Praxisfieber - Jungen-gesundheit Sonderheft - DigitalOcean
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2021 Praxisfieber Magazin für Medizinische Fachangestellte in der Kinder- und Jugendarztpraxis Foto: © diego cervo – stock.adobe.com Sonderheft Jungen- gesundheit
Praxisfieber Inhalt Jungen – das (etwas) andere Geschlecht 4 Was Jungen prägt – Testosteron und Co. 7 Hurra, es ist ein Junge! Der Stress, ein „richtiger Mann“ zu werden 9 Betreuung der Jungen bei J1 und J2 im Praxisalltag 12 HPV-Infektionen gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen und sind kein reines Frauenproblem! 15 Let’s talk about sex 18 Denn sie wissen (nicht), was sie tun – Jungen in der Schule 20 Kleid statt Hose – Geschlechtsdysphorie bei Jungen 23 „Sie haben doch gesagt …“ – Basics der Jungenmedizin 25 Jungen, das starke Geschlecht? – Jungen als Opfer von Gewalt 36 Von Peer to Peer – Jungen, die Rudelwesen 38 No risk, no fun? – Jungen und Risikoverhalten 40 Literaturangaben bei den Verfassern 2
2021 Liebe Leserin, lieber Leser, die wegen der Corona-Pandemie ergriffenen erfolgt, auch die Aufklärung zur HPV-Impfung Lockdownmaßnahmen treffen Kinder und eine Rolle. Seit 2018 empfiehlt die STIKO, neben Jugend liche besonders hart. Im Januar 2021 den Mädchen auch die Jungen möglichst vor zeigten statistische Erhebungen, dass ein Drittel dem 18. Lebensjahr mit einer Impfung zu ver- aller Kinder und Jugendlichen an psychischen sorgen. Störungen leidet. Im vorliegenden PRAXIS- fieber-Sonderheft zum Thema Jungenmedizin Über Sexualität reden, insbesondere mit Jungs, beschäftigen wir uns deshalb unter anderem fällt vielen Ärzt*innen, Pfleger*innen und MFA auch mit der besonderen Situation von Jungen, schwer. Ältere Mädchen und Frauen sind daran die während der Pandemie wegen ihrer kleinen gewöhnt, über Sexualität zu reden, Gynäko- und größeren Besonderheiten noch einmal log*innen erheben immer eine Sexualanam mehr als Mädchen zu leiden scheinen. nese. Let’s talk about sex: Wie sprechen wir das Thema an, ohne peinlich zu werden, und Hormone, genetische und epigenetische Fak- wie können wir die Jungen für das Thema sen- toren, eine Kombination aus diesen und/oder sibilisieren? Und wie reagieren wir, wenn sich vielen anderen Bedingungen: Warum sich zum Beispiel herausstellt, dass das genetische Jungen so anders entwickeln als Mädchen, das Geschlecht nicht zum Empfinden des eigenen beleuchten wir auf den folgenden Seiten. Und Körpers passt? Wenn es sich für einen jungen wir werfen einen Blick darauf, wie Jungen in der Menschen so anfühlt, als würde er im falschen Kita und der Grundschule lernen und warum Kleid oder der falschen Hose stecken, sind sie dazu Männer brauchen – aber viel zu selten schnell alle überfordert. Was wissen wir über erleben. Auch in der kinder- und jugendärztli- Geschlechtsdysphorie und was steckt hinter chen Praxis und den Kinderkliniken begegnen dem Begriff? Auch darum soll es in diesem Jungen überwiegend Frauen: Ärztinnen, Pflege- Sonderheft gehen. rinnen und MFA – gut also, wenn alle die Basics der Jungenmedizin beherrschen. Erlebte Gewalt und Missbrauch spielen im Leben eines betroffenen Jungen eine gravie- In der Praxis spielen in puncto Jungenmedizin rende Rolle. Können Kinder und insbesondere die beiden letzten Vorsorgeuntersuchungen J1 Jungen nach erlebter Gewalt „normal“ aufwach- und J2 eine besonders wichtige Rolle. Neben sen? Wie ist das Gruppen- und Risikoverhalten der Überprüfung von Größe, Gewicht und zu werten und wie finden sie ihre Rolle in der Impfstatus geht es auch um die wichtigen The- Gesellschaft? All diese Fragen beschäftigen uns men Übergewicht, Sucht, Probleme im persön- in diesem Sonderheft. lichen und familiären Bereich und Sexualität. Und – ein besonders sensibles Thema – darum, Wir hoffen, dass Ihnen die Lektüre Freude berei- wie sich der Jugendliche zur Erkennung von tet und Sie dazu ermuntert, sich noch mehr mit Erkrankungen des äußeren Genitales selbst dem Thema Jungenmedizin zu befassen. untersuchen kann. Dann spielt, falls noch nicht Ihre Doris Schrage und Ralf Moebus 3
Praxisfieber Jungen – das (etwas) andere Geschlecht Jungen (umgangssprachlich auch „Jungs“ genannt) sind ... 1. Menschen – sie haben eine individuelle Persönlichkeit. 2. männlichen Geschlechts – dies wirkt sich auf den Körper, die Psyche und das Sozial- verhalten aus. 3. in ihrer Kindheit oder Jugendphase, also in der Entwicklung. Sie sind noch nicht „fertig“. Diese Entwicklung ist an man- chen Stellen gleich der der Mädchen (be- sonders bis zur Pubertät), an vielen Stellen aber anders (besonders ab der Pubertät – Die „Herausforderungen“, das „Erwachen der Männlichkeit“). ein Junge zu werden, … beginnen schon kurz nach der Zeugung in Jungen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre der ganz frühen Embryonalphase. Schon in Eigenheiten erheblich, schon allein nach ihrem der 8. bis 12. SSW entscheidet die auf dem Alter und ihrem Entwicklungsstand, dann aber Y-Chromosom gelegene genetische Informa- auch nach elterlichen und gesellschaftlichen tion der „sex-determining region“ (SRY) über Einflüssen, dem sozialen Milieu, in dem sie die Aktivierung des testisdeterminierenden aufwachsen, nach ihren Aneignungsmöglich- Faktors (TDI). Dies bedingt, dass sich aus den keiten und ihren gemachten Erfahrungen. Eine undifferenzierten Gonaden die Hoden (Testes) „normale“, „standardisierte“ oder „natürliche“ entwickeln. Die von diesen produzierten Andro Entwicklung von Jungen gibt es dementspre- gene, insbesondere das Testosteron, bewir- chend nicht. Eines ist aber sicher: Die Jungen ken die weitere Differenzierung des inneren von heute sind die Männer von morgen. Wie und äußeren männlichen Genitales sowie die sie das werden und wie sie dann sind – darauf geschlechtstypische Gehirnentwicklung. Eine haben auch die Frauen von heute einen gro- Störung dieses Ablaufes führt trotz Vorliegen ßen Einfluss. Das bezieht sich nicht nur auf die des XY-Kerngeschlechts unweigerlich zur Ent- Mütter, sondern auf alle Frauen, die in mehr wicklung eines weiblichen Organismus („Am oder weniger intensivem Kontakt zum Jungen Anfang war die Frau“). Die geschlechtstypische stehen – also auch auf Sie als MFA. Gehirnentwicklung, die schon zu einem so frü- 4
