die garten eine ganzheitliche Kul- aufhören zu wachsen?“ Freude am Lernen vermitteln, tur des Lernens. Iris, 6 Jahre ideale Förderer. So begreifen sich die „Einstein- Erzieher/innen“ selbst als Ler- nende. Sie müssen sich für neue Sachgebiete öffnen, um den Wissensdrang der Kinder in allen Bereichen unterstützen zu können. Dafür ist es auch nötig, sich der eigenen Interes- sen und Abneigungen, Stärken und Schwächen bewusst zu sein. Entsprechende Erkenntnisse der Erzieher/innen werden re- gelmäßig im Team besprochen. Sie führen zu Spezialisierungen und einer Arbeitsteilung, die den Bildungsinteressen der Kinder maximalen Raum gibt. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 13
„Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.” Aurelius Augustinus Erziehungspartnerschaft beachten müssen. Und was den Kindergarten-Wänden. den Eltern bei der Erziehung Dort hängen Fotodokumenta- ihres Kindes wichtig ist. tionen und Arbeitsergebnisse, die regelmäßig aktualisiert Wir wollen, dass beide Seiten werden. zu Partnern werden, die ihre Erziehungsziele und -schritte Außerdem finden in der „Ein- stetig aufeinander abstimmen. stein-Einrichtung“ regelmäßig Neben spontanen Absprachen Veranstaltungen statt, bei de- gibt es jährlich zwei ausführli- nen Erzieher/innen und Eltern Um die Kinder optimal fördern che Gespräche über das Kind: Bildungs- und Erziehungsziele zu können, müssen alle an ei- Anhand seines Portfolios (Ent- klären. Zudem ist der Elternbei- nem Strang ziehen. wicklungsbuches) erläutert die rat an der Planung des pädago- Die Erzieher/innen sollten wis- Bezugserzieherin die aktuellen gischen Konzeptes beteiligt. sen, welche familiären oder Beobachtungen und Analysen, Hierzu treffen Elternvertreter kulturellen Hintergründe sie die laufenden und geplanten und Erzieherinnen einmal jähr- Fördermaßnahmen. Umge- lich Vereinbarungen. kehrt können auch die Eltern Die Einschätzung der Eltern zur ihre Beobachtungen, Einschät- laufenden pädagogischen Ar- zungen und Vorstellungen ein- beit ist besonders am Ende des bringen. Kindergartenjahres gefragt. Die Ergebnisse dieser Elternbe- Mehr über die Bildungsprozes- fragung fließen dann in die se des eigenen und anderer Planung des nächsten Jahres Kinder erfahren die Eltern an ein. 14 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Der Stadtteil als Lernfeld Kinder entdecken die Welt die Kinder, sich ihre Umgebung „Warum haben die Schatten über ihre unmittelbare Umge- zu erschließen, aktiv an ihrem von Leuten keine Farben, bung. Elternhaus und Ta- sozialen, kulturellen, sportli- auch wenn die Kleider bunt sind?” geseinrichtung sind die Zen- chen oder geschäftlichen Le- Kevin, 5 Jahre tren ihrer Weltaneignung. Von ben teilzunehmen. Umgekehrt hier aus ziehen sie immer versteht sich die Tageseinrich- größere Kreise. tung auch als Knotenpunkt im Je besser sie sich an ihrem Netzwerk von Familien am Wohn- und Betreuungsort zu- Wohnort. Sie steht für enga- rechtfinden, desto mehr Si- gierte Bürger/innen offen und cherheit und Selbstständigkeit überlässt ihnen ihre Räume. Sie können sie entwickeln. So baut Patenschaften auf (zum spielt der Stadtteil eine prä- Beispiel Vorlese- und Musikpa- gende Rolle. Kinder, die seine ten/innen) und hilft beim Auf- Infrastruktur kennen, seine bau von sozialen und familien- Angebote und Möglichkeiten freundlichen Strukturen. nutzen (Bücherei und Jugend- haus, Kirche und Vereine, Parks und Wälder, Läden und Betriebe) kommen in der glo- balen Gesellschaft später bes- ser klar. Deshalb ist der Einstein-Kin- dergarten auch Ausgangsort für Expeditionen. Dabei lernen Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 15
