Kurt Kohn Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule

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In: Tanja Anstatt (Hrsg.) (2007). Mehrsprachigkeit bei Kindern und
Erwachsenen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 207-222.

Kurt Kohn

Englisch als globale Lingua Franca:
Eine Herausforderung für die Schule

1.     Vorbemerkung

Man kann es mögen oder nicht, man kann es begrüßen oder hassen: An einer Tatsa-
che kommt man nicht vorbei, nämlich dass Englisch die Sprache der internationalen
Organisationen geworden ist, die Sprache der Wirtschaft und Technologie, der
sprachliche Zugang zur Teilhabe – oder Hoffnung auf Teilhabe – an Arbeit, Einfluss
und vielleicht auch Macht.
     Einem Bericht in Newsweek (7. März 2005) zufolge geraten die Native Speaker
des Englischen zunehmend in die Minderheit: Einem Native Speaker stehen drei
Non-Native Speaker gegenüber; in Asien wird Englisch von 350 Millionen Men-
schen gesprochen; in zehn Jahren rechnet man mit etwa 2 Milliarden LernerInnen
des Englischen und 3 Milliarden SprecherInnen; der Englischunterricht in Indien hat
ein Geschäftsvolumen von 100 Millionen Dollar; über 400 Sprachschulen konzen-
trieren sich derzeit auf den chinesischen Markt; etwa 100 Millionen chinesische
Kinder lernen Englisch: Englisch ist ohne Zweifel ein weltweites Geschäft!
     Und man sollte nicht meinen, diese stürmischen Entwicklungen fänden lediglich
in Asien statt. In Deutschland und anderen europäischen Ländern ist ja auch schon
einiges geschehen. Englisch ist seit vielen Jahren erste Fremdsprache in unseren
Schulen; und der Unterricht ist immer kommunikativer, immer wirklichkeitsnäher
geworden. Dieser Trend wird sich weiter verstärken – ein aktueller Hinweis ist in
dem frühen Englischerwerb in Grundschule und Kindergarten zu sehen (vgl. Schlü-
ter 2006).

2.     Aufbruch und Verbreitung

Angefangen hat dies alles mit stürmischen Überfahrten in die Neue Welt auf der
Suche nach neuen Handelsräumen und religiöser Freiheit. So wurde 1607 die
Virginia Kolonie gegründet; 1620 erreichten die Pilgrim Fathers auf der Mayflower
die Küste des heutigen Massachusetts und gründeten die Plymouth Kolonie. Dem
Aufbruch folgte die weitere koloniale Verbreitung, die zur Bildung des British
Empire führte, das sich in postkolonialer Zeit zum British Commonwealth wandelte.
    Die kolonialen und postkolonialen Entwicklungen führten zur Verbreitung des
Englischen rund um den Erdball. In Nordamerika, Afrika, Australien und Asien ist
Englisch entweder als nationale Muttersprache oder als offizielle Zweitsprache für
Bereiche der Regierung, Verwaltung, Erziehung und Bildung vertreten. Als zweite
Verbreitungskraft sind die britischen und amerikanischen Kulturen und Literaturen
zu nennen sowie die sie tragenden und weitertragenden Bildungsinstitutionen. Mit
der Intensivierung des britisch-amerikanischen Kultur- und Literaturkontaktes war
in den Schulen die nachhaltige Förderung des Englischen als Fremdsprache verbun-
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den. Durch die Rolle der USA als weltweit agierende politische und wirtschaftliche
Hegemonialmacht wurde diese Position weiter ausgebaut und das Englische etab-
lierte sich als erste Fremdsprache – wiederum rund um den Erdball.
     Seit Mitte der 1980er Jahre hat Braj Kachru (1985, 1992) es in verschiedenen
Publikationen unternommen, mit Hilfe dreier konzentrischer Kreise Ordnung in die
Vielfalt der World Englishes zu bringen. Da sind zunächst im so genannten Inner
Circle jene Länder, in denen Englisch als Muttersprache gesprochen wird, insbeson-
dere Großbritannien, USA, Kanada und Australien. Der Outer Circle umfasst die
verschiedenen Ausprägungen des Englischen als Zweitsprache in Ländern wie z.B.
Ghana, Indien, Bangladesh oder Pakistan. Und im Expanding Circle schließlich
finden sich Länder mit Englisch als Fremdsprache, u.a. auch Deutschland.
     Über die (ein)ordnende Beschreibung hinaus verfolgt Kachru mit seinem Modell
ein sprachpolitisches Anliegen. Es geht ihm um eine Neubestimmung des Verhält-
nisses zwischen dem Inner Circle und dem Outer Circle, zwischen muttersprachli-
chem und zweitsprachlichem Englisch, zwischen muttersprachlichen und zweit-
sprachlichen SprecherInnen des Englischen. Leitend ist ein emanzipatorisches In-
teresse. Es gilt, die in erster Linie kolonial und postkolonial entstandenen englischen
Zweitsprachen aus der Vormundschaft der muttersprachlichen Nationalsprachen
herauszuführen; sie nicht länger als weniger akzeptable Abweichungen anzusehen,
sondern als eigenständige Varianten des Englischen mit eigenem normativen An-
spruch und dem Recht, so sein zu dürfen wie sie sind.
     In den 1990er Jahren – ermöglicht und beflügelt durch rasante Fortschritte in den
Informations- und Kommunikationstechnologien – nimmt der Zug der wirtschaftli-
chen, politischen und kulturellen Globalisierung immer weiter an Fahrt auf. Es
entstehen Lebens- und Arbeitswelten mit internationalen und interkulturellen Kon-
taktsituationen, in denen die Verwendung des Englischen auch für Nichtmutter-
sprachlerInnen des Expanding Circle notwendig und vor allem natürlich wird. Da-
mit bildet sich eine neue, kulturell und wirtschaftlich äußerst relevante Kommuni-
kationsdimension heraus: die Verwendung des Englischen als einer Lingua Franca
(ELF). Bemerkenswert ist, dass der aufkommende und sich rasch verschärfende Be-
darf an einer globalen Lingua Franca auf eine Sprachkonstellation trifft, in der Eng-
lisch rund um den Erdball als Muttersprache, Zweitsprache und Fremdsprache be-
reits in Position ist. Englisch als globale Lingua Franca entsteht also in einem Wech-
selspiel von Angebot und Nachfrage – wobei das Angebot der Nachfrage voraus-
geht.
     Die internationale Diversifizierung des Englischen hat auch ihren Preis. So kann
bei MuttersprachlerInnen leicht die Sorge aufkommen, ihre geliebte Sprache würde
durch die übermächtige Präsenz nichtmuttersprachlicher Varietäten erdrückt und be-
schädigt. Und zu der Sorge um den Erhalt der eigenen Sprache kann sich eine Ver-
schlossenheit gegenüber anderen Sprachen gesellen, insbesondere wenn man in der
Gewissheit ruht, über eine Sprache, die von allen anderen verstanden wird, schon zu
verfügen. David Crystal (2003, xiii) bringt den Sprach- und Kommunikationsvorteil
englischer MuttersprachlerInnen auf den Punkt: „In my ideal world, everyone would
have fluent command of a single world language. I am already in the fortunate po-
sition of being a fluent user of the language which is most in contention for this role,
and have cause to reflect every day on the benefits of having it at my disposal“.
     Eine der Kehrseiten dieser idealen Welt zeigt sich in dem drastischen Rückgang
der Fremdsprachen an britischen Schulen. So fiel 2005 in der Sekundarstufe (GCSE)
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule         209

