Die Zukunft der Langlebigkeit in der Schweiz
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Die Zukunft der Langlebigkeit in der Schweiz Neuchâtel, 2009
Die vom Bundesamt für Statistik (BFS) herausgegebene Reihe «Statistik der Schweiz» gliedert sich in folgende Fachbereiche: 0 Statistische Grundlagen und Übersichten 1 Bevölkerung 2 Raum und Umwelt 3 Arbeit und Erwerb 4 Volkswirtschaft 5 Preise 6 Industrie und Dienstleistungen 7 Land- und Forstwirtschaft 8 Energie 9 Bau- und Wohnungswesen 10 Tourismus 11 Mobilität und Verkehr 12 Geld, Banken, Versicherungen 13 Soziale Sicherheit 14 Gesundheit 15 Bildung und Wissenschaft 16 Medien, Informationsgesellschaft, Sport 17 Politik 18 Öffentliche Verwaltung und Finanzen 19 Kriminalität und Strafrecht 20 Wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung 21 Nachhaltige Entwicklung und Disparitäten auf regionaler und internationaler Ebene
Statistik der Schweiz Die Zukunft der Langlebigkeit in der Schweiz Bearbeitung Laurence Seematter-Bagnoud, IUMSP, Lausanne Fred Paccaud, IUMSP, Lausanne Jean-Marie Robine, INSERM, Montpellier Herausgeber Bundesamt für Statistik (BFS) Office fédéral de la statistique (OFS) Neuchâtel, 2009
IMpressum Herausgeber: Bundesamt für Statistik (BFS) Auskunft: Informationszentrum, Sektion Demografie und Migration, BFS, Tel. 032 713 67 11, E-Mail: info.dem@bfs.admin.ch Realisierung: Sektion Demografie und Migration, BFS Vertrieb: Bundesamt für Statistik, CH-2010 Neuchâtel Tel. 032 713 60 60 / Fax 032 713 60 61 / E-Mail: order@bfs.admin.ch Bestellnummer: 1043-0901 Preis: Fr. 5.– (exkl. MWST) Reihe: Statistik der Schweiz Fachbereich: 1 Bevölkerung Originaltext: Französisch Übersetzung: Sprachdienste BFS Titelgrafik: typisch gmbh, Bern Grafik/Layout: BFS Copyright: BFS, Neuchâtel 2009 Abdruck – ausser für kommerzielle Nutzung – unter Angabe der Quelle gestattet ISBN: 978-3-303-01247-5
INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 5 3.2 Demografische Methoden: Voraus- schätzungen auf der Grundlage 1.1 Definitionen 5 einer Grenzverteilung 17 1.2 Langlebigkeit und Sterblichkeit in der Schweiz 5 3.3 Epidemiologische Methoden: Voraus- schätzungen auf der Basis von Gesund- 1.3 Die Lebenserwartung in anderen heitsinformationen 18 Industrieländern 9 3.4 Studien, die demografische und epide- miologische Methoden verbinden 19 2 Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute 11 3.5 Determinanten der Lebenserwartung in guter Gesundheit 21 2.1 Die Entwicklung in der Schweiz 11 2.2 Die Entwicklung in anderen Ländern 13 4 Schlussfolgerung 22 2.3 Zusammenfassung: 5 Bibliografische Hinweise 23 die Lehren aus der Geschichte 14 3 Künftige Entwicklung der Langlebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit 16 3.1 Demografische Methoden: Fortschreibung der vergangenen Entwicklung der Sterblichkeit bzw. Lebenserwartung 16 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 3
EINLEITUNG 1 Einleitung Die derzeitige Zunahme der Lebenserwartung in der modalen Sterbealter misst: Dieser Indikator steigt mit zu- Schweiz und in den meisten industrialisierten Ländern ist nehmender Rektangularisierung der Überlebenskurve. im Wesentlichen auf den Rückgang der Sterblichkeit bei den älteren und hoch betagten Personen zurückzuführen. Haupttodesursachen sind heute langsam verlaufende de- 1.2 Langlebigkeit und Sterblichkeit generative Erkrankungen (Herzkreislauf-Krankheiten und in der Schweiz Krebserkrankungen sind für 60% der Sterbefälle bei über 60-Jährigen verantwortlich) und die Determinanten Die Mehrzahl der verfügbaren Studien beruht auf den dieser Erkrankungen liegen bereits zu Beginn des Erwach- Volkszählungen und den Statistiken der natürlichen Be- senenalters oder noch früher vor. völkerungsbewegung, d.h. auf Informationen, die in den Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt für Statis- derzeit am höchsten entwickelten Ländern erst seit Mitte tik (BFS) ein kleines Expertenteam beauftragt, die ver- des 19. Jahrhunderts vorliegen. fügbaren Informationen über die vergangene und zu- Die Lebenserwartung bei der Geburt ist kein aussage- künftige Entwicklung der Langlebigkeit in der Schweiz kräftiger Indikator in Bevölkerungen mit geringer Kinder- und in anderen industrialisierten Ländern zu analysieren. und Jugendsterblichkeit. Er wird aber weiterhin häufig verwendet, da er leicht verfügbar und allgemein ver- ständlich ist. 1.1 Definitionen Grafik G1 zeigt, dass die Lebenserwartung in der Schweiz seit 1876 praktisch ununterbrochen gestiegen Langlebigkeit wird hier als die in der Bevölkerung oder ist, von 40 Jahren auf derzeit über 80 Jahre (79 für Män- bei Einzelpersonen beobachtete Lebensdauer definiert. ner, 84 für Frauen). Mit anderen Worten, die Lebenser- Klassische Indikatoren dafür sind die Lebenserwartung wartung hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt, wobei bei der Geburt (auf der Bevölkerungsebene) und das der jährliche Zuwachs zwischen 1876 und1950 im Schnitt maximale Sterbealter (auf individueller Ebene). 4–5 Monate betrug und bei den Frauen etwas rascher Weitere Indikatoren stehen zur Diskussion, darunter verlief als bei den Männern. Von 1950 bis 2000 fiel der das mediane Sterbealter (das Alter, welches die in einer Anstieg mit rund 3 Monaten pro Jahr etwas geringer aus. bestimmten Zeitperiode verstorbenen Personen in zwei Der Lebenserwartungsgewinn bei der Geburt war zu- gleich grosse Gruppen, d. h. eine jüngere und eine ältere nächst vor allem eine Folge der rückläufigen Säuglings- Hälfte, trennt), das modale Sterbealter (das in einer be- und Kindersterblichkeit. Seit 1950 ist bei beiden Ge- stimmten Zeitperiode häufigste Alter von verstorbenen schlechtern ein Anstieg der Lebenserwartung im Alter Personen) und die Hundertjährigenquote (der Anteil der von 60 und 80 Jahren zu beobachten. Gleichzeitig ver- Hundertjährigen in einem bestimmten Geburtsjahrgang). grösserte sich die Geschlechterdifferenz der Lebenser- Seit einigen Jahren werden Indikatoren zur Beschrei- wartung bei der Geburt zu Ungunsten der Männer, bung des Sterblichkeitsregimes herangezogen. Dazu ge- bedingt zum Teil durch Unterschiede im Bereich der hören namentlich Indikatoren der Rektangularisierung Herzkreislauf-Krankheiten und der Krebserkrankungen. der Überlebenskurve (diese misst den Anteil Überlebende Seit 1990 hat sich die Differenz zwischen der durch- bis in ein fortgeschrittenes Alter und den Zeitabschnitt, in schnittlichen Lebenserwartung der Frauen und jener der dem sich die Todesfälle ereignen). Zum gleichen Zweck Männer allerdings wieder verringert. Ein Grund dafür ist wird der Standardfehler jenseits des modalen Sterbealters die Lungenkrebssterblichkeit, die bei den Frauen zu- verwendet, der die Verteilung der Sterbefälle nach dem nimmt, bei den Männern hingegen abnimmt. 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 5
