Praxisfieber - Jungen-gesundheit Sonderheft - DigitalOcean

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Praxisfieber - Jungen-gesundheit Sonderheft - DigitalOcean
2021

Praxisfieber
Magazin für Medizinische Fachangestellte
in der Kinder- und Jugendarztpraxis

                                           Foto: © diego cervo – stock.adobe.com

  Sonderheft
Jungen-
 gesundheit
Praxisfieber

    Inhalt

    Jungen – das (etwas) andere Geschlecht                                         4

    Was Jungen prägt – Testosteron und Co.                                         7

    Hurra, es ist ein Junge! Der Stress, ein „richtiger Mann“ zu werden            9

    Betreuung der Jungen bei J1 und J2 im Praxisalltag                            12

    HPV-Infektionen gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen
    und sind kein reines Frauenproblem!                                           15

    Let’s talk about sex                                                          18

    Denn sie wissen (nicht), was sie tun – Jungen in der Schule                   20

    Kleid statt Hose – Geschlechtsdysphorie bei Jungen                            23

    „Sie haben doch gesagt …“ – Basics der Jungenmedizin                          25

    Jungen, das starke Geschlecht? – Jungen als Opfer von Gewalt                  36

    Von Peer to Peer – Jungen, die Rudelwesen                                     38

    No risk, no fun? – Jungen und Risikoverhalten                                 40

                           Literaturangaben
                              bei den Verfassern

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die wegen der Corona-Pandemie ergriffenen           erfolgt, auch die Aufklärung zur HPV-Impfung
Lockdownmaßnahmen treffen Kinder und                eine Rolle. Seit 2018 empfiehlt die STIKO, neben
Jugend­ liche besonders hart. Im Januar 2021        den Mädchen auch die Jungen möglichst vor
zeigten statistische Erhebungen, dass ein Drittel   dem 18. Lebensjahr mit einer Impfung zu ver-
aller Kinder und Jugendlichen an psychischen        sorgen.
Störungen leidet. Im vorliegenden PRAXIS-
fieber-Sonderheft zum Thema Jungenmedizin           Über Sexualität reden, insbesondere mit Jungs,
beschäftigen wir uns deshalb unter anderem          fällt vielen Ärzt*innen, Pfleger*innen und MFA
auch mit der besonderen Situation von Jungen,       schwer. Ältere Mädchen und Frauen sind daran
die während der Pandemie wegen ihrer kleinen        gewöhnt, über Sexualität zu reden, Gynäko-
und größeren Besonderheiten noch einmal             log*innen erheben immer eine Sexualanam­
mehr als Mädchen zu leiden scheinen.                nese. Let’s talk about sex: Wie sprechen wir
                                                    das Thema an, ohne peinlich zu werden, und
Hormone, genetische und epigenetische Fak-          wie können wir die Jungen für das Thema sen-
toren, eine Kombination aus diesen und/oder         sibilisieren? Und wie reagieren wir, wenn sich
vielen anderen Bedingungen: Warum sich              zum Beispiel herausstellt, dass das genetische
Jungen so anders entwickeln als Mädchen, das        Geschlecht nicht zum Empfinden des eigenen
beleuchten wir auf den folgenden Seiten. Und        Körpers passt? Wenn es sich für einen jungen
wir werfen einen Blick darauf, wie Jungen in der    Menschen so anfühlt, als würde er im falschen
Kita und der Grundschule lernen und warum           Kleid oder der falschen Hose stecken, sind
sie dazu Männer brauchen – aber viel zu selten      schnell alle überfordert. Was wissen wir über
erleben. Auch in der kinder- und jugendärztli-      Geschlechtsdysphorie und was steckt hinter
chen Praxis und den Kinderkliniken begegnen         dem Begriff? Auch darum soll es in diesem
Jungen überwiegend Frauen: Ärztinnen, Pflege-       Sonderheft gehen.
rinnen und MFA – gut also, wenn alle die Basics
der Jungenmedizin beherrschen.                      Erlebte Gewalt und Missbrauch spielen im
                                                    Leben eines betroffenen Jungen eine gravie-
In der Praxis spielen in puncto Jungenmedizin       rende Rolle. Können Kinder und insbesondere
die beiden letzten Vorsorgeuntersuchungen J1        Jungen nach erlebter Gewalt „normal“ aufwach-
und J2 eine besonders wichtige Rolle. Neben         sen? Wie ist das Gruppen- und Risikoverhalten
der Überprüfung von Größe, Gewicht und              zu werten und wie finden sie ihre Rolle in der
Impfstatus geht es auch um die wichtigen The-       Gesellschaft? All diese Fragen beschäftigen uns
men Übergewicht, Sucht, Probleme im persön-         in diesem Sonderheft.
lichen und familiären Bereich und Sexualität.
Und – ein besonders sensibles Thema – darum,        Wir hoffen, dass Ihnen die Lektüre Freude berei-
wie sich der Jugendliche zur Erkennung von          tet und Sie dazu ermuntert, sich noch mehr mit
Erkrankungen des äußeren Genitales selbst           dem Thema Jungenmedizin zu befassen.
untersuchen kann. Dann spielt, falls noch nicht
                                                    Ihre Doris Schrage und Ralf Moebus

                                                                                                       3
Praxisfieber

    Jungen – das (etwas)
    andere Geschlecht
    Jungen (umgangssprachlich auch „Jungs“
    genannt) sind ...
    1. Menschen – sie haben eine individuelle
       Persönlichkeit.
    2. männlichen Geschlechts – dies wirkt sich
       auf den Körper, die Psyche und das Sozial-
       verhalten aus.
    3. in ihrer Kindheit oder Jugendphase, also
       in der Entwicklung. Sie sind noch nicht
       „fertig“. Diese Entwicklung ist an man-
       chen Stellen gleich der der Mädchen (be-
       sonders bis zur Pubertät), an vielen ­Stellen
       aber anders (besonders ab der Pubertät –        Die „Herausforderungen“,
       das „Erwachen der Männlichkeit“).               ein Junge zu werden, …

                                                       beginnen schon kurz nach der Zeugung in
    Jungen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre     der ganz frühen Embryonalphase. Schon in
    Eigenheiten erheblich, schon allein nach ihrem     der 8. bis 12. SSW entscheidet die auf dem
    Alter und ihrem Entwicklungsstand, dann aber       Y-Chromosom gelegene genetische Informa-
    auch nach elterlichen und gesellschaftlichen       tion der „sex-determining region“ (SRY) über
    Einflüssen, dem sozialen Milieu, in dem sie        die Aktivierung des testisdeterminierenden
    aufwachsen, nach ihren Aneignungsmöglich-          Faktors (TDI). Dies bedingt, dass sich aus den
    keiten und ihren gemachten Erfahrungen. Eine       undifferenzierten Gonaden die Hoden (Testes)
    „normale“, „standardisierte“ oder „natürliche“     entwickeln. Die von diesen produzierten An­dro­
    Entwicklung von Jungen gibt es dementspre-         gene, insbesondere das Testosteron, bewir-
    chend nicht. Eines ist aber sicher: Die Jungen     ken die weitere Differenzierung des inneren
    von heute sind die Männer von morgen. Wie          und äußeren männlichen Genitales sowie die
    sie das werden und wie sie dann sind – darauf      geschlechtstypische Gehirnentwicklung. Eine
    haben auch die Frauen von heute einen gro-         Störung dieses Ablaufes führt trotz Vorliegen
    ßen Einfluss. Das bezieht sich nicht nur auf die   des XY-Kerngeschlechts unweigerlich zur Ent-
    Mütter, sondern auf alle Frauen, die in mehr       wicklung eines weiblichen Organismus („Am
    oder weniger intensivem Kontakt zum Jungen         Anfang war die Frau“). Die geschlechtstypische
    stehen – also auch auf Sie als MFA.                Gehirnentwicklung, die schon zu einem so frü-