im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Abschlussprüfungen in Französisch um
14,4% auf 272.140, in Deutsch um 13,7% auf 105.288 und in Spanisch um 2,5% auf
62,456 (BBC News, 25. August 2005).
    Für NichtmuttersprachlerInnen eröffnet das Englische den Zugang zu einer
Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Kommunikationswelt. Es ist dies aller-
dings auch eine Welt, in der NichtmuttersprachlerInnen oft gezwungen sind, ihre
intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten sprachlich unter der Scheffel zu
stellen, und in der MuttersprachlerInnen ihren Sprachvorteil durchaus unbekümmert
nutzen, ohne sich um die Folgen kommunikativer Ungleichheiten zu kümmern. Der
nachstehende Mail-Dialog ergab sich am 29. April 2005 im Mailforum der IATEFL
Learning Technologies Sig 1 nach Korrektur eines Webseitenfehlers („slip“), auf den
der Webmaster (Geoff) aufmerksam gemacht worden war:
Geoff: I believe every instance of this slip has now been apprehended and marched
       off for corrective discipline, but should you happen to spot any stray infe-
       licities wandering vaguely in the backwaters, I’d be obliged if you’d let me
       know. (message 1288)
Gavin: Not a huge disaster, I don’t think. Thanks for spotting it and sorting it out
       with such alacrity. And for the delightful sentence. (message 1290)
Dies ist ein zweifelsohne amüsanter Austausch zwischen zwei Muttersprachlern, die
sich ganz unter sich fühlen – in einem ansonsten allerdings internationalen Kommu-
nikationsforum. Die Äußerungen sind durchaus anregend und lehrreich für weniger
kompetente NichtmuttersprachlerInnen mit Sprachlernambitionen; für viele Forums-
teilnehmerInnen aber sicherlich auch Anlass, sich mit ihren eigenen, sprachlich un-
beholfenen Beiträgen doch lieber zurückzuhalten.

3.       Beschreibungen von Englisch als Lingua Franca

Die „natürliche“ Kompetenz weltweit tätiger didaktischer RepräsentantInnen der
englischen Muttersprache und ihre oft allzu rasch akzeptierte Normgewalt über
Fragen der sprachlichen und kulturellen Korrektheit und Angemessenheit hat An-
fang der 1990er Jahre zum Vorwurf eines sprachlichen Imperialismus geführt (Phil-
lipson 1992). Auch wenn man dieser sprachpolitischen Zuspitzung, die eine heftige
und kontrovers geführte Debatte auslöste, nicht folgen mag (vgl. Seidlhofer 2003,
section 1), so bleibt doch die Frage, wer denn in der expandierenden englischspra-
chigen Welt die Marschrichtung bestimmt. Sind es die MuttersprachlerInnen mit
ihren angestammten und auch gern verteidigten Besitzansprüchen? Und welche
Rolle spielt die wachsende Mehrheit der nichtmuttersprachlichen SprecherInnen des
Englischen?
    David Graddol (1997, 10) stellt hierzu fest: „Native speakers may feel the lan-
guage ‘belongs’ to them, but it will be those who speak English as a second or for-
eign language who will determine its world future.“ Diese Aussage ist nicht norma-
tiv, sondern deskriptiv gemeint. Die Entwicklung einer Sprache wird de facto zur
Sache derjenigen, die diese Sprache für ihre kommunikativen Bedürfnisse verwen-
den. Im Falle einer internationalen Sprache schließt dies zwangsläufig auch die

1
     http://groups.yahoo.com/group/LearningTechnologiesSIG/
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nichtmuttersprachlichen SprecherInnen mit ein. Den MuttersprachlerInnen des Inner
Circle steht keine Wächterrolle zu: „How English develops in the world is no busi-
ness whatever of native speakers in England, the United States, or anywhere else.
They have no say in the matter, no right to intervene or pass judgement. They are
irrelevant. The very fact that English is an international language means that no na-
tion can have custody over it. To grant such custody over the language is necessarily
to arrest its development and so undermine its international status“ (Widdowson
2003, 43).
    Hier zeigt sich ein neues Sprachbewusstsein, demzufolge neben den mutter-
sprachlichen und zweitsprachlichen auch den fremdsprachlichen SprecherInnen des
Englischen eine die englische Sprache formende Kraft zuzugestehen ist. Maßgeblich
bewirkt wurde dies durch globalisierungsbedingte Veränderungen im Expanding
Circle. Mit dem Einzug der englischen Sprache in den lebens- und berufsweltlichen
Kommunikationsalltag wird ihre Verwendung zunehmend natürlicher und selbstver-
ständlicher; zuvor fremdsprachliche Kompetenzen nehmen nach und nach Zweit-
sprachenqualitäten an.
    Diese allmähliche Verlagerung vom Fremdsprachenlernen hin zur natürlichen
Kommunikation in globalisierten Verwendungskontexten betrifft zunächst die kom-
munikative Funktion von Sprache und löst auf dieser Ebene Prozesse einer individu-
ellen kommunikativen Emanzipation aus: Verstehbarkeit, kommunikative Flexibili-
tät und Effizienz werden wichtiger als Korrektheit hinsichtlich muttersprachlicher
Standards. Bei einer weiteren Verstärkung und Normalisierung dieser Prozesse
zeigen sich Auswirkungen auch im Bereich der kommunalen Funktion von Sprache. 2
In dem Maße, in dem NichtmuttersprachlerInnen einer bestimmten sprachlich-kul-
turellen Herkunft sich miteinander identifizieren und ein Gefühl für Zugehörigkeit
und Akzeptanz entwickeln, kommt es zu einer kommunalen Emanzipation mit dem
Bedürfnis, anders zu sein als die MuttersprachlerInnen: „Right or wrong, my
English!“ Nach der Befreiung des Outer Circle durch Kachru gerät nun auch die
Befreiung des Expanding Circle auf die Agenda.
    In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das Forschungsinteresse
schwerpunktmäßig auf nichtmuttersprachliche Lingua-Franca-Verwendungen des
Englischen gerichtet ist. „Englisch als Lingua Franca“ wird dementsprechend auch
in der Regel als Kontaktsprache zwischen Personen definiert, „who share neither a
common native tongue nor a common (national) culture, and for whom English is
the chosen foreign language of communication“ (Firth 1996, 240). Seidlhofer (2004,
210ff.) weist darauf hin, dass mit dieser Hervorhebung der fremdsprachlichen Lin-
gua-Franca-Kommunikation keineswegs unterschlagen wird, dass an vielen Lingua-
Franca-Interaktionen auch MuttersprachlerInnen oder ZweitsprachlerInnen des
Englischen beteiligt sind. Es soll vielmehr deutlich zum Ausdruck und auf den
Punkt gebracht werden, dass es gerade die nichtmuttersprachlichen SprecherInnen
des Expanding Circle sind, die bei der globalisierten Verbreitung und Entwicklung
des Englischen als eigentliche Akteure hervortreten (vgl. Brutt-Griffler 1998).
    Die sich hieraus ergebenden Veränderungen lassen sich aus dem muttersprachli-
chen Blickwinkel nicht angemessen erfassen. Barbara Seidlhofer (2001, 2004,
2005a, 2005b) plädiert daher mit großem Nachdruck und Engagement für eine Neu-