2021 hen Zeitpunkt der Embryogenese ihren Anfang Die Inanspruchnahme von Früherkennungs- nimmt, erklärt auch, wieso Jungen und Mäd- untersuchungen und anderen medizinischen chen von Anfang an Verhaltensbesonderheiten Leistungen bis zur Pubertät sind bei Jungen aufweisen, die auf die Geschlechtsstereotypen und Mädchen annähernd gleich (insgesamt hinweisen, wie sie später für Erwachsene ange- geringer in Abhängigkeit von Sozialstatus und nommen werden und auch empirisch belegt Migrationshintergrund). Hingegen sind Unfall- sind (neonatales Imprinting). Dies trägt auch verletzungen bei Jungen signifikant höher als entscheidend dazu bei, dass Mütter und Väter bei Mädchen. Hier spielt das ausgeprägtere mit ihren Söhnen schon im Säuglingsalter Bewegungsverhalten – mit bedingt durch das anders kommunizieren als mit ihren Töchtern. Testosteron – wie auch die größere Experimen- tier- und Risikofreude (starke soziokulturelle Trotz einer erhöhten Anfälligkeit für Fehlbil- Komponente) der Jungen eine entscheidende dungen und Erkrankungen – schon ab der frü- Rolle. Ab der Pubertät nehmen Jungen Bera- hen Embryonalphase beginnend – kann zum tungsangebote weniger in Anspruch. Aber wo Glück gesagt werden: Die meisten Jungen sind gibt es ab dann überhaupt spezifische Zustän- gesund! Aber es gilt auch gleichermaßen, dass digkeiten und Angebote? Während Mädchen ab der Gesundheitszustand von Jungen teilweise diesem Lebensabschnitt über eine geschlechts- alarmierend ist: Viele Statistiken zu Krankheiten spezifische Beratungs- und Betreuungsinstanz werden von Jungen angeführt. verfügen (Gynäkologen), gibt es eine solche für Jungen immer noch viel zu selten. Da, wo sie Das Jungenbezogene der angeboten wird, wird sie mit großer Dankbar- Gesundheit … keit angenommen („weil ich mich mal endlich aussprechen kann“). entsteht einerseits durch Männlichkeitsbilder, die Jungen von Medien, Gleichaltrigen und Jungen zeigen also nicht per se ein schlechte- Erwachsenen vermittelt werden, andererseits res Gesundheitsverhalten. Vielmehr bieten die durch die körperlichen Spezifika des männli- genetische Disposition, die traditionelle Leitbil chen Genitals und durch Wirkungen des Tes- der und die psychosozialen Lebensumstände tosterons, insbesondere ab dem Jugendalter eine Gefahr, dieses zu entwickeln! Das Spezi- (Adoleszenz). fische, das Jungesein ausmacht, zu verstehen, ist die Basis, um gesundheitsförderndes Ver- Entgegen dem immer noch vorherrschenden halten von Jungen zu unterstützen und ihnen Meinungsbild in der Gesellschaft machen sich eine gute Beratungs- und Betreuungsinstanz Jungen durchaus Gedanken um ihre Gesund- zu sein. heit. Sie sind also keine beratungsresistenten Gesundheitsidioten. Sie leben zwar im Durch- Die Entwicklung der Jungen … schnitt risikoreicher als Mädchen, aber riskan- tes Verhalten wird gesellschaftlich gewünscht und Mädchen verläuft im Laufe der Kindheit kör- und als „männlich“ gefördert. Traditionelle perlich annähernd gleich bezüglich Körperbau, Leitbilder von Männlichkeit verhindern eher ein Muskelmasse, Fettgewebsverteilung, Größe und positives Gesundheitsverhalten. Kraft. Erst in der Pubertät kommt es zu ent- 5
Praxisfieber scheidenden Entwicklungsunterschieden. Mit Jungen entwickeln sich also auch dem Erwachen der Pubertät und der Beantwor- anders als Mädchen – ... tung der Frage nach dem eigenen Ich stellt sich für Jungen auch die Frage nach der eigenen vor allem geistig und sozial. Schon bei der Männlichkeit und der Verortung als sexuelles Geburt sind Mädchen „reifer“ und haben bis Wesen. Ziel ist die Entwicklung hin zu einer – zur Pubertät ca. 2 Jahre Entwicklungsvorsprung. möglichst im Einklang mit dem jeweiligen sozi- Erst danach schließen die Jungen endgültig alen Umfeld stehenden und sozial verträglichen auf. Die Entwicklung einer „eigenen Männlich- – individuellen und authentischen Männlich- keit“ wird zur zentralen Entwicklungsaufgabe. keit (balancierte Männlichkeit). In den meisten Jungen setzen einiges daran, diesen Auftrag Fällen ist spätestens ab der Geburt biologisch zu erfüllen. Das viel zitierte gesundheitliche sichtbar, dass es ein Junge ist. Wie er sich psy- Risikoverhalten, Körperästhetisierung (Tattoos chisch und sozial entwickeln wird, ist sehr stark etc.), Gestaltung von Sexualität und reproduk- Umwelteinflüssen unterworfen. Den Ausschlag tiver Gesundheit (Fortpflanzung) sowie Nut- für die psychosoziale Entwicklung und damit zung und Gestaltung medialer Angebote sind auch für die neurobiologische Entwicklung davon entscheidend geprägt. Die Entwicklung geben – so der aktuelle Stand der Diskussion neuer Perspektiven des „modernisierten Mann- – weniger die Gene als vielmehr das Abschauen seins“ ist stark durch Familie, Peers und Schule und Lernen von den Rollenvorbildern. Neben beeinflusst. Für diese gilt es wiederum, die individuellen Einflüssen vermögen auch Andro- widersprüchlichen Erwartungen an die Jungen gene (Geschlechtshormone/Testosteron), die zu zu reflektieren – das „tägliche Jungs-Dilemma“ einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind, positiv aufzulösen (s. u.). bestimmte Verhaltensweisen dauerhaft zu prä- gen. Bernhard Stier Ich soll: mich durchsetzen. Doch ich soll auch : n. mich immer wehre rucksichtsvoll se in. in. moglichst cool se kein Raufbold sein . ben. gute Noten schrei Verstandnis aufb ringen. fmerksam sein. freundlich und au kein Streber sein . hen. keine Sorgen mac kein Weichei sein . n. keine Angst habe nicht zu angepa ss t sein. Spa¤ vertragen. nicht leichtsinnig sein. tapfer sein. meine Gefuhle ze igen. sein. kein Draufganger 6
2021 Was Jungen prägt – Testosteron und Co. Testosteron ist ein Sexualhormon (Andro- Darüber hinaus sorgt es für die Spermienpro- gen), das bei beiden Geschlechtern vor- duktion und bewirkt die Reifung der Spermien. kommt (wie auch die Östrogene), sich dabei Auch die Gestalt und Größenzunahme von aber in Konzentration und Wirkungsweise Penis und Hoden sowie die Ausprägung der bei Mann und Frau unterscheidet. sekundären Geschlechtsmerkmale (Bartwuchs und typische Körperbehaarung) ist testoste- ronabhängig. Bereits als Neugeborene haben In den ersten Wochen ihrer Entwicklung sind Jungen fast so viel Testosteron im Körper wie Embryonen geschlechtlich noch undifferen- erst wieder in der Vorpubertät. Nach kurzem ziert. Sehr frühzeitig, nämlich in der 8. bis Absinken hat sich der Testosteronspiegel im 12. Schwangerschaftswoche, kommt es, bei Vor- Alter von 4 Jahren fast verdoppelt. Dadurch handensein der entsprechenden genetischen werden Jungen aktiver, lauter, protziger, aber Anlage, zur Steuerung der typischen Aus- auch launischer. Ab ca. dem 5. Lebensjahr sinkt bildung der primären Geschlechtsmerkmale der Hormonspiegel, um dann in der Pubertät (Penis, Hodensack mit Hoden und Nebenho- sprunghaft deutlich anzusteigen. Bei Jungen den, Samenleiter und Vorsteherdrüse) unter dem Einfluss von Testosteron. Bei Jungen (und Männern) wird das Testos- teron vorwiegend im Hoden produziert, bei Bewegung Mädchen (und Frauen) in deutlich niedrigerer Wettbewerb Konzentration in den Eierstöcken. Testosteron und hat, ebenso wie die Östrogene, verschiedene Helden und Konkurrenz Wirkungen auf diverse Organe. Insbesondere Vorbilder Was ist es für das „männliche Aussehen“ (der männ- Jungen liche Phänotyp) das wesentliche Hormon. Hier lieben Rudelrituale bewirkt es den Aufbau von Muskelmasse und Regeln/ der Fettspeicher sowie die Stärkung des Stütz- Hierarchien systems aus Fett- und Bindegewebe. Auch für Heraus- das Wachstum ist es maßgeblich verantwort- forderungen/ lich. Es bewirkt den männlichen Wachstums- Risiko spurt in der Pubertät, der mit dem Schluss der Wachstumsfugen endet. 7
