Empfehlungen zum Umgang mit dem Symptom Müdigkeit - VNR 2760602015011030001
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Foto: Champion studio/Shutterstock.com Empfehlungen zum Umgang mit dem Symptom Müdigkeit VNR 2760602015011030001 Erika Baum, Peter Maisel, Christa Dörr, Norbert Donner-Banzhoff Einleitung Bei einer solchen Präsentation fühlen wir Müdigkeit: http://www.degam.de/files/ uns als Ärzte1 oft unsicher. Dahinter Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/ Herr S. ist 62 Jahre alt und vor einigen Mo- kann eine Vielzahl von Erkrankungen DEGAM-S3-Leitlinien/LL-02_Muedig- naten in unser Dorf gezogen. Er kommt an stehen. Einerseits wollen wir keine be- keit_Langfassung_2011_2.pdf. Zu der diesem Tag erstmals in unsere Hausarzt- handelbaren Ursachen übersehen, ande- Kurzfassung und weiteren Module gelangt praxis. Bisher sei er nie ernstlich krank ge- rerseits aber auch eine „Schrotschussdi- man über http://www.degam.de/leitlini wesen und nehme keine Medikamente. Er agnostik“ vermeiden. Eine Gruppe von en-51.html . wolle sich hier vorstellen, außerdem sei er Hausärzten mit akademischer Anbin- besorgt, weil er sich seit Monaten müde dung hat daher diesen Beratungsanlass Definition und schlapp fühle, auch nachdem der Um- systematisch aufgearbeitet und in eine zug und das Drumherum erledigt seien. Er Leitlinie gefasst, die inzwischen zwei Mal Wir alle kennen das Gefühl der Müdigkeit könne sich die Müdigkeit nicht erklären aktualisiert wurde. Für Literaturbelege oder Erschöpfung. Als gesundheitliches und befürchte, dass eine Erkrankung da- und Hintergrundinformationen verwei- Problem begegnet uns das subjektive hinter stehen könnte. sen wir daher auf die DEGAM-Leitlinie Empfinden von Müdigkeit, das in ver- 1 Aus Gründen besserer Lesbarkeit wird hier nur die männliche Form eingesetzt, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind. 12 | Hessisches Ärzteblatt 1/2015
Fortbildung schiedenen Formulierungen (Schlapp- Patienten, die wegen ungeklärter Müdig- • Haben Sie wenig Interesse/Freude an heit, Mangel an Energie, Erschöpfung, keit die Hausarztpraxis konsultierten: Tätigkeiten gehabt? Ermüdung, frühe Ermüdbarkeit, Schläf- • Depression ca. 20 Prozent Diese beiden Fragen haben bei mindes- rigkeit, Einschlafneigung tagsüber und • Anämie: 1–5 Prozent tens einer positiven Antwort eine Sensi- so weiter) vorgetragen wird und als ur- • Malignom 0,3–0,7 Prozent tivität von 90 Prozent bei einer Spezifi- sächlich ungeklärt oder belastend erlebt • Andere gravierende organische Ursa- tät von 60 Prozent in Bezug auf eine De- wird. Folgende Dimensionen sind dabei chen wie Diabetes, COPD: kumulativ pression. zu beachten: 3–6 Prozent Zur Erfassung einer Angststörung emp- • Emotionalität (Unlust, Motivations- • Chronisches Müdigkeitssyndrom
Fortbildung Wir empfehlen hierzu folgende Strate- gie: • Zusammenhang von Unterforderung, Dekonditionierung und Müdigkeit darstellen • Subjektive Vorstellungen bearbeiten, die einer Aktivierung entgegenstehen könnten • Verhalten schrittweise ändern: Über- denken des Tagesablaufes und des in- dividuellen Leistungsvermögens • Aktivität zurückgewinnen (Selbst- wirksamkeit erfahren) • Erfolge positiv konnotieren, bei Miss- erfolgen stützen Hier gibt es einen Konfliktpunkt mit ei- ner Selbsthilfegruppe, die Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom (CFS) vertritt. Diese Selbsthilfegruppe be- zieht sich ausschließlich auf Betroffene, die Kriterien des kanadischen Konsen- sus für CFS/myalgische Encephalitis