Kooperation mit der Schule „Bei Gruppenarbeit Im Kindergarten lernen Kinder Erfahrungen in allen Bildungs- laufen sie zu Höchstform auf.“ anders als in der Schule. Doch und Entwicklungsfeldern sam- die Unterschiede werden klei- meln konnten, werden wir in Lehrerin ner: Bildung nimmt im Kinder- den nächsten Jahren – gemein- garten immer mehr Raum ein. sam mit den Grundschulen – Und die Schule öffnet sich für zusätzliche intensive Förder- fächerübergreifendes Lernen, möglichkeiten anbieten. Projekt- und Teamarbeit. Beide Institutionen können – im Inter- Die Kooperation von Kinder- esse der Kinder – voneinander garten und Grundschule wird profitieren. Und verhindern, groß geschrieben. Je aktiver dass sie die Einschulung als und lebendiger sie gestaltet Bruch erleben. wird, desto besser ist es für ei- Kindern, die bis zum letzten ne ununterbrochene Bildungs- Kindergartenjahr nicht genug biographie Ihres Kindes. 16 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Erzähl mir, und ich vergesse. Zeige mir, und ich erinnere. Lass es mich tun und ich verstehe.” Konfuzius Beispiele aus der täglichen Arbeit: „Hat ein Fisch Knochen?“ Kinder entdecken im Aquarium Pädagogische Reaktion des Wasser. Das Ergebnis einen toten Fisch. „Warum ist Die Erzieherin schlägt vor, eine schmeckt ihr. Emma macht er tot?“ fragen sie und:„Hat er Forelle zu kaufen und diese verschiedene Sinneserfahrun- Knochen?“. Um dies herauszu- zum Vergleich ebenfalls zu se- gen. Mit ihrer Zeichnung finden, sezieren sie ihn ge- zieren. nähert sie sich dem anfangs meinsam mit der Erzieherin. Er- unheimlichen Thema an und gebnis: er hat nur weiche, spit- Lernschritte entwickelt Mut, ihrer Neugier ze Fäden im Bauch. Emma stimmt zu. Zaghaft zu folgen. So stellt sie fest, schneidet sie den toten Fisch dass sich große und kleine Fi- Beobachtung auf und entdeckt, dass seine sche anatomisch unterschei- Emma (vier Jahre alt) guckt den Fäden zwar härter sind, aber den. Daraus entsteht für sie die anderen beim Sezieren über nicht so hart wie Knochen. Frage, wie die Knochen von die Schulter. Sie traut sich noch Dann trennt sie das Fleisch von Menschen beschaffen sind. Sie nicht mitzumachen, lässt sich den Gräten („die darf man will mehr über den menschli- aber alle Handgriffe genau er- nicht mitessen, die sind gefähr- chen Körper erfahren. klären. Sie malt den Fisch mit lich!“) und legt es in kochen- seinen Gräten ab und schnei- det ihn aus. Das Thema Emma will wissen, wie Fische von innen aussehen. Sie fragt, ob auch größere Fische Fäden statt Knochen haben. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 17
„Der Zuckerberg braucht Menschen Beobachtung Das Thema Pädagogische Reaktion Levin (fünfeinhalb Jahre alt) Levin verarbeitet, was er bei Ex- Die Erzieherin schlägt ihm vor, baut im Sandkasten einen klei- kursionen zum „Zuckerberg“ in der Holzwerkstatt Spielfigu- nen Berg aus Kieselsteinen. erfahren hat: Es ist ein Wein- ren aus Holz herzustellen. Dann sammelt er kleine Stöcke berg, den er mitsamt seiner und steckt sie hinein. Er erklärt Rebstöcke nachbaut. Dazu sagt Lernschritte: „Ich habe den Zuckerberg ge- er: „Spielen kann ich nicht da- Levin ist einverstanden. Er baut.“ mit, ich habe ja keine Leute auf denkt sich eine Spielfigur aus, dem Zuckerberg.