Praxisfieber erhöht sich der Testosteronspiegel vom 9. bis Negativer Blick: Jungen sind ... zum 15. Lebensjahr um den Faktor 25, was zu • unvernünftig. einem 3-mal stärkeren Sexualtrieb führt als bei • hierarchieorientiert. gleichaltrigen Mädchen. Testosteron ist neben • aggressiv. dem Oxytozin das wichtigste Bindungshormon beim Menschen. Zusammen sind sie „Team- • zu waghalsig. player“ im Beeinflussen des Sozialverhaltens. • zerstörerisch. • unsozial und nervig. Nach wie vor geistert das eigentliche „Sozial- • ... hormon“ Testosteron als Gewalt- und Aggres- sionshormon durch die Medien und hat sich, Positiver Blick: Jungen sind ... obwohl längst widerlegt, so in den Köpfen der Menschen eingebrannt. Studienergebnissen • risikobereit. zufolge scheint es Ehrlichkeit und prosozia- • teamfähig. les Verhalten zu fördern, bei Männern wie bei • konkurrenzfähig. Frauen. Testosteron steht im Dienst der Status- • kreativ. sicherung. Nach wie vor weitestgehend unbe- • neugierig. kannt ist, dass Testosteron sogar die Neigung • lebendig und lebhaft. zu Lügen reduziert und eine wichtige Bedeu- • ... tung bezüglich des sozialen Zusammenhalts hat. Jungen sind Rudelwesen und Testosteron ist ein Kitt für den sozialen Zusammenhalt. Der beste Weg der Jungenförderung bis hin Studien zeigen immer wieder, dass Jungesein zu einer balancierten Männlichkeit führt über deutlich mehr mit negativen Attributen assozi- die Förderungen der Stärken des Jungen und iert ist als Mädchensein. Das zeigt sich schon im seines Jungeseins. Das wird ihm helfen, seine Kindergarten und setzt sich in der Schule fort. Schwächen auszugleichen. Ein neuer Blickwinkel auf Jungen kann helfen, die positiven Seiten des Jungeseins mehr in den Bernhard Stier Fokus zu nehmen. Dazu folgende Beispiele: Jungen sind ... • Draufgänger. • Rudelwesen. • Raufbolde. • Schatzsucher. • Kaputtmacher. • Zappelphilippe. • ... 8
2021 Hurra, es ist ein Junge! Der Stress, ein „richtiger Mann“ zu werden „Ihre Männlichkeit ist für Jungen der Haupt- weibliche Umfeld mit naturgegebenen Eigen- stressfaktor im Leben. Das ständige Sich arten der Jungen schwertut. Jungen sind oft zu beweisenmüssen gegenüber Gleichaltrigen, wild, zu dominant und zu kämpferisch. Natür- aber auch der schulische Rahmen an sich lich – besser naturgegeben – sind sie so! Wir belasten sie.“ Das stellen die Autoren des wissen längst, dass das Testosteron das laterale, Männergesundheitsberichts 2013 fest. das „einseitig hirnige“ Denken fördert (Latera- lisation des Denkens). In der Entwicklungsge- schichte des Menschen hatte und hat dies eine Gerade im Gesundheits- und Bildungssektor wichtige Bedeutung. Männer sind dadurch ist die Umgebung der Jungen sehr stark durch primär schneller im Erfassen bestimmter Situa- Frauen geprägt. Während meiner Praxistätig- tionen (früher als Jäger überlebenswichtig). Das keit gehörte es – leider! – zu den großen Aus- geht aber auf Kosten der Genauigkeit. Frauen nahmen, dass die Väter mit ihren Jungen die Praxis aufsuchten. Für Fragen rund um das Thema Gesundheit waren und sind die Müt- ter zuständig. Hatte ich hin und wieder auch mal einen Vater am Telefon, z. B. um Befunde zu besprechen, so wurde – ehe ich überhaupt dazu kam, Einspruch zu erheben – der Hörer sofort an die Mutter des Jungen weitergege- ben. „Der Doktor?! Ich gebe Ihnen mal meine Frau.“ Und weg war er! Was lernen die Jun- gen daraus? Alles, was mit Gesundheit zu tun hat, ist die Domäne der Frauen – und ich als „Mann“ habe damit nichts zu tun! Nicht viel anders ist es im Bildungssektor – angefangen schon im Kindergarten. Überall Frauen, von Männern kaum eine Spur. Wer mal erlebt hat, wie Jungen sich begeistert um einen Erzieher scharen, spürt den Hunger, den Jungen nach mehr Männlichkeit in ihrer Umgebung haben. Untersuchungen zeigen deutlich, dass sich das 9
Praxisfieber sind durch das primär mehr beidseitige Hirn- wird, spielt eine wichtige Rolle. Gesellschaftli- hälften beschäftigende Denken zwar etwas che Normen bezüglich Körperidealen werden langsamer, aber dafür genauer. Um nun dieses über vielfältige Kanäle verbreitet: vom direk- „Handicap“ der Männer etwas auszugleichen, ten Umfeld im Elternhaus, der Peer-Gruppe fördert das Testosteron die Bewegung. Schon und Schule, den Massenmedien wie TV, Radio, im Mutterleib bewegen sich Jungen statistisch Printmedien und Internet – insbesondere den gesehen mehr als Mädchen. Das setzt sich nach sozialen Medien –, aber auch von Produkten der Geburt über das ganze Leben hinweg fort. wie Spielzeug. Bewegung fördert bekanntlich das Denken und so könnte man etwas überspitzt sagen: Wer Das Elternhaus … Jungen zum Stillsitzen verdammt, hindert sie am Denken. Jungen müssen sich also natur- spielt eine große Rolle bezüglich der Vermitt- gegeben mehr bewegen als Mädchen. Hinter lung von Normen und Grundhaltungen sowie so manchem ADHS steckt eigentlich nur ein Verhaltensweisen. Die Eltern beeinflussen diese bewegungsfreudiger Junge. Und so wundert es durch direkte und indirekte Kommunikation nicht, dass Jungen die Diagnose ADHS 4-mal mit ihren Kindern in Bezug auf die verschiede- häufiger erhalten – nicht selten zu Unrecht, wie nen Regeln, Sanktionen und Erwartungen. Sehr Studien zeigen konnten. Jungen haben zudem deutlich wird dies z. B. im Hinblick auf die Ein- wenig Raum, über ihre Gefühle zu sprechen. stellung zum Ausgehverhalten der Söhne bzw. Das betrifft vor allem auch ihre sexuelle Ent- Töchter. Es ist nach wie vor unklar, ob dieser wicklung, die wesentlich stärker tabuisiert ist Einfluss mehr durch geschlechtsspezifische als bei Mädchen. Das Gespräch der Mutter Einstellungen, häusliche Arbeitsteilung und die über die erste Regelblutung ist zum Glück völlig erlebte Familienstruktur vermittelt wird oder normal, doch welcher Vater spricht mit seinem eher von der Haltung und Einstellung der Mut- Sohn über den ersten Samenerguss? Meist ist ter bzw. des Vaters geprägt ist. Dabei sind enge es – wenn überhaupt – die Mutter, die dieses Zusammenhänge zwischen Kommunikations- Thema zur Sprache bringt. Auch die Gleichalt- stil innerhalb der Familie einerseits und dem rigen-Gruppe (Peer-Gruppe) fällt, im Gegensatz Umgangsstil in erotischen Beziehungen ande- zu den Mädchen, aus, denn für Jungen wäre es rerseits besonders augenfällig. absolut peinlich und ein No-Go, dieses Thema mit Freunden zu besprechen. Aber auch homo- Die Peer-Gruppe … und bisexuelle Neigungen kommen selten zur Sprache. Dabei führt diese Verdrängung nicht ist – besonders ab der Pubertät – geprägt durch selten zu Depressionen und sogar Suizidgedan- häufige Rangeleien unter Jungen als tägliche ken. All das passt nicht zur „Männlichkeit“. Verteidigung einer herausgeforderten Männ- lichkeit. Entscheidend ist nicht so sehr, den In westlichen Gesellschaften werden Jungen Wettbewerb zu gewinnen, sondern vielmehr, so sozialisiert, dass sie wahrnehmen, auf- sich ihm zu stellen und ihn durchzustehen. Das grund ihrer körperlichen Fähigkeiten, Kraft und bedarf einer andauernden Anstrengung, Junge- Sportlichkeit bewertet zu werden. Die indivi- sein zu beweisen, vor allem aber zu vermeiden, duelle Wahrnehmung, wie der Körper bewertet von den Gleichaltrigen mit Weiblichkeit, Weich- 10