er- füllen (siehe Langfassung der Leitlinie) und befürchtet eine nachhaltige Schädi- gung sowie soziale Benachteiligung, wenn die oben genannten Strategien seuchung häufig erhöhte Werte. Da- tompräsentation durch Aufmerksam- angewendet werden. Bisher gibt es durch verfestigt sich die Überzeugung, keit „belohnt“ wird) nach Ansicht der Leitlinien-Autoren kei- dass Borreliose eine wichtige Müdig- • Weiterführende Diagnostik mit spe- ne schlüssigen Belege für wirksame Al- keitsursache sei. Tatsächlich aber gibt es ziellen Labortests und bildgebenden ternativen zu der vorgeschlagenen Be- keinerlei Untersuchungen, die zeigen, Verfahren nur gezielt bei konkretem handlung. Es besteht eher eine hohe dass bei Verdacht auf eine „chronische Verdacht Gefahr, dass diese stark beeinträchtig- Borreliose“ eine antibiotische Therapie • Symptomorientierte aktivierende ten Patienten durch unseriöse Angebo- den Verlauf der Beschwerden verbes- Maßnahmen (insbesondere Sport / te geschädigt werden. sert. Wir sprechen hier von Trugschlüs- Bewegung) sen. Diese sollten unbedingt vermieden • Verhaltenstherapie Abschlussbemerkungen werden. Depression und Angst, starke Beschwer- Das weitere Vorgehen ist abhängig von den, viele somatische Symptome, wenig Bei unserem Patienten ergaben die kör- • der Ätiologie soziale Unterstützung, starke Befürch- perliche Untersuchung und die Labordi- • dem Ausmaß der Beschwerden tungen und weibliches Geschlecht sind agnostik keine Auffälligkeiten. Im Frage- • der funktionellen Beeinträchtigung mit einer relativ ungünstigen Prognose bogen zeigte sich die typische Konstella- • den assoziierten Gefühlen hinsichtlich einer vollständigen Remissi- tion einer Depression in milder Ausprä- • den Vorstellungen und Erwartungen on des Symptoms assoziiert (siehe oben gung sowie eine begleitende Angststö- des Patienten genannte systematische Übersicht). rung. Ansonsten fanden sich keine Hin- • und den individuellen Ressourcen. Bei vielen Ursachen der Müdigkeit weise für eine Müdigkeitsursache. Beim Grundlage ist eine tragfähige Arzt-Pa- kommt es zu einem Teufelskreis der De- Ausfüllen des Bogens wurde dem Patien- tienten-Beziehung. Dabei haben sich konditionierung (siehe Abbildung) ten klar, dass seine Probleme psy- folgende Strategien bewährt: chischer Natur sind. Er führte sie auf • Vorstellungen, Bedürfnissen und Ge- Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbre- mehrere beruflich bedingte Umzüge in fühlen der Patienten Raum geben chen durch eine individuell angepasste den letzten Jahren und den Verlust sozia- • Offenheit für ein weites Spektrum körperliche Aktivierung. Tatsächlich ha- ler Bindungen zurück. Er wünscht der- von biologischen, psychologischen ben nur die Verhaltenstherapie und die zeit keine Gesprächstherapie oder Psy- und sozialen Faktoren körperliche Aktivierung konsistent eine chopharmaka. Mit Hilfe seiner Frau • Planung von Folgeterminen statt Verbesserung des Symptoms bei vielen möchte er nun wieder einen Freundes- durch Beschwerden getriggerte Kon- Patienten mit chronischer Müdigkeit er- kreis aufbauen und sich regelmäßig sultationen (weil sonst eine Symp- geben. sportlich betätigen. 14 | Hessisches Ärzteblatt 1/2015
