Essen in der stationären Jugendhilfe. Eine explorative Praxisstudie - Michael Behnisch Lotte Rose

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Essen in der stationären Jugendhilfe.
Eine explorative Praxisstudie

Michael Behnisch
Lotte Rose

                                Fachbereich 4 Soziale Arbeit und Gesundheit

Seite 1                                                            07.03.2015
Was will das Projekt?
• Ethnografie zur Essensversorgung in Heimerziehung (teilnehmende
  Beobachtungen bei Mahlzeiten, Befragung der Fachkräfte, Erhebung bei
  Kindern/Jugendlichen)
  • Was passiert beim Essen?
  • Was denken Fachkräfte und Kinder/Jugendliche über das Essen? Wie
     erleben sie es?
• Praxisentwicklung:
  • Welche Praxisprobleme zeigen sich bei der Essensversorgung?
  • Wie sind Verbesserungen auf den Weg zu bringen (Organisation und
     Professionelle)?

Herausforderungen:
 empirische und normative Perspektive
 Essen als Alltagsthema der Heimerziehung
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Forschungsdilemma
                                      Einblicke in
                                      pädagogischen
                                      Alltag

     Sichtbarkeit der                                 Sichtbarkeit von
     unsichtbaren Leistungen                          Fragwürdigkeiten des
     des pädagogischen Care-                          pädagogischen Alltags
     Alltags

     Chance zur fachlich-                             Offenbaren von
     institutionellen Profilierung:                   Angriffsstellen
     „Wofür wirst du eigentlich
     bezahlt?“

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Welchen Leitfiguren folgt der Ernährungsalltag
im Heim?
Leitfiguren sind i.d.R. nicht als solche explizit formuliert, sondern zeigen sich
‚stumm‘ als immanente Mitteilungen der Praxis

                                                         Analyse:
                                                        auf welche
          Beobachtung: was
                                                        Leitfiguren
          passiert am Tisch?
                                                     verweist das, was
                                                         passiert?

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Leitfiguren des Ernährungsalltags
1. Versorgungssicherheit und –gerechtigkeit  dazu später mehr
2. Essen in Gemeinschaft  dazu später mehr
3. (Essens)kulturelle Nachsozialisation:
   aufwendige Vermittlung der Verhaltensstandards des Essens, Ausgleich
   familialer Sozialisationsdefizite  Förderziel der Jugendhilfe:
   „gesellschaftsfähige Persönlichkeit“
4. Partizipation und Verantwortung beim Essen:
   Standard der ‚Ämtchen‘ für Kinder, Jugendliche beim Essen; stellenweise
   Beteiligung beim Kochen, Einkaufen (nur Kleinstheim) und Menüplanung
5. Essen als Genuss:
   erfährt institutionell vergleichsweise wenig Aufwand, wenig Bemühungen um
   Geschmacksvergnügen (z.T. kulinarische Zumutungen), kulinarische
   Sprachlosigkeit, Beschränkung von Genüssen für Kinder/Jugendliche

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praxisimmanente Leitfigur              Institutioneller
                                        Ausprägungsgrad
 Versorgungssicherheit und              sehr stark
 -gerechtigkeit
 Essen in Gemeinschaft                  sehr stark
 (essens)kulturelle Nachsozialisation   stark
 Partizipation                          eher schwach
 Verantwortung                          stark

 Essen als Genuss                       schwach
 ‚externe‘ Leitfigur
 (kulinarische) Individualisierung      so gut wie nicht vorhanden
 Ernährungsbildung und                  so gut wie nicht vorhanden
 Selbstsorgekompetenz

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1. Versorgungssicherheit und -gerechtigkeit
Wie wird diese Leitfigur realisiert?
• Bereitstellung von drei Mahlzeiten am Tag durch die Institution
• ausgeprägte erwachsene/institutionelle Nahrungshoheit  Institution
  • übernimmt die hauswirtschaftliche Organisation der Verpflegung
  • verhindert autonomen Zugang der Kinder/Jugendlichen zu Vorräten
  • erlaubt kein Essen/Kochen der Kinder/Jugendlichen jenseits der Mahlzeiten
  • verteilt Speisen am Tisch selbst
  • verhindert ‚Essensverschwendung‘
  • bestimmt Essenszeiten, Speisen und Mengen
  • richtet ihr Speiseangebot an gängigen Standards des ‚gesunden Essens‘
     aus

