EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Kirche & Kino

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Kirche & Kino
C 21134                                          März 2022 | 3

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                           ZEITFRAGEN
                                           UND KIRCHE IN
                                           NORDDEUTSCHLAND

Kirche & Kino
Ambivalenzen der   Bilder des Altwerdens   Opfer und Erlösung.
Wirklichkeit –     und Impressionen        „Mein Name ist Bond,
„Das Kino lebt!“   von der Berlinale       James Bond.“
EVANGELISCHE
                       STIMMEN

                     INHALT

                     3         Editorial
                               Friedrich Brandi
                                                                                                           47
                     6	
                       Ambivalenzen der
                               Wirklichkeit
                               Dietmar Adler                          43        „Ins Kino gegangen,
                                                                                geweint.“ (Kafka)
                     10        Operation am offenen 		                          Hans-Jürgen Benedict
                               Herzen
                               Inge Kirsner                           47        Jim Jarmusch, Paterson
                                                                                Karsten Visarius
                     16        Eine Evangelische
                               Stimme                                 51        Ausschau nach Trost
                               Hans-Martin Gutmann                              Matthias Kaiser

                     18        Kino als gelebte Religion              53        Das letzte Wort
                               Jörg Herrmann
                                                                      54        Vorschau
                     23        Opfer und Erlösung
                               Hans-Martin Gutmann

                     31        „Das Kino lebt!“
                               Dietmar Adler

                     37        Ort der Sehnsucht
                               Linde Fröhlich

                     39	Bilder des Altwerdens
                               im Film
                               Hans J. Wulff

Titelbild: Die Kirche im hessischen Witzenhausen-Hundelshausen   Foto: epd-bild/Christian Schaefer

                                                                                 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   5
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            Der Lieblingsfilm? Oft der, den ich gerade gesehen habe. Allerdings
            gibt es für mich einen, der alle je gesehenen Filme überstrahlt: Or-
            phée von Jean Cocteau. Kein anderer Film hat die Dimension des
            irdischen Lebens so schön und poetisch transzendiert, wie dieses
            Schwarz-Weiß-Meisterwerk von 1950. Wenn der wunderbare Jean
            Marais als Orpheus durch den Spiegel in die jenseitige Welt eintritt,
            dann versteht man 1. Kor 13,12 noch einmal neu. („Wir sehen jetzt
            durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht
            zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich er-
            kennen, gleichwie ich erkannt bin.“) Und dazu das betörend schöne
            Flötensolo aus C.W.Glucks gleichnamiger Oper. Cinema at its best.

            Aber das Kino ist nicht nur tiefsinnig, es dient oft genug der Volksbe-
            ruhigung. Oder auch der Propaganda. Der große Filmtheoretiker und
            Journalist Rudolf Arnheim schrieb schon 1930 von einem „Bilderkul-
FRIEDRICH   tus, der sich inzwischen zu einer geistigen Epidemie ausgewachsen
 BRANDI     hat. Überall, wo früher Worte, das heißt Gedanken gestanden hatten,
            gab man nun die rohe, sinnlose Anschauung.“

            Doch es kommt nicht von ungefähr, dass sich die kirchliche Filmar-
            beit in der jungen Bundesrepublik etablieren konnte. Denn von den
            „Ambivalenzen der Wirklichkeit“ (Dietmar Adler) weiß man sowohl in
            der Kirche als auch im Kino: Himmel und Hölle, Tod und Leben, Ei-
            fersucht, Hass und Liebe, Verrat und Verlust, Krieg und Frieden sowie
            das unstillbare menschliche Verlangen, wie Gott sein zu wollen – das
            sind die Themen großer Filme. Und die der Kirche. Deswegen fahren,
            salopp gesagt, Theologen auch so aufs Kino ab.

            Mich haben die Beiträge dieses Heftes angeregt, und ich hoffe, dass
            es Ihnen ähnlich gehen wird, wenn Sie bei Siegfried Kracauer ange-
            kommen sind. Ich wünsche ich eine erhellende Lektüre, Ihr