2
      Vgl. Widdowson (2003, 39ff.), der mit Bezug auf Standardenglisch und fachliche Varietäten auf
      die identitätsstiftende Rolle der kommunalen Sprachfunktion hinweist.
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule        211

konzeptualisierung des Englischen unter Lingua-Franca-Bedingungen. „Englisch als
Lingua Franca“ (ELF) ist der Untersuchungsbereich, für den es die englische Spra-
che und die englischsprachige Kommunikation neu zu verorten gilt. Seidlhofer be-
tont die Notwendigkeit umfassender ELF-Beschreibungen mit dem Ziel, die sprach-
lichen Merkmale und Kommunikationsbedingungen dieser sich global entwickeln-
den nichtmuttersprachlichen Ausprägung des Englischen zu bestimmen.
    Aus sprachdidaktischer Perspektive bleibt das Verhältnis der nichtmuttersprach-
lichen Lingua Franca zu muttersprachlichen Standards durchaus ein wichtiges The-
ma, allerdings unter veränderten Vorzeichen. An die Stelle eines normativen Kor-
rektheitsanspruchs tritt das Kriterium der Verständlichkeit. So untersucht Jennifer
Jenkins (2000) aussprachebedingte Missverständnisse und identifiziert auf dieser
Basis als Lingua Franca Core jene phonetisch-phonologischen Merkmale der Stan-
dardsprache, die für eine unter NichtmuttersprachlerInnen verständliche Aussprache
erforderlich sind und somit auch gelernt werden sollten:
•       alle Konsonanten mit Ausnahme abweichender th-Laute und des velaren l,
•       Aspiration von p, t, k am Wortanfang,
•       Vokallänge vor stimmhaften Konsonanten (z.B. sat / sad),
•       keine Vereinfachung von Konsonantenclustern am Wortanfang (z.B. strap),
•       Vereinfachung von Konsonantenclustern in anderen Positionen nur bei Er-
        halt der engl. Silbenstruktur (z.B. frien-ship, aber nicht frien-dip),
•       Längenkontraste bei Vokalen (z.B. leave / live),
•       kontrastive Betonung in Sätzen (z.B. He came by TRAIN / He CAME by
        train).
Alle anderen phonetisch-phonologischen Merkmale der Standardsprache, durch
deren Fehlaussprache die Verständlichkeit einer Äußerung nicht beeinträchtigt wird,
rechnet Jenkins dem Non Core zu. Abweichungen im Non-Core-Bereich werden als
zulässige Lingua-Franca-Varianten anerkannt; gegenüber dem Standardenglisch
markieren sie kein Defizit, sondern vielmehr einen Unterschied.
    In den Arbeiten von Seidlhofer (2004, 2005a, 2005b) geht es auf der Basis des
von ihr an der Universität Wien aufgebauten Vienna-Oxford International Corpus of
English (VOICE)3 um Untersuchungen zur ELF-Lexikogrammatik. Das zunächst auf
eine Million Wörter geplante Korpus umfasst improvisierte mündliche ELF-Inter-
aktionen, insbesondere face-to-face-Gespräche, Telefonate, Gruppendiskussionen,
Präsentationen und Interviews. Es werden vielfältige Kommunikationsanlässe und
Themen professioneller, informeller und bildungsorientierter Natur sowie unter-
schiedliche Teilnehmerrollen und Kommunikationsbeziehungen abgedeckt. In der
Anfangsphase sind annähernd 800 SprecherInnen mit etwa 50 Erstsprachen vor-
nehmlich (aber nicht ausschließlich) aus dem europäischen Sprach- und Kulturraum
vertreten.
    Zentrale Forschungsschwerpunkte betreffen die methodischen Herausforderun-
gen und Probleme, die sich bei der Erstellung eines ELF-Korpus ergeben, sowie in
inhaltlicher Hinsicht die lexikogrammatische Datenanalyse. Erste Beobachtungen
zeigen auch für diesen Bereich Lingua-Franca-spezifische Abweichungen, die im

3
    http://www.univie.ac.at/voice
212                                                                          Kurt Kohn

