Essstörungen bei Jungen und Männern
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Essstörungen bei Jungen und Männern
HERAUSGEBERIN Landesfachstelle Essstörungen NRW www.landesfachstelle-essstoerungen-nrw.de KONTAKT Landesfachstelle Essstörungen NRW Georgstraße 7, 50676 Köln Telefon: 0221-2010-344 E-Mail: info@landesfachstelle-essstoerungen-nrw.de Köln, 2019
Vorwort // Essstörungen bei Jungen und Männern sind in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt gerückt und gewinnen sowohl in der Forschung als auch in der wissenschaftlichen Literatur und in den Medien an Bedeutung. Trotzdem ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand zu Epidemiologie, Ausprägung und Verlauf der Erkrankungen bei männlichen Patienten bislang gering. Essstörungen – insbesondere die Anorexie und die Bulimie – zählen zu den vermeintlich „typischen Mädchen- bzw. Frauenkrankheiten“. Sie werden, treten sie bei Jungen und Männern auf, von den Betroffenen selbst, von ihrem Umfeld und von Fachpersonen oft nicht oder erst sehr spät als Ess- störung wahrgenommen beziehungsweise definiert. Fachleute sprechen von einem unterschätzten Thema und beschreiben die Problematik der Essstörungen bei Jungen und Männern mit den Wor- ten unterdiagnostiziert, unterbehandelt und missverstanden. Die Gefahr des nicht gelingenden Zu- gangs zu Beratung und Behandlung und einer Chronifizierung ist in besonderem Maße gegeben. Umso wichtiger ist es, dass Fachpersonen, vornehmlich aus psychosozialen, psychotherapeutischen und medizinischen sowie pädagogischen Berufsfeldern, für das Phänomen der Essstörungen bei Jungen und Männern sensibilisiert sind. Die Landesfachstelle Essstörungen NRW will mit diesem Themenheft auf die Problematik von Essstörungen vornehmlich bei Jungen und jungen Männern aufmerksam machen, Wissen vermit- teln und erste Hilfestellungen im Umgang mit Betroffenen geben. Bewusst verzichten wir in diesem Zusammenhang auf einen ständigen Vergleich mit Mädchen und Frauen, deren Belange – der Problematik angemessen – anderweitig beschrieben sind. Perspektivisch sollen Fachleute und Einrichtungen angeregt und unterstützt werden, Betroffenen und ihren Angehörigen den Zugang zu Beratung und Behandlung zu erleichtern, geeignete Hilfen weiter zu entwickeln und in ihre Angebote zu integrieren. Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle Ute Waschescio, die den psychologisch-therapeuti- schen Teil des Themenheftes verfasst hat sowie Dr. Reinhard Winter und Gunter Neubauer vom Sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen (SOWIT) für ihren sozialwissenschaftlichen Beitrag. Autorin und Autoren verfügen in ihren Feldern über eine langjährige und ausgesprochen spezi- fische Expertise im Bereich Essstörungen und Psychotherapie bzw. Jungen/Männer und Gesund- heit. Mit ihren reichen „Erfahrungsschätzen“ beleuchten sie die Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven und geben wertvolle wegweisende Impulse. Lesen lassen sich beide Teile unabhängig voneinander – und dennoch ergänzen und verstärken sie sich in der Gesamtschau gegenseitig. Das Themenheft ermöglicht auch das Nachschlagen einzel- ner Schwerpunktthemen und soll zum „Durchstöbern“ einladen. // Maria Spahn Ärztin für Psychiatrie Landesfachstelle Essstörungen NRW 1
INHALT Essstörungen Körper und Geschlecht bei Jungen und Männern bei Jungen und Männern – aus psychotherapeutischer Sicht eine sozialwissenschaftliche Betrachtung Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Diagnostische Hürden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Essstörungen historisch: ein weiblicher Zusammenhang.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fütter- und Essstörungen gemäß DSM-5.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Essstörungen bei Jungen und Männern: ein marginalisiertes und verdrängtes Thema. . . . . . . . . . 31 Epidemiologische Aspekte u. klinische Besonderheiten. . . . . 8 Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge Körper – Geschlecht – männliche Identität. . . . . . . . . . . . . 33 aus tiefenpsychologischer Sicht........................................... 10 Moderne Widersprüche und Unsicherheiten im Männlichen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Muskeldysmorphie: Essstörung „unter dem Radar“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Beruf und Erwerbstätigkeit als Kernelemente männlicher Identität.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Historie und Begrifflichkeiten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Männliche „Körperarbeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Symptomatik und Kernmerkmale der Muskeldysmorphie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Funktionieren statt spüren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Anamnese und Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Bloß nicht Opfer werden!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Neue Männerkörper?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Gemeinsamkeiten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Das Äußere zählt immer mehr.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Muskeldysmorphie und klassische Essstörungen. . . . . . . . . . . . . 13 Bewertete Körper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Diagnostic crossover. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Gegenbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Kernproblematik Körperunzufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Risikofelder männlicher Körperlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Entstehungszusammenhang Adoleszenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Essen, Ernährung und männliche Selbstsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Belastung und Risikofaktor: Stigma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Normal? Zu viel? Diät!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Empfehlungen Sport: Bewegung mit Problempotenzial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 für die Beratung und Behandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Anzeichen erkennen und ernst nehmen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Fazit, Ausblicke und Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die eigene Haltung bewusst machen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Verbesserung der Gesundheitsversorgung bei Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Hilfe anbieten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Themen und Aufgaben für die Prävention von Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Essstörungen bei Jungen und Männern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Anhang 1: Diagnostische Kriterien DSM-5.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Fachliche und gesundheitspolitische Aufgaben.. . . . . . . . . . . . . . 48 Anhang 2: Anamnese und Diagnostik bei Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Essstörungen – hilfreiche Fragen und Beobachtungen. . . . 24 Anhang 3: Diagnosekriterien Muskeldysmorphie nach Pope. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Literatur .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2