EINLEITUNG Lebenserwartung bei der Geburt (LE0), mit 60 Jahren (LE60) und mit 80 Jahren (LE80), nach Geschlecht. Schweiz, 1876–2000 G1 90 30 LE(0) Männer 80 LE(0) Frauen 25 LE(60) Männer 70 LE(60) Frauen Jahre (LE(60) und LE(80)) LE(80) Männer 60 20 LE(80) Frauen Jahre (LE(0)) 50 15 40 30 10 20 5 10 0 0 Quelle: Robine et al., 2005 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 © Bundesamt für Statistik (BFS) Grafik G2 zeigt die Entwicklung des maximalen Ster- Bei den Männern stieg das modale Sterbealter zunächst bealters und des modalen Sterbealters. Beide Indikatoren langsamer an (weniger als einen halben Monat pro Jahr tendieren weniger stark aufwärts als die Lebenserwar- im Zeitraum 1920 bis 1946–50). In der Folge ist der Auf- tung bei der Geburt. Das modale Sterbealter erhöhte wärtstrend vergleichbar mit jenem bei den Frauen. sich zwischen 1876–80 und 2001–02 von 70 auf Bei beiden Geschlechtern verringert sich die Differenz 84 Jahre bei den Männern und von 70 auf 88 Jahre bei zwischen dem modalen Sterbealter und der Lebenser- den Frauen. Der Anstieg des Indikators setzte allerdings wartung bei der Geburt im Langzeitvergleich über ein viel später ein als jener der Lebenserwartung bei der Jahrhundert von 30 auf 6 Jahre. So lag die Lebenserwar- Geburt. Vor 1920 blieb er – innerhalb einer Bandbreite tung bei der Geburt für die Frauen im Zeitraum 1876–80 von 70–75 Jahren – praktisch konstant. Anschliessend ist bei 42 Jahren und das modale Sterbealter bei 70 Jahren, bei den Frauen ein Zuwachs um 2 Monate pro Jahr zu was einer Differenz von 28 Jahren entspricht. Rund beobachten, von 75 (1921–25) auf 90 Jahre (2001–05). 60 Jahre später (Zeitraum 1941–45), erreichte die Entwicklung des modalen Sterbealters (M) und des maximalen Sterbealters (MLS), nach Geschlecht. Schweiz, 1876–2002 G2 110 Männer M 105 Männer MLS Frauen M 100 Frauen MLS 95 90 Alter 85 80 75 70 65 Quelle: Cheung, Robine, Paccaud et al., 60 persönliche Mitteilung 81 0 18 –85 0 96 –95 01 0 19 –05 11 0 19 –15 19 –20 26 5 19 –30 36 5 81 0 19 –85 0 96 –95 19 –40 46 5 19 –50 56 5 19 –60 19 –65 71 0 19 –75 01 0 2 18 –8 18 –9 19 90 19 –1 19 –2 19 –3 19 –4 19 –5 19 –7 19 –8 19 –9 20 00 –0 76 86 18 91 06 16 21 31 41 61 86 51 66 76 19 1 –1 –2 9 18 Beobachtungszeitraum © Bundesamt für Statistik (BFS) 6 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
EINLEITUNG L ebenserwartung der Frauen 67 Jahre und das modale 110 Jahre, mit höheren Werten bei den Frauen als bei Sterbealter 78 Jahre, die Differenz betrug also noch den Männern. Der Anstieg verlief bei beiden Geschlech- 11 Jahre. Gegenwärtig (2001–2002) liegt der Wert tern in ähnlichem Tempo. dieser Indikatoren bei 83 bzw. 88 Jahren, d.h. die Diffe- Ein weiterer Indikator für die Verringerung der Sterb- renz ist auf 5 Jahre gesunken. Diese Angleichung ist im lichkeit bei älteren Personen ist die Anzahl Todesfälle von Wesentlichen auf die Abnahme der Säuglings- und Personen ab 100 Jahren. Wie aus der Grafik G3 hervor- Kindersterblichkeit zurückzuführen. geht, nimmt diese Zahl seit den 1950er-Jahren zu. Trotz Die Grafik G2 dokumentiert ferner den Anstieg des des beträchtlichen Unterschieds zwischen den ge- maximalen Sterbealters, der sich seit den 1950er-Jahren schlechtsspezifischen Fallzahlen, verlief der Zuwachs bei deutlich beschleunigt hat. Das Höchstalter, das zwischen Männern und Frauen ähnlich, wie der Grafik G4 zu ent- 1880 und 1920 bei 102 Jahren lag, erhöhte sich zwi- nehmen ist. schen 1920 und 1960 auf 104 Jahre und beträgt derzeit Anzahl Todesfälle ab dem 100. Altersjahr, nach Geschlecht. Schweiz, 1940–2000 G3 300 Männer Frauen 250 200 Todesfälle (n) 150 100 50 0 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 © Bundesamt für Statistik (BFS) Anzahl Todesfälle ab dem 100. Altersjahr, nach Geschlecht. Schweiz, 1940–2000 G4 300 Männer Frauen Todesfälle (n) (logarithmische Skala) 100 10 1 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 © Bundesamt für Statistik (BFS) 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 7
EINLEITUNG Die Tabelle T1 identifiziert die Komponenten der Grafik G5 zeigt die Entwicklung der Anzahl Hundert- Zunahme der Anzahl Hundertjähriger anhand eines jähriger von 1860–2000. Vergleichs zwischen den Geburtsjahrgängen 1870 und Die Tabelle T2 zeigt die Hundertjährigenquote in fünf 1900. Bei den Frauen ist die Zahl der Hundertjährigen Geburtsjahrgängen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunk- um den Faktor 12,5 angestiegen. Ein Teil dieser Zu- ten: bei der Geburt und im Alter von 60 Jahren. In bei- nahme ist der Erhöhung der Geburtenzahlen zuzuschrei- den Fällen hat sich der Anteil der Hundertjährigen bei ben (Faktor 1,2). Ein weiterer Teil ist durch den Rückgang beiden Geschlechtern erhöht, von 1,5 Hundertjährigen je der Sterblichkeit – egal ob im Bereich der vorzeitigen 10’000 Geborene im Geburtsjahrgang 1860 (0,8 bei den Sterblichkeit (Geburt bis 80. Altersjahr) oder der Spät Männern, 2,2 bei den Frauen) auf 38,6 im Geburtsjahr- sterblichkeit (zwischen 80 und 100 Jahren) – bedingt. gang 1900 (11,6 bei den Männern, 66,8 bei den Frauen). T1 Determinanten der Zunahme der Anzahl Hundertjähriger: Grösse des Geburtsjahrgangs (Anzahl Personen) in einem bestimmten Alter und Wachstumsfaktoren Geburtsjahrgang Männer Frauen 1870 1900 Faktor 1870 1900 Faktor Bei der Geburt 40 570 48 223 1,2 38 638 46 093 1,2 Mit 80 Jahren 4 086 9 065 2,2 6 185 17 304 2,8 Mit 100 Jahren 9 53 6,2 23 294 12,5 Quelle: Robine et al., 2005 Das multiplikative Modell zur Erklärung der Zunahme der Im Alter von 60 Jahren sind die Anteile erwartungsge- Anzahl Hundertjähriger enthält somit drei Faktoren mäss gestiegen, folgen jedoch einem ähnlichen Verlauf. (Grösse des Geburtsjahrgangs, vorzeitige Sterblichkeit Die Hundertjährigenquote ist in diesem Zeitraum bei den und Spätsterblichkeit). Nach diesem Modell ist die Ab- Männern von 2 auf 22, bei den Frauen von 5 auf 100 (je nahme der Sterblichkeit ab 80 Jahren für mehr als die 10’000 Überlebende) geklettert. Ab den 1980er-Jahren Hälfte der Zunahme der Anzahl Hundertjähriger verant- ist eine gewisse Verlangsamung der Entwicklung zu wortlich. Ein weiteres Drittel ist auf die Verringerung der beobachten. Sterblichkeit zwischen der Geburt und dem 80. Altersjahr Der Vorteil der Frauen gegenüber den Männern ist zurückzuführen. frappant. Die Frauen weisen bei der Geburt durchwegs Bei den Männern ist der Beitrag der drei Komponen- eine höhere Quote auf und dieser Vorteil weitet sich ten ähnlich, wie aus Tabelle T1 hervorgeht. während der gesamten Beobachtungsperiode aus. Anzahl der 100-jährigen und älteren Personen, nach Geschlecht. Schweiz, 1860–2000. G5 700 677 Männer Frauen 600 500 400 329 300 200 136 119 100 84 45 43 3 7 7 6 0 2 0 0 0 2 0 2 1 2 3 4 6 11 3 9 4 19 16 0 Quelle: BFS/VZ 1860 1870 1880 1888 1900 1910 1920 1930 1941 1950 1960 1970 1980 1990 2000 © Bundesamt für Statistik (BFS) 8 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