Sprachunterricht als Fehler geahndet werden, für die Lingua-Franca-Kommunika-
tion selbst aber keinerlei Probleme bereiten:
•      ein fehlendes s-Morphem in der 3. Person Singular Präsens (z.B. she like
       statt she likes),
•      abweichender Gebrauch von who und which (z.B. things who, people which),
•      Verwendung einer invariablen Form für Frageanhängsel (z.B. no statt
       shouldn’t they),
•      fehlende oder redundante Artikel (z.B. they have a respect for all, he is very
       good person),
•      redundante Präpositionen (z.B. discuss about something).
Kommunikationsprobleme können allerdings dadurch auftreten, dass die (nicht-
muttersprachlichen) GesprächspartnerInnen einer ELF-Interaktion sich auf unter-
schiedlichen Kompetenzniveaus bewegen. Ein interessanter Fall ist die von Seidl-
hofer (2004, 2005a, 2005b) festgestellte „unilateral idiomaticity“, bei der gerade die
kompetente Verwendung idiomatischer Äußerungen (z.B. This drink is on the house,
Can we give you a hand? The ball is in your court) beim weniger kompetenten
Gegenüber leicht zu einer Verstehensüberlastung führen kann.
    Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet betrifft die pragmatischen Bedingungen
und Prozesse der (interkulturellen) ELF-Kommunikation (vgl. Knapp 1987, Firth
1996, Meierkord 1996, House 1999, House 2002, Knapp / Meierkord 2002, Mau-
ranen 2003, Lesznyák 2004). Bei aller Vielfalt der Perspektiven und Fragestellungen
geht es immer wieder um Missverständnisse und Kommunikationserfolg sowie um
den strategischen Umgang mit unterschiedlichen Interaktionskonventionen. Hierbei
handelt es sich um Fragen, die ganz besondere Herausforderungen an die empirische
Datenanalyse und Interpretation stellen. Dies wird beispielsweise in der Diskussion
zu dem Let-it-pass-Prinzip (Firth 1996) deutlich, demzufolge ELF-SprecherInnen
bei Verstehensproblemen dazu neigen, erst einmal abzuwarten und darauf zu ver-
trauen, dass sich später schon alles klären oder als nicht so relevant erweisen wird.
Während Firth hier Anzeichen einer robusten, Normalität schaffenden Kommunika-
tion sieht, weist House (1999, 75) auf die Möglichkeit einer Oberflächenstrategie
hin, durch die Kommunikationsprobleme auch leicht verdeckt werden können, mit
negativen Folgen für den weiteren Kommunikationsverlauf.
    Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, dass derartige Fragen sich allein auf der
Basis von Konversationsdaten oft nicht entscheiden lassen. Der Schritt von der
sprachlichen „Außenseite“ der Kommunikation hin zu den zugrunde liegenden stra-
tegischen Kommunikationsprozessen ist in der Regel doch recht weit. Hier zeigt sich
einmal mehr die aus der Zweitsprachenerwerbsforschung bekannte Produkt-/ Pro-
zess-Problematik: An ihrer Außenseite manifestiert Kommunikation sich in Äuße-
rungen; und Äußerungen sind der bevorzugte Gegenstand linguistischer Analysen.
Wenn das Untersuchungsinteresse sich aber über die Äußerungen hinaus auf die
strategischen Verarbeitungsprozesse richtet, die zu ihnen geführt haben, reicht die
Analyse der Äußerungen allein nicht aus. In der menschlichen Kommunikation sind
die Prozesse durch ihre Produkte oft unterbestimmt. Die eigentliche Verarbeitungs-
dimension, die im Innern der SprecherInnen liegt, lässt sich über eine Analyse von
Produktdaten allein empirisch kaum erreichen (vgl. Kohn 1990, Kap. 1.3).
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule         213

    Ein theoretisch-methodisches Problem ergibt sich auch für die in der ELF-For-
schung mehr oder weniger explizit verfolgte Suche nach ELF-Varietäten. Auf der
Basis vorliegender empirischer Untersuchungen zu europäischen ELF-Verwendun-
gen aus unterschiedlichen institutionellen, beruflichen und privaten Lern- und
Kommunikationskontexten kommt James (2005, 140) zu folgenden Verallgemeine-
rungen: (a) Es besteht durchweg eine starke („exonormative“) Ausrichtung an briti-
schen oder US-amerikanischen Standards (ohne dass hier immer klar differenziert
würde); (b) Abweichungen von diesen Standards ergeben sich in Abhängigkeit zum
Kompetenzniveau der SprecherInnen sowie zum jeweiligen Diskurstyp; (c) hin-
sichtlich lokaler Form-/ Funktionsausprägungen zeigt sich eine erhebliche Heteroge-
nität. Überzeugende empirische Belege für das Entstehen einer monolithischen
europäischen ELF-Varietät kann er nicht ausmachen. Insgesamt erweist ELF sich im
europäischen Kontext als „fragmented, contingent, marginal, transitional, indetermi-
nate, ambivalent and hybrid in various ways“ (James 2005, 141).
    Was folgt hieraus nun für die linguistische ELF-Beschreibung? James greift die
von Halliday (1978) eingeführte Unterscheidung zwischen Sprechervarietäten (Dia-
lekt) und Verwendungsvarietäten (Register) auf und ergänzt sie um das auf Kom-
munikationssorten Bezug nehmende Konzept der Genre-Varietäten. Eine deutsch-
gefärbte ELF wäre demnach als Sprechervarietät, eine akademische ELF als Ver-
wendungsvarietät und eine Chat-ELF als Genre-Varietät einzuordnen. Dies sind
prototypische Zuordnungen; durch das jeweilige kommunikative Setting beeinflusste
Mischformen sind eher die Regel als die Ausnahme. Wenn es gelingt, die Anteile
der in einer heterogenen ELF-Verwendung vertretenen Varietätstypen zu bestim-
men, so eröffnet dies James zufolge die Möglichkeit einer feineren soziolinguisti-
schen Analyse auf verschiedenen Ebenen eines Mikro- / Makro-Kontinuums.