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hen Zeitpunkt der Embryogenese ihren Anfang         Die Inanspruchnahme von Früherkennungs-
nimmt, erklärt auch, wieso Jungen und Mäd-          untersuchungen und anderen medizinischen
chen von Anfang an Verhaltensbesonderheiten         Leistungen bis zur Pubertät sind bei Jungen
aufweisen, die auf die Geschlechtsstereotypen       und Mädchen annähernd gleich (insgesamt
hinweisen, wie sie später für Erwachsene ange-      geringer in Abhängigkeit von Sozialstatus und
nommen werden und auch empirisch belegt             Migrationshintergrund). Hingegen sind Unfall-
sind (neonatales Imprinting). Dies trägt auch       verletzungen bei Jungen signifikant höher als
entscheidend dazu bei, dass Mütter und Väter        bei Mädchen. Hier spielt das ausgeprägtere
mit ihren Söhnen schon im Säuglingsalter            Bewegungsverhalten – mit bedingt durch das
anders kommunizieren als mit ihren Töchtern.        Testosteron – wie auch die größere Experimen-
                                                    tier- und Risikofreude (starke soziokulturelle
Trotz einer erhöhten Anfälligkeit für Fehlbil-      Komponente) der Jungen eine entscheidende
dungen und Erkrankungen – schon ab der frü-         Rolle. Ab der Pubertät nehmen Jungen Bera-
hen Embryonalphase beginnend – kann zum             tungsangebote weniger in Anspruch. Aber wo
Glück gesagt werden: Die meisten Jungen sind        gibt es ab dann überhaupt spezifische Zustän-
gesund! Aber es gilt auch gleichermaßen, dass       digkeiten und Angebote? Während Mädchen ab
der Gesundheitszustand von Jungen teilweise         diesem Lebensabschnitt über eine geschlechts-
alarmierend ist: Viele Statistiken zu Krankheiten   spezifische Beratungs- und Betreuungsinstanz
werden von Jungen angeführt.                        verfügen (Gynäkologen), gibt es eine solche für
                                                    Jungen immer noch viel zu selten. Da, wo sie
Das Jungenbezogene der                              angeboten wird, wird sie mit großer Dankbar-
­Gesundheit …                                       keit angenommen („weil ich mich mal endlich
                                                    aussprechen kann“).
entsteht einerseits durch Männlichkeitsbilder,
die Jungen von Medien, Gleichaltrigen und           Jungen zeigen also nicht per se ein schlechte-
Erwachsenen vermittelt werden, andererseits         res Gesundheitsverhalten. Vielmehr bieten die
durch die körperlichen Spezifika des männli-        genetische Disposition, die traditionelle Leitbil­
chen Genitals und durch Wirkungen des Tes-          der und die psychosozialen Lebensumstände
tosterons, insbesondere ab dem Jugendalter          eine Gefahr, dieses zu entwickeln! Das Spezi-
(Adoleszenz).                                       fische, das Jungesein ausmacht, zu verstehen,
                                                    ist die Basis, um gesundheitsförderndes Ver-
Entgegen dem immer noch vorherrschenden             halten von Jungen zu unterstützen und ihnen
Meinungsbild in der Gesellschaft machen sich        eine gute Beratungs- und Betreuungsinstanz
Jungen durchaus Gedanken um ihre Gesund-            zu sein.
heit. Sie sind also keine beratungsresistenten
Gesundheitsidioten. Sie leben zwar im Durch-        Die Entwicklung der Jungen …
schnitt risikoreicher als Mädchen, aber riskan-
tes Verhalten wird gesellschaftlich gewünscht       und Mädchen verläuft im Laufe der Kindheit kör-
und als „männlich“ gefördert. Traditionelle         perlich annähernd gleich bezüglich Körper­bau,
Leitbilder von Männlichkeit verhindern eher ein     Muskelmasse, Fettgewebsverteilung, Größe und
positives Gesundheitsverhalten.                     Kraft. Erst in der Pubertät kommt es zu ent-

                                                                                                         5
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    scheidenden Entwicklungsunterschieden. Mit             Jungen entwickeln sich also auch
    dem Erwachen der Pubertät und der Beantwor-            anders als Mädchen – ...
    tung der Frage nach dem eigenen Ich stellt sich
    für Jungen auch die Frage nach der eigenen             vor allem geistig und sozial. Schon bei der
    Männlichkeit und der Verortung als sexuelles           Geburt sind Mädchen „reifer“ und haben bis
    Wesen. Ziel ist die Entwicklung hin zu einer –         zur Pubertät ca. 2 Jahre Entwicklungsvorsprung.
    möglichst im Einklang mit dem jeweiligen sozi-         Erst danach schließen die Jungen endgültig
    alen Umfeld stehenden und sozial verträglichen         auf. Die Entwicklung einer „eigenen Männlich-
    – individuellen und authentischen Männlich-            keit“ wird zur zentralen Entwicklungsaufgabe.
    keit (balancierte Männlichkeit). In den meisten        Jungen setzen einiges daran, diesen Auftrag
    Fällen ist spätestens ab der Geburt biologisch         zu erfüllen. Das viel zitierte gesundheitliche
    sichtbar, dass es ein Junge ist. Wie er sich psy-      Risikoverhalten, Körperästhetisierung (Tattoos
    chisch und sozial entwickeln wird, ist sehr stark      etc.), Gestaltung von Sexualität und reproduk-
    Umwelteinflüssen unterworfen. Den Ausschlag             tiver Gesundheit (Fortpflanzung) sowie Nut-
    für die psychosoziale Entwicklung und damit            zung und Gestaltung medialer Angebote sind
    auch für die neurobiologische Entwicklung              davon entscheidend geprägt. Die Entwicklung
    geben – so der aktuelle Stand der Diskussion           neuer Perspektiven des „modernisierten Mann-
    – weniger die Gene als vielmehr das Abschauen          seins“ ist stark durch Familie, Peers und Schule
    und Lernen von den Rollenvorbildern. Neben             beeinflusst. Für diese gilt es wiederum, die
    individuellen Einflüssen vermögen auch Andro-          widersprüchlichen Erwartungen an die Jungen
    gene (Geschlechtshormone/Testosteron), die zu          zu reflektieren – das „tägliche Jungs-Dilemma“
    einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind,             positiv aufzulösen (s. u.).
    bestimmte Verhaltensweisen dauerhaft zu prä-
    gen.                                                   Bernhard Stier

                   Ich soll:
                      mich durchsetzen.                            Doch ich soll auch
                                                                                      :
                                         n.
                       mich immer wehre                              rucksichtsvoll se
                                                                                        in.
                                         in.
                       moglichst cool se                              kein Raufbold sein
                                                                                           .
                                          ben.
                        gute Noten schrei                             Verstandnis aufb
                                                                                         ringen.
                                          fmerksam sein.
                        freundlich und au                              kein Streber sein
                                                                                          .
                                           hen.
                         keine Sorgen mac                              kein Weichei sein
                                                                                             .
                                           n.
                         keine Angst habe                               nicht zu angepa   ss    t sein.
                          Spa¤ vertragen.                               nicht leichtsinnig
                                                                                                sein.
                          tapfer sein.                                   meine Gefuhle ze
                                                                                               igen.
                                                                                                 sein.
                                                                         kein Draufganger

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Was Jungen prägt –
­Testosteron und Co.
Testosteron ist ein Sexualhormon (Andro-         Darüber hinaus sorgt es für die Spermienpro-
gen), das bei beiden Geschlechtern vor-          duktion und bewirkt die Reifung der Spermien.
kommt (wie auch die Östrogene), sich dabei       Auch die Gestalt und Größenzunahme von
aber in Konzentration und Wirkungsweise          Penis und Hoden sowie die Ausprägung der
bei Mann und Frau unterscheidet.                 sekundären Geschlechtsmerkmale (Bartwuchs
                                                 und typische Körperbehaarung) ist testoste-
                                                 ronabhängig. Bereits als Neugeborene haben
In den ersten Wochen ihrer Entwicklung sind      Jungen fast so viel Testosteron im Körper wie
Embryonen geschlechtlich noch undifferen-        erst wieder in der Vorpubertät. Nach kurzem
ziert. Sehr frühzeitig, nämlich in der 8. bis    Absinken hat sich der Testosteronspiegel im
12. Schwangerschaftswoche, kommt es, bei Vor­-   Alter von 4 Jahren fast verdoppelt. Dadurch
handensein der entsprechenden genetischen        werden Jungen aktiver, lauter, protziger, aber
Anlage, zur Steuerung der typischen Aus-         auch launischer. Ab ca. dem 5. Lebensjahr sinkt
bildung der primären Geschlechtsmerkmale         der Hormonspiegel, um dann in der Pubertät
(Penis, Hodensack mit Hoden und Nebenho-         sprunghaft deutlich anzusteigen. Bei Jungen
den, Samenleiter und Vorsteherdrüse) unter
dem Einfluss von Testosteron.

Bei Jungen (und Männern) wird das Testos-
teron vorwiegend im Hoden produziert, bei                           Bewegung
Mädchen (und Frauen) in deutlich niedrigerer                                       Wettbewerb
Konzentration in den Eierstöcken. Testosteron                                         und
hat, ebenso wie die Östrogene, verschiedene          Helden und                    Konkurrenz
Wirkungen auf diverse Organe. Insbesondere            Vorbilder          Was
ist es für das „männliche Aussehen“ (der männ-                        Jungen
liche Phänotyp) das wesentliche Hormon. Hier                           lieben
                                                                                   Rudelrituale
bewirkt es den Aufbau von Muskelmasse und               Regeln/
der Fettspeicher sowie die Stärkung des Stütz-         Hierarchien
systems aus Fett- und Bindegewebe. Auch für                              Heraus-
das Wachstum ist es maßgeblich verantwort-                            forderungen/
lich. Es bewirkt den männlichen Wachstums-
                                                                          Risiko
spurt in der Pubertät, der mit dem Schluss der
Wachstumsfugen endet.