“ plant Größe und Kombination der Holzstücke. Dann sägt er sie mit dem Fuchsschwanz zu, klebt sie mit der Heißkleberpi- stole zusammen und spielt da- mit auf seinem Zuckerberg. Spielerisch verarbeitet Levin sein neues Wissen. Dabei lernt er, seine zuvor erworbenen handwerklichen Kenntnisse einzusetzen und zu festigen. Er erfährt, dass er damit seine Spielmöglichkeiten erweitern, sein Thema vertiefen kann. 18 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Vom fünfjährigen Kind bis zu mir ist nur ein Schritt. Aber zwischen einem Neugeborenen und einem fünfjährigen Kind liegt eine ungeheure Entfernung.” Leo Tolstoi Zusammenfassung „Einstein in der Kindertages- tersgemäßen Entwicklungs- damit den Übergang ins schuli- stätte“ greift den Wissensdrang schritte machen konnten, wer- sche Leben. der Kinder gezielt auf. den dabei besonders unter- stützt. „Einstein in der Kita“ wirkt Durch genaue Beobachtung Kinder mit nicht-deutscher Erst- über die Stuttgarter Projekt-Ein- finden die Erzieher/innen her- sprache werden gezielt geför- richtungen hinaus. So ist das aus, welche Themen ein Kind dert. Sie erfahren auf vielfältige Konzept in den baden-würt- gerade beschäftigen. Daraus Weise, dass ihre Kultur den Kin- tembergischen „Orientierungs- erstellen sie einen individuellen dergartenalltag bereichert. plan für Bildung und Erziehung Bildungsplan und unterstützen in Tageseinrichtungen für Kin- jedes Kind in seinen eigenen Die Projektarbeit ist nicht auf der“ eingeflossen. Und hat die- Lernprozessen. die Einrichtung beschränkt: die sem pädagogischen Leitfaden Kinder erfahren ihren Stadtteil für alle Kindergärten im Land Sie dokumentieren dies in ei- als Lernfeld mit vielfältigen An- wichtige Impulse gegeben. nem Entwicklungsbuch, das die geboten und Möglichkeiten. Eltern einsehen und ergänzen Umgekehrt öffnet sich die Ein- können. Denn die Eltern spielen stein-Kita auch für soziale Akti- als Erziehungspartner eine ent- vitäten von Familien vor Ort. scheidende Rolle. Mit der Grundschule im Ein- Das Ziel ist, Forschergeist, zugsgebiet arbeiten die Erzie- Sprachkompetenz und Team- herinnen eng zusammen. Sie fähigkeit zu fördern. bringen ihr Wissen, ihre Bil- dungsarbeit in die Schule ein. Kinder, die noch nicht alle al- Und erleichtern den Kindern Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 19
Erläuterungen zum Anhang: Nach drei Jahren „Einstein-Pro- gen erlebten und bewerten. Die jekt“ in acht Laboreinrichtun- überwiegende Zahl von ihnen gen wollten wir die Verände- waren Mütter und Väter: Al- rungen unter die Lupe nehmen. lein- wie partnerschaftlich Er- Dazu beauftragten wir eine So- ziehende, Arbeiter wie Ange- zialwissenschaftlerin und Jour- stellte, Hausfrauen wie Akade- nalistin. Sie befragte 17 reprä- miker. Dabei wurden ebenso sentativ ausgewählte Eltern viele deutsche wie Eltern mit und pädagogische Bezugsper- Migrationshintergrund (ver- sonen, wie sie die Veränderun- schiedener Kulturkreise) be- fragt sowie Eltern von Mädchen wie Jungen in unterschiedli- chem Alter.Die Mütter und Vä- ter von Schulkindern sollten auch deren Übergang von der Laborkita zur Schule schildern. Um diese Beobachtungen zu ergänzen, wurden zudem zwei Kooperationslehrerinnen, eine Rektorin und ein Hortleiter be- fragt. Ebenso zwei „Einstein-Er- zieherinnen“, die sowohl Ver- änderungen bei den Kindern als auch ihrer Arbeit beschrei- ben sollten. 20 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Kinder sind die Flügel der Menschen.” aus dem Arabischen Ergebnisse einer Befragung zu den Labor-Kitas 2003-2005 Alltag in der Laborkita Am auffälligsten finden die El- Die Wasserwerkstatt mit ihren zum Beispiel mit thematischer „Ich habe hier noch tern die Ausstattung der La- Schläuchen und Eimern, die Vorbereitung, Ablaufplan und keine Puppe gesehen!