EINLEITUNG T2 Hundertjährigenquote in fünf Geburtsjahrgängen (1860, 1870, 1880, 1890 und 1900): Anzahl Hundertjährige je 10’000 Lebendgeborene (CR0) und je 10’000 Überlebende im Alter von 60 Jahren (CR60). Schweiz Geburtsjahrgang Anteil Hundertjähriger (je 10’000 Geburten) Anteil Hundertjähriger (je 10’000 Überle- Verhältnis CR60/CR0 bei der Geburt (CR0) bende) im Alter von 60 Jahren (CR60) Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen 1860 0,8 2,2 2,2 4,8 2,8 2,2 1870 2,2 6,5 5,7 13,7 2,6 2,1 1880 5,6 16,3 13,5 32,1 2,4 2,0 1890 6,2 38,2 13,0 62,6 2,1 1,6 1900 11,6 66,8 21,6 99,3 1,9 1,5 Quelle: BFS/VZ 1960–2000 Aus derselben Tabelle T2 geht hervor, dass das Ver- 1.3 Die Lebenserwartung in anderen hältnis zwischen den Quoten im Alter von 60 Jahren und Industrieländern denjenigen bei der Geburt bei den Männern stets grösser ist als bei den Frauen. Dies steht im Einklang mit dem In den USA verzeichnet die Lebenserwartung seit 1900 Befund, dass die vorzeitige Sterblichkeit Männer in einen regelmässigen Zuwachs, wobei sich dieser seit den höherem Masse trifft als Frauen. 1980er-Jahren etwas verlangsamt hat (Kramarow et al., Schliesslich ist festzustellen, dass das Verhältnis zwi- 2007). Zwischen 1950 und 2004 erhöhte sich die Lebens schen den Quoten im Alter von 60 Jahren und denjeni- erwartung bei der Geburt von 68,2 auf 77,8 Jahre. Die gen bei der Geburt zurückgeht je jünger der untersuchte Lebenserwartung im Alter von 65 und 85 Jahren stieg im Geburtsjahrgang ist, was wiederum im Einklang steht mit gleichen Zeitraum von 13,8 auf 18,7 Jahre bzw. von dem Rückgang der Sterblichkeit, der nach 60 Jahren aus- 4,7 auf 6,8 Jahre (Wilmoth, 2000). geprägter ist als vorher. In Europa war die Entwicklung der Lebenserwartung Mehrere Studien befassen sich mit der Entwicklung der bis in den 1940er- und 1960er-Jahren überall vergleich- Sterblichkeit von älteren Personen in der Schweiz. Die ge- bar. Anschliessend lassen sich nach ihrem weiteren machten Beobachtungen sind im Grossen und Ganzen mit Verlauf drei Ländergruppen unterscheiden: einer Kompression der Sterblichkeit, d. h. einer Konzentra- • Eine Gruppe von Ländern mit «hoher Konvergenz» tion der Sterbefälle auf eine einzige sehr kurze Phase am (darunter die Schweiz), die einen regelmässigen An- Ende des Lebens, vereinbar. Letztere ist aus der Grafik G6 stieg der Lebenserwartung (ohne Verlangsamung in ersichtlich, welche die Verteilung des Sterbealters bei den 1960er-Jahren) und eine derzeitige Lebenserwar- Frauen in vier verschiedenen Zeiträumen widerspiegelt. tung bei der Geburt von 83–84 Jahren für die Frauen und von 78–79 Jahren für die Männer aufweisen; Verteilung des Sterbealters: Beobachtete Verteilung (Punkte) und geglättete Verteilung (Linien). Frauen, Schweiz. G6 5000 1876–1880 1906–1910 1956–1960 4000 2001–2002 3000 2000 1000 Quelle: Cheung, Robine, Paccaud et al., 0 persönliche Mitteilung 60 70 80 90 100 110 120 © Bundesamt für Statistik (BFS) 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 9
EINLEITUNG • Eine Gruppe von Ländern mit «tiefer Konvergenz» Der Anstieg der Lebenserwartung mit 65 Jahren (darunter das Vereinigte Königreich und Belgien), die scheint europaweit in den 1950er-Jahren eingesetzt zu sich durch abflauende Lebenserwartungsgewinne in haben. 1996 belief sich der Unterschied zwischen den den 1960er-Jahren und eine derzeitige Lebenserwar- europäischen Ländern bei beiden Geschlechtern auf tung bei der Geburt auszeichnen, die rund zwei Jahre maximal fünf Jahre. Der jährliche Gewinn an Lebens niedriger ist als in den Ländern mit «hoher Konver- erwartung zwischen 1996 und 2000 betrug generell ein genz». Jahr. • Eine Gruppe von Ländern mit uneinheitlicher Entwick- Das modale Sterbealter schwankte in diesen Ländern lung (darunter Dänemark, Norwegen und die Nieder- im 18. und 19. Jahrhundert zwischen 65 und 75 Jahren. lande), die durch lange Phasen stagnierender oder Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein kontinuierlicher An- vorübergehend sogar rückläufiger Lebenserwartung stieg ein. Dieser Aufwärtstrend beschleunigte sich ab geprägt sind. den 1960er-Jahren und gipfelte in einem modalen Sterbealter von 90 Jahren bei den Frauen. Höhere Werte Die Folge dieser drei Entwicklungsmuster sind erheb für die Frauen sind ab Anfang 20. Jahrhundert zu ver liche Unterschiede bezüglich der Lebenserwartung zwi zeichnen, der Höchststand wurde in den 1970er-Jahren schen den europäischen Ländern. Vergleicht man ge erreicht. In dieser Zeit stieg auch das modale Sterbealter wisse osteuropäische Länder mit der Schweiz oder der Männer an, allerdings ohne dass sich der Unter Frankreich betrugen diese im Jahr 2002–2003 maximal schied zwischen den Geschlechtern verringert hätte. zwölf Jahre bei den Männern und sieben Jahre bei den Für Schweden sind Daten über das maximale Sterbe- Frauen. Diese ungleichen Entwicklungstrends scheinen alter seit 1861 verfügbar. Diese zeigen einen Aufwärts- fortzubestehen. In den Niederlanden zum Beispiel wurde trend, der sich nach 1969 noch verstärkt, mit einer Zu- gegen 1980 eine plötzliche Umkehrung der Sterblich- nahme von 1,1 Jahren pro Jahrzehnt. Ähnliche keitstrends notiert, mit einer Erhöhung der Sterblichkeit Entwicklungen sind in anderen europäischen Ländern bei den Männern und einer Stagnation bei den Frauen. und in Japan zu beobachten. Die Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklungen sind bisher wenig erforscht. Vermutlich stehen sie im Zusammenhang mit Krisen im physischen und/oder so zialen Umfeld, die sich in den Staaten in den gleichen oben genannten Ländergruppen möglicherweise in ähn- licher Form ereignet haben. Ein guter Teil der Sterblich- keitsdifferenzen dürfte mit dem Rauchen zusammenhän- gen. Zumindest scheint dies die Ursache für die Situation in den Niederlanden zu sein. 10 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute 2 Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute Folgende Definitionen werden in diesem Bereich ver- die nicht tödlich sind. Zudem leidet ein erheblicher Teil wendet: der Bevölkerung als Folge dieser degenerativen Erkran- • Lebenserwartung in guter Gesundheit (healthy life kungen an Behinderungen. expectancy, abgekürzt HLE): durchschnittliche An- Den Zusammenhang zwischen steigender Lebenser- zahl Jahre, die in einem bestimmten Gesundheitszu- wartung und Gesundheit hat insbesondere Fries (2005) stand verbracht werden. Gesundheit hat verschiedene erforscht, der drei Entwicklungsszenarien betrachtet (vgl. Dimensionen, deshalb existieren verschiedene Kon- Grafik G7). Gemäss dem Paradigma der Kompression der zepte einer Lebenserwartung in guter Gesundheit. In Morbidität wird das durchschnittliche Alter zum Zeit- der Praxis wird die Lebenserwartung in guter Gesund- punkt des Auftretens der ersten chronischen Krankheit heit oft als Überbegriff für Indikatoren verwendet, die bzw. der ersten Behinderung zeitlich hinausgeschoben Daten zur Sterblichkeit und zur Krankheitshäufigkeit (Szenario III in der Grafik G7). Ist dieser Aufschub grös (Morbidität) in einer einzigen Kennzahl verbinden. ser als der Zuwachs an Lebenserwartung, gewinnt die Bevölkerung Lebensjahre bei guter Gesundheit – oder • Gesundheitsbereinigte Lebenserwartung (health- anders ausgedrückt – die Phase der chronischen Morbi- adjusted life expectancy, HALE): Dieser Indikator misst die bei guter Gesundheit verbrachten Lebens- dität wird auf einen kurzen Abschnitt vor dem Tod kom- jahre. Dabei werden die nicht gänzlich behinderungs- primiert. oder krankheitsfreien Lebensjahre von der gesamten Ein weiteres Szenario geht davon aus, dass die Le- Lebenserwartung abgezogen. benserwartung weiter zunimmt, das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt des Auftretens von Morbidität • Behinderungsfreie Lebenserwartung (disability-free jedoch unverändert bleibt (Szenario I in der Grafik G7). life expectancy, DFLE): Dieser Indikator ist ein Mass Dies kommt einer Expansion der Morbidität gleich. für die Zahl der Lebensjahre, die gänzlich ohne spezi- Das Szenario II schliesslich postuliert, dass sich das fische Einschränkungen im Alltag (z.B. Beispiel beim Sterbealter in gleichem Masse verlagert wie das Alter, in Baden, Ankleiden, Gehen) verbracht werden. Diese dem die degenerativen Erkrankungen auftreten: Die Le- Masszahl kombiniert Daten zur altersspezifischen bensdauer würde dadurch verlängert, der Anteil Lebens- Sterblichkeit und zur altersspezifischen Häufigkeit be- jahre bei schlechter Gesundheit bliebe jedoch stabil. stimmter Behinderungen. • Lebenserwartung mit Behinderung (disabled life expectancy, DLE): durchschnittliche Anzahl Jahre, die 2.1 Die Entwicklung in der Schweiz mit gesundheitlichen Einschränkungen im Alltag (z. B. Beispiel beim Baden, Ankleiden, Gehen) ver- Die seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Indika- bracht werden. toren verbinden Daten aus querschnittbasierten Bevölke- • Verhältnis zwischen behinderungsfreier Lebenserwar- rungsbefragungen (bei denen Informationen über die tung und gesamter Lebenserwartung: dieser Quoti- Häufigkeit von Gesundheitszuständen erhoben werden) ent drückt den Anteil der behinderungsfrei verbrach- mit Daten zur Sterblichkeit. Der am häufigsten verwen- ten Lebensjahre aus. dete Indikator ist die behinderungsfreie Lebenserwartung Als Gesundheitsindikator ist die Lebenserwartung bei (DFLE), die sich gewöhnlich aus der Lebenserwartung für der Geburt aussagekräftig im Hinblick auf vorzeitige und jede Altersklasse und dem Anteil an behinderungsfreien rasch tödlich verlaufende Erkrankungen. Die ständige Personen in jeder Altersklasse errechnet. Allerdings ist Zunahme von chronischen und degenerativen Erkran- der Einsatz des Indikators nicht unproblematisch: Die kungen bedeutet, dass man heute an Krankheiten leidet, behinderungsfreie Lebenserwartung wird erst seit den 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 11
Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute Szenarien zur künftigen Entwicklung von Morbidität und Langlebigkeit G7 Morbidität Todesfälle Aktuelle Morbidität 55 76 I. Verlängerung des Lebens 55 80 II. Verschiebung nach rechts 60 80 III. Kompression der Morbidität 65 78 © Bundesamt für Statistik (BFS) 1980er-Jahren ermittelt. Zudem sind infolge eines Wech- Tabelle T3). Die simultane Erhöhung der beiden Indika- sels der Berechnungsmethode in jüngerer Zeit verschie- toren deutet darauf hin, dass die 65-jährige und ältere dene Skalen im Einsatz, was Vergleiche erschwert. Ein Bevölkerung in der Schweiz bei guter Gesundheit altert. weiteres Problem sind die unterschiedlichen Verfahren Die gesamte Lebenserwartung und die Lebenserwar- zur Auswahl der Bevölkerungsstichproben: Die behinde- tung in guter Gesundheit der 65-Jährigen sind ebenfalls rungsfreie Lebenserwartung wird unterschätzt, wenn sie gestiegen, mit einer deutlicheren Differenz zwischen den lediglich bei den Personen in Privathaushalten erhoben Geschlechtern. Zwischen 1981 und 2002 ist eine Kom- wird, also unter Ausklammerung der Personen in Institu- pression der Morbidität bei Männern und Frauen zu be- tionen (die ein hohes Risiko aufweisen, an einer Behinde- obachten: der Anteil der behinderungsfreien Lebenser- rung zu leiden). Anzufügen ist, dass die Schweizerische wartung an der Gesamtlebenserwartung stieg bei den Gesundheitsbefragung 2007–08 erstmals Daten zu den Männern von 79 auf 83% und bei den Frauen von 66 Personen in Institutionen umfasst. auf 75%. Dieser Zuwachs fand vor dem Hintergrund Grafik G8 zeigt die behinderungsfreie Lebenserwar- eines starken Anstiegs der gesamten Lebenserwartung tung bei der Geburt in ausgewählten Ländern für das im Alter von 65 Jahren statt. Letztere kletterte bei den Jahr 2001. Die behinderungsfreie Lebenserwartung der Männern von 14,6 auf 17,5 Jahre und bei den Frauen Frauen ist im Allgemeinen höher als jene der Männer. von 18, 5 auf 21, 1 Jahre. Die Differenz ist jedoch weniger ausgeprägt als jene der Zwischen 1981/82 und 1997/99 haben die Frauen Lebenserwartung bei der Geburt. behinderungsfreie Lebensjahre hinzugewonnen In der Schweiz verlief der Gewinn an behinderungs- (+ 4,1 Jahre), während die Zeitspanne mit Behinderun- freier Lebenserwartung mit 65 Jahren von 1981–1997 gen um 2 Jahre abnahm. Der Anteil der mit Behinderun- parallel zu derjenigen der Lebenserwartung in dieser gen verbrachten Lebensjahre hat sich bei den Frauen so- Altersklasse, und zwar bei beiden Geschlechtern (siehe mit substanziell verringert. 