4.      Überlegungen zu einem Lingua-Franca-Modell

Bei diesen Bemühungen um eine angemessene Beschreibung von ELF-Varietäten
wird die wichtige Frage nach dem spezifischen ELF-Charakter einer nichtmutter-
sprachlichen Englischvarietät zwar nicht unterschlagen, sie bleibt allerdings doch
weitgehend im Hintergrund. Die in der ELF-Forschung verbreitete definitorische
Charakterisierung von ELF als nichtmuttersprachliches Englisch scheint den Um-
kehrschluss nahe zu legen, jegliches nichtmuttersprachliche Englisch sei auch ELF.
Dabei lassen sich in entsprechenden Englischausprägungen viele Merkmale finden,
die nicht auf eine Lingua-Franca-Verwendung zurückzuführen sind, sondern auf
andere Einflussfaktoren wie zum Beispiel Erstsprache oder Verlauf und Stand der
Lernentwicklung. Eine bloße Umetikettierung von Lernersprache oder Interlanguage
zu ELF wäre wenig hilfreich; sie birgt die Gefahr einer allzu frühen verdinglichen-
den Festlegung auf vermutete ELF-Varietäten und verstellt den Blick für die
zugrunde liegenden Bedingungen und Prozesse für das Entstehen von ELF. Es
scheint mir daher erforderlich, die Frage, mit welchen ELF-Varietäten man es zu tun
hat, um die Frage zu ergänzen, was eine Varietät überhaupt erst zur ELF-Varietät
macht. Für den Bereich der ELF-Konversationen entspricht dies der von House
(1999, 74) gestellten Frage, „whether and in what ways ELF interactions are actually
sui generis“.
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    Um hier weiterzukommen bietet sich an, den Gegenstandsbereich „Englisch als
Lingua Franca“ ohne vorprägende Annahmen hinsichtlich der besonderen Art des
Englischen anzusehen. „Englisch als Lingua Franca“ bezeichnet dann zunächst die
Verwendung des Englischen unter Lingua-Franca-Bedingungen. Und um welche Art
des Englischen es sich dabei handelt, ist Teil der Fragestellung. Ist es das Englisch
der MuttersprachlerInnen – wie das oben angeführte Zitat von David Crystal ver-
muten lassen könnte? Oder doch das Englisch von NichtmuttersprachlerInnen – wie
es die meisten aktuellen ELF-Definitionen festlegen? Weder noch. Ein kleines Ge-
dankenexperiment hilft diesen Punkt zu klären. Angenommen in einer europäischen
Projektgruppe kommen PartnerInnen aus verschiedenen europäischen Ländern zu
einem ersten Projekttreffen zusammen. Zur Frage der gemeinsamen Projektsprache
ergibt sich folgendes Gespräch:
–      Well, although Ryan is the only English native speaker in our group, I
       propose English as our lingua franca.
–      That’s fine with me. My company is operating internationally and English is
       our main working language anyway.
–      Okay. That gives me the opportunity to practise my school English.
–      Ehm, my English not good but I manage.
Wenn die ProjektpartnerInnen sich hier auf Englisch als Lingua Franca einigen, so
einigen sie sich nicht auf einen bestimmten muttersprachlichen Standard oder eine
nichtmuttersprachliche ELF-Varietät. Sie vereinbaren vielmehr, dass alle – von
MuttersprachlerInnen des Inner Circle über ZweitsprachlerInnen des Outer Circle
bis hin zu EnglischlernerInnen des Expanding Circle – ihr jeweils ganz persönliches
Englisch verwenden. Es ist also „mein Englisch“, das ich für Lingua-Franca-Zwecke
aktiviere und einbringe; ein Englisch, das ich mir mit muttersprachlicher, zweit-
sprachlicher oder lernersprachlicher Ausprägung erworben habe – allerdings anders
als ich ein Auto erwerbe: Ich habe es im Rahmen der für mich gegebenen sozialen,
kulturellen und kommunikativen Infrastrukturen in einem intentional gesteuerten
Konstruktionsprozess selbstständig und kreativ entwickelt und geschaffen.
    Bereits seit Ende der 1960er Jahre wurde der Fremd- / Zweitsprachenerwerb
unter dem Einfluss von Chomskys mentalistischer Sprachtheorie als ein Prozess der
„creative construction“ gesehen (vgl. Corder 1967, Dulay / Burt 1974). Diese in den
1990er Jahren im Rahmen einer konstruktivistischen Lerntheorie gewissermaßen
neu entdeckte konstruktiv-kreative Natur des menschlichen Sprachenlernens erklärt
auch, wieso die Aneignung und Verbreitung des Englischen nicht ohne Veränderung
und Ausdifferenzierung erfolgen kann (vgl. Widdowson 2003, 45ff.).
    Als Sprachwissen erstreckt „mein Englisch“ sich auf grammatische und lexikali-
sche Ausdrucksmittel und deren Eignung für die Erfüllung spezifischer (intentiona-
ler) Akzeptabilitätsanforderungen, die ich etwa hinsichtlich Verstehbarkeit, Flüssig-
keit, Normkonformität oder kommunaler Anpassung an meine eigene Performanz
stelle (vgl. Kohn 1990). Die für mich relevanten Anforderungen sind einerseits so-
zio-kulturell, andererseits individuell geprägt. Sie reflektieren die Bedingungen,
unter denen ich Englisch gelernt habe (und eventuell noch lerne), können aber auch
in Abhängigkeit zur jeweiligen Kommunikationssituation variieren.
    In meiner kommunikativen Performanz bin ich in der Regel bemüht, meine Äu-
ßerungen hinsichtlich meiner eigenen Anforderungen strategisch zu kontrollieren.
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule           215

Das heißt, ich setze bestimmte Äußerungsmerkmale mehr oder weniger bewusst ein,
um bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Dies ist möglich, weil mein Sprachwissen
eben in grundsätzlicher Weise anforderungs- und damit performanzbezogen ist.
Mein grammatisches oder lexikalisches Sprachwissen ist nicht einfach ein Wissen
von grammatischen oder lexikalischen Ausdrucksmitteln; es ist ein Wissen darüber,
mit welchen grammatischen oder lexikalischen Ausdrucksmitteln ich welche der für
mich geltenden Anforderungen in welchem Maße erfüllen kann.
    Die folgenden Äußerungen illustrieren, dass SprecherInnen sich in der Regel der
Akzeptabilitätsanforderungen, denen sie gerecht werden wollen, bewusst sind und
dass sie auch in der Lage sind, ihre eigene Performanz hinsichtlich dieser Anforde-
rungen zu beurteilen:
H:      […] and maybe funny for them. My grammar and writing is better than a
        speaking and listening. When I a speaking and interview with a person
        sometimes I ashame […] When I speak correct I am happy and when I have
        mistake is very bad. Maybe think I am illiteracy.
Z:      Only important thing is the people understand me when I speak; but not it’s
        necessary to speak correctly. […] If I want to speak correctly, like now [i.e.
        in the interview], I must thinking, thinking and I don’t like it. I can speak
        only – I like to speak rapidly.
A:      If a person wanna understand us and the attention to us, they will under-
        stand.
Diese Daten stammen aus Interviews, die im Rahmen von Untersuchungen zu ler-
nersprachlichen Performanzstrategien in den USA mit ausländischen Studierenden
durchgeführt wurden (Kohn 1990, Kap. 5). Sie lassen unterschiedliche Anforde-
rungsprofile erkennen, die durch eine Spannung zwischen lernbezogenen und kom-
munikationsbezogenen Anforderungen charakterisiert sind. Hier zeigt sich, dass die
SprecherInnen in ihren Anforderungen um einen Ausgleich zwischen soziokulturell
vorgegebenen Konventionen und Normen einerseits und ihren eigenen Bedürfnissen
und Präferenzen andererseits bemüht sind. Anpassungen und Veränderungen im
Anforderungsprofil sind Teil ihrer weiteren sprachlichen Entwicklung.
    In konkreten Lingua-Franca-Situationen kommen also SprecherInnen zusam-
men, die aufgrund ihrer sprachlich-kulturellen Herkunft sowie ihrer Lern- und
Kommunikationsgeschichte recht unterschiedliche Ausprägungen des Englischen
mitbringen. Wie sie sich in diesen Situationen sprachlich zeigen, hängt insbesondere
von drei Faktoren ab: erstens von der Beschaffenheit ihres anforderungsspezifischen
Englischwissens, zweitens von ihrer Bereitschaft, ihre Akzeptabilitätsanforderungen
auf die besonderen Bedingungen der Lingua-Franca-Kommunikation auszurichten
sowie drittens von ihrer Fähigkeit, sich ihren (neuen) Lingua-Franca-spezifischen
Anforderungen gemäß auch zu verhalten. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren
ergeben sich für das Englisch der SprecherInnen Möglichkeiten einer kurzfristigen
oder auch langfristigen Lingua-Franca-Prägung.
    Kurzfristig kann sich die Lingua-Franca-Kommunikation zunächst auf das An-
forderungsprofil der SprecherInnen auswirken und darüber vermittelt auch auf ihr
Interaktionsverhalten und die sich dabei ergebende Aktivierung und Umsetzung
ihres Englischwissens. Infolge derartiger Lingua-Franca-Anpassungen in der aktuel-
len Sprachverwendung können sich langfristig dann Veränderungen in dem Sprach-
216                                                                           Kurt Kohn