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Praxisfieber

    erhöht sich der Testosteronspiegel vom 9. bis        Negativer Blick: Jungen sind ...
    zum 15. Lebensjahr um den Faktor 25, was zu          • unvernünftig.
    einem 3-mal stärkeren Sexualtrieb führt als bei
                                                         • hierarchieorientiert.
    gleichaltrigen Mädchen. Testosteron ist neben
                                                         • aggressiv.
    dem Oxytozin das wichtigste Bindungshormon
    beim Menschen. Zusammen sind sie „Team-              • zu waghalsig.
    player“ im Beeinflussen des Sozialverhaltens.        • zerstörerisch.
                                                         • unsozial und nervig.
    Nach wie vor geistert das eigentliche „Sozial-       • ...
    hormon“ Testosteron als Gewalt- und Aggres-
    sionshormon durch die Medien und hat sich,
                                                         Positiver Blick: Jungen sind ...
    obwohl längst widerlegt, so in den Köpfen der
    Menschen eingebrannt. Studienergebnissen             • risikobereit.
    zufolge scheint es Ehrlichkeit und prosozia-         • teamfähig.
    les Verhalten zu fördern, bei Männern wie bei        • konkurrenzfähig.
    Frauen. Testosteron steht im Dienst der Status-      • kreativ.
    sicherung. Nach wie vor weitestgehend unbe-          • neugierig.
    kannt ist, dass Testosteron sogar die Neigung
                                                         • lebendig und lebhaft.
    zu Lügen reduziert und eine wichtige Bedeu-
                                                         • ...
    tung bezüglich des sozialen Zusammenhalts
    hat. Jungen sind Rudelwesen und Testosteron
    ist ein Kitt für den sozialen Zusammenhalt.
                                                        Der beste Weg der Jungenförderung bis hin
    Studien zeigen immer wieder, dass Jungesein         zu einer balancierten Männlichkeit führt über
    deutlich mehr mit negativen Attributen assozi-      die Förderungen der Stärken des Jungen und
    iert ist als Mädchensein. Das zeigt sich schon im   seines Jungeseins. Das wird ihm helfen, seine
    Kindergarten und setzt sich in der Schule fort.     Schwächen auszugleichen.
    Ein neuer Blickwinkel auf Jungen kann helfen,
    die positiven Seiten des Jungeseins mehr in den     Bernhard Stier
    Fokus zu nehmen. Dazu folgende Beispiele:

     Jungen sind ...
     • Draufgänger.
     • Rudelwesen.
     • Raufbolde.
     • Schatzsucher.
     • Kaputtmacher.
     • Zappelphilippe.
     • ...

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2021

Hurra, es ist ein Junge!
Der Stress, ein „richtiger
Mann“ zu werden
„Ihre Männlichkeit ist für Jungen der Haupt-     weibliche Umfeld mit naturgegebenen Eigen-
stressfaktor im Leben. Das ständige Sich­        arten der Jungen schwertut. Jungen sind oft zu
beweisenmüssen gegenüber Gleichaltrigen,         wild, zu dominant und zu kämpferisch. Natür-
aber auch der schulische Rahmen an sich          lich – besser naturgegeben – sind sie so! Wir
belasten sie.“ Das stellen die Autoren des       wissen längst, dass das Testosteron das laterale,
Männergesundheitsberichts 2013 fest.             das „einseitig hirnige“ Denken fördert (Latera-
                                                 lisation des Denkens). In der Entwicklungsge-
                                                 schichte des Menschen hatte und hat dies eine
Gerade im Gesundheits- und Bildungssektor        wichtige Bedeutung. Männer sind dadurch
ist die Umgebung der Jungen sehr stark durch     primär schneller im Erfassen bestimmter Situa-
Frauen geprägt. Während meiner Praxistätig-      tionen (früher als Jäger überlebenswichtig). Das
keit gehörte es – leider! – zu den großen Aus-   geht aber auf Kosten der Genauigkeit. Frauen
nahmen, dass die Väter mit ihren Jungen die
Praxis aufsuchten. Für Fragen rund um das
Thema Gesundheit waren und sind die Müt-
ter zuständig. Hatte ich hin und wieder auch
mal einen Vater am Telefon, z. B. um Befunde
zu besprechen, so wurde – ehe ich überhaupt
dazu kam, Einspruch zu erheben – der Hörer
sofort an die Mutter des Jungen weitergege-
ben. „Der Doktor?! Ich gebe Ihnen mal meine
Frau.“ Und weg war er! Was lernen die Jun-
gen daraus? Alles, was mit Gesundheit zu tun
hat, ist die Domäne der Frauen – und ich als
„Mann“ habe damit nichts zu tun! Nicht viel
anders ist es im Bildungssektor – angefangen
schon im Kindergarten. Überall Frauen, von
Männern kaum eine Spur. Wer mal erlebt hat,
wie Jungen sich begeistert um einen Erzieher
scharen, spürt den Hunger, den Jungen nach
mehr Männlichkeit in ihrer Umgebung haben.
Untersuchungen zeigen deutlich, dass sich das

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Praxisfieber

     sind durch das primär mehr beidseitige Hirn-       wird, spielt eine wichtige Rolle. Gesellschaftli-
     hälften beschäftigende Denken zwar etwas           che Normen bezüglich Körperidealen werden
     langsamer, aber dafür genauer. Um nun dieses       über vielfältige Kanäle verbreitet: vom direk-
     „Handicap“ der Männer etwas auszugleichen,         ten Umfeld im Elternhaus, der Peer-Gruppe
     fördert das Testosteron die Bewegung. Schon        und Schule, den Massenmedien wie TV, Radio,
     im Mutterleib bewegen sich Jungen statistisch      Printmedien und Internet – insbesondere den
     gesehen mehr als Mädchen. Das setzt sich nach      sozialen Medien –, aber auch von Produkten
     der Geburt über das ganze Leben hinweg fort.       wie Spielzeug.
     Bewegung fördert bekanntlich das Denken und
     so könnte man etwas überspitzt sagen: Wer          Das Elternhaus …
     Jungen zum Stillsitzen verdammt, hindert sie
     am Denken. Jungen müssen sich also natur-          spielt eine große Rolle bezüglich der Vermitt-
     gegeben mehr bewegen als Mädchen. Hinter           lung von Normen und Grundhaltungen sowie
     so manchem ADHS steckt eigentlich nur ein          Verhaltensweisen. Die Eltern beeinflussen diese
     bewegungsfreudiger Junge. Und so wundert es        durch direkte und indirekte Kommunikation
     nicht, dass Jungen die Diagnose ADHS 4-mal         mit ihren Kindern in Bezug auf die verschiede-
     häufiger erhalten – nicht selten zu Unrecht, wie   nen Regeln, Sanktionen und Erwartungen. Sehr
     Studien zeigen konnten. Jungen haben zudem         deutlich wird dies z. B. im Hinblick auf die Ein-
     wenig Raum, über ihre Gefühle zu sprechen.         stellung zum Ausgehverhalten der Söhne bzw.
     Das betrifft vor allem auch ihre sexuelle Ent-     Töchter. Es ist nach wie vor unklar, ob dieser
     wicklung, die wesentlich stärker tabuisiert ist    Einfluss mehr durch geschlechtsspezifische
     als bei Mädchen. Das Gespräch der Mutter           Einstellungen, häusliche Arbeitsteilung und die
     über die erste Regelblutung ist zum Glück völlig   erlebte Familienstruktur vermittelt wird oder
     normal, doch welcher Vater spricht mit seinem      eher von der Haltung und Einstellung der Mut-
     Sohn über den ersten Samenerguss? Meist ist        ter bzw. des Vaters geprägt ist. Dabei sind enge
     es – wenn überhaupt – die Mutter, die dieses       Zusammenhänge zwischen Kommunikations-
     Thema zur Sprache bringt. Auch die Gleichalt-      stil innerhalb der Familie einerseits und dem
     rigen-Gruppe (Peer-Gruppe) fällt, im Gegensatz     Umgangsstil in erotischen Beziehungen ande-
     zu den Mädchen, aus, denn für Jungen wäre es       rerseits besonders augenfällig.
     absolut peinlich und ein No-Go, dieses Thema
     mit Freunden zu besprechen. Aber auch homo-        Die Peer-Gruppe …
     und bisexuelle Neigungen kommen selten zur
     Sprache. Dabei führt diese Verdrängung nicht       ist – besonders ab der Pubertät – geprägt durch
     selten zu Depressionen und sogar Suizidgedan-      häufige Rangeleien unter Jungen als tägliche
     ken. All das passt nicht zur „Männlichkeit“.       Verteidigung einer herausgeforderten Männ-
                                                        lichkeit. Entscheidend ist nicht so sehr, den
     In westlichen Gesellschaften werden Jungen         Wettbewerb zu gewinnen, sondern vielmehr,
     so sozialisiert, dass sie wahrnehmen, auf-         sich ihm zu stellen und ihn durchzustehen. Das
     grund ihrer körperlichen Fähigkeiten, Kraft und    bedarf einer andauernden Anstrengung, Junge-
     Sportlichkeit bewertet zu werden. Die indivi-      sein zu beweisen, vor allem aber zu vermeiden,
     duelle Wahrnehmung, wie der Körper bewertet        von den Gleichaltrigen mit Weiblichkeit, Weich-