Essstörungen bei Jungen und Männern aus psychotherapeutischer Sicht Ute Waschescio Einleitung Dieser psychologisch-psychotherapeutisch ausgerichtete Teil des Themenheftes gibt einen Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen von Essstörungen unter besonderer Beachtung der aktuel- len Diagnosekriterien und möglicher Besonderheiten bei Jungen und Männern. // Insbesondere wird die Verknüpfung von gestörtem Ess- Erörtert werden ebenso die besonderen Schwierigkeiten, die verhalten mit dem Störungsbild der Muskeldysmorphopho- viele betroffene Jungen und Männer im Umgang mit der psy- bie¹, dem übermäßigen Wunsch nach einem muskulösen chosomatischen – und weiblich konnotierten – Erkrankung Körper, auch im Zusammenhang mit modernen Männerbil- haben und die ihnen den Weg in eine adäquate Behandlung dern und heutigen gesellschaftlichen Anforderungen an erschweren oder oft genug unmöglich machen. Männerkörper als eine spezifisch männliche Problematik diskutiert. Die muskeldysmorphe Störung zählt diagnostisch Soziokulturelle Faktoren, wie traditionelle bzw. moderne nicht zu den Essstörungen, wird jedoch unter anderem als Männer- und Frauenbilder, damit verbundene Rollenerwar- männliches Äquivalent zur Anorexie diskutiert. Ungeachtet tungen und –stereotype haben auch einen Einfluss darauf, ihrer diagnostischen Zuordnung zeigen die verschiedenen wie sich Beratende oder Behandelnde selbst sehen und wie Krankheitsbilder viele Übereinstimmungen in ihren Ausprä- Patientinnen und Patienten und ihre Beschwerden von ihnen gungen und Entstehungszusammenhängen. wahrgenommen und eingeordnet werden. Hieraus können sich diagnostische Hürden ergeben, die dargelegt und er- Darüber hinaus werden zentrale Kernproblematiken bei läutert werden. Das Wissen um diese Problematiken kann ein Essstörungserkrankungen und Körperbildstörungen, wie die „Augenöffner“ sein für Menschen, die mit betroffenen Jungen adoleszenten Entwicklungsaufgaben und ihre potenziellen und Männern konfrontiert sind. Krisen, herausgestellt. Abgerundet wird der erste Teil des Themenheftes mit Emp- Durch die gesamtgesellschaftliche Aufwertung des Körpers fehlungen für den Kontakt und die Beratung von Jungen und wird der Druck auf Menschen, die körperlichen Normvor- Männern mit gestörtem Essverhalten und mit Essstörungen stellungen nicht entsprechen, immer stärker. Die Themen bzw. einer Muskeldysmorphie. // Stigmatisierung und Diskriminierung bilden – u. a. vor dem Hintergrund von Werten wie Leistung und Selbstkontrolle, die immer noch vornehmlich mit Männlichkeit assoziiert werden – einen weiteren Schwerpunkt. 1 Die Muskeldysmorphophobie wird gängigerweise auch als Muskel- dysmorphie bezeichnet. Ebenso wird sie mit Begriffen wie „Adonis-Komplex“, „Muskelsucht“, „Bigorexie“ oder „Biggerexie“ umschrieben. 3
Diagnostische Hürden Eine Essstörung als solche zu erkennen – bei sich selbst, im familiären, freundschaftlichen oder beruflichen Umfeld – ist nicht nur für Laien oft schwierig, sondern auch für Fachleute im medizinisch- therapeutischen Bereich. Allgemein kann von einer Unterdiagnostizierung ausge- körperbezogenen Sorgen, Ängste und Selbstzweifel von gangen werden, wobei zu vermuten ist, dass Essstörun- Jungen systematisch unterschätzt werden. gen bei Jungen und Männern tendenziell noch seltener erkannt und diagnostiziert werden als bei Mädchen und Missverstandene Symptome Frauen. führen zu Fehldiagnosen Diagnostische Kriterien Auch die Anorexiegrenze von BMI 17,5 wird im Hinblick für männliche Betroffene oft unpassend auf Männer von manchen Autoren bzw. Autorinnen in Frage gestellt (Crisp & Burns 1990). Männer haben demnach Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei den diagnostischen einen tendenziell geringeren Körperfettanteil als Frauen und Kriterien, die auf der Grundlage der spezifischen Sympto- können daher schon bei einem höheren BMI körperlich aus- matik erkrankter Frauen entwickelt wurden und daher nicht gezehrt (kachektisch) sein. Tatsächlich scheint es so zu sein, ohne weiteres auf männliche Betroffene anwendbar sind. So dass auch bei extrem niedriggewichtigen Männern seltener war lange Zeit ein notwendiges Kriterium für das Vorliegen das Vorliegen einer Anorexie in Betracht gezogen wird. einer Anorexie die primäre oder sekundäre Amenorrhoe, Stattdessen werden, öfter als bei Mädchen und Frauen, also das Ausbleiben der Menstruation. Inzwischen wird in organische Ursachen für das Untergewicht angenommen der ICD-102 stattdessen die endokrine Störung genannt, die und untersucht. sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust manifestiert. In der Neufassung des DSM Wenn keine somatische Erkrankung gefunden werden kann, (DSM-5)3 werden die hormonellen Veränderungen gar nicht werden oftmals andere Psycho-Diagnosen vergeben. Man- mehr aufgeführt. che schwer anorektischen Männer werden als psychotisch klassifiziert, da die Angst vor einer Gewichtszunahme, die Gängige Fragebögen greifen nicht zwanghafte Beschäftigung mit dem eigenen Körper und die verzerrte Körperwahrnehmung als wahnhaftes Verhalten Ein weiterer Punkt, der die Diagnose von Essstörungen bei oder Zeichen einer beginnenden Schizophrenie gedeutet Männern erschwert, ist die Tatsache, dass die gängigen werden. Ein Symptom wie die exzessive sportliche Betäti- Messinstrumente auf Mädchen und Frauen zugeschnitten gung dagegen ist bei Männern eher sozial akzeptiert oder sind und auf Jungen und Männer nicht gut passen. sogar erwünscht und wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit Jungen berichten seltener als Mädchen, dass Ihr Gewicht als bei Frauen als Ausdruck einer Essstörung beziehungswei- und ihre Körperform einen Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein se Körperbildstörung interpretiert. und Ihr Selbstwertgefühl haben (23,9 % im Vergleich zu 36,4 %) (Ackard et al. 2007). Dieser Befund könnte jedoch Männliche Identität und Schamgefühle dadurch verfälscht sein, dass die Fragen auf die spezifischen beeinflussen Hilfesuchverhalten Körperbild-Ängste von Mädchen zugeschnitten waren. Die Körperbild-Ängste von Jungen und Männern beziehen sich Die schon bei Frauen angenommene hohe Dunkelziffer ist weniger auf das Körpergewicht und den Körperumriss, bei Männern vermutlich noch wesentlich höher. sondern mehr auf die Körpergröße, den Umfang einzelner Muskelgruppen, Stärke und Muskelkraft, Schulterbreite und Zu der „normalen“ Hemmung, sich eine psychische Er- Brustumfang. Diese Aspekte werden in dem bekannten Fra- krankung einzugestehen und sich jemandem zu offenba- gebogen Eating Disorder Inventory (Paul & Thiel 2004) und ren, kommt bei Männern die Scham, an einer sogenann- in Befragungen zur Körperzufriedenheit bzw. zum Körperbild ten Frauenkrankheit zu leiden. oft nur unzureichend abgebildet, so dass die spezifischen 4