wissen der SprecherInnen und möglicherweise auch in ihrem habituellen Sprachge-
brauch und Interaktionsverhalten ergeben. In dem Maße, in dem es zu solchen Ver-
änderungen kommt, ist es sinnvoll, ELF-Interaktionen und (verwendungs- oder
wissensbezogene) ELF-Varietäten anzunehmen.
    Eine weitere Klärung dieser Zusammenhänge erfordert Daten, die für die einzel-
nen SprecherInnen über die grammatische und konversationsanalytische Beschrei-
bung ihrer ELF-Äußerungen hinausreichen. Neben Einstellungs- und Motivations-
profilen und Informationen zur individuellen Lern- und Kommunikationsgeschichte
sind insbesondere differenzierte Anforderungsprofile sowie introspektive Kommen-
tare zum jeweiligen ELF-Kommunikationsgeschehen und dem Erfolg des eigenen
strategischen Bemühens relevant. Hinzu kommt die methodisch keineswegs triviale
empirische Differenzierung zwischen ELF-Äußerungen (d.h. Produkten) und dem
zugrunde liegenden ELF-Wissen (vgl. Kohn 1990). Insgesamt geht es darum, ein
möglichst dichtes Netz empirischer Indikatoren zu weben, das verlässlichere
Schlüsse auf die Anpassungs- und Entwicklungsprozesse erlaubt, die vom Fremd-
sprachenlernen zur ELF-Kommunikation und der Ausbildung ELF-spezifischer Va-
rietäten führen. An der Universität Tübingen sind hierzu am Lehrstuhl für Ange-
wandte Linguistik des Englischen empirische Untersuchungen in Vorbereitung.

5.        Schuldidaktische Konsequenzen

In der schulischen Bildung in Deutschland nimmt Englisch als erste Fremdsprache
eine bevorzugte Stellung ein. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang auch die
Entwicklung des Englischen zu einer globalen Lingua Franca; entsprechende Hin-
weise finden sich in den baden-württembergischen Bildungsstandards für Englisch
in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. 4 So heißt es in den Leitgedanken zum
gymnasialen Kompetenzerwerb: „Englisch hat sich weltweit zur wichtigsten Zweit-
und Verkehrssprache, zur lingua franca, entwickelt. Deshalb müssen Schülerinnen
und Schüler auf die Anforderungen vorbereitet werden, die sich im Hinblick auf
Berufsqualifikationen, neue Formen der internationalen Kooperation (Englisch als
Ausbildungs-, Verhandlungs- und Konferenzsprache) sowie vermehrte interkultu-
relle Begegnungen ergeben.“ Als wichtigstes Lernziel wird daher auch „die Ent-
wicklung einer kommunikativen Kompetenz“ genannt, „die die Schülerinnen und
Schüler sprachlich handlungsfähig macht“ (Bildungsstandards 2004).
    Diese Position hat sowohl inhaltliche als auch didaktisch-methodische Implika-
tionen, und sie entspricht der seit den 1970er Jahren geforderten und vielfältig unter-
suchten kommunikativen Orientierung des Fremdsprachenlernens. Eine weitere
Konkretisierung dieses Ansatzes sowie eine europäische Vereinheitlichung ergeben
sich durch die Anbindung der Bildungsstandards an die Kompetenzbereiche und
Kompetenzniveaus des „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Spra-
chen“ (Trim / North / Coste 2001). Für die Formulierung der angestrebten Kompeten-
zen und Inhalte unterscheiden die Bildungsstandards fünf Dimensionen: kommuni-
kative Fertigkeiten, Beherrschung der sprachlichen Mittel, Umgang mit Texten, kul-
turelle Kompetenz sowie Methodenkompetenz.

4
      http://www.schule-bw.de/unterricht/bildungsstandards
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule         217