2021 heit oder Homosexualität (besonders ab der Eigene Entwicklung Pubertät) in Verbindung gebracht zu werden. während der Pubertät Mit den vielfältigen Wettbewerbsspielen in der (z. B. Behaarung, unge- männlichen Peer-Gruppe wird ein wesentliches wollte Erektionen) Merkmal von Männlichkeit eingeübt: die Wett- Selbst- Der ganze befriedigung bewerbsorientierung. emotionale Bereich Tabu- Die Schule … themen Homo- ist die Bühne, auf der täglich das Schauspiel sexualität „Wie bin ich ein richtiger Junge?“ ausprobiert Ängste und eingeübt wird. Sowohl die Kommunikation Überhaupt von sich selbst oder mit dem Lehrpersonal als auch ihre gelebte über die eigene Männlichkeit (bzw. Weiblichkeit) beeinflusst Sexualität reden die Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwick- lung der Schüler und Schülerinnen. Ebenso tut dies die schulische Sexualerziehung. Diskrimi- nierungserfahrungen in der Schule verstärken Vielfach erleben Jungen den Anspruch, ihre Männ- nicht selten die Hinwendung zur Demonstra- lichkeit stets neu beweisen zu müssen. Demzu- tion „echter Männlichkeit“ und führen ggf. zu folge setzen sie einiges daran, diesen Anspruch einer Art „aggressiver Kapitulation“. zu erfüllen. Das Bedrückende dabei ist, dass das individuelle und authentisch Männ liche In einer Klassenkonstellation, die nach wie vor bei Jungen damit untergraben und nicht selten mehr durch Alters- denn durch Entwicklungs- zugeschüttet wird. Der Psychotherapeut Björn ähnlichkeiten geprägt ist, muss es in der frü- Süfke hat über die zugeschütteten Männersee- hen und mittleren Jugendphase zwangsläufig len einen psychologischen Reiseführer verfasst: zu Leistungsungleichheiten kommen. Die Jun- „Die Schwierigkeit, eigene Gefühle wahrzuneh- gen sind durch den späteren Pubertätseintritt men, ist für viele Männer ein ernstzunehmen- und den späteren körperlichen und geistigen des Problem, welches aber keineswegs indivi- Entwicklungsfortschritt benachteiligt. Diese duell zu pathologisieren ist. Vielmehr kann der Benachteiligung wird verstärkt durch ein Bil- mangelnde Zugang zu eigenen Gefühlen als dungssystem, welches in seiner Struktur den Grundproblem der männlichen Identität gene- Eigenschaften früher Männlichkeitsentwick- rell betrachtet werden.“ In der Arbeit mit Jun- lung zuwiderläuft. Es ist für Jungen im Hinblick gen ist es daher sehr wichtig, dass sie über ihre auf ihre männliche Entwicklung schlichtweg Gefühle zu sprechen üben, lernen, ihre eigenen wenig attraktiv, gute Noten zu produzieren. Grenzen und die anderer wahrzunehmen, und Cool ist eher der Rückzug und „stille“ Protest. zu akzeptieren, dass sie auch etwas nicht schaf- Die Kompensation schlechterer schulischer fen können, sie Angst haben dürfen und nicht Leistungen kann – Stichwort demonstrierte die Angst in Lust umwandeln müssen. Männlichkeit – deutlich besser über sportliche Aktivitäten erfolgen. Bernhard Stier 11
Praxisfieber Betreuung der Jungen bei J1 und J2 im Praxisalltag In unserer kinder- und jugendärztlichen Praxis betreuen und beraten wir unsere Pati- enten rund um die Themen Vorsorge sowie körperliche und geistige Entwicklung. Jungen sind uns besonders wichtig. Das benachteiligte Geschlecht In den letzten 20 Jahren stand in Pädagogik und im Gesundheitswesen oft die Entwicklung und Die Zahlen sprechen für sich: Bei Jungen wird Förderung der Mädchen im Vordergrund. Jun- wesentlich häufiger ADHS diagnostiziert als bei gen und ihre besonderen Bedürfnisse gerieten Mädchen. Störungen der zentral-auditiven Ver- dadurch ein wenig in den Hintergrund. Die arbeitung sollen etwa doppelt so viele Jungen Interessen der Jungen liegen anders, ihre psy- wie Mädchen haben. Auch bei den Kindern, die chische und physische Entwicklung vollzieht eine Klasse wiederholen, ist die Quote der Jun- sich langsamer, sie sind dementsprechend gen bereits in der Grundschule höher als die schüchterner. Verstärkt wird dies insbeson- der Mädchen. dere, da viele Väter und/oder männliche Vor- bilder nicht verfügbar sind und weil Förderpro- Erweiterte Vorsorge als gramme wie „Stark wie Pippi Langstrumpf“ für Beziehungschance Jungen nicht angeboten werden. In ihrer priva- ten und schulischen Lebenswelt begegnen Jun- Wir bestellen Säuglinge und Kleinkinder gerne gen hauptsächlich Frauen: Müttern, Erzieherin- für den Vormittag ein, Jugendliche treffen sich nen und Lehrerinnen. Viele Lehrer und Erzieher vorwiegend nachmittags bei uns. Reine Jungen- kommen mit typischem Jungenverhalten nicht sprechstunden bieten wir nicht an, denn Warte- (mehr) klar. Ihr eher unangepasstes, „wilderes“, zeiten vor einer Untersuchung oder nach einer risikofreudigeres Verhalten wird nicht als Res- Hyposensibilisierung werden im Jugendwarte- source gesehen, sondern als Störung oder „Auf- zimmer schon mal sehr kurzweilig. Das ist auch fälligkeit“. für uns immer wieder nett mit anzusehen. 12
2021 Für unsere Praxis sind die erweiterten Vor- gestellt und dient während des Arzt-Patien- sorgen (U10–J2) wichtige Gelegenheiten, um ten-Gesprächs als Gesprächsleitfaden. Die den Kontakt zu den Heranwachsenden zu hal- Erfahrung zeigt, dass wir über den Fragebogen ten, zu festigen oder zu erneuern. Man kann besser mit den Jugendlichen ins Gespräch kom- beobachten, dass Jugendliche im Allgemeinen men, z. B. in schwierigen Situationen oder bei – und Jungen im Speziellen – immer häufiger Konflikten. neutrale Vertrauenspersonen brauchen, die sie weder in ihrem Umfeld noch in der Familie Weiterhin werden im Vorfeld der ärztlichen finden. Unsere Praxis bemüht sich, ein solcher Untersuchung Größe, Gewicht und RR gemes- Ansprechpartner zu sein. Manchmal hat ein sen, Hör- und Sehtest inkl. Lang/Stereo und Besuch aus scheinbar banalem Grund einen Ishihara-Tafel durchgeführt und eine Urinprobe ernsten Hintergrund. untersucht. An eine bevorstehende Vorsorgeuntersuchung Bei uns erfolgt die J1 vorwiegend mit Arzt, J1 erinnert bei uns das zuständige Gesundheits- dokumentierender MFA und