Nahrungssicherheit und -gerechtigkeit sind die Regel, aber …
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Nahrungssicherheit – auf der Kippe
„Adrian möchte noch mehr Nudeln haben. Mehr als einen Löffel könne er jedoch
nicht bekommen, teilt ihm Frau B. mit. Denn es würden noch drei weitere
Jungen zum Essen kommen … David … sagt, er habe noch Hunger, er wolle
noch etwas essen. Frau B. sagt, dass es nicht mehr gibt. Er solle das Essen erst
einmal sacken lassen.“

Nahrungstrieb ‚egoistischer Trieb‘
 Schutz der ‚späten Hungrigen‘ durch Fachkraft
 Forderung eines solidarischen Opfers vom ‚anwesenden Hungrigen‘

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Essensgerechtigkeit – nicht immer überzeugend
„Frau Baake macht die Ansage, dass der- oder diejenigen, die sich heute beim
Abendessen am besten benehmen würden, nach dem Essen die Reste des
Milchreises sowie des Apfelkompotts essen dürften. … Frau Baake verkündet,
Adrian, Dennis und Elias hätten sich den Milchreis verdient und dürfen sich
diesen aufteilen. Einige andere Jungen wirken sehr enttäuscht. Yasin fragt
mehrfach, was er denn falsch gemacht habe. Auch Patrick möchte das wissen.
Sie bekommen jedoch keine Antwort. Yasin stößt leise Flüche neben mir aus.
Patrick beharrt darauf zu erfahren, was er falsch gemacht habe. Schlussendlich
gewährt ihm Frau Baake eine Antwort auf seine Frage. Sie hätten sich beim
Abendessen heute alle sehr gut benommen. Daher sei die ‚Messlatte‘ eben sehr
hoch gewesen. Es sei auf Kleinigkeiten angekommen.“

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Erwachsene Nahrungshoheit als Übermacht
Als Jasons (3 Jahre) Teller leer ist, sagt Frau Schulte an Jeremy (7 Jahre)
gerichtet, dass sogar Jason es geschafft habe seinen Teller zu leeren. Dem
habe sie ja auch geholfen, sagt Jeremy. Also, wenn das sein einziges Problem
sei, sagt Frau Schulte. Sie setzt sich schräg gegenüber von Jeremy. Ihn könne
sie auch füttern, sagt sie. Das sei kein Problem. … Sie beginnt Jeremy zu
füttern. Dieser verzieht sein Gesicht. Es sieht nicht gespielt aus. „Kauen und
schlucken“, weist Frau Schulte Jeremy an. Nach etwa fünf gefütterten Gabeln ist
er kurz davor alles wieder hoch zu würgen. Frau Schulte bemerkt das und sagt,
es sei jetzt genug. Sie schiebt den Teller ein Stück in Richtung Tischmitte, sagt,
dass er heute bloß nicht zu ihr kommen solle wegen irgendetwas Süßem oder
sonst etwas. Jeremy greift sich den Teller und möchte weiter essen. Das
untersagt ihm Frau Schulte jedoch. Es sei jetzt Schluss, wiederholt sie.

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Institutionelle Nahrungshoheit –
kritische Anfragen

• Samantha Punch a.o.: Food Practices in Residential Care. University of
  Stirling: Kinder benennen Schutzfunktion der institutionellen Nahrungshoheit,
  beklagen aber auch fehlende nutritive Selbstverfügung
• Kindheitsforschung: zunehmendes Gewähren kindlicher Selbstverfügung und
  Individualisierung in Familie (z.B. Kleidung, Gestaltung des eigenen Zimmers,
  Essen)
• Fazit: Kinder/Jugendliche in der Heimerziehung erleben beim Essen eine
  große Abhängigkeit von Erwachsenen (i.d.R. stärker ausgeprägt als bei
  Kindern und Jugendlichen in Familien)

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2. Essen in Gemeinschaft
Allgemeiner Praxisstandard: es wird bei allen drei Tagesmahlzeiten zusammen
gegessen  Mobilisierung eines traditionellen Symbols von Verbundenheit

Wie wird Gemeinsamkeit beim Essen hergestellt?
• Möbelstück Esstisch
• Zeittaktung: gemeinsamer Beginn/Abschluss, gemeinsames Tempo
• kollektives Ritual des Mahlzeitenbeginns
• Festsetzung der Körper am Tisch
• gleiche Speise für alle
• starke Verhaltensstandards für Nahrungsaufnahme
• Dämpfung von Konflikten zwischen den Tischmitgliedern