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2021

heit oder Homosexualität (besonders ab der
                                                                      Eigene Entwicklung
Pubertät) in Verbindung gebracht zu werden.                          während der Pubertät
Mit den vielfältigen Wettbewerbsspielen in der                      (z. B. Behaarung, unge-
männlichen Peer-Gruppe wird ein wesentliches                            wollte Erektionen)
Merkmal von Männlichkeit eingeübt: die Wett-                                                Selbst-
                                                         Der ganze                       befriedigung
bewerbsorientierung.                                    emotionale
                                                          Bereich          Tabu-
Die Schule …                                                              themen
                                                                                               Homo-
ist die Bühne, auf der täglich das Schauspiel                                                 sexualität
„Wie bin ich ein richtiger Junge?“ ausprobiert             Ängste
und eingeübt wird. Sowohl die Kommunikation                                Überhaupt von
                                                                           sich selbst oder
mit dem Lehrpersonal als auch ihre gelebte                                 über die eigene
Männlichkeit (bzw. Weiblichkeit) beeinflusst                               Sexualität reden
die Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwick-
lung der Schüler und Schülerinnen. Ebenso tut
dies die schulische Sexualerziehung. Diskrimi-
nierungserfahrungen in der Schule verstärken       Vielfach erleben Jungen den Anspruch, ihre Männ­-
nicht selten die Hinwendung zur Demonstra-         lichkeit stets neu beweisen zu müssen. Demzu-
tion „echter Männlichkeit“ und führen ggf. zu      folge setzen sie einiges daran, diesen Anspruch
einer Art „aggressiver Kapitulation“.              zu erfüllen. Das Bedrückende dabei ist, dass
                                                   das individuelle und authentisch Männ­      liche
In einer Klassenkonstellation, die nach wie vor    bei Jungen damit untergraben und nicht selten
mehr durch Alters- denn durch Entwicklungs-        zugeschüttet wird. Der Psychotherapeut Björn
ähnlichkeiten geprägt ist, muss es in der frü-     Süfke hat über die zugeschütteten Männersee-
hen und mittleren Jugendphase zwangsläufig         len einen psychologischen Reiseführer ver­fasst:
zu Leistungsungleichheiten kommen. Die Jun-        „Die Schwierigkeit, eigene Gefühle wahrzuneh-
gen sind durch den späteren Pubertätseintritt      men, ist für viele Männer ein ernstzunehmen-
und den späteren körperlichen und geistigen        des Problem, welches aber keineswegs indivi-
Entwicklungsfortschritt benachteiligt. Diese       duell zu pathologisieren ist. Vielmehr kann der
Benachteiligung wird verstärkt durch ein Bil-      mangelnde Zugang zu eigenen Gefühlen als
dungssystem, welches in seiner Struktur den        Grundproblem der männlichen Iden­tität gene-
Eigenschaften früher Männlichkeitsentwick-         rell betrachtet werden.“ In der Arbeit mit Jun-
lung zuwiderläuft. Es ist für Jungen im Hinblick   gen ist es daher sehr wichtig, dass sie über ihre
auf ihre männliche Entwicklung schlichtweg         Gefühle zu sprechen üben, lernen, ihre eigenen
wenig attraktiv, gute Noten zu produzieren.        Grenzen und die anderer wahrzunehmen, und
Cool ist eher der Rückzug und „stille“ Protest.    zu akzeptieren, dass sie auch etwas nicht schaf-
Die Kompensation schlechterer schulischer          fen können, sie Angst haben dürfen und nicht
Leistungen kann – Stichwort demonstrierte          die Angst in Lust umwandeln müssen.
Männlichkeit – deutlich besser über sportliche
Aktivitäten erfolgen.                              Bernhard Stier

                                                                                                           11
Praxisfieber

     Betreuung der Jungen
     bei J1 und J2 im Praxisalltag
     In unserer kinder- und jugendärztlichen
     Praxis betreuen und beraten wir unsere Pati-
     enten rund um die Themen Vorsorge sowie
     körperliche und geistige Entwicklung.
     Jungen sind uns besonders wichtig.

     Das benachteiligte Geschlecht

     In den letzten 20 Jahren stand in Pädagogik und
     im Gesundheitswesen oft die Entwicklung und        Die Zahlen sprechen für sich: Bei Jungen wird
     Förderung der Mädchen im Vordergrund. Jun-         wesentlich häufiger ADHS diagnostiziert als bei
     gen und ihre besonderen Bedürfnisse gerieten       Mädchen. Störungen der zentral-auditiven Ver-
     dadurch ein wenig in den Hintergrund. Die          arbeitung sollen etwa doppelt so viele Jungen
     Interessen der Jungen liegen anders, ihre psy-     wie Mädchen haben. Auch bei den Kindern, die
     chische und physische Entwicklung vollzieht        eine Klasse wiederholen, ist die Quote der Jun-
     sich langsamer, sie sind dementsprechend           gen bereits in der Grundschule höher als die
     schüchterner. Verstärkt wird dies insbeson-        der Mädchen.
     dere, da viele Väter und/oder männliche Vor-
     bilder nicht verfügbar sind und weil Förderpro-    Erweiterte Vorsorge als
     gramme wie „Stark wie Pippi Langstrumpf“ für       ­Beziehungschance
     Jungen nicht angeboten werden. In ihrer priva-
     ten und schulischen Lebenswelt begegnen Jun-       Wir bestellen Säuglinge und Kleinkinder gerne
     gen hauptsächlich Frauen: Müttern, Erzieherin-     für den Vormittag ein, Jugendliche treffen sich
     nen und Lehrerinnen. Viele Lehrer und Erzieher     vorwiegend nachmittags bei uns. Reine Jungen-
     kommen mit typischem Jungenverhalten nicht         sprechstunden bieten wir nicht an, denn Warte-
     (mehr) klar. Ihr eher unangepasstes, „wilderes“,   zeiten vor einer Untersuchung oder nach einer
     risikofreudigeres Verhalten wird nicht als Res-    Hyposensibilisierung werden im Jugendwarte-
     source gesehen, sondern als Störung oder „Auf-     zimmer schon mal sehr kurzweilig. Das ist auch
     fälligkeit“.                                       für uns immer wieder nett mit anzusehen.

12
2021

Für unsere Praxis sind die erweiterten Vor-        gestellt und dient während des Arzt-Patien-
sorgen (U10–J2) wichtige Gelegenheiten, um         ten-Gesprächs als Gesprächsleitfaden. Die
den Kontakt zu den Heranwachsenden zu hal-         Erfahrung zeigt, dass wir über den Fragebogen
ten, zu festigen oder zu erneuern. Man kann        besser mit den Jugendlichen ins Gespräch kom-
beobachten, dass Jugendliche im Allgemeinen        men, z. B. in schwierigen Situationen oder bei
– und Jungen im Speziellen – immer häufiger        Konflikten.
neutrale Vertrauenspersonen brauchen, die sie
weder in ihrem Umfeld noch in der Familie          Weiterhin werden im Vorfeld der ärztlichen
finden. Unsere Praxis bemüht sich, ein solcher     Untersuchung Größe, Gewicht und RR gemes-
Ansprechpartner zu sein. Manchmal hat ein          sen, Hör- und Sehtest inkl. Lang/Stereo und
Besuch aus scheinbar banalem Grund einen           Ishihara-Tafel durchgeführt und eine Urinprobe
ernsten Hintergrund.                               untersucht.