12 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute Lebenserwartung bei der Geburt mit und ohne Behinderung (DLE0 respektive DFLE0) in ausgewählten Ländern, nach Geschlecht, 2001 G8 90 DFLE = Lebenserwartung bei Geburt ohne Behinderung 80 DLE = Lebenserwartung bei 70 Geburt mit Behinderung 60 50 40 30 20 10 0 Frauen Frauen Frauen Frauen Frauen Frauen Frauen Frauen Männer Männer Männer Männer Männer Männer Männer Männer Vereinigtes Japan Schweiz Frankreich Italien Schweden Niederlande Königreich USA © Bundesamt für Statistik (BFS) Die Männer haben im gleichen Zeitraum 15 Monate 2.2 Die Entwicklung in anderen Ländern an behinderungsfreier Lebenserwartung und 6 Monate an solcher mit Behinderung hinzugewonnen. Die Kom- Obschon es schwierig ist, Ländervergleiche der Lebens- pression der Morbidität ist bei den Männern demnach erwartung in guter Gesundheit durchzuführen, unter- weniger ausgeprägt: Drei Viertel des Gewinns an Le- sucht eine Studie der OECD die Entwicklung der Behin- benserwartung erfolgt ohne, ein Viertel jedoch mit Be- derungen ab 65 Jahren in 12 Ländern (ohne die Schweiz). hinderung. Diese zeigt ein uneinheitliches Bild: In einigen Ländern Obschon die Frauen eine längere behinderungsfreie nehmen die Behinderungen zu, in anderen ab. In der Lebenserwartung und mehr behinderungsfreie Lebens- Mehrzahl der europäischen Länder entwickelte sich die jahre hinzugewonnen haben als die Männer, verbringen behinderungsfreie Lebenserwartung mit 65 Jahren im sie absolut gesehen eine längere Lebensspanne mit Be- Grossen und Ganzen parallel zu derjenigen der gesamten hinderungen. Die gesamte Lebenserwartung bei der Ge- Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren. Auch hier burt betrug 2002 für die Männer 77,8 Jahre und für die unterscheidet sich die Situation jedoch nach Geschlecht Frauen 83,1 Jahre, die behinderungsfreie Lebenserwar- und Land, wie aus Tabelle T4 hervorgeht. tung 73,7 respektive 76,8 Jahre. Damit verbringen die Weiterführende Informationen zu den ausländischen Männer im Schnitt 4 Jahre, die Frauen dagegen 6 Jahre Studien finden sich im Originalbericht (unter: www.bfs. ihres Lebens mit Behinderungen. admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01.html). T3 Entwicklung der Lebenserwartung mit 65 Jahren (LE65), der behinderungsfreien Lebenserwartung mit 65 Jahren (DFLE65) und der Lebenserwartung mit Behinderung mit 65 Jahren (DLE65), nach Geschlecht Männer Frauen LE65 DFLE65 DLE65 DFLE65/LE65 LE65 DFLE65 DLE65 DFLE65/LE65 1981/82 14,6 11,5 3,1 79% 18,5 12,2 6,3 66% Veränderung 1981–1997 2,1 1,5 0,6 2,1 4,1 -2,0 1997/99 16,7 13,0 3,7 78% 20,6 16,3 4,3 79% Veränderung 1981–2002 3,5 3,1 -0,2 2,6 3,7 -1,1 2002 17,5 14,6 2,9 83% 21,1 15,9 5,2 75% Quelle: Höpflinger et al., 2003 und Berechnungen der Autoren 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 13
Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute 2.3 Zusammenfassung: die Lehren Demgegenüber hat sich die Geschlechterdifferenz in aus der Geschichte der durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt seit 1900 erhöht. Die Differenz besteht immer noch, sie Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt weiterhin kon- ist aber seit Anfang der 1990er-Jahre stark rückläufig. tinuierlich an und folgt dabei einem Trend, der für die Le- Eine weitere deutliche und zunehmende Ungleichheit benserwartung bei der Geburt vor Ende des 19. Jahrhun- betrifft die unterschiedlichen Lebenserwartungen nach derts und für die Lebenserwartung mit 65 Jahren Mitte dem sozioökonomischen Status, auf die hier nicht einge- des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat. Letztere verzeichnete gangen wird (Bopp et al., 2003). in den 1990er-Jahren einen Zuwachs um 1–1,5 Monate Die 1950er-Jahre markierten in der Schweiz das Ende pro Jahr. Es gibt keinen eindeutigen Hinweis, wonach des epidemiologischen Übergangs (Periode der Verdrän- dieser Anstieg in Zukunft zum Erliegen kommen dürfte, gung der Infektionskrankheiten als vorherrschendes Pro- auch wenn das Wachstumstempo seit den 1980er-Jahren blem der Volksgesundheit) und den Beginn einer Nach- etwas abgeflaut ist. Transformationsphase, die durch einen starken Rückgang Das modale Sterbealter, das als «normale» Lebens- der Sterblichkeit im dritten und vierten Alter geprägt war. dauer zu einem bestimmten Zeitpunkt interpretiert wer- Die Faktoren hinter diesen Veränderungen in den den kann, schwankte bis in den 1920er-Jahren und 1950er-Jahren hängen mit der damaligen Verbesserung erhöht sich seither um rund 2–3 Monate pro Jahr. Die der Lebensbedingungen zusammen (z. B. Fortschritte in ehemals breite Streuung des Sterbealters der Erwachse- der medizinischen Versorgung dank Antibiotika, Verbes- nen hat sich in den letzten fünfzig Jahren in einer Art serung des sozialen Umfelds durch die Einführung der und Weise verringert, die mit einer Kompression der staatlichen Altersvorsorge), oder Verbesserungen im Sterblichkeit vereinbar ist. Laufe des Lebens der betroffenen Geburtsjahrgänge (bessere Verhältnisse in der Perinatalphase, der Kindheit T4 Gliederung ausgewählter Länder nach der Langzeitentwicklung des Verhältnisses zwischen behinderungsfreier Lebenserwartung mit 65 Jahren (DFLE65) und Lebenserwartung mit 65 Jahren (LE65), in %, nach Geschlecht. Länder der Europäischen Union, 1995–2001 Entwicklung des Verhältnisses DFLE65/LE65 (%) … Männer Frauen … Abnahme um 5% und mehr Dänemark Deutschland (vgl. Szenario I in G7) Niederlande Griechenland Portugal Irland Schweden Niederlande Vereinigtes Königreich Portugal … konstant Frankreich Österreich (vgl. Szenario II in G7) Griechenland Dänemark Irland Finnland Spanien Frankreich Spanien Vereinigtes Königreich Schweiz … Zunahme um 5% und mehr Österreich Belgien (vgl. Szenario III in G7) Belgien Italien Finnland Schweden Deutschland Italien Schweiz Quelle: Jagger C. und «European Health Expectancy Monitoring Unit» www.ehemu.org) und Schweiz (1997/99–2002) (hinzugefügt durch die Autoren). 14 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