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Erwachsene als zentrale ‚Hüter‘ der
Gemeinsamkeit
• Gemeinsamkeit beim Essen stellt sich nicht ‚von allein‘ her, sondern muss
  immer wieder neu ‚erarbeitet‘ werden  Dauerkonflikt zwischen Egoismus
  und Kollektivität
• Kinder/Jugendliche übernehmen diese ‚Arbeit‘ nicht selbst, sondern ist
  ‚Sache der Erwachsenen‘  Erwachsene ‚erarbeiten‘ Gemeinsamkeit durch:
  • Situationsvorgaben (räumlich, dinglich, zeitlich, sozial)
  • Platzierungsvorgaben
  • Initiierung ritueller Handlungen
  • Kontrolle der Kinder/Jugendlichen
  • Verhaltensanweisungen am Tisch
  • Interventionen
  • Sanktionierungen
  • Platzverweise
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Durchsetzung von Sitte und Anstand am Tisch
„Dann beginnt Niclas das Kartoffelpüree mit dem Ketchup, den er sich
genommen hat …zu vermengen. Frau B. bittet ihn damit aufzuhören. Sie finde
das unappetitlich. Niclas sagt, sie hätte aber doch selbst Ketchup auf ihrem
Kartoffelbrei. Ja, das stimme zwar, erwidert Frau B., aber sie das würde nicht so
vermengen und deshalb sehe es auch nicht so unappetitlich aus.“

• gemeinsames Essen basiert auf der Durchsetzung eines spezifischen
  Verhaltenscodes am Tisch: so können und wollen wir miteinander essen!
• Machtdimension: Erwachsene als ‚Hüter‘ des hegemonialen
  Verhaltenscodes, Kinder/Jugendliche als Neulinge und Einzuweisende
• Formierung des ‚tischgemeinschaftsfähigen‘ Kindes/Jugendlichen als
  pädagogische Daueraufgabe

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Gemeinsames Essen als Stressor
Interviewauszug:
„Also ich glaube es ist schon ein großer Stressfaktor für viele: Dieses Sitzen,
zusammen sein – und eigentlich ist es schwer, sich aufs Essen zu
konzentrieren, wenn ja auch so viele andere Kriegsschauplätze stattfinden. Wer
erzählt jetzt gerade was? […] Jetzt will ich aber auch mal gehört werden. Es ist
schwierig!“

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Scheitern am Gemeinsamkeitsideal
„Sandra kündigt an, dass sie gleich singen wollen und bittet deshalb Clara ihr
Flöte zu holen […]. Es ist ein Desaster. Alle singen wirklich wahnsinnig schief
[…]. Langsam macht sich Gekicher in der Runde der Kinder breit. Sandra bricht
das Lied daraufhin ab […]: Sie würden sich mitunter den ganzen Tag über nicht
sehen. Das sei jetzt die einzige Zeit, die sich gemeinsam verbringen würden. Sie
habe gedacht, dass auch die Kinder ein bisschen Interesse daran hätten, sich
gemeinsam auf Weihnachten einzustimmen.“

• Gemeinsamkeitspraxis scheitert an verweigerter ritueller ‚Mitarbeit‘ der
  Kinder/Jugendlichen
• Differenz- und Protestmarkierung der Kinder/Jugendlichen

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Fazit I: Essen als Arena generationeller Macht
• Der Ernährungsalltag in der Heimerziehung ist stark gerahmt durch die
  Generationendifferenz und -hierarchie
• Sättigung und die Bedingungen der Sättigung unterliegen institutioneller
  Verfügungsgewalt
• Kindliche/jugendliche Ernährungssouveränität ist stark eingeschränkt

Diese Ordnungsmatrix hat organisationspragmatische und pädagogische Gründe
 aber …

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Fazit II: Offene Fragen
• Wo bleiben bei dieser ‚Verpflegungsordnung‘ Anerkennung,
  Selbstbestimmung, Partizipation, Demokratie, Lebensweltorientierung,
  Bildungsansprüche als Maximen moderner Pädagogik – und
  Heimerziehung?
• Gibt es ein Recht des Kindes auf sein ‚eigenes Essen‘?
   Diskursbezug: Kinderrechte, Partizipation
• Wo bleibt die familiale Essensgeschichte des Kindes/Jugendlichen?
   Diskursbezug: Milieubezug, Elternarbeit
• Wie kann der Stress der Fachkräfte als ‚Hüter‘ der Mahlzeit reduziert
  werden?
   Diskursbezug: Professionalität

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