An eine bevorstehende Vorsorgeuntersuchung         Bei uns erfolgt die J1 vorwiegend mit Arzt,
J1 erinnert bei uns das zuständige Gesundheits-    dokumentierender MFA und Patienten.
amt. Wir erinnern nicht aktiv. Die J1 hat sich
aber etabliert und wird gut angenommen. Irri-      Während der Vorsorge wird (bei uns von der
tierend ist, dass sie in (fast) keinem Vorsorge-   den Arzt begleitenden MFA) routinemäßig der
heft auftaucht und die Eltern keine Erinnerung     Impfstatus erhoben und geprüft. Ausstehende
im U-Heft bzw. hinterher keine Dokumentation       Impfungen werden angeboten, Risiken und
haben.                                             Wirkung besprochen. Oftmals entscheiden sich
                                                   die Jungen z. B. für eine HPV- oder Hepatitis-A-
Der Termin wird meistens durch die Erzie-          Impfung, selbst wenn die Eltern kritisch einge-
hungsberechtigten/Betreuungspersonen ver-          stellt sind. Neben den obligaten Untersuchun-
einbart.                                           gen der J1 (inkl. Untersuchung der Genitalien)
                                                   besteht hier die Gelegenheit und der zeitliche
Schon bei der Terminvergabe informiert das         Rahmen, in einer vertrauensvollen Atmosphäre
Praxisteam, dass die J1-Vorsorge auf Wunsch        zwischen Arzt und Patient alle Belange und
des Patienten mit oder ohne Begleitung der         Probleme des Jugendlichen anzusprechen
Eltern erfolgen kann, damit die Eltern darauf      und Lösungswege zu zeigen. Häufige Themen
vorbereitet sind.                                  betreffen die persönliche Entwicklung in Bezug
                                                   auf den gleichgeschlechtlichen Freundeskreis
Wenn der Jugendliche zur J1 kommt, ist er die      und/oder auf Mädchen, Sexualität, Konflikte im
Hauptperson und wird persönlich, noch vor der      sozialen Umfeld oder auch eventuellen Drogen-
Begleitperson, begrüßt.                            konsum. Diese Gespräche werden auf Wunsch
                                                   selbstverständlich auch ohne MFA geführt. Bei
Zur Überbrückung der Wartezeit bekommt             der körperlichen Untersuchung geht die MFA
der Jugendliche einen Fragebogen zur Anam-         immer raus, z. B. um Impfstoff zu holen.
nese-Erhebung. Dieser Fragebogen wird uns
durch die Firma Sanofi (MSD) zur Verfügung         Wir haben für jede von uns durchgeführte
                                                   Vorsorge Info-Päckchen vorbereitet. Bei der J1

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Praxisfieber

     geben wir den Jungen gerne unterschiedliche            Wir stehen den jungen Erwachsenen immer
     Infomaterialien mit: HPV-Impf-Flyer und Mate-          mit offenem Ohr und unserem gesamten Wis-
     rial der BZgA („In meiner Straße“ (derzeit ver-        sen zur Verfügung.
     griffen), „Wie geht’s – wie steht’s“, „Sex ’n’ tipps
     Jungenfragen“, „Sex ’n’ tipps Verhütung“, „Sex         Es ist für uns alle ein wirklicher Vertrauens-
     ’n’ tipps erste Liebe“, Infos über Alkohol „Wissen,    beweis, wenn diese mittlerweile erwachsenen
     was geht“, „Cocktails zum Selbermixen“). Frü-          ehemaligen Patienten als junge Eltern mit
     her haben wir auch den BVKJ-Flyer „Achte auf           ihren eigenen Kindern wieder zu uns finden –
     Deine Nüsse“ mitgegeben, dieses Thema findet           zu Besuch oder zur Behandlung.
     sich aber im Flyer „Wie geht’s – wie steht’s“ ab
     Seite 82 und wird aktiv angesprochen.                  Cordula Prisett

     Wenn die Eltern anwesend sind, werden sie
     zum Abschlussgespräch dazugeholt, dann
     geht es ausschließlich um eventuelle Folge-
     termine oder weitere Diagnostik. Im Vertrauen
     Besprochenes unterliegt selbstverständlich der
     Schweigepflicht.

     Ist das Vertrauensverhältnis bei der J1 erstmal
     erneuert und/oder aufgebaut, kommen die
     Jugendlichen gerne ohne Begleitung, z. B. im
     Krankheitsfall direkt von der Schule aus. Es
     bestätigt ihr Vertrauen in uns. Sie fühlen sich
     wahrgenommen und mit ihren persönlichen
     Anliegen ernst genommen. Unser Praxisteam
     begleitet die Jungen gerne auf diesem schwie-
     rigen Weg hin zum Erwachsenwerden.

     Die Abschlussuntersuchung – kurz vor dem 18.
     Geburtstag – ist die J2, die von einigen Kran-
     kenkassen übernommen wird. Hierzu laden wir
     aktiv ein, vor allem wenn die Jugendlichen län-
     gere Zeit nicht mehr bei uns waren. Der Ablauf
     ist der J1 sehr ähnlich.

     Die J2 ist für uns quasi die Abschlussuntersu-
     chung, bevor die jungen Erwachsenen meistens
     für mehrere Jahre ohne Bindung an eine Haus-
     arztpraxis sind. Wir schließen Impflücken.

14
2021

HPV-Infektionen gehören zu den
häufigsten sexuell übertragbaren
Infektionen und sind kein reines
Frauenproblem!
Infektionen mit HPV sind sowohl bei der            Schleimhaut kann das Virus in den Körper ein-
Frau als auch beim Mann sehr verbreitet. Es        dringen, vor allem über Intimhautkontakt.
wird davon ausgegangen, dass HPV-Infek-
tionen zu den häufigsten sexuell übertrag-         Krankheitsbild
baren Infektionen gehören.
                                                   Eine Infektion mit HPV bleibt anfangs häufig
                                                   unbemerkt, da sie zunächst oft beschwerde-
Was ist HPV?                                       frei verläuft. In den meisten Fällen heilt die
                                                   Infektion dank einer wirksamen Immunabwehr
Humane Papillomviren, abgekürzt HPV, zäh-          innerhalb etwa eines Jahres ohne gesundheit-
len zu den häufigsten durch Intimkontakte          liche Probleme wieder ab. Betroffene wissen
übertragenen Viren. Bisher sind mehr als 200       daher oft gar nicht, dass sie eine HPV-Infektion
Virustypen bekannt. Einige dieser Viren sind für   haben oder bereits hatten.
die Bildung von gutartigen Feigwarzen an den
Genitalien verantwortlich, andere Typen sind
maßgeblich an der Entstehung von Gebärmut-
terhalskrebs und weiteren Krebsarten an Vulva,
Vagina, Anus, im Mund-Rachen-Bereich oder
am Penis beteiligt.

Jährlich erkranken in Deutschland ca. 7.850
Frauen und Männer an HPV-bedingten Krebs-
arten.

Wie kann man sich anstecken?

Humane Papillomviren werden über direkten
Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen.
Über kleinste Verletzungen der Haut bzw.

                                                                                                      15
Praxisfieber

     Einige HPV-Typen können einige Wochen nach       Die HPV-Impfung kann einer Infektion mit
     der Ansteckung Genitalwarzen (auch Feigwar-      bestimmten HPV-Typen und bestimmten damit
     zen oder Kondylome genannt) auslösen. Geni-      assoziierten Erkrankungen vorbeugen.
     talwarzen sind die häufigste HPV-bedingte
     Erkrankung im äußeren Genitalbereich.            Die Kosten für die HPV-Impfung werden für
                                                      alle Kinder und Jugendlichen zwischen 9 und
     Bei einer anhaltenden Infektion mit bestimm-     17 Jahren von den gesetzlichen Krankenkassen
     ten krebsauslösenden HPV-Typen können            bezahlt und können über die Versichertenkarte
     sich bei einigen Menschen über viele Jahre       abgerechnet werden.
     bestimmte Krebsvorstufen oder Krebsarten
     entwickeln.

     Sollten sich Jungen gegen HPV                    Vielen Dank an die Firma
     ­impfen lassen?                                  MSD Sharp & Dohme GmbH,
                                                      die uns diesen Beitrag
     Jungen und Männer sind nicht nur potenzi-        zur Verfügung gestellt hat.
     elle Überträger des Erregers, sondern können
     genau wie Frauen an Genitalwarzen oder später
     an HPV-bedingten Krebsarten erkranken.

     Seit Juni 2018 empfiehlt die Ständige Impfkom-
     mission (STIKO) die HPV-Impfung für Jungen
     analog zu Mädchen im Alter von 9–14 Jahren
     (Nachholimpfung bis zum Alter von 17 Jahren).
     Die Empfehlung zur HPV-Impfung für Mäd-
     chen besteht bereits seit 2007.