Diagnostische Hürden Da Männer zudem aufgrund ihrer Sozialisation häufig eher oder Trainern und Trainerinnen ist es oft ähnlich. Insofern ent- Schwierigkeiten haben, über Gefühle zu sprechen und ihre spricht dem Sich-nicht-zeigen-wollen auf Seiten der Betroffe- emotionale Bedürftigkeit zu zeigen, ist die Neigung, sich im nen auch ein Nicht-sehen-wollen auf Seiten des Umfeldes. privaten Umfeld oder auch im Gesundheitssystem Hilfe zu su- chen, gering. Viele Männer mit Essstörungen tendieren dazu, Die Fokussierung auf geschlechtsspezifische Unterschiede das Problem für sich zu behalten. Sie haben den Anspruch, wie „Jungen mit Bulimie erbrechen tendenziell weniger damit alleine fertig zu werden. als Mädchen“ oder „Bei Jungen beginnt die Anorexie im Schnitt etwas später als bei Mädchen“ kann die stereotypen Besondere Abgrenzungstendenzen Schemata aktivieren und so den Zugang zum subjektiv-indi- bei Heranwachsenden auf der Suche viduellen Erleben des Patienten behindern. Zudem kann der nach männlicher Identität häufig zu findende Hinweis „Jungen und Männer erkranken seltener an Essstörungen als Mädchen und Frauen“ zu Bei Jugendlichen und Heranwachsenden findet sich noch einer Marginalisierung der betroffenen Jungen und Männer eine Verschärfung dieser Tendenzen. Jungen in der Adoles- führen. Der Blick für eine mögliche Essstörungssymptoma- zenz sind auf der Suche nach ihrer Identität, insbesondere tik würde dann nicht geschärft, sondern eher verstellt. Im ihrer Geschlechtsidentität. ungünstigsten Fall entstünde eine Assoziationskette der Art: Nicht so häufig … Nicht so wichtig … Nicht so schlimm. Ein wichtiges Werkzeug der Identitätsfindung ist die Ab- grenzung von Anderen, also im Falle der männlichen Ge- Mangel an Information schlechtsidentität die Abgrenzung von allem Weiblichen. Neben diesen eher psychischen und gesellschaftlichen Daher ist in dieser Phase der Entwicklung oft eine Über- Faktoren, die dazu führen, dass Jungen und Männer eine identifikation mit gesellschaftlich konstruierter Männlichkeit bestehende Essstörung verschweigen, besteht jedoch auch zu beobachten, eine „übertriebene“ Zurschaustellung als schlicht ein Informationsdefizit. Sowohl den Betroffenen als männlich angesehener Attribute und Verhaltensweisen sowie auch den Menschen im unmittelbaren Umfeld ist häufig eine entsprechende Ablehnung und Distanzierung von als nicht klar, dass Essstörungen auch bei Jungen und Männern weiblich angesehenen Merkmalen. An einer Essstörung, also vorkommen können. Selbst viele Akteurinnen und Akteure einer scheinbar typischen Frauenkrankheit, zu leiden, Hilfe im Sozial- und Gesundheitswesen sind sich dessen nicht zu suchen und damit Schwäche zu zeigen, über Gefühle vollständig bewusst. Dadurch werden Warnzeichen unter zu reden – all dies kann zu einer Bedrohung für das ent- Umständen nicht erkannt und problematische Entwicklungen wicklungsbedingt ohnehin noch fragile Identitätsgefühl und übersehen. Dies gilt besonders für die Muskeldysmorphie, damit auch für das Selbstwertgefühl werden. Insofern ist das die sowohl als Krankheitsbild an sich als auch in ihrer Schweigen und Verheimlichen zwar keine gute Lösung, weil Affinität zu den klassischen Essstörungen bislang nur wenig es das Leiden perpetuiert, aber es ist im Empfinden der Ju- bekannt ist. // gendlichen immer noch besser als das „Gesicht zu verlieren“ und kein „richtiger“ Junge oder Mann zu sein. 2 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), von der WHO herausgegeben Vorannahmen und „Blinde Flecken“ auf Seiten des Umfeldes 3 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5, 2. korrigierte Auflage, 2018), von der American Psychiatric Association (APA) herausge- gebenes Klassifikationssystem psychischer Störungen Diese Einstellungen und Ängste finden ihre Entsprechung im sozialen Umfeld der Betroffenen. Viele Eltern tendieren dazu, „männliches“ Verhalten bei ihren Söhnen positiv zu verstär- ken und „nicht-männliches“ Verhalten negativ zu bewerten – in manchen Fällen offen, in anderen sehr subtil. Bei anderen Bezugspersonen wie Verwandten, Lehrerinnen und Lehrern 5
Essstörungen Jungen und Männer können alle Arten von Essstörungen entwickeln: sie können hungern und lebens- bedrohlich dünn werden. Sie können Essanfälle haben und die aufgenommene Nahrung wieder erbrechen, sie können übermäßig viel essen, sie können einen starken Bewegungsdrang verspüren, sie können sich übermäßige Sorgen um ihr Gewicht machen, Kalorien zählen, ihren Körper ängstlich beobachten oder ihn durch zwanghaftes Sporttreiben zu optimieren versuchen. // Im Folgenden wird ein Überblick über die unterschied- Pica lichen Formen von Essstörungen gegeben. Hervorgehoben Pica (ständiges Essen nicht zum Verzehr bestimmter Stoffe) werden insbesondere die Unterscheidungskriterien der kann im Rahmen anderer psychischer Störungen, z. B. einzelnen Krankheitsbilder, ihre Symptome und charakteris- intellektuelle Beeinträchtigung, Autismus-Spektrum-Störung, tischen Merkmale sowie die Neuerungen bei den aktuellen Schizophrenie, aber auch als Folge schwerwiegender Diagnosekriterien. elterlicher Vernachlässigung auftreten. Fütter- und Essstörungen nach DSM- 5 Ruminationsstörung Im DSM-5 werden unter dem Kapitel „Fütter- und Essstörun- Die Ruminationsstörung (wiederholtes Hochwürgen von Nah- gen“ die diagnostischen Kriterien folgender Krankheitsbilder rung) kann ebenfalls im Zusammenhang mit einer Störung aufgeführt: der intellektuellen, neuronalen oder mentalen Entwicklung auftreten, häufiger jedoch als Folge psychosozialer Probleme wie Vernachlässigung, fehlende Stimulation, familiäre Konflik- Pica te oder belastende Lebenssituationen. Ruminationsstörung Störung mit Vermeidung oder Störung mit Vermeidung oder Einschränkung Einschränkung der Nahrungsaufnahme der Nahrungsaufnahme Die „Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nah- rungsaufnahme“ ist im DSM-5 als eigenständige Essstörung Anorexia Nervosa neu aufgenommen worden. Dies geschah auf der Grund- lage zunehmender empirischer Evidenz eines spezifischen Bulimia Nervosa Musters restriktiven Essverhaltens, das klar von Anorexia Nervosa unterschieden werden kann. Charakteristisches Binge-Eating-Störung Merkmal ist die eingeschränkte Nahrungsaufnahme, wobei sich die Einschränkung sowohl auf die Menge an aufgenom- Andere näher Bezeichnete Fütter- oder Essstörung mener Nahrung als auch auf die Bandbreite der akzeptier- • Purging-Störung ten Nahrungsmittel beziehen kann. Es besteht eine deutlich • Night-Eating-Syndrom erkennbare vermeidende Haltung in Bezug auf Lebensmittel sowie phobische Ängste in Bezug auf die Nahrungsmittel selbst (meist bezogen auf bestimmte sensorische Merkmale wie Konsistenz, Farbe oder Geruch) und /oder in Bezug auf den Vorgang des Essens (Angst vor Erbrechen oder Ersticken). Die körperlichen Folgen können ähnlich denen der Anorexie sein: Gewichtsverlust, Mangelerscheinungen, Wachstumsverzögerungen. Ebenso können die psycho- soziale Entwicklung und Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein: sozialer Rückzug, Schwierigkeiten beim Verlassen der vertrauten Umgebung. 6