“ borkitas: „Auseinanderbauwerkstatt“ Einladungen. Mutter Es gibt wenig Spielzeug, das mit Schrottgeräten oder das die Beschäftigung vorgibt. Atelier mit Staffeleien und Stattdessen multifunktionale Kunstbänden. Außerdem die Materialien, Dinge aus Natur Nummerierung von Treppen- und Erwachsenenwelt. stufen und die mehrsprachige Die Wände sind – statt mit Beschriftung von Gegenstän- Blümchenbildern – mit „wilder den. Kinderkunst“ und wechseln- den Dokumentationen ge- Im Tagesablauf stellen die El- schmückt. tern mehr Freiräume fest. Bei Darauf sehen die Eltern ihre Projekten und Ausflügen, die Kinder auf erläuterten Fotoseri- häufig Exkursionscharakter hät- en, wie sie zum Beispiel Frö- ten, gäbe es mehr Spontanität. sche betrachten, ihre Beobach- Einige finden dies für ihre eige- tungen aufmalen und ihre Fra- ne Planung schwierig, be- gen mittels selbst gefangener grüßen aber den Grund dafür: Kaulquappen und Sachbücher dass die Erzieherinnen die Fra- zu klären versuchen. gen und Ideen der Kinder direk- Von der Raumgestaltung neh- ter aufgreifen. Viele Eltern be- men die Eltern vor allem die eindruckt, dass ihr Kind einen projektbezogenen Themenräu- Ausflug zu seinem Interessen- me oder Bildungsinseln wahr: gebiet zu organisieren lernt Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 21
Pädagogische Veränderungen „Den Kindern wird Die Erzieherinnen spielen eine Alle befragten Eltern nehmen mehr zugetraut!“ andere Rolle, bemerken die El- dieses Vorgehen als größeren tern: Sie leiten weniger zum Respekt vor den Kindern und Vater Spielen und Basteln an, geben ihrer Art, die Welt zu erkunden, den Kindern insgesamt weni- wahr. Sie stellen fest, dass die ger vor. Stattdessen beobach- Erzieherinnen die Eigenständig- ten sie mehr, dokumentieren keit der Kinder unterstützen und analysieren im Team, wel- und Hilfe nur zur Selbsthilfe lei- ches Interesse jedes einzelne sten, dass sie Achtung vor der Kind gerade leitet. Später ma- Natur und Lust am Lernen ver- chen sie ihm zu seinem Thema mitteln sowie zur Ausdauer gezielte Angebote. Oft zieht motivieren. Einige finden, dass dies auch andere Kinder in den die Pädagoginnen die Stärken Bann, so dass ein Gemein- und Potenziale der Kinder schaftsprojekt daraus wird. höher bewerten als früher. Manche Eltern hatten anfangs Zweifel, ob ihre Kinder durch häufige Aufzeichnungen und Dokumentationen nicht zu „Versuchskaninchen“ würden. Doch bald merkten sie, dass die Kleinen die Beobachtung kaum noch wahrnahmen und dass sie dadurch gezielter gefördert 22 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Spiel ist nicht Spielerei, es hat hohen Ernst und tiefe Bedeutung.” Friedrich Wilhelm August Fröbel wurden. Viele Eltern geben an, Lieber Herr Einstein, dass sie von den Analysen der ...könnten Sie mir sagen, Erzieherinnen profitieren: Sie wie alt die Welt ist und was erfahren von aktuellen Themen aus ihr werden wird? oder Konflikten ihrer Kinder, die sie selbst übersehen oder Monique, 8 Jahre fehl deuten. Da auch Sozialver- halten und psychisches Gleich- gewicht der Kinder als Lernfel- der behandelt werden, finden einige Eltern die „Einstein- Pädagogik“ besonders ganz- heitlich und rundum reflektiert. Einschränkend sei allerdings angemerkt, dass die Interviews auf freiwilliger Basis erfolgten und die Befragten vermutlich zum aufgeschlossenen und en- gagierten Teil der Elternschaft gehören. Weniger Interessierte dürften das Konzept und seine Wirkung in geringerem Masse wahrgenommen und verstan- den haben. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 23