Patienten. amt. Wir erinnern nicht aktiv. Die J1 hat sich aber etabliert und wird gut angenommen. Irri- Während der Vorsorge wird (bei uns von der tierend ist, dass sie in (fast) keinem Vorsorge- den Arzt begleitenden MFA) routinemäßig der heft auftaucht und die Eltern keine Erinnerung Impfstatus erhoben und geprüft. Ausstehende im U-Heft bzw. hinterher keine Dokumentation Impfungen werden angeboten, Risiken und haben. Wirkung besprochen. Oftmals entscheiden sich die Jungen z. B. für eine HPV- oder Hepatitis-A- Der Termin wird meistens durch die Erzie- Impfung, selbst wenn die Eltern kritisch einge- hungsberechtigten/Betreuungspersonen ver- stellt sind. Neben den obligaten Untersuchun- einbart. gen der J1 (inkl. Untersuchung der Genitalien) besteht hier die Gelegenheit und der zeitliche Schon bei der Terminvergabe informiert das Rahmen, in einer vertrauensvollen Atmosphäre Praxisteam, dass die J1-Vorsorge auf Wunsch zwischen Arzt und Patient alle Belange und des Patienten mit oder ohne Begleitung der Probleme des Jugendlichen anzusprechen Eltern erfolgen kann, damit die Eltern darauf und Lösungswege zu zeigen. Häufige Themen vorbereitet sind. betreffen die persönliche Entwicklung in Bezug auf den gleichgeschlechtlichen Freundeskreis Wenn der Jugendliche zur J1 kommt, ist er die und/oder auf Mädchen, Sexualität, Konflikte im Hauptperson und wird persönlich, noch vor der sozialen Umfeld oder auch eventuellen Drogen- Begleitperson, begrüßt. konsum. Diese Gespräche werden auf Wunsch selbstverständlich auch ohne MFA geführt. Bei Zur Überbrückung der Wartezeit bekommt der körperlichen Untersuchung geht die MFA der Jugendliche einen Fragebogen zur Anam- immer raus, z. B. um Impfstoff zu holen. nese-Erhebung. Dieser Fragebogen wird uns durch die Firma Sanofi (MSD) zur Verfügung Wir haben für jede von uns durchgeführte Vorsorge Info-Päckchen vorbereitet. Bei der J1 13
Praxisfieber geben wir den Jungen gerne unterschiedliche Wir stehen den jungen Erwachsenen immer Infomaterialien mit: HPV-Impf-Flyer und Mate- mit offenem Ohr und unserem gesamten Wis- rial der BZgA („In meiner Straße“ (derzeit ver- sen zur Verfügung. griffen), „Wie geht’s – wie steht’s“, „Sex ’n’ tipps Jungenfragen“, „Sex ’n’ tipps Verhütung“, „Sex Es ist für uns alle ein wirklicher Vertrauens- ’n’ tipps erste Liebe“, Infos über Alkohol „Wissen, beweis, wenn diese mittlerweile erwachsenen was geht“, „Cocktails zum Selbermixen“). Frü- ehemaligen Patienten als junge Eltern mit her haben wir auch den BVKJ-Flyer „Achte auf ihren eigenen Kindern wieder zu uns finden – Deine Nüsse“ mitgegeben, dieses Thema findet zu Besuch oder zur Behandlung. sich aber im Flyer „Wie geht’s – wie steht’s“ ab Seite 82 und wird aktiv angesprochen. Cordula Prisett Wenn die Eltern anwesend sind, werden sie zum Abschlussgespräch dazugeholt, dann geht es ausschließlich um eventuelle Folge- termine oder weitere Diagnostik. Im Vertrauen Besprochenes unterliegt selbstverständlich der Schweigepflicht. Ist das Vertrauensverhältnis bei der J1 erstmal erneuert und/oder aufgebaut, kommen die Jugendlichen gerne ohne Begleitung, z. B. im Krankheitsfall direkt von der Schule aus. Es bestätigt ihr Vertrauen in uns. Sie fühlen sich wahrgenommen und mit ihren persönlichen Anliegen ernst genommen. Unser Praxisteam begleitet die Jungen gerne auf diesem schwie- rigen Weg hin zum Erwachsenwerden. Die Abschlussuntersuchung – kurz vor dem 18. Geburtstag – ist die J2, die von einigen Kran- kenkassen übernommen wird. Hierzu laden wir aktiv ein, vor allem wenn die Jugendlichen län- gere Zeit nicht mehr bei uns waren. Der Ablauf ist der J1 sehr ähnlich. Die J2 ist für uns quasi die Abschlussuntersu- chung, bevor die jungen Erwachsenen meistens für mehrere Jahre ohne Bindung an eine Haus- arztpraxis sind. Wir schließen Impflücken. 14
2021 HPV-Infektionen gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen und sind kein reines Frauenproblem! Infektionen mit HPV sind sowohl bei der Schleimhaut kann das Virus in den Körper ein- Frau als auch beim Mann sehr verbreitet. Es dringen, vor allem über Intimhautkontakt. wird davon ausgegangen, dass HPV-Infek- tionen zu den häufigsten sexuell übertrag- Krankheitsbild baren Infektionen gehören. Eine Infektion mit HPV bleibt anfangs häufig unbemerkt, da sie zunächst oft beschwerde- Was ist HPV? frei verläuft. In den meisten Fällen heilt die Infektion dank einer wirksamen Immunabwehr Humane Papillomviren, abgekürzt HPV, zäh- innerhalb etwa eines Jahres ohne gesundheit- len zu den häufigsten durch Intimkontakte liche Probleme wieder ab. Betroffene wissen übertragenen Viren. Bisher sind mehr als 200 daher oft gar nicht, dass sie eine HPV-Infektion Virustypen bekannt. Einige dieser Viren sind für haben oder bereits hatten. die Bildung von gutartigen Feigwarzen an den Genitalien verantwortlich, andere Typen sind maßgeblich an der Entstehung von Gebärmut- terhalskrebs und weiteren Krebsarten an Vulva, Vagina, Anus, im Mund-Rachen-Bereich oder am Penis beteiligt. Jährlich erkranken in Deutschland ca. 7.850 Frauen und Männer an HPV-bedingten Krebs- arten. Wie kann man sich anstecken? Humane Papillomviren werden über direkten Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen. Über kleinste Verletzungen der Haut bzw. 15
Praxisfieber Einige HPV-Typen können einige Wochen nach Die HPV-Impfung kann einer Infektion mit der Ansteckung Genitalwarzen (auch Feigwar- bestimmten HPV-Typen und bestimmten damit zen oder Kondylome genannt) auslösen. Geni- assoziierten Erkrankungen vorbeugen. talwarzen sind die häufigste HPV-bedingte Erkrankung im äußeren Genitalbereich. Die Kosten für die HPV-Impfung werden für alle Kinder und Jugendlichen zwischen 9 und Bei einer anhaltenden Infektion mit bestimm- 17 Jahren von den gesetzlichen Krankenkassen ten krebsauslösenden HPV-Typen können bezahlt und können über die Versichertenkarte sich bei einigen Menschen über viele Jahre abgerechnet werden. bestimmte Krebsvorstufen oder Krebsarten entwickeln. Sollten sich Jungen gegen HPV Vielen Dank an die Firma impfen lassen? MSD Sharp & Dohme GmbH, die uns diesen Beitrag Jungen und Männer sind nicht nur potenzi- zur Verfügung gestellt hat. elle Überträger des Erregers, sondern können genau wie Frauen an Genitalwarzen oder später an HPV-bedingten Krebsarten erkranken. Seit Juni 2018 empfiehlt die Ständige Impfkom- mission (STIKO) die HPV-Impfung für Jungen analog zu Mädchen im Alter von 9–14 Jahren (Nachholimpfung bis zum Alter von 17 Jahren). Die Empfehlung zur HPV-Impfung für Mäd- chen besteht bereits seit 2007. Erste Ergebnisse einer Datenbank-Analyse zeig- ten, dass die Anzahl der Jungen, die die erste HPV-Impfdosis erhalten haben, seit der Emp- fehlung durch die STIKO am Robert Koch-Ins- titut deutlich angestiegen ist: Mit etwas mehr als 51.000 ersten Impfdosen bis April 2019 lag die Anzahl auf vergleichbarem Niveau wie bei Mädchen. 16