Essstörungen Anders als bei der Anorexie scheint es jedoch keine gra- rexietypisch angenommene fehlende Krankheitseinsicht wird vierenden Störungen im Körpererleben und in der Körper- als mögliches, nicht zwingendes, Kriterium genannt. Die wahrnehmung bzw. –bewertung zu geben. Gewichts- und Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur wird weiter- figurbezogene Ängste und Befürchtungen spielen keine hin aufgeführt, obwohl neue Studien Hinweise darauf liefern, signifikante Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung dass es sich bei der Störung im Körpererleben möglicher- dieser Essstörung. Sie ist insoweit vergleichbar mit dem in der weise nicht um eine Wahrnehmungsverzerrung, sondern um Literatur beschriebenen Phänomen der nicht-fettphobischen eine ins Negative verschobene Bewertung handelt, die auf Anorexie (non-fat-phobic anorexia) (Carter & Bewell-Weiss der Schwierigkeit beruht, den eigenen Körper anzunehmen 2007). Trotz einiger charakteristischer Unterschiede machen (Mölbert et al. 2017). Das Leitsymptom auf der phänomeno- die Überschneidungen mit den diagnostischen Kriterien der logischen Ebene bleibt das selbst herbeigeführte niedrige Anorexie eine Differenzialdiagnose manchmal schwer. Gewicht, wobei zwei Subtypen unterschieden werden: Bisweilen geht die „Störung mit Vermeidung oder Einschrän- - der restriktive Typ kung der Nahrungsaufnahme“ auch dem Beginn einer Ano- Gewichtsverlust primär durch Diäten, Fasten und Bewegung rexie voraus und geht in diese über. Die Störung kann bereits im Säuglingsalter beginnen, aber auch in jedem anderen - der Binge-Eating /Purging-Typ Lebensalter erstmals auftreten. Essanfälle und /oder selbstinduziertes Erbrechen, Miss- brauch von Laxantien, Diuretika, Klistieren. Anorexia Nervosa (AN) Den psychodynamischen Kern bildet das äußerst niedrige Die Diagnosekriterien für Anorexia Nervosa sind im DSM-5 Selbstwertgefühl, das in hohem Maße figur- und gewichtsab- (im Vergleich zum DSM-4) an mehreren Stellen modifiziert hängig ist. Ergänzt wurden die Kriterien, sowohl bei Anore- worden. So wird die Amenorrhoe nicht mehr als Kriterium xie als auch bei Bulimie, um eine Klassifikation der jeweiligen aufgeführt; auch die (bewusst wahrgenommene) ausge- Schweregrade (leicht, mittel, schwer, extrem). prägte Angst vor einer Gewichtszunahme wird nicht mehr So gilt ein BMI (Body-Mass-Index) unterhalb 15 kg/m2 als zwingend als notwendig angesehen. Die häufig als ano- extreme Ausprägung der Anorexie. Die Klassifikationssysteme Die zwei großen Klassifikationssysteme zur Diagnose psychischer Störungen sind die ICD (International Classification of Diseases) und das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Die ICD wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO: World Health Organisation) herausgegeben, das DSM von der American Psychiatric Association (APA). WHO und APA arbeiten eng zusammen, um die Klassifikationen, die sich in Einzelheiten unterscheiden, zunehmend aufeinander abzustimmen. Während das DSM als Referenzwerk für die wissenschaftliche For- schung gilt, wird im klinischen Bereich, auch hierzulande, überwiegend die ICD eingesetzt. Die derzeit gültige Fassung ist die 10. Überarbeitung /Ausgabe der ICD (ICD-10). Im Juni 2018 wurde der Entwurf für eine Neufassung der ICD vorgestellt. Diese soll als ICD-11 voraussicht- lich ab 2022 gültig sein. Bereits 2013 wurde eine Neufassung des DSM vorgestellt, das DSM-5. In dieser wurde auch das Kapitel der Essstörungen überarbeitet. Die verschiedenen Symptomatiken sollten hierdurch präziser und umfassender abgebildet werden können. Auch sollte die so genannte Restkategorie der unspezi- fischen, Nicht näher bezeichneten Essstörungen dadurch verringert werden. Beispielsweise wurde die Binge- Eating-Störung als eigene Kategorie neu aufgenommen, die zuvor nur als Nicht näher bezeichnete Essstörung kodiert werden konnte. Da die Neufassung der ICD diesen Änderungen weitgehend folgen wird, orientiert sich die folgende Darstellung und Erläuterung der Kategorien und Diagnosekriterien am DSM-5. 7
Bulimia Nervosa (BN) Andere Näher Bezeichnete Fütter- oder Essstörung Das Leitsymptom der Bulimia Nervosa sind wiederkehrende In der Kategorie „Andere Näher Bezeichnete Fütter- oder Essanfälle mit anschließenden kompensatorischen Maßnah- Essstörung“ werden fünf weitere Beschwerdebilder genannt: men. Diese Maßnahmen werden in einen Purging- (englisch eine jeweils atypische oder geringer ausgeprägte Form für „reinigen“) und einen Non-Purging-Typ unterschieden. von AN, BN und BE sowie die Purging-Störung (wiederkeh- Zum Purging-Typ gehören, wie bei der Anorexie, Erbrechen, rendes Purging-Verhalten ohne Auftreten von Essanfällen) Gebrauch von Laxantien, Diuretika und Klisiteren; zum Non- und das Night-Eating-Syndrom (wiederkehrende Episoden Purging-Typ zeitweises Fasten, Sport und Bewegung. Auch nächtlichen Essens). bei der Bulimie bildet die enge Verknüpfung der Selbst- bewertung mit Figur und Gewicht ein zentrales Element der Epidemiologische Aspekte pathologischen Dynamik. Vierzehn oder mehr Episoden und klinische Besonderheiten unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Wo- che gelten als extreme Ausprägung. Anorexie und Bulimie Im DSM-5 wird der Anteil erkrankter Männer an der Ge- haben ihren Beginn meist in der Adoleszenz oder im frühen samtzahl der Betroffenen sowohl für Anorexie (AN) als auch Erwachsenenalter. für Bulimie (BN) mit 10 % (in klinischen Populationen) an- gegeben. Für die Binge-Eating-Störung (BE) wird ein Anteil von 30-40 % genannt. Binge-Eating-Störung (BE) Die Binge-Eating-Störung ist im DSM-5 als neue Kategorie in In einer amerikanischen Studie mit großer Stichprobe wird die Liste der Essstörungen aufgenommen worden. Das Leit- der Anteil von Jungen und Männern bei Anorexie und symptom der Binge-Eating-Störung sind wiederholte Episo- Bulimie wesentlich höher eingeschätzt, nämlich bei 25 % den von Essanfällen, denen, in Abgrenzung zur Bulimie, nicht (Hudson et al. 2007). Auch Weltzin (2017) gibt für Ano- mit unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen ent- rexie einen Anteil erkrankter Jungen und Männer von 25 % gegengewirkt wird. Hierdurch kommt es auf Dauer zwangs- an. Insgesamt wird vermutet, dass Essstörungen bei Jungen läufig zur Entwicklung von Übergewicht. Weitere charakte- und Männern in den vergangenen 20 Jahren zugenommen ristische Merkmale der Binge-Eating-Störung sind das sub- haben (White et al. 2011). Für die Gruppe der College-Stu- jektiv empfundene Gefühl von Kontrollverlust während des denten konnte eine signifikante Zunahme von Essstörungen Essanfalls sowie die meist begleitenden bzw. nachfolgenden zwischen 1995 und 2008 gezeigt werden. 