     Erste Ergebnisse einer Datenbank-Analyse zeig-
     ten, dass die Anzahl der Jungen, die die erste
     HPV-Impfdosis erhalten haben, seit der Emp-
     fehlung durch die STIKO am Robert Koch-Ins-
     titut deutlich angestiegen ist: Mit etwas mehr
     als 51.000 ersten Impfdosen bis April 2019 lag
     die Anzahl auf vergleichbarem Niveau wie bei
     Mädchen.

16
2021

Innovation
hat man uns
eingeimpft:
Seit 1898.
Neben einer Vielzahl von Therapeutika erforschen und entwickeln wir seit
über 100 Jahren Impfstoffe. Diese können einen Schutz vor Erregern wie
zum Beispiel Masernviren, bestimmten Pneumokokken und Humanen
Papillomviren bieten. Und als einer der weltweit größten Impfstoffhersteller
arbeiten wir weiter an neuen Impfstoffen wie beispielsweise gegen das
                                                                               DE-NON-00110 05/19

Ebolavirus.

Erfahren Sie mehr auf: www.msd.de

                                                                               17
MSD SHARP & DOHME GMBH, Lindenplatz 1, 85540 Haar. www.msd.de
Praxisfieber

     Let’s talk about sex
     Den richtigen Zeitpunkt zum Gespräch über
     Sexualität mit Jungen zu finden, fällt nahezu
     allen Beteiligten schwer – Eltern, Leh-
     rer*innen, Medinischen Fachangestellten
     und Ärzt*innen. Die Distanziertheit zu „da
     unten“ bemerken wir schon bei der ersten
     Vorstellung bei der U3, wenn Mütter und
     Väter von Jungen besorgt nachfragen, wie
     „Schnäpperle“, „Schnippis“ und „Pillermän-
     ner“ denn richtig sauber gemacht würden,
     schließlich kenne man sich ja damit nicht
     wirklich gut aus und wolle auch nichts ver-
     kehrt machen. Die gesamte Kindheit wird
     von mehr oder weniger witzigen Bezeich-
     nungen des männlichen Genitales begleitet,
     bis dann im Rahmen der Pubertät aus dem
     Schnippi ein Penis wird.                         wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugend-
                                                      alter angesehen werden.

                                                      Aufklärung findet vornehmlich im privaten
     Spätestens wenn Jungen merken, dass mehr         Bereich und in der Schule statt. In den kin-
     als Urinlassen zu den Möglichkeiten des Penis    der- und jugendärztlichen Praxen geben wir
     gehört, werden auch Sorgen des Jugendlichen      oft schon bei den Vorsorgeuntersuchungen
     wach, ob denn nun alles in Ordnung ist mit       Broschüren mit, die BZgA hält eine Vielzahl
     dem Genitale. Andere Jungen sind vielleicht      von Aufklärungsmaterialien bereit, die genutzt
     schon weiter in der Pubertät fortgeschritten,    werden können. In der BZgA-eigenen Studie
     auch prahlen nicht wenige Jungen mit sexuellen   „Jugendsexualtität 2015“ zeigen die Autoren
     Erlebnissen. Sexuelle Neugierde und Masturba-    jedoch klar auf, dass die Broschüren von höchs-
     tion sind in Familien zumeist tabuisierte The-   tens 10 % der Jugendlichen genutzt werden.
     men, die dunkle Seite der Sexualität – sexuell   50 % der Jungen nutzen das Internet als Quelle
     übertragbare Erkrankungen (STD) – werden         mit weitem Abstand vor Büchern mit 18 %.
     beim Besuch in der Praxis viel eher angespro-    Gegenüber Mädchen eine geringere Akzeptanz
     chen als die Sorgen und Ängste in Zusammen-      besteht gegenüber Jugendzeitschriften mit
     hang mit gelingender sexueller Beziehungsauf-    30 % bei Jungen und 46 % bei Mädchen. Umso
     nahme zum bevorzugten Geschlecht. Die Auf-       wichtiger ist es für uns, in den kinder- und
     nahme von Partnerbeziehungen zum anderen         jugendärztlichen Praxen nicht nur Broschü-
     oder gleichen Geschlecht mit einer erotischen    ren weiterzugeben, sondern dabei auch wei-
     oder sexuellen Komponente muss als eine der      tere Informationen zu vermitteln. Das Internet

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2021

steckt voller Informationen, auf die alle Praxis-   Während des Besuches in der Arztpraxis erwar-
mitarbeiter*innen hinweisen können, es ist von      ten 10 % der Jungen Informationen zur Homo-
erheblicher Bedeutung, dass der Jugendliche         sexualität, 18 % zur Verhütung und je 30 % zu
bemerkt, dass Rückfragen nicht nur erlaubt,         Sexualpraktiken bzw. Geschlechtskrankheiten.
sondern ausdrücklich erwünscht sind. Dennoch        Auch wenn der seit Jahren anhaltende Trend
müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass         zur Verhütung beim ersten Verkehr ungebro-
wir in den Praxen für Jugendliche zu Fragen der     chen positiv ist, bleiben noch weiterhin Auf-
Sexualität nicht als bevorzugte Vertrauensper-      gaben bei der Beratung der Jungen in der
sonen wahrgenommen werden, ebenso wenig             Praxis. Kondome werden von 73 % der Erstver-
Lehrer*innen. Jungen vertrauen sich eher ihren      kehrer genutzt – auch wenn dieser Anteil hoch
Müttern als ihren Vätern an (41 % zu 19 %), was     erscheint, ist insbesondere die Anwendung
auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint,        noch zu oft fehlerhaft und das Wissen zum
jedoch aufgrund der in der Regel engen Mut-         rechtzeitigen Überziehen nicht allgemein ver-
ter-Jungen-Beziehung logisch ist. Die Haupt-        fügbar. Als Hauptgrund dafür, beim ersten Ver-
vertrauenspersonen der Jugendlichen beider          kehr nicht verhütet zu haben, geben Jungen an,
Geschlechter finden sich im eigenen Freun-          dass der Verkehr zu spontan beschlossen wurde.
deskreis. Trotz umfassender Möglichkeiten,          Informationen zu Geschlechtserkrankungen
sich zu informieren, bleiben Jugendliche mit        scheinen für die Jungen eine größere Rolle zu
ihren Fragen oft allein und sind auf den ersten     spielen. Entscheidend für das Gelingen einer
Samenerguss meist nicht wirklich vorbereitet.       Aufklärung ist auch, dass der Jugendliche nicht
Sexuelle Aufgeklärtheit nimmt mit der Schul-        den Eindruck gewinnt, dass mit jedem Verkehr
bildung zwar zu, dennoch ist es von heraus-         die Gefahr sexuell übertragbarer Erkrankungen
ragender Bedeutung, wie im Elternhaus mit           einhergeht.
dem Thema umgegangen wird. Tabuisierung
ist noch immer häufig, besonders in Familien        Für die gelingende Ärzt*innen-Patient*innen-
mit Migrationshintergrund.                          Beziehung ist es von herausragender Bedeu-
                                                    tung, dass eine vertrauensvolle Basis geschaffen
Während für Mädchen in der Sexualentwicklung        wird. Dies ist nicht erst beim Kontakt Ärzt*in/
kompetente ärztliche Gesprächspartner*innen         Patient*in der Fall, sondern beginnt mit der
in der Frauenheilkunde zur Verfügung ste-           Terminvereinbarung. Spezielle Sprechstunden
hen, die sich nahezu exklusiv mit dem weibli-       für Jugendliche, vielleicht sogar Jungensprech-
chen Geschlecht im Wortsinn befassen, gibt es       stunden, besondere Zeiten ohne anschließen-
keine Männerheilkunde. Die Urologie befasst         den Termindruck und jugendgerechtes Setting
sich erst im späteren Alter mit Sexualitätspro-     sind neben einer authentischen Ansprache
blemen wie zum Beispiel erektiler Dysfunktion,      wichtig. Der Jugendliche muss das Gefühl ver-
Kinderwunschbehandlung oder Kohabitations-          mittelt bekommen, in der Praxis willkommen
schwierigkeiten. Gerade die Kohabitation, der       zu sein und mit seinen Bedürfnissen angenom-
Geschlechtsverkehr, hat eine besondere Bedeu-       men zu werden, und motiviert werden, wieder-
tung bei unseren Jugendlichen, auch wenn das        zukommen, wenn er den Bedarf hat.
Alter zum Zeitpunkt des ersten Geschlechtsver-
kehrs seit einigen Jahren immer höher wird.         Ralf Moebus