Lebenserwartung in guter Gesundheit gestern und heute und im jungen Erwachsenenalter für die Geburtsjahr- Obschon nichts auf eine Verlangsamung des Anstiegs gänge, die in den 1950er-Jahren das 65. Altersjahr er- des Sterbealters hindeutet, besteht auch kein Grund zur reichten). Annahme, dass die Lebenserwartung in der Schweiz un- Obschon zahlreiche Untersuchungen zu diesen Deter- begrenzt steigen wird. Gewisse europäische Länder wie minanten im Gange sind, liegen derzeit noch keine voll- die Niederlande und mehrere osteuropäische Staaten ständigen und schlüssigen Antworten vor. Die Verbesse- verzeichnen in jüngster Zeit einen Stillstand oder sogar rung des sozioökonomischen Umfelds in der Schweiz eine rückläufige Entwicklung der Lebenserwartung. nach dem 2. Weltkrieg ist augenscheinlich und kam den Schliesslich ist zu bemerken, dass die günstige Ent- heute älteren Generationen direkt zu Gute. Eine schwe- wicklung der Lebenserwartung in der Regel einherging dische Studie über den Zeitraum 1861–1999 legt nahe, mit einer positiven Entwicklung der Lebenserwartung in dass die Sterblichkeit der 90–94-jährigen Personen direkt guter Gesundheit. Mit anderen Worten: Die behinde- mit dem Lohnniveau in der Industrie korreliert (das hier rungsfreie Lebenserwartung mit 65 Jahren hat in den als Indikator des Wohlbefindens verwendet wird). Dem letzten zwanzig Jahren ebenso zugenommen wie der könnte man allerdings entgegenhalten, dass die Geburts- Anteil der behinderungsfrei verbrachten Lebensjahre. jahrgänge, die in den 1950er-Jahren 65 Jahre alt wurden, Diese Entwicklung steht im Einklang mit einer Kompres- zwei Weltkriege und die grosse Wirtschaftskrise der sion der Morbidität auf eine kurze Phase am Ende des 1930er-Jahre erlebt haben. Lebens. Der Anteil der Lebensjahre mit Behinderung ist Gewisse Studien befassen sich auch mit den Ursachen bei den Frauen in der Regel grösser und die Differenz erhöhter Sterblichkeit. Bekannt sind z.B. die Auswirkun- zwischen der behinderungsfreien Lebenserwartung von gen einer Verwitwung auf die Sterblichkeit des überleben- Frauen und Männern in der Regel kleiner als die Diffe- den Ehegatten. Demnach könnte ein Rückgang der Sterb- renz zwischen der Lebenserwartung insgesamt. lichkeit, der die Verwitwungshäufigkeit schwinden lässt, zu einem Rückgang der Sterblichkeit bei (Ehe-)Paaren führen. 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 15
Künftige Entwicklung der Langlebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit 3 Künftige Entwicklung der Lang lebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit Um die künftige Entwicklung der Sterblichkeit und der Kurzfristige Vorausschätzungen basieren auf einer Morbidität modellieren zu können, müssen deren wich- linearen Trendextrapolation der vergangenen Sterblich- tigste Determinanten in der Vergangenheit, Gegenwart keits- bzw. Lebenserwartungsniveaus. Dabei wird häufig und Zukunft bekannt sein. Dafür sind diverse Methoden mit Grenzwerten der Sterblichkeit bzw. der Lebensdauer gebräuchlich, die sich in zwei grosse Gruppen gliedern gearbeitet, da Hochrechnungen ohne jede Einschränkung lassen: in der Regel langfristig unplausible Ergebnisse liefern. So • Demografische Methoden, bei denen die Trends der würde zum Beispiel eine Trendextrapolation der Lebens- Vergangenheit bezüglich Sterblichkeit, Lebenserwar- erwartungen bei der Geburt in Dänemark und in Japan tung oder Grenzwertverteilung in die Zukunft fortge- aufgrund unterschiedlicher Vergangenheitswerte zu äus schrieben werden; serst verschiedenen Ergebnissen für die Zukunft führen. • Epidemiologische Methoden, die auf der Entwicklung Dasselbe gilt für die Trendextrapolation bei Männern der Erkrankungen und ihrer Determinanten gründen; und Frauen. Obschon in den meisten Ländern eine An- mit diesen Methoden wird die Entwicklung der Lebens- näherung der Lebenserwartung der beiden Geschlechter erwartung in guter Gesundheit ermittelt. zu beobachten ist, resultiert die Fortschreibung der ver- In den folgenden Abschnitten werden die beiden metho- gangenen Trends in einer Lebenserwartung der Männer, dischen Ansätze getrennt vorgestellt und anschliessend die jene der Frauen bei weitem übersteigt. Modelle für deren Kombination erörtert. Die Festlegung einer oberen Grenze der Lebensdauer ergibt sich aus der biomedizinischen Beobachtung, dass die physiologischen Leistungen mit dem Alter abneh- 3.1 Demografische Methoden: men. Ein weiteres – diesmal demografisches – Argument Fortschreibung der vergangenen ist die in mehreren Ländern beobachtete Verlangsamung Entwicklung der Sterblichkeit bzw. des Anstiegs der Lebenserwartung. Diese Verlangsamung der Lebenserwartung ist allerdings mit einem raschen Rückgang der Sterblich- keit der Personen in sehr fortgeschrittenem Alter verbun- Die Tabelle T6 zeigt ausgewählte Werte für die Voraus- den; ausserdem ist die Abnahme der Sterblichkeit dort schätzung der Lebenserwartung bei der Geburt. Im Jahr am dynamischsten, wo die Sterberaten der älteren Per- 2050 dürfte die Lebenserwartung Neugeborener laut sonen sehr niedrig sind. BFS 85 Jahre für Männer (zwischen 82,5–87,5 Jahren) Die Bestimmung einer Obergrenze der Lebensdauer und 89,5 Jahre für Frauen (zwischen 87,5–91,5 Jahren) ist auf jeden Fall ein strittiges Unterfangen. In der Litera- betragen. Dies würde einem jährlichen Gewinn an tur finden sich Vorschläge für maximale Lebenserwartun- Lebenserwartung bei der Geburt von 4–10 Wochen bei gen bei der Geburt, welche zwischen 65 Jahren (Vor- den Männern und von 4–9 Wochen bei den Frauen ab schlag aus dem Jahr 1928) und 85 Jahren variieren. In 2005 entsprechen. jüngerer Zeit postulierte Olshansky, dessen Schätzungen Bei diesen Methoden werden die Trends der Vergan- auf der Entwicklung der Sterberaten gründen, eine genheit direkt hochgerechnet oder in die Sterblichkeits- Obergrenze von 82 Jahren bei den Männern und von modelle integriert. In der Regel werden mehrere Ent- 88 Jahren bei den Frauen (Olshansky et al., 1990). wicklungsszenarien verfolgt, die sich im Wesentlichen Ein weiteres Problem ist die Wahl der Referenzperiode durch die Langzeitentwicklung der Sterblichkeit oder für das lineare Extrapolationsmodell. Ob beispielsweise durch die Zugrundelegung verschiedener Referenzzeit- eine Referenzperiode von 25 Jahren oder von 50 Jahren räume unterscheiden, auf welche sich die Analyse der zu Grunde gelegt wird, kann erhebliche Auswirkungen historischen Trends bezieht. auf die Projektionen haben. Andere Vorausschätzungen 16 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