2021 Innovation hat man uns eingeimpft: Seit 1898. Neben einer Vielzahl von Therapeutika erforschen und entwickeln wir seit über 100 Jahren Impfstoffe. Diese können einen Schutz vor Erregern wie zum Beispiel Masernviren, bestimmten Pneumokokken und Humanen Papillomviren bieten. Und als einer der weltweit größten Impfstoffhersteller arbeiten wir weiter an neuen Impfstoffen wie beispielsweise gegen das DE-NON-00110 05/19 Ebolavirus. Erfahren Sie mehr auf: www.msd.de 17 MSD SHARP & DOHME GMBH, Lindenplatz 1, 85540 Haar. www.msd.de
Praxisfieber Let’s talk about sex Den richtigen Zeitpunkt zum Gespräch über Sexualität mit Jungen zu finden, fällt nahezu allen Beteiligten schwer – Eltern, Leh- rer*innen, Medinischen Fachangestellten und Ärzt*innen. Die Distanziertheit zu „da unten“ bemerken wir schon bei der ersten Vorstellung bei der U3, wenn Mütter und Väter von Jungen besorgt nachfragen, wie „Schnäpperle“, „Schnippis“ und „Pillermän- ner“ denn richtig sauber gemacht würden, schließlich kenne man sich ja damit nicht wirklich gut aus und wolle auch nichts ver- kehrt machen. Die gesamte Kindheit wird von mehr oder weniger witzigen Bezeich- nungen des männlichen Genitales begleitet, bis dann im Rahmen der Pubertät aus dem Schnippi ein Penis wird. wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugend- alter angesehen werden. Aufklärung findet vornehmlich im privaten Spätestens wenn Jungen merken, dass mehr Bereich und in der Schule statt. In den kin- als Urinlassen zu den Möglichkeiten des Penis der- und jugendärztlichen Praxen geben wir gehört, werden auch Sorgen des Jugendlichen oft schon bei den Vorsorgeuntersuchungen wach, ob denn nun alles in Ordnung ist mit Broschüren mit, die BZgA hält eine Vielzahl dem Genitale. Andere Jungen sind vielleicht von Aufklärungsmaterialien bereit, die genutzt schon weiter in der Pubertät fortgeschritten, werden können. In der BZgA-eigenen Studie auch prahlen nicht wenige Jungen mit sexuellen „Jugendsexualtität 2015“ zeigen die Autoren Erlebnissen. Sexuelle Neugierde und Masturba- jedoch klar auf, dass die Broschüren von höchs- tion sind in Familien zumeist tabuisierte The- tens 10 % der Jugendlichen genutzt werden. men, die dunkle Seite der Sexualität – sexuell 50 % der Jungen nutzen das Internet als Quelle übertragbare Erkrankungen (STD) – werden mit weitem Abstand vor Büchern mit 18 %. beim Besuch in der Praxis viel eher angespro- Gegenüber Mädchen eine geringere Akzeptanz chen als die Sorgen und Ängste in Zusammen- besteht gegenüber Jugendzeitschriften mit hang mit gelingender sexueller Beziehungsauf- 30 % bei Jungen und 46 % bei Mädchen. Umso nahme zum bevorzugten Geschlecht. Die Auf- wichtiger ist es für uns, in den kinder- und nahme von Partnerbeziehungen zum anderen jugendärztlichen Praxen nicht nur Broschü- oder gleichen Geschlecht mit einer erotischen ren weiterzugeben, sondern dabei auch wei- oder sexuellen Komponente muss als eine der tere Informationen zu vermitteln. Das Internet 18
2021 steckt voller Informationen, auf die alle Praxis- Während des Besuches in der Arztpraxis erwar- mitarbeiter*innen hinweisen können, es ist von ten 10 % der Jungen Informationen zur Homo- erheblicher Bedeutung, dass der Jugendliche sexualität, 18 % zur Verhütung und je 30 % zu bemerkt, dass Rückfragen nicht nur erlaubt, Sexualpraktiken bzw. Geschlechtskrankheiten. sondern ausdrücklich erwünscht sind. Dennoch Auch wenn der seit Jahren anhaltende Trend müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass zur Verhütung beim ersten Verkehr ungebro- wir in den Praxen für Jugendliche zu Fragen der chen positiv ist, bleiben noch weiterhin Auf- Sexualität nicht als bevorzugte Vertrauensper- gaben bei der Beratung der Jungen in der sonen wahrgenommen werden, ebenso wenig Praxis. Kondome werden von 73 % der Erstver- Lehrer*innen. Jungen vertrauen sich eher ihren kehrer genutzt – auch wenn dieser Anteil hoch Müttern als ihren Vätern an (41 % zu 19 %), was erscheint, ist insbesondere die Anwendung auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, noch zu oft fehlerhaft und das Wissen zum jedoch aufgrund der in der Regel engen Mut- rechtzeitigen Überziehen nicht allgemein ver- ter-Jungen-Beziehung logisch ist. Die Haupt- fügbar. Als Hauptgrund dafür, beim ersten Ver- vertrauenspersonen der Jugendlichen beider kehr nicht verhütet zu haben, geben Jungen an, Geschlechter finden sich im eigenen Freun- dass der Verkehr zu spontan beschlossen wurde. deskreis. Trotz umfassender Möglichkeiten, Informationen zu Geschlechtserkrankungen sich zu informieren, bleiben Jugendliche mit scheinen für die Jungen eine größere Rolle zu ihren Fragen oft allein und sind auf den ersten spielen. Entscheidend für das Gelingen einer Samenerguss meist nicht wirklich vorbereitet. Aufklärung ist auch, dass der Jugendliche nicht Sexuelle Aufgeklärtheit nimmt mit der Schul- den Eindruck gewinnt, dass mit jedem Verkehr bildung zwar zu, dennoch ist es von heraus- die Gefahr sexuell übertragbarer Erkrankungen ragender Bedeutung, wie im Elternhaus mit einhergeht. dem Thema umgegangen wird. Tabuisierung ist noch immer häufig, besonders in Familien Für die gelingende Ärzt*innen-Patient*innen- mit Migrationshintergrund. Beziehung ist es von herausragender Bedeu- tung, dass eine vertrauensvolle Basis geschaffen Während für Mädchen in der Sexualentwicklung wird. Dies ist nicht erst beim Kontakt Ärzt*in/ kompetente ärztliche Gesprächspartner*innen Patient*in der Fall, sondern beginnt mit der in der Frauenheilkunde zur Verfügung ste- Terminvereinbarung. Spezielle Sprechstunden hen, die sich nahezu exklusiv mit dem weibli- für Jugendliche, vielleicht sogar Jungensprech- chen Geschlecht im Wortsinn befassen, gibt es stunden, besondere Zeiten ohne anschließen- keine Männerheilkunde. Die Urologie befasst den Termindruck und jugendgerechtes Setting sich erst im späteren Alter mit Sexualitätspro- sind neben einer authentischen Ansprache blemen wie zum Beispiel erektiler Dysfunktion, wichtig. Der Jugendliche muss das Gefühl ver- Kinderwunschbehandlung oder Kohabitations- mittelt bekommen, in der Praxis willkommen schwierigkeiten. Gerade die Kohabitation, der zu sein und mit seinen Bedürfnissen angenom- Geschlechtsverkehr, hat eine besondere Bedeu- men zu werden, und motiviert werden, wieder- tung bei unseren Jugendlichen, auch wenn das zukommen, wenn er den Bedarf hat. Alter zum Zeitpunkt des ersten Geschlechtsver- kehrs seit einigen Jahren immer höher wird. Ralf Moebus 19