            www.evangelische-stimmen.de

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THEMA

Ambivalenzen der Wirklichkeit
Filmfestivals und kirchliche Filmarbeit

R
       ike ist taff. Als Notärztin hat                                 Film des Monats der Jury der Evan-
       sie alles im Griff. Und für                                     gelischen Filmarbeit.1
       ihren Segeltörn, ausgehend
von Gibraltar, klappt alles, vom                                       Filmfestivals
Einkauf über das Verstauen der                                         Ökumenische Jury? Ja, bei be-
Lebensmittel auf der Elf-Meter-                                        deutenderen Filmfestivals gibt es
Yacht bis zur ausgefeilten Technik.                                    kirchliche Jurys, und das schon seit
Tausende von Seemeilen in den At-                                      den 1950er- / 60er-Jahren, zunächst
lantik hinein geht Rikes Ein-Frau-                                     konfessionell getrennt, später dann
Törn. Es sind eindrückliche Bil-                                       seit den 1970er-Jahren ökume-
                                                   Dietmar
der, die der Film STYX uns zeigt:                                      nisch. Bei zwei Dokumentarfesti-
                                                    Adler
die starke, kontrollierte Frau und                                     vals konnten inzwischen sogar in-
                                            ist Gemeindepastor
das Meer. Ein Sturm kommt auf,                                         terreligiöse Jurys etabliert werden.
                                          in Bad Münder sowie
das fordert die Skipperin und das                                      Diese Jurys zählen zu den „Unab-
                                           Jury-Koordinator und
Boot. Aber sie meistern es. Rike                                       hängigen Jurys“ und genießen bei
                                           Vorstandmitglied bei
träumt sich an das Ziel ihrer Fahrt:                                   den Festivals ein bemerkenswert
                                                 INTERFILM.
Urwald-Inseln mitten im Atlantik,                                      hohes Ansehen. Nominiert wer-
ein Paradies.                                                          den sie von den kirchlichen Fil-
   Als alles wieder ruhig ist, da ge-                                  morganisationen SIGNIS (für die
schieht etwas: Sie entdeckt ein Boot, voll mit            katholischen Juror*innen) und INTERFILM
Menschen. Manche springen ins Wasser. Ein                 (für die protestantischen, anglikanischen und
Junge schwimmt heran, sie hilft ihm an Bord.              orthodoxen). Die drei- bis sechsköpfigen Jurys
Es ist Kingsley, etwa 14 Jahre alt, erschöpft, ver-       schauen zumeist die Internationalen Wettbe-
zweifelt.                                                 werbsprogramme der Festivals, beraten sich un-
   Rike fragt nicht nach dem Woher und Wo-                abhängig von Einflussnahme durch irgendeine
hin. Die Menschen sind in Gefahr. Sie funkt die           Seite und vergeben dann einen oder mehrere
Küstenwache an. Diese sagen Hilfe zu, raten ihr           Preise.
aber selbst, sich von dem Boot zu entfernen.                 Nach welchen Kriterien prämieren sie die
Nichts geschieht, stundenlang. Angefunkte                 Filme? Es geht nicht um einen ausdrücklichen
Schiffe ziehen weiter. Das Schicksal der Men-             religiösen Bezug. Ein Festivalleiter sprach es bei
schen in Seenot scheint niemanden zu interes-             einem Ökumenischen Empfang aus: Preisträ-
sieren.                                                   gerfilme der kirchlichen Jurys seien meist seine
   Der Film STYX des Regisseurs Wolfgang                  persönlichen Lieblingsfilme, aber sie zeichne-
Fischer wurde bei der Berlinale 2018 uraufge-             ten sich nicht etwa dadurch aus, dass da „ein
führt, die Hauptrollen spielen Susanne Wolff              kleiner Jesus durchs Bild flattert“. Die Filme
und Gedion Wekesa Oduor. In Berlin gewann                 brauchen keinen explizit christlichen Bezug,
er auch den Preis der Ökumenischen Jury in                um in Betracht zu kommen. Die Kriterien, auf
der Sektion Panorama. Später wurde er auch                die sich die kirchlichen Jurys beziehen, sehen

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THEMA

zum einen eine hohe künstlerische Qualität                    Kritiker*innen, Pädagog*innen. Gerade die
vor. Zum anderen werden Filme ausgezeichnet,                  verschiedenen Perspektiven auf einen Film ma-
die in besonderer Weise Menschenwürde und                     chen eine gute Jury-Arbeit aus. Dennoch sind
Menschenrechtsfragen sowie christliche Werte                  viele Jury-Entscheidungen recht einmütig.
thematisieren. Ferner werden Filme ausgezeich-                   Zur kirchlichen Präsenz auf Filmfestivals
net, die die Zuschauenden für transzendente                   gehören bei vielen Festivals auch Ökumeni-
Dimensionen des Lebens sensibilisieren.                       sche Filmempfänge. Begegnung und Austausch
   Praktisch sieht eine Jury-Arbeit aber nun                  zwischen Film-sensiblen Menschen aus den Kir-
nicht so aus, dass mit einem Katalog mit Krite-               chen und Filmschaffenden, Kritiker*innen und
rien zum Abhaken gearbeitet würde. Ein Film                   Festivalleuten eröffnen allen immer wieder
muss einen schon packen, in Bann ziehen und                   neue Perspektiven.
begeistern, wenn man ihm einen Preis verlei-                     Ein Film wie STYX ist ein gutes Beispiel ge-
hen will. Wichtig ist der Austausch über die                  rade für die Sensibilisierung der Rezipierenden
Filme, oft findet ein Ringen in den Jurys statt.              durch einen Film. Er zieht in Bann, aber er kon-
Diese sind international besetzt, die Juror*in-               frontiert uns zugleich mit Fragen der Humani-
nen kommen aus verschiedenen Berufen, da                      tät. Mit seiner fiktiven Geschichte zeigt und fo-
sind Theolog*innen dabei, Filmschaffende,                     kussiert er, was täglich passiert, wenn Menschen