     Bei der genaueren Ausfüllung dieser Kategorien fällt eine deutliche Gewichtung
auf. So sollen die SchülerInnen nationale und regionale Aussprachevarianten, deut-
lich gesprochene Alltagsgespräche zwischen MuttersprachlerInnen, ausgewählte
Radio- / Fernsehsendungen und Filme sowie einfach gehaltene Zeitungsartikel und
literarische Texte verstehen können. Ihre eigenen Produktionen sollen im Wort-
schatz idiomatisch sein und dabei wichtige Unterschiede zwischen BBC English und
General American berücksichtigen. Verlangt wird ferner, dass ihre Äußerungen
grammatisch korrekt sind, mit nur wenigen Fehlern, die zu Missverständnissen
führen, und lediglich geringen muttersprachlichen Interferenzen. Ihre Aussprache
soll sich der Norm des BBC English oder General American annähern. Formen des
formal und informal English sind angemessen zu verwenden; und für wichtige All-
tagssituationen in Großbritannien und den USA (z.B. Höflichkeit, Begrüßung, Ess-
gewohnheiten) wird ein kulturspezifisch angemessenes Verhalten erwartet.
     Insgesamt sind die für die Schule spezifizierten Zielkompetenzen also klar auf
muttersprachliche Standards ausgerichtet; und der kommunikative „Ernstfall“ wird
im Kontakt mit MuttersprachlerInnen gesehen sowie mit Kommunikationsmateria-
lien, die für MuttersprachlerInnen authentisch sind, nicht aber unbedingt auch für
die SchülerInnen selbst. Die mit der Verwendung des Englischen als Lingua Franca
verbundenen Kommunikationsbedingungen und die daraus folgenden Anforderun-
gen und Ziele für das schulische Sprachenlernen werden nicht eigens thematisiert. In
der nach der 10. Klasse folgenden Kursstufe wird Englisch als Lingua Franca dann
als Fachthema behandelt; dabei geht es um Fragen der Globalisierung, um Aspekte
einer über die USA und Großbritannien hinausreichenden englischsprachigen Welt
und um die Probleme des so genannten Sprachimperialismus. Bei der Spezifizierung
von Sprach- und Kommunikationszielen bleibt die Lingua-Franca-Dimension aller-
dings wiederum ausgespart – allenfalls im Rahmen der zur interkulturellen Kompe-
tenz gerechneten Beherrschung komplexer Alltagssituationen im englischsprachigen
Ausland könnten auch Englischvarietäten des Outer Circle mit einbezogen werden.
     Aber welches sind die Herausforderungen, die sich aus der besonderen Rolle des
Englischen als Lingua Franca für den schulischen Englischunterricht ergeben?
     Von grundlegender Bedeutung ist die Vermittlung von Wissen über ELF-Ver-
wendungen in Europa und rund um die Welt. Dies ist Voraussetzung für die Ent-
wicklung eines erweiterten Sprachbewusstseins und die Förderung einer interkultu-
rellen Sensibilität für die unterschiedlichen Erscheinungsformen und den Wert von
ELF. In den Bildungsstandards gibt es hierfür auf der Kursstufe erste Ansätze, die
allerdings ausgebaut werden sollten. Darüber hinaus ist aber auch dafür Sorge zu
tragen, dass die SchülerInnen Fähigkeiten erwerben, die sie in die Lage versetzen,
andere ELF-SprecherInnen zu verstehen – hier kann es schon in europäischen Kon-
texten zu erheblichen Kommunikationsproblemen kommen. Mit der Zielvorgabe,
die SchülerInnen für internationale und interkulturelle Begegnungen sprachlich
handlungsfähig zu machen, weisen die Bildungsstandards in die richtige Richtung.
Eine genauere Spezifizierung unterschiedlicher rezeptiv-kommunikativer ELF-
Kompetenzniveaus nach dem Vorbild des Europäischen Referenzrahmens steht
allerdings noch aus.
     Weit weniger überschaubar ist die Situation hinsichtlich ELF-spezifischer Lern-
ziele für die Entwicklung der Produktionsfähigkeiten der SchülerInnen. In diesem
Bereich kommt dem soziokulturellen und bildungspolitischen Kontext, in den schu-
lisches Lehren und Lernen in den jeweiligen Ländern und Gesellschaften eingebettet
218                                                                          Kurt Kohn

sind, größte Bedeutung zu. Für deutsche Schulen gilt als Basiskonstante die Orien-
tierung an britischen und amerikanischen Standardvarietäten (vgl. Gnutzmann
2005). Diesbezügliche Festsetzungen in Bildungsstandards entsprechen einem all-
gemeinen, historisch gewachsenen gesellschaftlichen Konsens, dem allerdings viel-
fältige ELF-Ausprägungen rund um die Welt, aber auch innerhalb von Europa,
gegenüberstehen. Es stellt sich daher die Frage, wieweit eine Orientierung des Eng-
lischlernens an muttersprachlichen Standards überhaupt relevant und sachgerecht
sein kann (vgl. Jenkins 2005, Seidlhofer 2005a, Seidlhofer 2005b). Die folgenden
Ausführungen versuchen, hier ein wenig Klarheit zu schaffen.
     Entscheidend ist, wie man sich auf die grundsätzliche Frage einrichtet, was über-
haupt gelehrt werden soll und was nicht. Seidlhofer (2006, 45) stellt hierzu aus ELF-
Perspektive unmissverständlich fest, dass dies eine komplexe didaktische Ange-
legenheit sei, die von den Lehrenden für ihre Lernenden unter Berücksichtigung der
jeweiligen (gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen entschieden werden müsse. Die
gleiche Position wird auch von Widdowson im Rahmen seiner Unterscheidung
zwischen Präskription und Deskription vertreten: „The prescription of language for
such contexts of instruction can, and should be, informed by the description of lan-
guage in contexts of use, but not determined by it […] For prescription has its own
conditions of adequacy to meet, and it is the business of language pedagogy, and
nobody else’s business, to propose what these conditions might be“ (Widdowson
1991, 23).
     Seidlhofer weist in diesem Zusammenhang auf die empirischen Befunde der
ELF-Forschung hin, nach denen bestimmte Ausdrucksmittel für die internationale
Verständlichkeit erforderlich, andere dagegen unerheblich oder sogar eher hinderlich
sind: „It would surely be perverse not to make these findings available for ELF users
whose communicative goal is just such intelligibility“ (Seidlhofer 2006, 45). Bei der
Bestimmung von Lernzielvorgaben für den Erwerb von Produktionsfähigkeiten
sowie deren didaktische Gewichtung können und sollten die Einsichten der ELF-
Verständlichkeitsforschung mit herangezogen werden (vgl. Jenkins 2005, Seidlhofer
2005a, Seidlhofer 2005b). Dieser Punkt betrifft die Dimension der kommunikativen
Funktion von Sprache und deren Relevanz für Unterrichtsentscheidungen und damit
ein zentrales Thema der didaktisch positionierten Zweitsprachenerwerbsforschung
seit dem kommunikativen Paradigmenwechsel in den frühen 1970er Jahren (vgl.
Widdowson 1978, Brumfit / Johnson 1979, Canale / Swain 1980, Brumfit 1984). Mit
der ELF-Dimension wird ein englischsprachiger Kommunikationsbereich erschlos-
sen und einbezogen, durch den die kommunikativ-didaktische Diskussion neue und
relevante Impulse erhält (vgl. die Beiträge in Gnutzmann 1999 und Gnutz-
mann / Intemann 2005).
     Nicht minder wichtig ist die weiter oben bereits erwähnte identitätsstiftende
kommunale Funktion von Sprache. Um diese geht es, wenn Jenkins (2005) auf die
Gefahr einer allzu rigiden didaktischen Ausrichtung von Sprachlernzielen an mutter-
sprachlichen Standards hinweist. Mit Bezug auf die Aussprache argumentiert sie
dafür, den Lernenden größere Freiräume zuzugestehen. Sie sollen einen Akzent
entwickeln dürfen, der ihre eigene sprachliche und sprachkulturelle Herkunft nicht
verleugnet; sie sollen lernen, sich positiv mit der eigenen nichtmuttersprachlichen
Varietät des Englischen zu identifizieren. Hier ist an deutschen Schulen und in der
Englischlehrerausbildung immer noch eine geradezu schizophrene Spannung zwi-
schen internalisierten Ansprüchen und erreichbarer Kompetenz auszumachen, die
Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule                     219