Praxisfieber Denn sie wissen (nicht), was sie tun – Jungen in der Schule Jungen werden häufiger von der Einschu- lung zurückgestellt, sie besuchen häufiger 20.000 Mädchen eine Förderschule, sie verlassen die Schule 18.000 Jungen häufiger ohne einen formalen Abschluss 16.000 und erreichen seltener das Abitur als Mäd- 14.000 chen. Einige dieser Geschlechtsunter- 12.000 schiede werden für das Beispiel des Schul- 10.000 jahres 2019 in Abbildung 1 veranschaulicht. 8.000 Die Abbildung wurde auf der Grundlage der Angaben des Statistischen Bundesamtes 6.000 (2021) erstellt. Die in der Abbildung deutlich 4.000 werdenden Unterschiede sind nicht damit 2.000 zu erklären, dass sich Mädchen und Jungen 0 ohne Hauptschul- Mittlerer (Fach-) in ihrer generellen Intelligenz unterschei- Abschluss abschluss Schul Hochschul- den würden. Wodurch sind sie also dann zu abschluss reife erklären? Jungen bekommen – gemessen an ihren fach- lichen Leistungen – schlechtere Noten als Mäd- chen. Das ist auch der Grund dafür, warum sie nach der Grundschule seltener für das Gymna- sium und häufiger für eine Schule mit gerin- gerwertigen Abschlusszertifikaten empfohlen werden. Ursachen für die schlechteren Noten liegen wiederum darin, dass Jungen ein zu den schulischen Anforderungen weniger passen- des Sozialverhalten und eine geringere Kom- petenz zum selbstgesteuerten Lernen zeigen. So beschrieben Lehrkräfte in verschiedenen Studien, dass Jungen weniger motiviert und weniger gut organisiert in ihrem Arbeitsver- halten als Mädchen seien und häufiger stören oder aggressives Verhalten zeigen würden, was die Lehrkräfte dann auch veranlasst, den Jun- gen – bei gleicher Leistung – schlechtere Noten 20
2021 zu geben als den Mädchen. Kuhl und Hanno- verhielten sich also Jungen gegenüber weniger ver (2010) fanden z. B. heraus, dass die besse- warm und gleichzeitig strenger, kontrollieren- ren Noten, die Mädchen im Fach Deutsch in der und stärker lenkend. Dieses Verhalten der der 4. Klasse bekamen, dadurch erklärt werden Lehrkräfte trägt möglicherweise dazu bei, dass konnten, dass ihre Lehrkräfte ihnen eine höhere Jungen in der Schule weniger motiviert mit- Kompetenz bei der Steuerung und Organisa- arbeiten. Denn geringe Wärme und Zuwen- tion ihres eigenen Lernprozesses attestierten. dung der Lehrkraft fördert die Motivation des Kindes oder Jugendlichen genauso wenig wie Auch die Mädchen und Jungen selbst beschrei- eine überstarke Strenge und Kontrolle, durch ben ihr Verhalten in der Schule als unter- die Kinder und Jugendliche in ihrem Autono- schiedlich. So stimmen Jungen z. B. Aussagen mieerleben eingeschränkt werden. wie „Ich lasse mich leicht ablenken“ oder „Ich mache Dinge, die sich im Moment gut anfüh- Was können Eltern und Lehrkräfte len, die ich später aber bereue“ stärker zu als tun? Mädchen. Außerdem geben Jungen an, weni- ger Zeit mit Hausaufgaben zu verbringen als Wie kann die schulische Entwicklung von Jun- Mädchen. Auch Eltern beschreiben ihre Söhne gen günstig beeinflusst werden? Jungen brau- als weniger selbstgesteuert und gut organisiert chen Unterstützung darin, sich stärker selbst zu in ihrem Lernverhalten als ihre Töchter. Ein kontrollieren und zu regulieren. Selbstkontrolle Mangel an Selbststeuerung geht nicht nur mit umfasst die Fähigkeit, absichtsvoll die eigene schlechten Schulnoten einher, sondern wird Aufmerksamkeit zu steuern (z. B. sich nicht auch für aggressives Problemverhalten ver- durch eine Störung ablenken zu lassen) und antwortlich gemacht, das bei Jungen häufiger eigenes Verhalten so zu aktivieren oder auch beobachtet wird als bei Mädchen: Hier wird ein zu unterdrücken, dass selbst gesetzte Ziele Ärgerimpuls spontan in Verhalten übersetzt, erreicht werden können (z. B. sich selbst ver- ohne eigene Ziele und mögliche Konsequenzen anlassen können, eine unangenehme Aufgabe abzuwägen. zu erledigen, oder Ärger so regulieren können, dass man nicht mit einer Aggression reagiert). Die Unterschiede im Arbeits- und Sozialver- Lehrkräfte und Eltern können Jungen zu mehr halten haben nicht nur zur Folge, dass Jungen Selbstkontrolle verhelfen, und zwar auf zweier- schlechtere Noten und damit ungünstigere lei Weise: Einerseits geht es bei Selbstkontrolle Schulempfehlungen bekommen, sondern sie darum, dass das Kind oder der Jugendliche sich werden von den Lehrkräften auch anders klarmacht, welches Ziel verfolgt werden soll. behandelt als Mädchen. Hannover, Koeppen Ziele sollten idealerweise selbst gesetzt und und Kreutzmann (2021) baten Lehrkräfte, ihr nicht von den Eltern oder Lehrkräften vorgege- eigenes Verhalten gegenüber Schülerinnen und ben werden. Und dann geht es darum, Jungen Schülern auf verschiedenen Verhaltensfacetten darin zu unterstützen, dass sie Handlungen zu beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass initiieren, durch die sie sich ihren Zielen annä- Lehrerinnen und Lehrer sich gegenüber Jungen hern, und kontinuierlich überprüfen, ob sie stärker fordernd-streng, ermahnend und igno- sich diesen Zielen annähern. Eine Form der rierend verhielten als gegenüber Mädchen. Sie Unterstützung kann darin bestehen, dass Jun- 21
Praxisfieber gen üben, ihren aktuellen Wissens- oder Kom- ziert geteilt werden – z. B. Umgang mit Alltags- petenzstand realistisch einzuschätzen. Weitere technik, sportliches Engagement). Formen der Stützung von Selbstkontrolle stel- len individuelle Entwicklungsgespräche oder Und schließlich müssen Jungen vor negativen Lerntagebücher dar. Jungen mit noch geringen Stereotypen bewahrt werden, die möglicher- Selbststeuerungskompetenzen könnten von weise mitverantwortlich sind für das andere solchen Maßnahmen nicht nur beim Lernen, Verhalten, das Lehrkräfte ihnen gegenüber sondern auch durch ein stärker angepasstes – im Vergleich zu Mädchen – zeigen. Kinder, Sozialverhalten profitieren, bei dem eigene Jugendliche und Lehrkräfte haben gleicher- Bedürfnisse durch vorausschauende Abwägung maßen Vorurteile, nach denen Jungen insbe- mit den Bedürfnissen anderer in Einklang sondere in der Schule mehr stören und sich gebracht werden. weniger angemessen verhalten würden. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Jungen tatsäch- Eine weitere Unterstützungsmöglichkeit be- lich ein weniger angepasstes Verhalten zeigen, steht darin, dass Interaktionen zwischen Mäd- können solche negativen Erwartungen, die an chen und Jungen durch Eltern oder Lehrkräfte sie gerichtet werden, genau dieses negative befördert werden. Im Vorschulalter beginnend Verhalten begünstigen und wahrscheinlicher bis in die Pubertät hinein interagieren Jungen machen. Lehrkräfte sollten sich also stets auf- und Mädchen, wenn sie die Wahl haben, sehr merksam selbst beobachten, um sicherzu- viel häufiger mit Gleichaltrigen ihres eigenen stellen, dass sie Jungen in gleichem Maße mit als mit Gleichaltrigen des anderen Geschlechts. Zuwendung begegnen und ihnen im gleichen Über die miteinander verbrachte Zeit werden Maße Autonomie gewähren, wie sie dies gegen- sich die Beteiligten immer ähnlicher, denn sie über Mädchen tun. haben immer mehr gemeinsame Erfahrungen und damit typischerweise auch gemeinsames Bettina Hannover Wissen, gemeinsame Interessen und Verhal- tensgewohnheiten. Dies bedeutet, Jungen kön- nen in ihrem Arbeits- und Sozialverhalten pro- fitieren, wenn sie in der Schule regelmäßig mit Mädchen zusammenarbeiten, die ihnen in die- sen Domänen meist überlegen sind. Solange Lehrkräfte nicht eingreifen, interagieren Jungen meist kaum mit ihren Mitschülerinnen, sie haben also keine Chance, von den Mädchen zu lernen, wie man das eigene Lernen organisiert oder wie man eigene Interessen durchsetzen kann, ohne dabei die Interessen anderer zu ver- letzten. (Umgekehrt profitieren natürlich auch die Mädchen davon, wenn sie häufiger mit Jun- gen zusammenarbeiten, von denen sie Dinge lernen können, die in Mädchengruppen prakti- 22