                                                                                                       19
Praxisfieber

     Denn sie wissen (nicht), was
     sie tun – Jungen in der Schule
     Jungen werden häufiger von der Einschu-
     lung zurückgestellt, sie besuchen häufiger        20.000
                                                                  Mädchen
     eine Förderschule, sie verlassen die Schule       18.000
                                                                  Jungen
     häufiger ohne einen formalen Abschluss            16.000
     und erreichen seltener das Abitur als Mäd-        14.000
     chen. Einige dieser Geschlechtsunter-             12.000
     schiede werden für das Beispiel des Schul-
                                                       10.000
     jahres 2019 in Abbildung 1 veranschaulicht.
                                                        8.000
     Die Abbildung wurde auf der Grundlage der
     Angaben des Statistischen Bundesamtes              6.000

     (2021) erstellt. Die in der Abbildung deutlich     4.000
     werdenden Unterschiede sind nicht damit            2.000
     zu erklären, dass sich Mädchen und Jungen             0
                                                                  ohne       Hauptschul-    Mittlerer     (Fach-)
     in ihrer generellen Intelligenz unterschei-                Abschluss     abschluss     Schul­      Hochschul-
     den würden. Wodurch sind sie also dann zu                                             abschluss        reife

     erklären?
                                                      Jungen bekommen – gemessen an ihren fach-
                                                      lichen Leistungen – schlechtere Noten als Mäd-
                                                      chen. Das ist auch der Grund dafür, warum sie
                                                      nach der Grundschule seltener für das Gymna-
                                                      sium und häufiger für eine Schule mit gerin-
                                                      gerwertigen Abschlusszertifikaten empfohlen
                                                      werden. Ursachen für die schlechteren Noten
                                                      liegen wiederum darin, dass Jungen ein zu den
                                                      schulischen Anforderungen weniger passen-
                                                      des Sozialverhalten und eine geringere Kom-
                                                      petenz zum selbstgesteuerten Lernen zeigen.
                                                      So beschrieben Lehrkräfte in verschiedenen
                                                      Studien, dass Jungen weniger motiviert und
                                                      weniger gut organisiert in ihrem Arbeitsver-
                                                      halten als Mädchen seien und häufiger stören
                                                      oder aggressives Verhalten zeigen würden, was
                                                      die Lehrkräfte dann auch veranlasst, den Jun-
                                                      gen – bei gleicher Leistung – schlechtere Noten

20
2021

zu geben als den Mädchen. Kuhl und Hanno-         verhielten sich also Jungen gegenüber weniger
ver (2010) fanden z. B. heraus, dass die besse-   warm und gleichzeitig strenger, kontrollieren-
ren Noten, die Mädchen im Fach Deutsch in         der und stärker lenkend. Dieses Verhalten der
der 4. Klasse bekamen, dadurch erklärt werden     Lehrkräfte trägt möglicherweise dazu bei, dass
konnten, dass ihre Lehrkräfte ihnen eine höhere   Jungen in der Schule weniger motiviert mit-
Kompetenz bei der Steuerung und Organisa-         arbeiten. Denn geringe Wärme und Zuwen-
tion ihres eigenen Lernprozesses attestierten.    dung der Lehrkraft fördert die Motivation des
                                                  Kindes oder Jugendlichen genauso wenig wie
Auch die Mädchen und Jungen selbst beschrei-      eine überstarke Strenge und Kontrolle, durch
ben ihr Verhalten in der Schule als unter-        die Kinder und Jugendliche in ihrem Autono-
schiedlich. So stimmen Jungen z. B. Aussagen      mieerleben eingeschränkt werden.
wie „Ich lasse mich leicht ablenken“ oder „Ich
mache Dinge, die sich im Moment gut anfüh-        Was können Eltern und Lehrkräfte
len, die ich später aber bereue“ stärker zu als   tun?
Mädchen. Außerdem geben Jungen an, weni-
ger Zeit mit Hausaufgaben zu verbringen als       Wie kann die schulische Entwicklung von Jun-
Mädchen. Auch Eltern beschreiben ihre Söhne       gen günstig beeinflusst werden? Jungen brau-
als weniger selbstgesteuert und gut organisiert   chen Unterstützung darin, sich stärker selbst zu
in ihrem Lernverhalten als ihre Töchter. Ein      kontrollieren und zu regulieren. Selbstkontrolle
Mangel an Selbststeuerung geht nicht nur mit      umfasst die Fähigkeit, absichtsvoll die eigene
schlechten Schulnoten einher, sondern wird        Aufmerksamkeit zu steuern (z. B. sich nicht
auch für aggressives Problemverhalten ver-        durch eine Störung ablenken zu lassen) und
antwortlich gemacht, das bei Jungen häufiger      eigenes Verhalten so zu aktivieren oder auch
beobachtet wird als bei Mädchen: Hier wird ein    zu unterdrücken, dass selbst gesetzte Ziele
Ärgerimpuls spontan in Verhalten übersetzt,       erreicht werden können (z. B. sich selbst ver-
ohne eigene Ziele und mögliche Konsequenzen       anlassen können, eine unangenehme Aufgabe
abzuwägen.                                        zu erledigen, oder Ärger so regulieren können,
                                                  dass man nicht mit einer Aggression reagiert).
Die Unterschiede im Arbeits- und Sozialver-       Lehrkräfte und Eltern können Jungen zu mehr
halten haben nicht nur zur Folge, dass Jungen     Selbstkontrolle verhelfen, und zwar auf zweier-
schlechtere Noten und damit ungünstigere          lei Weise: Einerseits geht es bei Selbstkontrolle
Schulempfehlungen bekommen, sondern sie           darum, dass das Kind oder der Jugendliche sich
werden von den Lehrkräften auch anders            klarmacht, welches Ziel verfolgt werden soll.
behandelt als Mädchen. Hannover, Koeppen          Ziele sollten idealerweise selbst gesetzt und
und Kreutzmann (2021) baten Lehrkräfte, ihr       nicht von den Eltern oder Lehrkräften vorgege-
eigenes Verhalten gegenüber Schülerinnen und      ben werden. Und dann geht es darum, Jungen
Schülern auf verschiedenen Verhaltensfacetten     darin zu unterstützen, dass sie Handlungen
zu beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass      initiieren, durch die sie sich ihren Zielen annä-
Lehrerinnen und Lehrer sich gegenüber Jungen      hern, und kontinuierlich überprüfen, ob sie
stärker fordernd-streng, ermahnend und igno-      sich diesen Zielen annähern. Eine Form der
rierend verhielten als gegenüber Mädchen. Sie     Unterstützung kann darin bestehen, dass Jun-

                                                                                                      21
Praxisfieber

     gen üben, ihren aktuellen Wissens- oder Kom-       ziert geteilt werden – z. B. Umgang mit Alltags-
     petenzstand realistisch einzuschätzen. Weitere     technik, sportliches Engagement).
     Formen der Stützung von Selbstkontrolle stel-
     len individuelle Entwicklungsgespräche oder        Und schließlich müssen Jungen vor negativen
     Lerntagebücher dar. Jungen mit noch geringen       Stereotypen bewahrt werden, die möglicher-
     Selbststeuerungskompetenzen könnten von            weise mitverantwortlich sind für das andere
     solchen Maßnahmen nicht nur beim Lernen,           Verhalten, das Lehrkräfte ihnen gegenüber
     sondern auch durch ein stärker angepasstes         – im Vergleich zu Mädchen – zeigen. Kinder,
     Sozialverhalten profitieren, bei dem eigene        Jugendliche und Lehrkräfte haben gleicher-
     Bedürfnisse durch vorausschauende Abwägung         maßen Vorurteile, nach denen Jungen insbe-
     mit den Bedürfnissen anderer in Einklang           sondere in der Schule mehr stören und sich
     gebracht werden.                                   weniger angemessen verhalten würden. Selbst
                                                        wenn es zutreffen sollte, dass Jungen tatsäch-
     Eine weitere Unterstützungsmöglichkeit be-         lich ein weniger angepasstes Verhalten zeigen,
     steht darin, dass Interaktionen zwischen Mäd-      können solche negativen Erwartungen, die an
     chen und Jungen durch Eltern oder Lehrkräfte       sie gerichtet werden, genau dieses negative
     befördert werden. Im Vorschulalter beginnend       Verhalten begünstigen und wahrscheinlicher
     bis in die Pubertät hinein interagieren Jungen     machen. Lehrkräfte sollten sich also stets auf-
     und Mädchen, wenn sie die Wahl haben, sehr         merksam selbst beobachten, um sicherzu-
     viel häufiger mit Gleichaltrigen ihres eigenen     stellen, dass sie Jungen in gleichem Maße mit
     als mit Gleichaltrigen des anderen Geschlechts.    Zuwendung begegnen und ihnen im gleichen
     Über die miteinander verbrachte Zeit werden        Maße Autonomie gewähren, wie sie dies gegen-
     sich die Beteiligten immer ähnlicher, denn sie     über Mädchen tun.
     haben immer mehr gemeinsame Erfahrungen
     und damit typischerweise auch gemeinsames          Bettina Hannover
     Wissen, gemeinsame Interessen und Verhal-
     tensgewohnheiten. Dies bedeutet, Jungen kön-
     nen in ihrem Arbeits- und Sozialverhalten pro-
     fitieren, wenn sie in der Schule regelmäßig mit
     Mädchen zusammenarbeiten, die ihnen in die-
     sen Domänen meist überlegen sind. Solange
     Lehrkräfte nicht eingreifen, interagieren Jungen
     meist kaum mit ihren Mitschülerinnen, sie
     haben also keine Chance, von den Mädchen zu
     lernen, wie man das eigene Lernen organisiert
     oder wie man eigene Interessen durchsetzen
     kann, ohne dabei die Interessen anderer zu ver-
     letzten. (Umgekehrt profitieren natürlich auch
     die Mädchen davon, wenn sie häufiger mit Jun-
     gen zusammenarbeiten, von denen sie Dinge
     lernen können, die in Mädchengruppen prakti-