2008 erfüllten negativen Affekte wie Schuld- und Schamgefühle, Ekelemp- 25 % der männlichen Studenten und 32,6 % der Studen- finden gegenüber sich selbst oder Deprimiertheit. Bei Adi- tinnen die Kriterien für eine Essstörung. 1995 waren es positas ohne Essanfälle treten meist weder ein Gefühl von lediglich 7,9 % der Männer und 23,4 % der Frauen (White Kontrollverlust noch die beschriebenen negativen Affekte – et al. 2011). zumindest nicht in der Intensität – auf. Die für den nordamerikanischen Raum angegebenen Prä- Essanfälle können bereits im Kindesalter auftreten. Die Bin- valenz- und Inzidenzraten sind weitgehend vergleichbar mit ge-Eating-Störung beginnt typischerweise in der Adoleszenz den Zahlen in anderen westlichen Industrienationen (Keel & oder im frühen Erwachsenenalter. Episodische, eher seltene Forney 2015), können also auch als Grundlage für die Ver- Essanfälle, sowie allgemein das Gefühl von Kontrollverlust hältnisse in Deutschland angenommen werden. während des Essens können Vorläufer einer sich entwickeln- den Binge-Eating-Störung sein (LoC: Loss of Control-Eating) Da Essstörungen bei Jungen und Männern derzeit vermutlich (Tanofsky-Kraff 2017). noch unter- und fehldiagnostiziert werden und in vielen Fäl- len unbehandelt bleiben, kann davon ausgegangen werden, dass die vielerorts angegebenen niedrigen Prävalenzraten das tatsächliche Ausmaß an Erkrankungen unterschätzen (Strother, Lemberg, Stanford & Turberville 2012). 8
Essstörungen Schätzungen, die partielle Syndrome mit einbeziehen, also Erscheinungsformen, die nicht alle Kriterien einer Es gibt insgesamt eine Zunahme von Essstörungen Essstörung voll erfüllen, könnten daher ein besserer In- bei Jungen und Männern. dikator für die Relevanz der Problematik essgestörten Verhaltens bei Jungen und Männern sein. Jüngere Männer sind eher betroffen als ältere. Unter Einbezug partieller Syndrome läge die kombinierte In jüngeren Altersgruppen verschiebt sich das Prävalenzrate anorektischer Essstörungen bei Männern bei Geschlechterverhältnis zunehmend in die Richtung 0,92 % im Vergleich zu 1,81 % bei Frauen, was einem Ver- eines größeren Anteils an Jungen und Männern hältnis von 1:2 entspräche. Die kombinierte Prävalenzrate an der Gesamtzahl der Betroffenen. von Bulimie läge bei Männern bei 1,08 % im Vergleich zu 3,16 % bei Frauen (Woodside et al. 2001). Dies entspräche Je differenzierter der Blick auf partielle Syndrome einem Verhältnis von 1:2,9. Die kombinierte Prävalenz für und einzelne Essstörungssymptome, desto höher ist die Binge-Eating-Störung läge bei 1,9 % im Vergleich zu der Anteil an männlichen Betroffenen. 0,6 % bei Frauen, wäre demnach bei Männern höher als bei Frauen (Hudson et al. 2007). In Prävalenzstudien, in denen einzelne Essstörungssym- Jungen und Männer mit Essstörungen sind gedanklich ptome – anstelle von Essstörungsdiagnosen – untersucht übermäßig mit ihrem Aussehen beschäftigt und machen werden, zeigt sich ein differenziertes Bild. sich Sorgen um ihre körperliche Erscheinung. Insbesondere Jungen und Männer, die an Anorexie oder Bulimie leiden, Obwohl die Gesamtprävalenz von Essstörungssymptomen sehen sich als dicker an, als sie tatsächlich sind bzw. bewer- bei Mädchen und Frauen höher ist als bei Jungen und Män- ten ihre Körperform negativ. Sie berichten häufig von einem nern, zeigen sich in manchen Bereichen nur geringe oder ausgeprägt muskulösen Körperideal bzw. dem Wunsch nach gar keine Unterschiede (Ricciardelli & McCabe 2004). So einer stark definierten Muskulatur, insbesondere im Bauchbe- erleben Männer zwar seltener als Frauen einen Kontrollver- reich. Das Streben nach diesem Ideal ist mit der Vorstellung lust beim Essen und geben weniger Essanfälle an, berichten verbunden, dass der muskulöse, definierte Körper maskuliner dafür aber häufiger von übermäßigem Essen (overeating). und attraktiver wirkt und auf diese Weise zu mehr Selbst- Möglicherweise besteht der Unterschied nicht im konkreten vertrauen führt. Verhalten selbst, sondern in der Bewertung des eigenen Verhaltens. Männer scheinen, im Unterschied zu Frauen, Ess- Jungen und Männer mit Essstörungen zeigen in vielen Fällen anfälle eher als normal zu empfinden und deswegen auch ein problematisches Trainings- und Bewegungsverhalten. Das keinen Kontrollverlust zu erleben – zumindest nicht bewusst Training ist häufig exzessiv und folgt einem hochstrukturierten, (Norris et al. 2012; Snow & Harris 1989). Erbrechen und rigiden Plan, der nur wenig bis gar keine Flexibilität zulässt. Fasten als Mittel zur Gewichtsregulation wird von Männern Daraus entstehen gesundheitliche Gefährdungen, wenn weniger häufig eingesetzt als von Frauen, während es kaum beispielsweise trotz Verletzung oder Krankheit das Training Unterschiede im Gebrauch von Abführmitteln und bei über- weitergeführt wird und psychosoziale Risiken, wenn soziale mäßigem Sport gibt (Striegel-Moore et al. 2009). Beziehungen zugunsten des Trainings vernachlässigt oder aufgegeben werden oder schulischen bzw. beruflichen Ver- Bei männlichen Jugendlichen hingegen konnte gezeigt pflichtungen nur noch ungenügend nachgegangen wird. Ein werden, dass die Häufigkeit von Essstörungssymptomen bei Risikofaktor für die Entstehung einer Essstörung bei Jungen ihnen sogar vergleichbar ist mit der Prävalenz bei adoles- und Männern scheint darin zu bestehen, dass im Zuge des zenten Mädchen (Ricciardelli & McCabe 2004; Ackard et Trainings die Aufnahme von Fetten und Kohlenhydraten stetig al. 2007). Jungen zeigten in diesen Studien ebenso häufig reduziert und hierdurch auch die Gesamtkalorienzufuhr wie Mädchen selbstinduziertes Erbrechen, Essanfälle, Ge- kontinuierlich eingeschränkt wird. Dieser Prozess kann den brauch von Abführmitteln und exzessiven Sport. Übergang zu einer Essstörung einleiten. 9