Projekt-Wirkung auf die Kinder „Manchmal gleicht Alle Eltern wie Pädagogen be- mit gesammelten Steinen und unsere Wohnung einem Labor.“ richten, dass die Kinder große Stöcken, dem elterlichen Werk- Lust am Experimentieren und zeug oder Baumarkt-Utensilien Mutter Konstruieren haben. Dass ih- beschäftigen. nen im Alltag technische, phy- sikalische und biologische Phä- Zwei Drittel der Befragten ha- nomene schneller ins Auge ben auch mehr Interesse an springen. Dass sie größeres In- Zahlen und Schrift beobachtet, teresse, mehr Ideen und länge- berichten von vermehrten ren Atem haben, ihnen auf Schreib-, Lese- und Rechenver- den Grund zu gehen. Etwa die suchen der Kinder. Einzelne El- Hälfte der Eltern findet, dass tern erzählen, dass sich ihre sich ihre Kinder besser konzen- Kinder zuweilen Malideen aus trieren können. Kunstbüchern holen. Einigen Eltern – wie auch den Erzieherinnen – fällt auf, dass Eltern wie Pädagogen stellen die Kinder achtsamer mit Tie- fest, dass die Kleinen mehr In- ren und Pflanzen umgehen. teresse an Grundsatzfragen Zwei Familien berichten, dass und komplexen Zusammen- der TV-Konsum ihrer Töchter hängen haben. Dass sie geziel- zurückgegangen sei, weil sie ter fragen, eigene Antworten mehr Zeit im Freien verbrin- suchen, Lexika und Sachbücher gen. Manche Eltern haben be- nutzen. Dass sie selbstständi- stimmte Spielsachen weggege- ger denken und handeln. Und ben, weil sich ihre Kinder lieber dass sie an Selbstbewusstsein 24 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Alle Kinder haben die märchenhafte Kraft, sich in alles zu verwandeln, was immer sie sich wünschen.“ Jean Cocteau gewonnen haben. Einige Eltern „Was macht der Wind, betonen, dass ihre Töchter und wenn er nicht weht?“ Söhne ihre Fähigkeiten realisti- Anna, 4 Jahre scher einschätzen. Manche Befragte relativieren ihre Beobachtungen: Sie hät- ten zwar den Eindruck, dass die Veränderungen ihrer Kin- der mit dem Einsteinprojekt zu- sammenhingen, wären sich aber nicht in allen Bereichen si- cher. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 25
Sozialverhalten Sprache und Integration „Sie gehen klarer mit Fast alle Befragten bemerken, Migrantenkinder profitieren chen Projektwirkungen. Inter- sich und anderen um“ dass die „Einstein-Kinder“ an- sprachlich von der Projekt- und essanterweise ist die Mehrheit deren geduldiger zuhören und Gruppenarbeit, meinen fast al- dieser Eltern migrantischer Erzieherin warten, bis sie an der Reihe le Eltern und Pädagogen. Die Herkunft. sind. Man spüre, dass sie häu- Motivation der Kinder sich zu Die andere Hälfte findet dage- fige Projekt- und Gruppenar- erklären und mitzureden sei gen, das Interesse der Kinder beit gewöhnt seien. Sie wür- gestiegen. Durch den häufigen an anderen Kulturen sei eben- den sich zuverlässiger an Ab- Austausch über Themen und so gestiegen wie ihre Fähigkeit sprachen halten, die Interes- Aktivitäten seien ihre Formulie- mit kulturellen Unterschieden sen, Aktivitäten und Eigenhei- rungen differenzierter und umzugehen. Zwei muslimi- ten anderer stärker respektie- sprachlich präziser geworden. schen Eltern fällt auf, dass im ren und auch Kinder mit Ver- Damit sei die Integration der Einstein-Projekt auch Mädchen haltens- oder Sprachschwierig- Migrantenkinder vorangekom- zu mehr Selbstbewusstsein keiten akzeptieren. Konflikte, men, finden die meisten. Zwei und Gleichberechtigung erzo- so Eltern und Erzieherinnen, Mütter führen dies allerdings gen werden. Zwei weitere be- versuchen sie selbstständiger nicht auf den Laborcharakter richten, dass in ihrer Kita natio- zu lösen (was ihnen allerdings der Kita, sondern auf den nale Gruppen gebildet wur- nicht immer besser gelinge). ganztägigen deutschsprachi- den, um kulturspezifische Er- Sie würden mehr argumentie- gen Umgang zurück. ziehungsziele zu formulieren. ren und verhandeln sowie ihre Sie sind überzeugt, dass „Ein- eigenen Bedürfnisse klarer zum In Sachen kultureller Kompe- stein in der Kindertagesstätte“ Ausdruck bringen. tenz scheiden sich die Geister: mehr Wertschätzung für unter- Die meisten Pädagogen und schiedliche Kulturen vermittelt. die Hälfte der Eltern sehen in dieser Hinsicht keine wesentli- 26 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
„Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen.“ Francois Rabelais Die Rolle der Eltern Alle Eltern sehen sich seit Pro- Dennoch betonen viele, der „Ich fühle mich eingeladen, jektbeginn besser informiert passive Teil der Eltern bleibe am Kita-Alltag teilzunehmen.“ und in die pädagogische Arbeit den Treffen noch immer fern. Mutter miteinbezogen: Zweimal im Einzelne kritisieren, dass die In- Jahr laden die Erzieherinnen sie formationsbroschüren zum zu einem intensiven Gespräch Projekt nicht laienverständlich über die Entwicklung ihres formuliert seien, besonders Kind ein und es gibt es mehr ausländische Eltern könnten ihr spontane „Tür- und Angel-Ge- Bedürfnis nach Hintergrundin- spräche“. Dazu kommen El- formation damit kaum befrie- ternabende und Elternsemina- digen. re, Hospitiermöglichkeiten und Projektbeteiligungen sowie die gemeinsame Erarbeitung von Erziehungszielen. Nach Ansicht der meisten deutschen wie auch ausländi- schen Befragten führt all das zu einer Erziehungspartner- schaft. Das höhere Niveau der pädagogischen Arbeit motivie- re sie mitzumachen. Einige er- leben auch mehr Austausch mit anderen Eltern. Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 27
„Auch künftige Staatsmänner werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Das ist erschreckend aber wahr.” Astrid Lindgren Einstein in der Familie „Früher sah ich im Spiel Viele Eltern haben für die Akti- Eltern heute häufiger nach und mit Blättern, Wasser vitäten ihrer Kinder mehr Ver- sind bemühter, Lösungen zu und Matsch ständnis entwickelt. Sie versu- finden. Außerdem betonen die vor allem den Schmutz, chen sich weniger einzumi- meisten, dass sie mit der Ent- heute begreife ich den schen, sie weniger von „unbe- wicklung ihrer Kinder bewus- Lerneffekt“ quemen Ideen“ abzubringen, ster umgehen, ihre Aktivitäten ihnen mehr Zeit zu lassen, ihre intensiver beobachten. Mutter Tätigkeiten abzuschließen. Ei- nige fügen allerdings hinzu, Das Portfolio erleben die mei- dass ihnen die dafür nötige sten Eltern als aufschlussreich: Zeit und Gelassenheit im Alltag Sie erfahren daraus Lernpro- häufig fehle. zesse, Themen und Sozialkon- takte ihrer Kinder, die ihnen Bei Fragen, die sie nicht beant- sonst entgehen. Einige erfreu- worten können, schlagen viele en sich zwar an den gesammel- ten Zeichnungen und Fotos, finden die handgeschriebenen Beobachtungen, Auswertun- gen und Fragebögen aber schwer verständlich. Die Mehrheit schaut sich das Portfolio nur im Rahmen der Elterngespräche an. Nur ein kleiner Teil guckt häufiger rein, meist zu konkreten Anlässen. 28 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Die Arbeit der Erzieherinnen Die Befragten haben an ihrer vielseitiger. Elternarbeit, Au- „Mehr Konzentration, Arbeit mehr Spaß gewonnen. ßenkontakte und Kooperatio- mehr Kreativität, Ihr eigener Wissensdrang habe nen hätten an Bedeutung ge- mehr Austausch.“ neuen Schwung bekommen wonnen. Erzieherin und sie fühlen sich geistig stär- ker gefordert. Allerdings seien auch die An- Der Austausch im Team sei in- forderungen gestiegen, müsse tensiver und offener gewor- die Arbeitszeit straffer geplant den: die Stärken und Schwä- und disziplinierter ausgenutzt chen der Einzelnen würden werden. stärker ausgeleuchtet und die Anfangs sei für das Projekt viel Ressourcen sinnvoller einge- Freizeit drauf gegangen, inzwi- setzt. So betreue zum Beispiel schen kämen sie mit ihrer Ar- eine Erzieherin mit Höhenangst beitszeit weitgehend aus. Die nicht mehr die Bewegungsbau- Personalsituation sei jedoch am stelle, um wagemutige Kinder äußersten Limit. nicht unnötig auszubremsen. Die Erzieherinnen haben das Gefühl, dass sie mit dem Ein- stein-Projekt individueller auf die Kinder eingehen und sie besser verstehen können. Sie erleben ihre Arbeit als re- flektierter, konzentrierter und Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 29