Künftige Entwicklung der Langlebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit verwenden zudem Daten zur Sterblichkeit von Bevölke- Im Referenzdokument finden sich weiterführende Er- rungsgruppen mit niedrigem Risiko, beispielsweise Nicht- klärungen und sachdienliche Literaturhinweise (vgl. rauchern. Kapitel ««Demographic» approaches: Projections of the Am gebräuchlichsten ist derzeit die Lee-Carter- past trends of mortality or life expectancy» im vollständi- Methode, bei der die altersspezifische Sterbewahrschein- gen Bericht, der einsehbar ist unter: www.bfs.admin.ch/ lichkeit linear in eine zeitperiodenabhängige Hauptkompo- bfs/portal/de/index/themen/01.html). nente und eine altersspezifische zeitperiodenunabhängige Nebenkomponente zerlegt wird. Diese Methode wird in den USA und von den Vereinten Nationen benutzt. Da das 3.2 Demografische Methoden: Modell dazu tendiert, die Unterschiede zwischen den be- Vorausschätzungen auf der Grundlage trachteten Gruppen zu vergrössern, wurde eine Anpassung einer Grenzverteilung vorgeschlagen, die den Einbezug einer geburtsjahrgangs- spezifischen Mortalitätskomponente vorsieht. Gewisse Projektionen basieren auf der Hypothese einer Die Lee-Carter-Methode ist nicht geeignet zur Model- unteren Sterblichkeitsgrenze. Diese Methoden kombinie- lierung einer Entwicklung, die derzeit in den meisten ent- ren die beobachteten geringsten geschlechtsspezifischen wickelten Ländern zu beobachten ist: dass nämlich die Sterbeziffern in den verschiedenen Alterskategorien, be- Sterblichkeit bei den jüngeren Personen weniger rasch rücksichtigen die Unterschiede zwischen den Ländern abnimmt als im hohen und höchsten Erwachsenenalter. oder beinhalten Schätzungen der geringsten Sterbezif- T5 Lebenserwartung bei der Geburt nach verschiedenen Berechnungsmethoden Nusselder et al. 1996* Uemura 1989* Vallin & Meslé Olshansky 2005* Mathers et al. 2006* (unveröffentlicht)* Projektionsmethode Ausschluss Weltweit Weltweit nied- Auswirkungen Spezifische gewisser niedrigste rigste Sterb- der Sterbeziffer Erkrankungen Sterblichkeits- lichkeitsrate Fettleibigkeit rate nach nach Alters- Altersklassen klassen und Todesursachen Potenzielle Veränderung zum Zeitpunkt der Analyse 2030 M/F M/F M/F M+F M/F Zunahme der Lebens- Ausschluss der +2,5/+3,0 J. +5,4/+ 5,0 J. USA: Reichste Länder: erwartung bei der Geburt Herzkreislauf- 79.7/85.0 Krankheiten: + 3,1/+ 2,7 J. - 3– 4 Monate Ausschluss der Krebserkran- kungen: + 2,7/+ 1,9 J. * siehe bibliografische Hinweise Durch die Einführung einer Wechselwirkung zwischen fern für einzelne Todesursachen. In der Tabelle T5 sind der altersspezifischen Sterblichkeit und der Zeitperiode einige Ergebnisse aufgeführt. konnten diesbezüglich Verbesserungen erzielt werden. Eine Schätzung der Obergrenze der Lebenserwartung Neben dem Lee-Carter-Modell bieten andere Verfah- erstellte Uemura durch Kombination der weltweit nied- ren Lösungsansätze, um beispielsweise die Unsicherhei- rigsten Sterbeziffern, die in einer bestimmten Periode ten in Sterblichkeitsvorhersagen besser einzuschätzen. (1950 –1980) beobachtet wurden. So errechnete sich für Dazu werden Bayessche Modelle verwendet oder Mo- die Männer eine maximale Lebensdauer von 76,2 Jahren, delle, welche die altersspezifische Mortalitätsentwicklung für die Frauen von 82,1 Jahren. Erwähnenswert ist, dass berücksichtigen. die Lebenserwartung in der Schweiz 1980 72,4 Jahre für 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 17
Künftige Entwicklung der Langlebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit die Männer und 79,1 Jahre für die Frauen betrug und seit Gestützt auf die inverse Beziehung zwischen dem mo- 1999 über den von Uemura berechneten Werten liegt. dalen Sterbealter und der Standardabweichung des Ster- In jüngerer Zeit haben Vallin und Meslé nach einem bealters jenseits des Modalwerts hat Kannisto die Hypo- ähnlichen Verfahren die niedrigsten im Zeitraum these entwickelt, wonach eine «unsichtbare Mauer» die 1950–2000 beobachteten Sterbeziffern in jeder Alters-, weitere Ausdehnung des menschlichen Lebens verhin- Geschlechts-, und Todesursachenkategorie kombiniert. dert. Mit anderen Worten: die Verteilung der Sterbefälle So errechneten sie für die Männer eine maximale zur Rechten des mittleren Sterbealters vertikalisiert sich Lebenserwartung bei der Geburt von 84,4 Jahren, für die in dem Masse, wie das modale Sterbealter ansteigt. Frauen von 88,9 Jahren. Diese Ergebnisse liegen im Noch liegen wenige Studien vor, die diese Hypothese er- Werteintervall gemäss den Vorausschätzungen des BFS härten, vor allem wegen der beschränkten Verfügbarkeit für die Schweiz im Jahr 2050, das sich von 82,5 bis benötigter Daten bis in die höchsten Altersstufen. 87,5 Jahren bei den Männern und von 87,5 bis 91,5 Jah- ren bei den Frauen erstreckt. Der Ausschluss einer oder mehrerer Todesursachen 3.3 Epidemiologische Methoden: dient zur Schätzung möglicher Lebenserwartungsge- Vorausschätzungen auf der Basis von winne. In den USA wurden in den 1970er-Jahren die po- Gesundheitsinformationen tenziellen Auswirkungen einer vollständigen oder teil- weisen Beseitigung der drei wichtigsten Todesursachen Diese Modelle berücksichtigen systematisch Informatio- berechnet (Tsai et al., 1978). Demnach würde eine Ver- nen zur künftigen Entwicklung der degenerativen Er- ringerung der Sterblichkeit aufgrund von Herzkreislauf- krankungen, den Haupttodesursachen in alten Bevölke- Erkrankungen um 30% einen Zuwachs an Lebenserwar- rungen (in den industrialisierten Ländern gehen 60% der tung bei der Geburt von 1,98 Jahren bewirken. Eine Todesfälle in der Bevölkerung ab 65 Jahren auf das 30-prozentige Senkung der Krebssterblichkeit hätte Konto von Herzkreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankun- einen Gewinn von 0,71 Jahren, eine entsprechende Sen- gen und Hirngefäss-Erkrankungen). kung der verkehrsunfallbedingten Sterblichkeit einen Ge- Die Glaubwürdigkeit der Projektionen beruht auf den winn von 0,21 Jahren zur Folge. vorhandenen Kenntnissen über die Entwicklung der In jüngerer Zeit hat ein holländisches Team die Risiko- und Schutzfaktoren im physischen bzw. sozialen Lebenserwartungsgewinne unter Ausschluss gewisser Umfeld, der Lebensweisen, der Gesundheitsversorgung chronischer Erkrankungen berechnet. Im Alter von und sogar der Bevölkerungsgenetik. Die künftige Ent- 65 Jahren beträgt der Gewinn an Lebenserwartung bei wicklung des Klimas, der gesundheitlichen Ungleichhei- Ausschluss der Herzkreislauf-Erkrankungen 3,1 Jahre ten, der Ernährung, der technologischen Innovationen (Männer) respektive 2,7 Jahre (Frauen), bei Ausschluss oder auch der Migrationen sind Determinanten, die klas- der Krebsleiden 2,7 respektive 1,9 Jahre. Der Ausschluss sischerweise in die Prognosen einfliessen. von Diabetes verlängert die Lebensdauer um 0,1 bis Herzkreislauf-Erkrankungen sind aufgrund ihrer Häu- 0,3 Jahre. Der Ausschluss weiterer Erkrankungen hat figkeit die wichtigste Determinante der künftigen Ent- lediglich geringe Auswirkungen auf die Lebenserwar- wicklung der Langlebigkeit. Eine