Die Mehrzahl der Jungen und Männer mit Essstörungen ist Entstehungs- und Entwicklungs- heterosexuell. Studien zeigen jedoch gleichzeitig eine hohe zusammenhänge aus tiefenpsycho- Prävalenz von Essstörungen bei homosexuellen Männern. logischer Sicht Sowohl in klinischen Stichproben als auch in der Allgemein- bevölkerung lag der Anteil zwischen 14 % und 42 % (Feld- Essstörungen und Körperbildstörungen sind psychosoma- man & Meyer 2010). Im Vergleich zu heterosexuellen Män- tische Erkrankungen, d. h. sie haben einen psychischen nern zeigen homosexuelle Männer höhere Raten an Körper- Hintergrund und eine psychische Funktion. Sie entwickeln unzufriedenheit, Essstörungen und Essstörungssymptomen sich als innere Antwort auf eine bestimmte Lebenssitua- sowie Bestrebungen, ihre Muskelmasse zu steigern (Bosley tion und einen sich daraus ergebenden unlösbar erschei- 2011). Diese Befunde werden zum Teil auf die Schwulen- nenden Konflikt. Dieser Konflikt muss nicht unbedingt Subkultur zurückgeführt, in der körperliche Erscheinung und nach außen hin sichtbar sein, sondern kann sich ganz im Attraktivität eine große Rolle spielen. Darüber hinaus wird Innern einer Person abspielen, bewusst oder unbewusst. angenommen, dass die Stigmatisierung homosexueller Män- ner und das möglicherweise daraus resultierende Scham- Die inneren Konflikte, die zu einer Essstörung führen, sind gefühl zusätzliche Risikofaktoren für die Entstehung von Ess- vielfältig und individuell sehr verschieden. Entsprechend kön- und Körperbildstörungen darstellen. nen in der Essstörungssymptomatik verschiedenste Aspekte psycho-sozialen Erlebens zum Ausdruck kommen: ein fragi- Sportler werden mit einem erhöhten Risiko für die Entwick- les Selbstwertgefühl, ambivalent erlebte Autonomiewünsche, lung einer Essstörung oder Essstörungssymptomen sowie unterdrückte aggressive Impulse, unbefriedigte regressive den Gebrauch von Anabolika in Verbindung gebracht. Sehnsüchte, Bindungsängste, Unsicherheiten bezüglich der eigenen Identität und vieles mehr. Schätzungen der Prävalenz gehen weit auseinander, sind in der Tendenz jedoch höher als in der allgemeinen Bevölke- Auch die Gründe und Auslöser für diese inneren Unsicher- rung. Subklinische Formen von Essstörungen sind demnach heiten und Konflikte sind vielfältig: ungünstige Entwicklungs- bei Sportlern 10 – 50 mal höher als in der Gruppe der bedingungen, traumatische Erlebnisse, familiäre Konflikte, Nicht-Sportler (Glazer 2008). Die Umgebung von Sportlern Ausgrenzungserfahrungen wie Mobbing, geringe soziale ist häufig von einem Körperideal geprägt, das ein optimales Integration, Trennungs- und Verlusterlebnisse, schulische Gewicht impliziert und entsprechend ungesunde Verhaltens- Probleme, Überforderungsgefühle, Stress. weisen fördert, um dieses Gewicht zu erreichen. Zudem sind viele Persönlichkeitsmerkmale, die sportliche Leistun- Es gibt deutliche und starke Verbindungen zwischen gen fördern, die gleichen, die sich bei Menschen mit einer traumatischen Erlebnissen in Kindheit und Jugend und dem Essstörung finden (Perfektionismus, Zwanghaftigkeit, hohe späteren Auftreten von Essstörungen und Essstörungssymp- Erwartungen an die eigene Leistung). Besonders gefährdet tomen (Brewerton 2004, 2005, 2006, 2007). Untersucht sind Athleten, die aufgrund ihrer speziellen Sportart ein be- wurden traumatische Erfahrungen unterschiedlicher Art: stimmtes Gewicht einhalten oder erreichen müssen (Sport- sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, emotiona- arten mit Gewichtsklassen), ein niedriges Gewicht anstreben ler Missbrauch, körperliche und seelische Vernachlässigung, (Langlauf) oder ästhetischen Vorgaben entsprechen müssen dauerhaft negative familiäre Beziehungen, häufige elterliche (Eiskunstlauf, Turnen). Einem besonderen Risiko für den Ge- Konflikte, familiäre Gewalt u. a. Insbesondere scheint sexuel- brauch von Anabolika sind männliche Jugendliche in Kraft- ler Missbrauch in der Vergangenheit späteres Purging-Ver- oder bestimmten Teamsportarten ausgesetzt. halten vorherzusagen. Kein Symptom ist wie das andere und jeder Symptomatik liegt eine je eigene, individuelle Geschichte zugrunde. Die Funktion und Bedeutung eines Symptoms kann nur im Kon- text des individuellen Umfeldes, aus der subjektiven Perspek- tive des Betroffenen heraus erschlossen werden. // 10
Muskeldysmorphie: Essstörung „unter dem Radar“? Muskeldysmorphie: Essstörung „unter dem Radar“? // Neben den „klassischen“– in den Diagnosemanualen von MD bei Jungen und Männern vergleichbar ist mit der aufgeführten – Essstörungen ist in den letzten Jahren ein Häufigkeit von Anorexie bei Mädchen und Frauen (Grieve et Syndrom in den Fokus gerückt, das auf den ersten Blick al. 2009). Schätzungen gehen von 10 % Betroffenen für die wenig mit gestörtem Essverhalten zu tun zu haben scheint, Gruppe der Bodybuilder aus (Olivardia 2001). inzwischen aber von vielen Autoren (Pope et al. 2000; Dar- cy 2011; Jones & Morgan 2010; Murray et al. 2010) als Symptomatik und Kernmerkmale spezifisch männliche Form einer Essstörung angesehen wird: die Muskeldysmorphie (MD). der Muskeldysmorphie Der Begriff beschreibt einen Zustand, in dem ein Junge oder Körperbezogene Ängste ein Mann glaubt, nicht muskulös genug zu sein und infolge- Das Kernmerkmal der Muskeldysmorphie ist eine starke dessen danach strebt, Muskeln aufzubauen. Die negative Angst, der eigene Körper könne als ungenügend (nicht stark, Sicht auf den eigenen Körper und das Streben nach Muskeln nicht groß, nicht muskulös genug) angesehen werden und sind verbunden mit intensiven negativen Gefühlen und Emp- demzufolge ein verzweifelter Wunsch, athletischer zu sein, findungen wie Ängsten, Minderwertigkeitsgefühlen, Scham, Muskelmasse aufzubauen und Fettgewebe abzubauen, Selbstabwertung oder Depressionen. obwohl die betroffenen Jungen und Männer oft überdurch- schnittlich muskulös sind. Ähnlich wie bei der Anorexie Im DSM-5 zählt die Muskeldysmorphie zu den körper- scheint die tatsächliche, von außen wahrnehmbare, Be- dysmorphen Störungen. In der ICD-10 wird sie zu den schaffenheit des Körpers die körperbezogenen Ängste nicht hypochondrischen Störungen gerechnet. mildern zu können. So wie ein anorektischer Junge auch bei extremem Untergewicht noch Angst vor dem Dicksein und Historie und Begrifflichkeiten eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper verspürt, so wird ein junger Mann mit einer muskeldysmorphen Störung Zum ersten Mal beschrieben wurde dieses Zustandsbild in sich trotz vorhandener Muskelmasse als schmächtig und un- den 1990er Jahren von Harrison Pope (Pope et al. 2000), genügend empfinden. der Bodybuilder nach ihren Trainings- und Essgewohnheiten und vor allem ihrem Verhältnis zu ihrem Körper befragte. Die Ergebnisse waren erschütternd. Viele Männer berichte- Abweichendes Essverhalten mit ten von jahrelangem Leiden, das sie bis dahin mit nieman- negativen körperlichen und sozialen Folgen dem geteilt hatten. Stattdessen