sich nicht unbedingt positiv auf das Lehren und Lernen auswirkt. Eine weitergehen-
dere Akzeptanz und Wertschätzung der Besonderheiten und Qualitäten des eigenen
nichtmuttersprachlichen Englisch wäre durchaus wünschenswert, und sie sollte
durch entsprechende Formulierungen in den Bildungsstandards sowie durch ent-
spanntere und flexiblere Korrekturvorschriften auch ermuntert und unterstützt wer-
den.
    Das kommunale Bedürfnis der Lernenden hat aber nicht ausschließlich mit deren
Herkunft zu tun. Es kann auch auf die kommunale Identifikation mit einer anderen
Kultur gerichtet sein, auf die Identifikation mit anderen Menschen und deren Kon-
ventionen. In diesem Fall scheinen muttersprachliche Zielmodelle eine natürliche
Wahl zu sein. Aber ist es überhaupt realistisch, sich eine fremde Muttersprache und
Kultur aneignen zu wollen? Alle Anzeichen sprechen dagegen. Ist also die Mutter-
sprachenorientierung zu verwerfen? Nur, wenn das Ziel darin besteht, den anderen
gleich zu werden. Das wäre mit der Natur der menschlichen Wahrnehmung und des
menschlichen Lernens allerdings unvereinbar und daher in der Tat unmöglich. Denn
worum es beim (Sprachen-)Lernen geht, ist (wie oben bereits erwähnt) die kreative
Aneignung durch kognitive und emotionale Konstruktion; und diese ist nur möglich,
indem ich mir „meine“ Kompetenzversion der anderen Sprache und Kultur schaffe –
zwangsläufige und notwendige Veränderungen und „Abweichungen“ inbegriffen.
Muttersprachliche Kompetenzmodelle geben diesem Entwicklungsprozess lediglich
die Richtung; sie sind Wegweiser, nicht präskriptiver Endpunkt. Wie weit LernerIn-
nen in die muttersprachliche Richtung gehen wollen oder können, ist eine andere
Sache und wird entscheidend über die Akzeptabilitätsanforderungen gesteuert, die
sie an ihre eigene Performanz stellen.
    Die an muttersprachlichen Zielvorgaben orientierten Lernbemühungen sind Ge-
genstand der Zweitsprachenerwerbsforschung. Diese hat bereits mit Pit Corders
einflussreichem Artikel „The significance of learners’ errors“ von 1967 einer didak-
tischen „Diktatur“ muttersprachlicher Normen eine explizite Absage erteilt. In mar-
kanten Forschungsschwerpunkten ging es um Lernstrategien und Entwicklungspro-
zesse, Lernersprachen (auf unterschiedlichen Entwicklungsebenen) als eigenständige
Varietäten (des Englischen) sowie den Zweitsprachenerwerb unter den Bedingungen
einer natürlichen Kommunikation (vgl. Kohn 1990). Aus der Erweiterung dieser
Forschungsrichtung durch Untersuchungen zum Spracherwerb in bilingualen Kon-
texten (Cummins / Swain 1986) sowie aus der kommunikativen Neudefinition des
Sprachenlehrens (vgl. Widdowson 1978, Brumfit / Johnson 1979, Canale / Swain
1980, Brumfit 1984) ergaben sich fruchtbare Synergien für ein integratives Ver-
ständnis des Lehrens und Lernens von Sprachen in unterschiedlichen Bildungs-,
Alltags- und Arbeitsbereichen der modernen Gesellschaft. 5
    Mit der ELF-Forschung eröffnet sich eine wichtige komplementäre Perspektive,
insofern hier die kommunikative Verwendung des nichtmuttersprachlichen Englisch
außerhalb von Spracherwerbskontexten untersucht wird. Die nichtmuttersprachliche
englische Kommunikation erhält damit ein eigenes Forum, in dem aktuelle Ausprä-
gungen und Veränderungen umfassender in den Blick genommen werden können.
Mit der expliziten Unterscheidung zwischen Sprachenlernen und ELF wird es dann
aber auch möglich, die Eigenheiten der (interkulturellen) ELF-Kommunikation auf

5
    Zu einer kritischen Sicht der Zweitsprachenerwerbsforschung aus ELF-Perspektive vgl. Jenkins
    (2006).
220                                                                          Kurt Kohn

die spezifische Spracherwerbsentwicklung der jeweils beteiligten ELF-SprecherIn-
nen zurückzubeziehen. Auf diese Weise werden Einflussfaktoren erschlossen, die
für die Analyse und Erklärung von Veränderungen und Variationen im ELF-Bereich
von Bedeutung sind. Insgesamt lässt sich so ein differenzierteres Bild der für Lehr-/
Lernentscheidungen relevanten Aspekte gewinnen.
    Insbesondere für den schulischen Englischunterricht mit seinen vielfältigen kom-
munikativen und kommunalen Bezügen ist ein gemeinsames Fundament von Zweit-
sprachenerwerbsforschung und ELF-Forschung vorteilhaft und wünschenswert.
Durch die Verbindung der einander ergänzenden Dimensionen des Lernens und
Kommunizierens in einem einheitlichen Modell werden neue Perspektiven mit
neuen Potentialen erkennbar. So lässt sich aus den Untersuchungen zu den sprachli-
chen und (inter)kulturellen Bedingungen und Anforderungen der ELF-Kommunika-
tion ein differenzierteres Bild der gesellschaftlich relevanten Englischlernziele ge-
winnen. Durch eine entsprechend realistischere Fassung der in den Bildungsstan-
dards festgeschrieben Sprach- und Kommunikationslernziele könnten einerseits
Konflikte zwischen normativem Anspruch und Lernrealität gemildert sowie anderer-
seits jugendspezifische interkulturelle ELF-Interaktionen stärker berücksichtigt
werden.
    Insgesamt sind zudem Freiräume für didaktisch-methodische Veränderungen zu
schaffen (vgl. Seidlhofer 2004). So sollte der herkömmliche Englischunterricht zeit-
lich verkürzt werden und dafür verstärkt in Formen eines bilingualen Unterrichts
(vgl. Breidbach / Bach / Wolff 2002, Bach / Niemeier 2005) übergehen. In der eng-
lischsprachigen Fachkommunikation entstünden Anlässe für den beiläufigen Zweit-
sprachenerwerb. Die SchülerInnen wären gefordert, sich mit ihren englischspra-
chigen Fähigkeiten auf die jeweiligen für sie authentischen kommunikativen Her-
ausforderungen einzustellen. Zur Unterstützung begleitender autonomer und kolla-
borativer Sprachlernaktivitäten sollten auch die Bedingungen und strategischen Pro-
zesse der (interkulturellen) Kommunikation und des selbstständigen Sprachen-
lernens systematisch thematisiert werden. Auf diese Weise würden wesentliche
sprachlich-kommunikative Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen in der glo-
balisierten Wissensgesellschaft geschaffen.

6.     Literaturverzeichnis

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