22
2021

Kleid statt Hose –
Geschlechtsdysphorie
bei Jungen
Häufiger als gedacht experimentieren Jun-
gen im Vorschulalter meist vorübergehend
mit der weiblichen Geschlechtsrolle. Dabei
fallen diese Jungen in unserer Gesellschaft
interessanterweise stärker auf als Mädchen,
die sich jungenhaft benehmen. Bleibt es
bei einer reinen Ablehnung einer typischen        typisch sind, werden abgelehnt. Die Ablehnung
Jungen-Rolle („Der 5-jährige Lars benimmt         von körperlichen Geschlechtsmerkmalen (v. a.
sich eher mädchenhaft“), so geht man              Penis) kann so weit gehen, dass Kinder davon
von einer medizinisch völlig irrelevanten         sprechen, den Penis „weghaben“ zu wollen,
Geschlechtervarianz aus.                          oder gar versuchen, diesen abzuschneiden. Die
                                                  klinische Symptomatik ist individuell sehr varia-
                                                  bel und stark vom Entwicklungsstand abhängig.
Kommt aber der ausdrückliche Wunsch dazu,
dem weiblichen Geschlecht anzuge­hören, und       Wie reagieren die Mitmenschen?
hält dies mindestens 6 Monate in allen Lebens­
bereichen      (Familie,  Kindergarten/Schule,    Manchmal nehmen die Kinder die Symptomatik
Freundeskreis) an, so besteht der Verdacht auf    bei sich selbst gar nicht als störend wahr und zei-
eine Geschlechtsdysphorie. Dieser Begriff         gen nur wenig Leidensdruck, insbesondere
ersetzt die veralteten Begriffe „Geschlechts-     wenn das geschlechtsuntypische Verhalten von
identitätsstörung“ oder „Transsexualismus“,       der Familie und dem weiteren Umfeld akzeptiert
die nicht mehr verwendet werden sollten. Die      wird. Die Reaktionen der Eltern auf das un­erwar­
Jungen bevorzugen dann das Tragen von weib-       tete Verhalten reichen von Ablehnung und
licher Kleidung, wünschen sich lange Haare,       Bestrafung bis zur völligen Akzeptanz und gele-
spielen überwiegend mit Mädchen und bevor-        gentlich auch Überidentifikation mit dem
zugen mädchentypische Farben und Spiel-           Wunschgeschlecht des Kindes. Die Angst vor
zeuge. In Fantasiespielen („Vater-Mutter-Kind-    so­zialer Ausgrenzung ihrer Kinder ist häufig eine
Spiel“) oder beim Verkleiden werden gerne         große Sorge von Eltern bei betroffenen Kindern.
weibliche Rollen eingenommen (z. B. Prinzes-      Das Finden und Aufrechterhalten von Freund-
sin, Meerjungfrau). Oft werden Handtücher,        schaften in Kindergarten und Grundschule kann
Schürzen und Schals zur Imitation von langen      für die Kinder auch deutlich er­schwert sein, da
Haaren verwendet. Spielzeuge, Spiele und Akti-    sie oft irritierend auf Mitmenschen wirken (meist
vitäten, die in unserer Gesellschaft für Jungen   mehr auf Erwachsene als auf andere Kinder).

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Praxisfieber

     Nimmt das zu?                                         nen Körpergeschlecht. Dem Beginn des Bart-
                                                           wuchses (ca. 14 Jahre) und dem Stimmbruch (ca.
     Die Geschlechtsdysphorie im Kindes- und               15 Jahre) wird mit großen Ängsten begegnet. In
     Ju­gendalter ist eine insgesamt seltene Entwick-      Einzelfällen kann hier der Einsatz von puber-
     lungsauffälligkeit, die aktuell aber zunehmend        tätshemmenden Medikamenten sehr entlas-
     diagnostiziert wird. Gründe dafür werden in           tend sein. Diese Maßnahme ist vollständig
     einem größeren Problembewusstsein für Ge-             reversibel und damit keine Entscheidung, die
     schlechtsidentitätskonflikte aller Altersstufen, in   nicht zurückgenommen werden kann. Persis-
     der Informationsverbreitung durch das Inter-          tiert dann die Geschlechtsdysphorie über die
     net, einer höheren medialen Berichterstattung         frühe Jugendzeit hinaus (14–15 Jahre), kann bei
     und in der Verfügbarkeit neuer Behandlungs-           manchen Patienten der Einsatz von geschlechts-
     konzepte gesehen. Von einem tatsächlichen An-         angleichenden Hormonen sinnvoll sein. Wich-
     stieg der Häufigkeit ist eher nicht auszugehen.       tig ist, dass die empfundene Geschlechtsrolle
                                                           zuvor ausgiebig in einer Alltagserprobung
     Bleibt das dauerhaft so?                              sozial in allen Lebenslagen ausgelebt wird. Spä-
                                                           testens dann suchen sich die Jugendlichen auch
     Die große Unsicherheit bei Familien besteht in        einen Mädchennamen aus, mit dem sie dann
     der Frage, ob die weibliche Geschlechtsidentität      unbedingt auch in Kliniken und Arztpraxen vom
     bei diesen Kindern lebenslang persistiert oder        gesamten medizinischen Personal angespro-
     ob sich das Empfinden „auswächst“. Trotz aller        chen werden sollten. Dafür ist keine rechtliche
     bisheriger Forschung kann diese Frage bislang         Änderung des Vornamens notwendig.
     niemand beantworten. Bei vermutlich ca. 60 %
     dieser Kinder verändert sich das Empfinden der        Wo gibt es Hilfe?
     weiblichen Geschlechtsrolle im Verlauf noch.
     Aufgrund dieser Unsicherheit sollten möglichst        Aufgrund der Seltenheit des Phänomens fühlen
     alle Entwicklungswege für die Kinder offenge-         sich Erzieher, Lehrer, aber auch medizinisches
     halten werden und bis nach dem Einsetzen der          Personal oft im Umgang mit den Kindern und in
     Pubertät alle Maßnahmen vermieden werden,             der Beratung überfordert. In Deutschland exis-
     die nicht wieder rückgängig zu machen sind.           tieren mehrere medizinische Spezialsprechstun-
     Wichtig ist weiterhin, dass die Entwicklung           den für Kinder und Jugendliche mit Geschlechts-
     einer Geschlechtsidentität weder durch Psy­           dysphorie. Eine möglichst frühzeitig beginnende
     chotherapie noch durch die Veränderung des            Verlaufsdiagnostik der Kinder erleichtert die
     Erziehungsstils oder gar die Wegnahme von             möglichen Indikationsstellungen für oder gegen
     Kleidungsstücken oder Spielzeug beeinflusst           geschlechtsangleichende Maßnahmen im Ent-
     ­werden kann und soll.                                wicklungsverlauf. Viele Familien profitieren auch
                                                           von der Vernetzung in Selbsthilfegruppen (z. B.
     Hilfe, meine Pubertät setzt ein!                      www.trans-kinder-netz.de; www.dgti.org).

     Wenn die Symptomatik bei Eintritt in die Puber-       Das entscheidende Ziel, diesen Kindern über
     tät (meist mit ca. 12 Jahren) persistiert, erleben    die Geschlechtsidentität hinaus eine möglichst
     die Kinder ein zunehmendes Leiden am eige-            altersgerechte Entwicklung zu ermöglichen,
                                                           darf nie aus dem Blick verloren werden.
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                                                           Florian Daxer, Thomas Lempp
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