hatten sie eine Fassade von Die Bedeutung des abweichenden bzw. gestörten Essver- Stärke, Vitalität und Überlegenheit aufrechterhalten, die die haltens bei der Muskeldysmorphie ist anfangs unterschätzt schwachen, unsicheren Anteile in ihrem Innern überdecken worden und taucht in den von Pope et al. vorgeschlagenen sollte. Pope und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Diagnosekriterien eher am Rande auf. Seitdem hat sich in gaben dem Phänomen zunächst den Namen „Bigorexie“ der Sicht auf das Krankheitsbild das gestörte Essverhalten (bigorexia), später „umgekehrte Anorexie“ (reverse anore- als wesentlicher Aspekt der muskeldysmorphen Symptomatik xia) und zuletzt „Muskeldysmorphie“ (muscle dysmorphia). etabliert (Murray et al. 2010); in manchen Fällen von Mus- keldysmorphie ist die Störung des Essverhaltens bedeutsamer Seit diesen anfänglichen Veröffentlichungen wird die Muskel- als das übermäßige Trainingsverhalten. dysmorphie vor allem im Hinblick auf ihre Überschneidungen mit den Symptomen einer Essstörung diskutiert. Die Prävalenz von Muskeldysmorphie ist aufgrund fehlender Studien weit- gehend unbekannt. Es gibt Annahmen, dass die Häufigkeit 11
Zum gestörten Essverhalten bei der Muskeldysmorphie Schätzungen zur Häufigkeit des Gebrauchs von Anabolika gehört die strikte und rigide Einhaltung bestimmter Ernäh- in der Gesamtpopulation reichen von 1,2 % bis 12 % bei rungsregeln. Der typische Ernährungsplan beinhaltet große Jungen im Vergleich zu 0,2 % bis 9 % bei Mädchen (Harmer Mengen an Eiweiß und geringe Mengen an Fett und Zucker. 2010). In der Studie KOLIBRI zum Konsum leistungsbeein- Die Zufuhr wichtiger Nährstoffe ist insgesamt häufig unaus- flussender Mittel in Alltag und Freizeit des Robert Koch gewogen und ungenügend. Gleichzeitig wird die Kalorien- Instituts von 2011 gaben 2,2 % der männlichen 18- bis aufnahme ebenso wie die Zusammensetzung der verschie- 29-Jährigen an, Dopingmittel im Sinne der WADA (World denen Nahrungskomponenten meist genau kalkuliert; die Anti-Doping Agency) zu verwenden. Gleichzeitig wird verschiedenen Zeitpunkte der Nahrungsaufnahme über den darauf hingewiesen, dass in einzelnen Untergruppen, insbe- Tag sind – unabhängig von physiologischen Zuständen wie sondere bei jungen Männern, die Kraftsport betreiben, eine Hunger und Sättigung – genau festgelegt. Abweichungen höhere Prävalenz vorliegen kann (RKI 2011). vom Plan erzeugen Angst, Stress, Schuldgefühle und negati- ve Körperempfindungen und führen zu verstärkten Kompen- Anamnese und Diagnostik sationsbemühungen wie eine Erhöhung des Trainingsauf- wandes. Aktivitäten, die die Einhaltung des Ernährungsplans Aufgrund der starken ätiologischen und symptomatischen gefährden könnten, werden vermieden, was – ähnlich wie Überschneidungen gestaltet sich die Anamnese bei der Mus- bei der Anorexie – dazu führen kann, dass der gesamte keldysmorphie ähnlich der bei den Essstörungen. Abgefragt Tagesablauf auf die Struktur des selbst auferlegten Ess- und werden sollten die Gewichtsentwicklung, Gewichtsschwan- Bewegungsprogramms ausgerichtet wird. Das beinhaltet kungen, insbesondere Veränderungen von Körpermasse und unter Umständen, dass nicht mehr in Gesellschaft gegessen Gewicht in den letzten Wochen und Monaten. Ebenfalls wird, Freizeitaktivitäten eingeschränkt und soziale Situatio- sollte nach dem Idealgewicht und dem Körperideal, also der nen insgesamt gemieden werden. angestrebten Körperform, gefragt werden. Dies kann Hinwei- se auf die Körperzufriedenheit vs. Unzufriedenheit liefern. Gefährliche Begleiterscheinung mit Neben- Relevant ist ferner die Häufigkeit, mit der ein Junge oder wirkungen: Einnahme leistungssteigernder Mann seine Körpermaße überprüft, sei es durch Wiegen, Substanzen und Dopingmittel Messen des Körper- oder Muskelumfangs oder auch durch Ein besonders gefährlicher Aspekt der Muskeldysmorphie ist wiederholtes Schauen in den Spiegel bzw. reflektierende der Einsatz muskelaufbauender Medikamente wie anabole Oberflächen (mirror checking). Die Art des Sprechens über Steroide oder Wachstumshormone. Anabolika verstärken den eigenen Körper reflektiert die innere Haltung und kann und beschleunigen das Wachstum der Muskeln und sind Ablehnung, Wut, Ekel oder sogar Selbsthass ausdrücken. – obwohl sie nicht frei verkäuflich sind – „unter der Hand“ (Diagnosekriterien nach Pope siehe Anhang) // im Fitnessstudio oder im Internet leicht zu beschaffen. Die Nebenwirkungen von Anabolika können gravierend sein: Gereiztheit, erhöhte Aggressivität, Impotenz, Herzschäden und andere Organschädigungen, möglicherweise das erhöh- te Auftreten von Krebserkrankungen (Deutsche Sporthoch- schule Köln). 12
Gemeinsamkeiten Gemeinsamkeiten Muskeldysmorphie und klassische Essstörungen Diagnostic crossover Schon Pope hat mit seinem Begriff der „umgekehrten Es besteht ein gewisses Maß an „Durchlässigkeit“ Anorexie“ auf die Nähe der Muskeldysmorphie zur zwischen den verschiedenen Arten von Essstörungen Essstörungssymptomatik hingewiesen. Auch Grieve be- (diagnostic crossover). Die Symptome der einzelnen schreibt eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen Muskel- Krankheitsbilder überschneiden sich. So können Heißhun- dysmorphie und Essstörungen (Grieve 2009). So haben gerattacken sowohl bei einer Anorexie als auch bei einer von Muskeldysmorphie betroffene Jungen und Männer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung auftreten. Das häufig in ihrer Vorgeschichte eine Essstörung oder zeigen Erscheinungsbild einer Essstörung kann sich im Verlauf aktuell eine Essstörungssymptomatik. der Erkrankung mehrmals wandeln und auch Mischfor- men annehmen. Ferner zeigen beide Gruppen Beeinträchtigungen in der Körperwahrnehmung und im Körpererleben, ein ausgepräg- Ein Junge oder Mann kann beispielsweise zunächst eine tes Streben nach einer bestimmten – als perfekt angesehe- Anorexie entwickeln, die später in Bulimie umschlägt. Es wird nen – Körperform sowie ungewöhnliche, teilweise bizarre, vermutet, dass bis zu 30 % der Jungen und Männer, die an Ernährungsmuster und damit verbundene rigide Einstellun- einer Muskeldysmorphie leiden, vorher an einer Essstörung gen über Wert und Unwert bestimmter Nahrungsmittel. erkrankt waren (Olivardia et al. 2000). Auch Menschen, Jungen und Männer mit einer muskeldysmorphen Störung die anfänglich an einer Binge-Eating-Störung gelitten oder nehmen große bis extrem große Mengen an Kalorien zu infolge übermäßigen Essens Übergewicht bzw. eine Adipo- sich, um den Muskelaufbau zu unterstützen, was eine Nähe sitas entwickelt haben, können infolge veränderten Diät- und zur Binge-Eating-Störung vermuten lässt. Allerdings ist Bewegungsverhaltens eine Anorexie, eine Bulimie oder auch fraglich, ob die betroffenen Jungen und Männer ebenfalls