„Das Beste, was man für ein Kind tun kann, ist, sorgfältig darauf zu achten, welche Fragen es stellt.” Wolf Singer Von der Laborkita zur Schule Die Umstellung auf die Schule kindern“ eine hohe Anspruchs- fassungsgabe sei hoch, sie hin- schnittenes Einstein-Konzept, ist den meisten „Einsteinkin- haltung fest. terfragten viel und suchten in das die Bildungsprozesse der dern“, laut Eltern, gut gelun- allen Aufgaben den Alltagsbe- Laborkita weiterführe. gen. Zwei betonen, dass ihre Offensichtlich seien sie span- zug. Außerdem akzeptierten sie Laboreinrichtung, Horte und Kinder in der Laboreinrichtung nende Aktionen, viele Angebo- Regeln gut, seien einsichtig und Schulen müssen noch stärker gelernt hätten, sich – trotz te und hohe Reize gewohnt, besonders teamfähig. Grup- kooperieren, betonen die Be- Schüchternheit – in der Grup- was ihnen den Umgang mit penarbeit führe bei ihnen zu fragten. So sollten Lehrer die pe frei zu äußern. Das habe ih- Langeweile erschwere. besten Ergebnissen. Müssen sie Portfolios ihrer ABC-Schützen nen geholfen, sich aktiv am Besonders gut kämen sie dage- dagegen einzeln und still an einsehen bzw. eine Kurzfas- Unterricht zu beteiligen. gen mit Hausaufgaben und an- ihrem Platz arbeiten, seien sie sung erhalten, um deren Ent- deren selbstständig zu erledi- unruhiger als andere Kinder. wicklungstand von Anfang an Eine Familie berichtet von der genden Aufträgen klar, vor al- besser zu kennen. Enttäuschung ihres Kindes: Es lem solchen, die eigene Re- Eltern, Lehrerinnen und Hortlei- habe sich von der Schule eben- cherche, Material-Suche und ter bewerten das Einsteinpro- falls Experimente, Exkursionen kreative Antworten erfordern. jekt als gute Schulvorbereitung. und Gruppenarbeit erhofft, sei Dies bestätigen die Lehrerin- Es komme den neuen Bildungs- stattdessen aber auf überwie- nen: plänen und der angestrebten genden Frontalunterricht und „Unterschiedliche Wissens- Öffnung für neue Unterrichts- Übungen ohne Alltagsbezug quellen können sich Einstein- formen entgegen. gestoßen. Eine weitere Mutter kinder selbstständiger er- Wünschenswert sei es, dass alle schildert die Schwierigkeiten schließen. Außerdem widmen Kinder eine solche Bildungsein- ihres Sohnes, sich im Schul- sie sich ihren Aufgaben mit richtung durchlaufen und die und Hortalltag an mehr Pflich- größerer Ausdauer.“ Sie seien Schule mit ähnlichen Erfahrun- ten und weniger Freiräume zu äußerst neugierig und moti- gen beginnen. gewöhnen. Der befragte Hort- viert, im Unterricht besonders Ebenso bräuchten die Horte ein Text und Befragung: leiter stellt bei vielen „Einstein- ideenreich und aktiv. Ihre Auf- auf deren Aufgaben zuge- Nela Fichtner 30 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Beispiele für Beobachtungsfragen* Die Fachkräfte in den Einstein- zu Größenverhältnissen? tigt? Lernt das Kind leicht und Kind gern Bauwerke oder ein- Kitas beobachten jedes Kind gerne neue Lieder und singt fache Maschinen? Versteht das mit Hilfe von Fragen, zum Bei- Bildungsbereich Bewegung gerne mit? Versucht das Kind, Kind die Beziehung zwischen spiel: Bewegt sich das Kind gern und