Analyse der Sterblich- tung. Neuere Schätzungen der Lebenserwartungsge- keit der 75- bis 84-jährigen Bevölkerung in Europa winne von Neugeborenen unter Ausschluss gewisser Er- zwischen 1970 und 1996 hat ergeben, dass die Verringe- krankungen sind auch für die Schweiz verfügbar (Kohli, rung der Gesamtsterblichkeit fast ausschliesslich auf die 2007). Sie bestätigen die herausragende Bedeutung der Abnahme der Sterblichkeit bei Herzkreislauf-Erkrankun- Herzkreislauf-Erkrankungen und der Krebsleiden. gen und insbesondere bei Hirngefäss-Erkrankungen zu- Eine andere Methode, die ebenfalls auf der Begren- rückzuführen ist. zung der Sterblichkeit beruht, integriert direkt die beob- In der Schweiz und in den meisten entwickelten Län- achteten Unterschiede zwischen den Ländern und Regi- dern beschleunigt sich der Rückgang der Herzkreislauf- onen. Die Idee besteht darin, dass die höchste Sterblichkeit seit Anfang der 1980er-Jahre. Dieser Rück- beobachtete Lebenserwartung eine für alle erreichbare gang intensiviert sich mit zunehmendem Alter, weshalb Grenze darstellt. Dieses Verfahren ist jedoch für die die Folgen in den höheren Altersklassen entsprechend Schweiz mit ihrer bereits sehr hohen Lebenserwartung stärker spürbar sind. Zahlreiche empirische und experi- von wenig Interesse. mentelle Befunde zeigen, dass eine weitere Abnahme 18 DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ BFS 2009
Künftige Entwicklung der Langlebigkeit und der Lebenserwartung in guter Gesundheit der Sterblichkeit möglich ist. Voraussetzung dafür sind einen scheint der Einfluss von Übergewicht auf die Langle- Fortschritte in Bereichen wie Ernährung, körperliche bigkeit über die ganze Bevölkerung hinweg betrachtet Aktivität und Tabakkonsum sowie eine bevölkerungsweit gering zu sein. Zum anderen ist der Zusammenhang zwi- verbesserte Behandlungssituation bei Bluthochdruck schen Adipositas und Herzkreislauf-Erkrankungen kom (Hypertonie) und zu hohem Cholesterinspiegel im Blut plexer als ursprünglich angenommen. In den USA etwa (Hypercholesterinämie). hat die Verbreitung von Adipositas zwischen 1970 und Die Herzkreislauf-Sterblichkeit ist auch ein wichtiger 2000 stark zugenommen, dennoch ist die Herzkreislauf- Erklärungsfaktor für die Geschlechterdifferenz in der Ge- Sterblichkeit weiterhin stark rückläufig. samtsterblichkeit. Diese Differenz nimmt mit dem Alter Die Ernährung hat somit via ihren Einfluss auf die Ent- rasch zu. Das Sterblichkeitsniveau der Frauen entspricht stehung von Herzkreislauf- Erkrankungen und Krebser- demjenigen 5–10 Jahre jüngerer Männer. krankungen nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Die Verringerung der Krebssterblichkeit trug zwischen Überleben. 1960 und 2002 weniger als ein Jahr zum Gewinn an Die grosse Streuung der Lebensdauer innerhalb eines Lebenserwartung bei, dies im Vergleich zum Beitrag der einzelnen Geburtsjahrgangs deutet darauf hin, dass die Herzkreislauf-Erkrankungen, der auf 3 Jahre veranschlagt Gene einen substanziellen Einfluss haben könnten. Stu- wird. Allerdings lässt der anhaltende Rückgang der Herz- dien bei Zwillingen haben gezeigt, dass ein Viertel der kreislauf-Sterblichkeit den Einfluss der Krebssterblichkeit Gesamtunterschiede in der Lebensdauer auf genetische auf die Gesamtsterblichkeit steigen, und zwar mindes- Faktoren zurückzuführen sein dürfte. tens seit Anfang der 1990er-Jahre. Der (gegenwärtige und künftige) Einfluss der Gesund- Die Entwicklung der Geschlechterdifferenz in der Ge- heitsversorgung auf die Langlebigkeit wird recht breit samtsterblichkeit deckt sich mit der Entwicklung des Ta diskutiert. Gewisse Fachleute rechnen mit mehreren bakkonsums. Dieser hat sich in jüngerer Zeit so gewan- bedeutenden Entdeckungen in den kommenden 2–3 Jahr- delt, dass in den kommenden Jahrzehnten eine weitere zehnten, die erhebliche Auswirkungen auf die Lebenser- Annäherung der Gesamtsterblichkeit der beiden Ge- wartung haben werden. Andere sind skeptischer. Jeden schlechter zu erwarten ist. Eine neuere Schätzung der falls steht ausser Frage, dass Lebenserwartungsgewinne Entwicklung der Lebenserwartung und des Tabakkon- infolge einer verbesserten Behandlung weiterhin möglich sums in mehreren europäischen Ländern (Bongaarts, sind, etwa indem der Schutz der älteren Bevölkerung im 2006) zeigt, dass sich die Lebenserwartung der Frauen Bereich der klassischen Impfungen erhöht wird. im Jahr 2000 als Folge des Rauchens um 1 Jahr, jene der Verschiedene Studien haben versucht, die Lebenser- Männer um 2,4 Jahre verringert hat. Die entsprechenden wartungsgewinne genau zu quantifizieren, die den mo- Zahlen für die Schweiz lauten 0,5 und 1,9 Jahre. dernen Errungenschaften der Chirurgie wie z.B. Gelenk- Das Übergewicht dürfte wegen seines Zusammen- prothesen, kardialen Revaskularisationsverfahren usw. hangs mit den Herzkreislauf-Erkrankungen, Diabetes zuzuschreiben sind. Diese Ansätze sind in der Regel je- und (bestimmten) Krebserkrankungen bei der Entwick- doch ziemlich theoretisch und schwer von einem Land lung der Langlebigkeit in den kommenden Jahren eine auf das andere übertragbar. Schlüsselrolle spielen. Neuere Schätzungen aus den USA für das Jahr 2000 legen nahe, dass sich die Lebenserwar- tung bei der Geburt als Folge der derzeitigen Verbrei- 3.4 Studien, die demografische und tung der Fettleibigkeit um 4-9 Monate verringert hat epidemiologische Methoden verbinden (Olshansky et al., 2005). Laut neueren Vorausschätzun- gen zur künftigen Entwicklung in den USA dürfte die Solche Studien kombinieren demografische und epide- Lebenserwartung bei der Geburt in den kommenden miologische Methoden, indem sie z.B. die Sterbewahr- Jahren als Folge des Übergewichts um 2–5 Jahre sinken scheinlichkeit und die todesursachenspezifische Morbidi- (vgl. Tabelle T5). tät berücksichtigen, wobei sich die Verfahren gegenseitig In der Schweiz hat zurzeit jeder zehnte Erwachsene ergänzen. Diese kombinierten Studien sind vorwiegend die Schwelle zu krankhaftem Übergewicht (Adipositas) analytischer Natur und werden selten für Projektions überschritten, jede zweite Person ist übergewichtig zwecke verwendet. Jede dieser Methoden gründet auf (Body-Mass-Index von 25–30 kg/m2). einer Theorie des Alterns als eines komplexen, multifak- Hierzu ist jedoch zu sagen, dass der Einfluss des Ge- toriell bedingten Phänomens. Eine dieser Theorien wichts auf die Langlebigkeit schwer nachzuweisen ist. Zum betrachtet das Altern als einen kumulativen Prozess, 2009 BFS DIE ZUKUNFT DER LANGLEBIGKEIT IN DER SCHWEIZ 19
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