eine Muskeldysmorphie entwickeln. Dieses so genannte einen Kontrollverlust beim Essen erleben. „diagnostic crossover“ wird als weiteres starkes Indiz dafür gewertet, dass die verschiedenen Essstörungen in Entstehung Neben den symptomatischen Ähnlichkeiten zwischen der und Bedeutung eng miteinander verknüpft sind und dass die Muskeldysmorphie und den klassischen Essstörungen wird Muskeldysmorphie eine weitere Ausdrucksmöglichkeit der- eine gemeinsame Ätiologie vermutet (Darcy 2011; Murray selben inneren Zustände und Konflikte sein kann, wie sie bei et al. 2012; Rodgers et al. 2012). Als bedeutendste ätio- Bulimie und Anorexie zu finden sind (Grieve et al. 2009). logische Faktoren werden Körperunzufriedenheit, geringes Ein Unterschied bestünde demnach in der Ausrichtung des Selbstwertgefühl und Perfektionismus genannt. Körper- angestrebten Körperideals. unzufriedenheit als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer muskeldysmorphen Störung entsteht entweder auf der Kernproblematik Körperunzufriedenheit Grundlage von Übergewicht bzw. dem Gefühl zu dick zu sein oder aus der Sorge zu klein, zu dünn, zu schmächtig Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist für viele zu sein. Entsprechend entsteht der Wunsch, Gewicht (Fett- Betroffene der Ausgangspunkt für die Entwicklung ihrer masse) zu reduzieren und /oder an Gewicht (Muskelmasse) jeweiligen Essstörungssymptomatik. Insofern ist Körper- zuzunehmen. Ein Unterschied zwischen Muskeldysmorphie unzufriedenheit einer der wichtigsten Risikofaktoren für und insbesondere Anorexie liegt nach dieser Betrachtung die Entstehung von Essstörungen und gleichzeitig eine in der Richtung des sozialen Drucks. Frauen erleben einen der subjektiv am stärksten belastenden und quälendsten sozialen Druck schlank zu sein, während Männer einen Begleiterscheinungen der Erkrankung. sozialen Druck erleben, möglichst muskulös zu sein. 13
Lange galten Jungen und Männer als immun gegen den bereits ab dem Alter von 2 (!) Jahren zunehmend darüber „Virus“ der Körperunzufriedenheit; sie schien eine Domäne bewusst werden, wie wichtig es für ihr Ansehen und damit der Mädchen und Frauen zu sein. Dies hat sich, vor allem auch für ihr Selbstwertgefühl ist, stark und muskulös zu sein in den letzten 20 Jahren, dramatisch gewandelt. Die Unzu- (McCabe et al. 2007; Thompson et al. 2012). friedenheit von Jungen und Männern mit ihrer körperlichen Erscheinung bewegt sich inzwischen auf einem ähnlich Es bedeutet für viele Jungen und Männer eine Heraus- hohen Niveau wie die Körperunzufriedenheit von Mädchen forderung, die Abweichung des eigenen Körpers vom und Frauen. öffentlich propagierten Ideal zu tolerieren, ohne dass das Selbstwertgefühl darunter leidet. Das Körperideal ist gesellschaftlich-kulturell vermittelt; es kann sich über die Zeit verändern bzw. an Bedeutung gewin- In Studien (Agliata & Tantleff-Dunn 2004; Baird & Grieve nen oder verlieren. 2006) konnte gezeigt werden, dass der Anblick idealer Männerkörper in den Medien negative Effekte auf die Das vorherrschende männliche Körperideal, das sich Stimmung und auf die Körperzufriedenheit bei männlichen vor allem in den vergangenen zwanzig Jahren verstärkt Probanden hat. Je stärker ein Junge oder Mann das gesell- etabliert hat, entspricht der so genannten mesomorphen schaftliche Ideal internalisiert, also zu seinem eigenen Selbst- Körperform: breite Schultern, schlanke Taille, ausgepräg- ideal gemacht hat, desto größer ist die Gefahr, dass er unter te Muskulatur. der Abweichung leidet, sich ungenügend und minderwertig fühlt und in der Folge Anstrengungen unternehmen wird, Die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Kör- dem Ideal näher zu kommen. Von hier aus ist es nur noch ein per macht sich bei Jungen und Männern oft nicht nur an der kleiner Schritt zu pathologischen Formen der Körpermodi- äußeren Erscheinung fest, sondern auch an der Funktionalität fikation und entsprechend gestörtem Ess- und Bewegungs- des Körpers, insbesondere im Hinblick auf sportliche Aktivi- verhalten. Der Versuch, das Körperideal mit allen Mitteln täten. Die hohe Muskelmasse und der gleichzeitig geringe zu erreichen, kann die Ausbildung einer Muskeldysmorphie Fettanteil des Körpers stehen dann für Kraft, Stärke, Dynamik begünstigen. Eine andere Variante kann darin bestehen, vor und über den sportlichen Bereich hinaus für Überlegenheit, dem als unerreichbar empfundenen Ideal zu kapitulieren und Durchsetzungsvermögen, Virilität und Selbstvertrauen. Sicht- sich der weiteren körperlichen Entwicklung zu verweigern. bares Fettgewebe und geringe Muskelmasse werden als Eine solche Ausgangssituation kann die Entwicklung einer Abweichung von diesem Ideal wahrgenommen. Anorexie oder auch Bulimie begünstigen. Offensichtlich gab es dieses Ideal auch in früheren Zeiten Natürlich kann die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper schon, es hatte jedoch für die meisten Individuen in der nicht auf die wahrgenommene Abweichung des eigenen Kör- Gesellschaft nur eine geringe bis gar keine Relevanz. Das pers von medial präsentierten Idealen reduziert werden. Eine hat sich geändert. Jungen und Männer werden überflutet negative Haltung zum eigenen Körper, ein Sich-unwohl-füh- von medialen Darstellungen idealer, sprich: mesomorpher len in der eigenen Haut, körperliche Missempfindungen und Männerkörper. Nicht nur die Quantität der Bilder in Zeit- Entfremdungsgefühle können auf vielfältige Weise entste- schriften, Werbekampagnen, Filmen oder im Internet hat hen. So kann beispielsweise ein geringes Selbstwertgefühl sich vervielfacht, auch die Körper selbst haben sich verän- auf den Körper verschoben werden, in der (unbewussten) dert. Der mesomorphe Körperbau ist ins Extreme verschoben Hoffnung, den subjektiv wahrgenommenen oder befürchte- worden (supermale body), so weit, dass die abgebildeten ten Mangel dort „reparieren“ zu können. Häufig entstehen Körper in der Alltagsrealität normaler Jungen und Männer negative Gefühle dem eigenen Körper gegenüber als Folge kaum vorkommen bzw. nur unter Einsatz von Medikamenten von Unsicherheiten in der Entwicklung (Identitätszweifel, zu erreichen sind. Der männliche Körper wird ins Licht der Ablösungsprobleme, Furcht vor dem Erwachsensein, sexuelle Öffentlichkeit gezerrt und dort der Bewertung ausgesetzt. Ängste und Unsicherheiten). Im Rahmen der Adoleszenz kommt es regelmäßig zu Miss- Der soziale und verinnerlichte Druck, das mesomorphe Ideal empfindungen, Selbstzweifeln oder Fremdheitsgefühlen dem zu erreichen, wird ab der späten Kindheit bzw. frühen Ado- eigenen Körper gegenüber, ohne dass diese Phänomene in leszenz verstärkt wahrgenommen. Kleine Jungen können sich eine Pathologie münden. 14
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