2021 Kleid statt Hose – Geschlechtsdysphorie bei Jungen Häufiger als gedacht experimentieren Jun- gen im Vorschulalter meist vorübergehend mit der weiblichen Geschlechtsrolle. Dabei fallen diese Jungen in unserer Gesellschaft interessanterweise stärker auf als Mädchen, die sich jungenhaft benehmen. Bleibt es bei einer reinen Ablehnung einer typischen typisch sind, werden abgelehnt. Die Ablehnung Jungen-Rolle („Der 5-jährige Lars benimmt von körperlichen Geschlechtsmerkmalen (v. a. sich eher mädchenhaft“), so geht man Penis) kann so weit gehen, dass Kinder davon von einer medizinisch völlig irrelevanten sprechen, den Penis „weghaben“ zu wollen, Geschlechtervarianz aus. oder gar versuchen, diesen abzuschneiden. Die klinische Symptomatik ist individuell sehr varia- bel und stark vom Entwicklungsstand abhängig. Kommt aber der ausdrückliche Wunsch dazu, dem weiblichen Geschlecht anzugehören, und Wie reagieren die Mitmenschen? hält dies mindestens 6 Monate in allen Lebens bereichen (Familie, Kindergarten/Schule, Manchmal nehmen die Kinder die Symptomatik Freundeskreis) an, so besteht der Verdacht auf bei sich selbst gar nicht als störend wahr und zei- eine Geschlechtsdysphorie. Dieser Begriff gen nur wenig Leidensdruck, insbesondere ersetzt die veralteten Begriffe „Geschlechts- wenn das geschlechtsuntypische Verhalten von identitätsstörung“ oder „Transsexualismus“, der Familie und dem weiteren Umfeld akzeptiert die nicht mehr verwendet werden sollten. Die wird. Die Reaktionen der Eltern auf das unerwar Jungen bevorzugen dann das Tragen von weib- tete Verhalten reichen von Ablehnung und licher Kleidung, wünschen sich lange Haare, Bestrafung bis zur völligen Akzeptanz und gele- spielen überwiegend mit Mädchen und bevor- gentlich auch Überidentifikation mit dem zugen mädchentypische Farben und Spiel- Wunschgeschlecht des Kindes. Die Angst vor zeuge. In Fantasiespielen („Vater-Mutter-Kind- sozialer Ausgrenzung ihrer Kinder ist häufig eine Spiel“) oder beim Verkleiden werden gerne große Sorge von Eltern bei betroffenen Kindern. weibliche Rollen eingenommen (z. B. Prinzes- Das Finden und Aufrechterhalten von Freund- sin, Meerjungfrau). Oft werden Handtücher, schaften in Kindergarten und Grundschule kann Schürzen und Schals zur Imitation von langen für die Kinder auch deutlich erschwert sein, da Haaren verwendet. Spielzeuge, Spiele und Akti- sie oft irritierend auf Mitmenschen wirken (meist vitäten, die in unserer Gesellschaft für Jungen mehr auf Erwachsene als auf andere Kinder). 23
Praxisfieber Nimmt das zu? nen Körpergeschlecht. Dem Beginn des Bart- wuchses (ca. 14 Jahre) und dem Stimmbruch (ca. Die Geschlechtsdysphorie im Kindes- und 15 Jahre) wird mit großen Ängsten begegnet. In Jugendalter ist eine insgesamt seltene Entwick- Einzelfällen kann hier der Einsatz von puber- lungsauffälligkeit, die aktuell aber zunehmend tätshemmenden Medikamenten sehr entlas- diagnostiziert wird. Gründe dafür werden in tend sein. Diese Maßnahme ist vollständig einem größeren Problembewusstsein für Ge- reversibel und damit keine Entscheidung, die schlechtsidentitätskonflikte aller Altersstufen, in nicht zurückgenommen werden kann. Persis- der Informationsverbreitung durch das Inter- tiert dann die Geschlechtsdysphorie über die net, einer höheren medialen Berichterstattung frühe Jugendzeit hinaus (14–15 Jahre), kann bei und in der Verfügbarkeit neuer Behandlungs- manchen Patienten der Einsatz von geschlechts- konzepte gesehen. Von einem tatsächlichen An- angleichenden Hormonen sinnvoll sein. Wich- stieg der Häufigkeit ist eher nicht auszugehen. tig ist, dass die empfundene Geschlechtsrolle zuvor ausgiebig in einer Alltagserprobung Bleibt das dauerhaft so? sozial in allen Lebenslagen ausgelebt wird. Spä- testens dann suchen sich die Jugendlichen auch Die große Unsicherheit bei Familien besteht in einen Mädchennamen aus, mit dem sie dann der Frage, ob die weibliche Geschlechtsidentität unbedingt auch in Kliniken und Arztpraxen vom bei diesen Kindern lebenslang persistiert oder gesamten medizinischen Personal angespro- ob sich das Empfinden „auswächst“. Trotz aller chen werden sollten. Dafür ist keine rechtliche bisheriger Forschung kann diese Frage bislang Änderung des Vornamens notwendig. niemand beantworten. Bei vermutlich ca. 60 % dieser Kinder verändert sich das Empfinden der Wo gibt es Hilfe? weiblichen Geschlechtsrolle im Verlauf noch. Aufgrund dieser Unsicherheit sollten möglichst Aufgrund der Seltenheit des Phänomens fühlen alle Entwicklungswege für die Kinder offenge- sich Erzieher, Lehrer, aber auch medizinisches halten werden und bis nach dem Einsetzen der Personal oft im Umgang mit den Kindern und in Pubertät alle Maßnahmen vermieden werden, der Beratung überfordert. In Deutschland exis- die nicht wieder rückgängig zu machen sind. tieren mehrere medizinische Spezialsprechstun- Wichtig ist weiterhin, dass die Entwicklung den für Kinder und Jugendliche mit Geschlechts- einer Geschlechtsidentität weder durch Psy dysphorie. Eine möglichst frühzeitig beginnende chotherapie noch durch die Veränderung des Verlaufsdiagnostik der Kinder erleichtert die Erziehungsstils oder gar die Wegnahme von möglichen Indikationsstellungen für oder gegen Kleidungsstücken oder Spielzeug beeinflusst geschlechtsangleichende Maßnahmen im Ent- werden kann und soll. wicklungsverlauf. Viele Familien profitieren auch von der Vernetzung in Selbsthilfegruppen (z. B. Hilfe, meine Pubertät setzt ein! www.trans-kinder-netz.de; www.dgti.org). Wenn die Symptomatik bei Eintritt in die Puber- Das entscheidende Ziel, diesen Kindern über tät (meist mit ca. 12 Jahren) persistiert, erleben die Geschlechtsidentität hinaus eine möglichst die Kinder ein zunehmendes Leiden am eige- altersgerechte Entwicklung zu ermöglichen, darf nie aus dem Blick verloren werden. 24 Florian Daxer, Thomas Lempp
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