Fortbildung Fazit ner tragfähigen Beziehung, Geduld • Unspezifische Symptome wie Müdig- („abwartendes Offenhalten“), Offen- heit für bio-psycho-soziale Faktoren Multiple Choice- keit sind eine Erfahrung fast aller Men- schen, damit sehr häufig, aber nur (re- und wohlüberlegter, das heißt zurück- haltender Diagnostik eingrenzen oder Fragen lativ!) selten als medizinisches Problem zumindest aushalten lässt. Die Multiple Choice-Fragen zu dem Ar- definiert, tikel „Empfehlungen zum Umgang mit • trotzdem bilden sie in der Praxis einen Korrespondenzadresse: dem Symptom Müdigkeit“ finden Sie häufigen Beratungsanlass, Prof. Dr. med. Erika Baum im Mitglieder-Portal der Landesärzte- • sie sind häufig mit psychischen Beein- Philipps-Universität Marburg kammer (https://portal.laekh.de) so- trächtigungen/Erkrankungen assozi- Leit. Abteilung für Allgemeinmedizin, Prä- wie auf den Online-Seiten des Hessi- iert, ventive und Rehabilitative Medizin schen Ärzteblattes (www.laekh.de). • in Bezug auf das Symptom ist die Prog- Karl-von-Frisch-Straße 4, 35043 Marburg nose schlecht (oft chronischer Ver- Fon: 06421 28-65120 Die Teilnahme zur Erlangung von Fort- lauf), E-Mail: erika.baum@staff.uni-marburg.de bildungspunkten ist ausschließlich on- • in Bezug auf das Überleben ist die Prog- line über das Mitglieder-Portal (https:// nose gut (ernste somatische Ursachen Wir danken Dr. med. Armin Mainz (Kor- portal.laekh.de) vom 01.01.2015 – sehr selten), bach) und Dr. med. Uwe Popert (Kassel) 31.12.2015 möglich. • für Ärzte und Patienten ist dies ein Be- für die kritische Durchsicht des Manu- reich von Unsicherheit, die sich mit ei- skripts. Bücher Oliver Erens & Andreas Otte (Hrsg.): Geschichte(n) der Medizin. ärztlicher Eigennutz und ärztliches Ethos in harmonischer Weise Resümee wichtiger medizinhis- zusammentrafen. Die Funktionalität der Hippokratischen Leitli- torischer Beiträge aus 15 Jahren nien resultierte nicht aus einer metaphysischen Überhöhung des Ärzteblatt Baden-Württemberg Arztes, sondern aus der realistischen Abwägung der tatsächli- chen Interessen von Arzt und Patient“ (Seite 32f.). Bei Christoph Gentner Verlag Stuttgart 2014 Wilhelm Hufeland findet sich ein idealisierender Verhaltensko- ISBN 9783872477637 dex: „Leben für Andere, nicht für sich, sei das Wesen des Arztbe- gebunden, 160 Seiten, 38 Euro rufs. Nicht allein Ruhe, Vorteile, Bequemlichkeiten und Annehm- lichkeiten des Lebens, sondern Gesundheit und Leben selbst, Eh- Das Ärzteblatt Baden-Württemberg feiert 2015 seinen 70. Ge- re und Ruhm müsse er der Rettung des Lebens und der Gesund- burtstag. Zu diesem Anlass stellten Dr. med. Oliver Erens, Chef- heit Anderer opfern. Nur ein rein moralischer Mensch könne Arzt redakteur des Ärzteblattes Baden-Württemberg, und Prof. Dr. im wahren Sinne des Wortes sein“ (Seite 35). Mit Rudolph Vir- med. Andreas Otte, Facharzt für Nuklearmedizin, eine Samm- chow wird die Medizin als „Politik im Kleinen“ definiert, woraus lung medizinhistorischer Beiträge der vergangenen 15 Jahre aus „eine neuartige Rolle für den ,guten’ Arzt resultiert: „Dieser sollte dem Heft zusammen. Sie umfassen ein breites Spektrum und sich nicht mehr nur auf die Diagnostik und eine wissenschaftlich helfen dabei, Medizin, Krankheit und Gesundheit zu reflektieren. fundierte Therapie von Krankheiten beschränken, sondern zu- Beim Blick zurück finden wir viele Themen und Probleme, die uns gleich eine sozialpolitische Aufgabe im Dienste der Patienten aktuell nur allzu vertraut sind. und des Staates übernehmen“ (Seite 36). Beispielhaft hierfür ist der Artikel von Axel W. Bauer „Realität – Es lohnt zurückzusehen, um den eigenen Standpunkt besser zu Ideal – Projektion?