einen Rhythmus oder ein Tem- den Teilen eines Ganzen und Bildungsbereich Sprache leicht im Einklang mit einfachen po zu halten? der Gesamtkonstruktion und Hört das Kind gern zu, wenn oder wechselnden Rhythmen, welches die Funktion der Teile Geschichten erzählt oder vor- insbesondere bei Musik? Bildungsbereich ist? gelesen werden? Benutzt es Bewegt sich das Kind leicht um soziale Bezüge manchmal überraschende Hindernissen herum und ver- Hilft das Kind gern und kompe- Bildungsbereich Sprachbilder (könnte es einge- meidet mühelos Zusammen- tent bei Konflikten zwischen Wissenschaft schlafene Füße mit Sprudelwas- stöße mit anderen Kindern? anderen Kindern? Hat das Kind Bemerkt das Kind häufig Verän- ser vergleichen)? Versucht das Benutzt das Kind gern und Freunde? Versteht es deren derungen oder kleine Details in Kind, seine Absicht und Wün- leicht dramatische Körperge- Vorlieben und bzw. Abneigun- seiner Umgebung? Fragt das schen vorzugsweise sprachlich sten zur Darstellung von Stim- gen? Drückt das Kind durch Kind gern und häufig „was wä- darzustellen? mungen, Absichten oder zur Il- Sprache seine eigenen Gefühle re wenn – Fragen“ oder bietet lustration von Geschichten? und Erwartungen leicht und für Erklärungen dafür an, warum Bildungsbereich Logik Springt das Kind gern und ge- andere nachvollziehbar aus? Dinge so sind, wie sie sind? und Mathematik schickt von erhöhten Standor- Hat das Kind einen Sinn für Hu- Führt das Kind gern einfache Sortiert das Kind gern Objekte ten herunter? Balanciert das mor? Riskiert das Kind Misser- Experimente aus oder ent- nach ihren Merkmalen (z. B. Kind gern auf Balken, Stegen folge und nimmt gegebenen- wickelt entsprechende Ideen, nach Form, Farbe, Größe, Ge- oder kleinen Mauern? falls in guter Haltung hin? um eine eigene Hypothese zu wicht, Zugehörigkeit zu einer testen oder die eines anderen Geschichte etc.)? Spielt das Bildungsbereich Musik Bildungsbereich Kindes? Zeigt das Kind Interes- Kind gern mit Puzzles? Ist es Singt oder summt das Kind Mechanik und Konstruktion se daran, seine Beobachtungen darin geschickt und/oder aus- gern Melodien, wenn es sich Nimmt das Kind gern Dinge in irgendeiner Weise aufzu- dauernd? Äußert es sich gern mit anderen Dingen beschäf- auseinander? Konstruiert das zeichnen? *(aus: infans-Fragebogen Bildungsbereiche/Zugangsformen für Kinder ab 3 Jahre) Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT 31
Inhalt Seite Warum “Einstein?” 4 Unsere Ziele 6 Bildungschancen für jedes Kind 8 Sprachentwicklung 9 Mehrsprachigkeit als Chance 10 Kulturelle Vielfalt 11 Willkommene Unterschiede 12 Erzieher/innen als Lernende 13 Erziehungspartnerschaft 14 Der Stadtteil als Lernfeld 15 Kooperation mit der Schule 16 Beispiele aus der täglichen Arbeit 17 Zusammenfassung 19 Erläuterungen zum Anhang 20 Ergebnisse einer Befragung zu den Labor-Kitas 21 Pädagogische Veränderungen 22 Projekt-Wirkung auf die Kinder 24 Sozialverhalten 26 Sprache und Integration 26 Die Rolle der Eltern 27 Einstein in der Familie 28 Die Arbeit der Erzieherinnen 29 Von der Laborkita zur Schule 30 Beispiele für Beobachtungsfragen 31 32 Referat SOZIALES · JUGEND · GESUNDHEIT
Wissenschaftliche Begleitung der Einstein-Kitas: infans Institut für angewandte Sozialisationsforschung/Frühe Kindheit e.V. Havelbergerstr. 13 10559 Berlin www.infans.de Herausgeberin: Landeshauptstadt Stuttgart Jugendamt Wilhelmstraße 3 70 182 Stuttgart uli.simon@stuttgart.de in Verbindung mit der Stabsabteilung Kommunikation (Team Öffentlichkeitsarbeit) Fotos: Thiele, Weber Gestaltung: Brigitte Loeckle Text: Nela Fichtner November 2005
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