“. Der „gute“ Arzt in medizinhistorischer Per- erkennen. Wir werden nie aus der Geschichte lernen, aber ohne spektive, der den Eid des Hippokrates folgendermaßen be- unsere Geschichte verstehen wir oft nicht, wo wir uns gerade be- schreibt: „Der Hippokratische Eid bot normierende, rational und finden. pragmatisch motivierende Leitlinien für die Medizinerausbil- Ein weiterer Schwerpunkt sind medizinische Berichte über be- dung, das Arzt-Patient-Verhältnis, den ärztlichen Beruf und des- rühmte Männer, wie Paganini, van Gogh und Toulouse-Lautrec. sen Handlungsstrategie an.“ Das rationale Kalkül des Hippokrati- schen Eides beruhte auf der Tatsache, dass in seinen Vorschriften Dr. med. Peter Zürner Hessisches Ärzteblatt 1/2015 | 15
Fortbildung Multiple Choice-Fragen: Umgang mit dem Symptom Müdigkeit (VNR: 2760602015011030001) (nur eine Antwort ist richtig) 1) Welche Beschwerde von Patienten wird 5) Welche Bereiche sollten schwerpunkt- 8) Bei ungeklärter Müdigkeit wird die unter dem Beratungsanlass Müdigkeit mäßig bei ungeklärter Müdigkeit kör- Durchführung folgender Laboruntersu- üblicherweise nicht subsumiert? perlich untersucht werden? chung nicht generell empfohlen. 1. Energiemangel a. Schleimhäute und Lymphknoten 1. Blutzucker 2. Schlappheit b. Herz 2. TSH 3. Muskelschwäche c. Lunge 3. Borreliose-Titer 4. Erschöpfung d. Abdomen 4. Blutbild 5. Habitueller Schlafmangel e. Muskeltrophik, -kraft, -tonus und 5. BSG oder CRP -eigenreflexe 2) Wie viel Prozent der Deutschen geben 1. nur a-d sind richtig 9) Welche therapeutische Strategie ist bei an, manchmal oder häufig unter Müdig- 2. nur b-d sind richtig Somatisierungsverdacht nicht empfeh- keit zu leiden? 3. nur a, d und e sind richtig lenswert? 4. nur b-e sind richtig 1. 5 Prozent 5. alle sind richtig 1. Vorstellungen, Bedürfnissen und 2. 11 Prozent Gefühlen der Patienten Raum geben 3. 21 Prozent 2. Keine weiteren festen Termine- Pa- 4. 31 Prozent 6) Welche Aussage trifft zu? Die beiden tient soll sich bei Bedarf melden 5. 50 Prozent Screeningfragen auf Depression 3. Symptomorientierte aktivierende Maßnahmen 1. haben eine sehr hohe Sensitivität . Verhaltenstherapie 3) Welche Bevölkerungsgruppe klagt ge- und Spezifität 5. Offenheit für biologische, psycholo- häuft über Müdigkeit? 2. haben eine sehr hohe Sensitivität gische und soziale Faktoren und geringere Spezifität 1. Männer 3. haben eine geringere Sensitivität 2. Alte Menschen aber sehr hohe Spezifität 10) Welche Strategie ist zur Förderung 3. Allein Lebende 4. Sichern die Diagnose einer Depression körperlicher Aktivität bei Müdigkeit 4. Höhere soziale Schicht 5. Sollten bei Müdigkeit nur ausnahms- nicht empfehlenswert? 5. Junge Erwachsene weise eingesetzt werden 1. Zusammenhang von Unterforde- rung, Dekonditionierung und Mü- 4) Welche der folgenden Aussagen trifft 7) Welches ist kein Stellglied im Teufels- digkeit darstellen nicht zu? kreis der Dekonditionierung? 2. Subjektive Vorstellungen bearbei- ten, die einer Aktivierung entgegen- Bei abzuklärender Müdigkeit in der Haus- 1. Verringerte Fettmasse stehen könnten arztpraxis findet sich als Ursache bei 2. Krankheitsbedingter Bewegungs- 3. Schnellstmöglich ein intensives Trai- 1. < 2 Prozent ein chronisches Müdig- mangel ningsprogramm aufnehmen keitssyndrom 3. Muskelabbau 4. Durch zurückgewonnene Aktivität 2. ca. 3 Prozent ein Malignom 4. Sinkende Motivation zur Bewegung Selbstwirksamkeit erfahren 3. ca. 3 Prozent eine Anämie 5. Sinkende Stimmung 5. Erfolge positiv konnotieren, bei 4. ca. 5 Prozent eine gravierende orga- Misserfolgen stützen nische Ursache 5. ca. 20 Prozent eine Depression 2 | Hessisches Ärzteblatt 1/2015
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