Rike (Susanne Wolff) kann nicht ausweichen – sie muss sich der Herausforderung stellen und den Flüchtling aufneh-
men, ob sie will oder nicht. Selbst im Urlaub.                                                Foto: Schiwago-Film GmbH

                                                                                    EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022    7
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„Mayday, Mayday“ – was als Urlaubsevent geplant war, entwickelt sich zu einem Abenteuer existentieller Art. Bestimm-
ten Forderungen im Leben lässt sich eben nicht ausweichen.                                      Foto: Schiwago-Fim GmbH

sich über die Meere auf die Flucht machen. Aus                 nicht-kommerzielle Vorführung zu entleihen.
dem Film vernehme ich die Frage, was ich denn                     Bei der Auswahl der Filmpreise auf einem
getan hätte, wäre mir dieser Junge und dieses                  Festival oder der Arbeit der Jury für den „Film
Schiff voller Geflüchteter begegnet. Und uni-                  des Monats“ geht es zunächst nicht um eine
versalisiert höre ich die Frage nach unserer Ver-              „Verwertbarkeit“ in didaktischen Zusammen-
antwortung in den europäischen Gesellschaf-                    hängen. Sich von den Empfehlungen kirchlicher
ten für Menschen, die sich unter Lebensgefahr                  Film-Jurys für die eigene Film-Rezeption inspi-
auf den Weg machen. Ein Thema, von dem ich                     rieren zu lassen, tut wachen Christenmenschen
in den Nachrichten höre, kommt mir auf der                     auch ohne Verwertungsabsicht gut. Viele dieser
Leinwand mit einem Mal sehr nah. Bei STYX                      Filme fordern heraus, erweitern Horizonte, ins-
in einem Spielfilm, den man trotz der Weite des                pirieren: Sie können als persönlichkeitsbildend
Meeres auch als Kammerspiel verstehen kann.                    erlebt werden. Zu einer zeitgenössischen christ-
   Aber auch zwei ebenfalls von der kirchlichen                lichen Existenz gehört die Bereitschaft, sensibel
Filmarbeit ausgezeichnete Dokumentarfilme                      für die Ambivalenzen der Wirklichkeit und die
zum gleichen Themenbereich „Seenotrettung                      Fragen und Zweifel der Mitmenschen zu sein.
Geflüchteter“ berühren und zwingen zur Aus-                    Die Begegnung mit Filmen bereichert Men-
einandersetzung: SEEFEUER (Gianfranco Rosi,                    schen – gerade wenn sie irritieren.
2016), der die Menschen auf der Mittelmeerin-
sel Lampedusa zeigt, und ELDORADO (Markus                      Kirchliche Filmarbeit
Imhoof, 2018), der den Weg Geflüchteter von                    Gleichwohl gibt es aus der kirchlichen Juryar-
der Rettung nach Mitteleuropa verfolgt, dabei                  beit heraus auch Empfehlungen für die kirch-
aber einen sehr persönlichen Zugang des Regis-                 lichen Medienzentralen für den nicht-kommer-
seurs wählt. Alle drei genannten Filme sind üb-                ziellen Verleih. Diese Verleihmöglichkeiten
rigens über kirchliche Medienzentralen für die                 bilden die Grundlage für die kirchliche Filmar-

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THEMA

beit, die vor Ort höchst lebendig ist. So gibt es in   Motive im Film, mal die Gestaltung von Film-
vielen Kirchengemeinden Filmclubarbeit, auch           gottesdiensten mit höchst weltlich daherkom-
Kooperationen mit Kinos.2                              menden Filmen. Hinzu kommen Filmveran-
   Die Corona-Zeit zeigt: Natürlich kann man           staltungen in Kooperation mit Kinos, aber auch
auch qualitativ hochwertige Medien zu Hause            Fortbildungsveranstaltungen in Kooperation
streamend konsumieren, und Streamingdiens-             mit anderen. Zwischendurch gibt es Newsletter
te bieten inzwischen auch Filme, die bei Festi-        mit Hinweisen zum Themenbereich Film und
vals ausgezeichnet werden. Aber es gibt eben           Religion.
doch eine Sehnsucht nach dem gemeinsamen                  2021 wurde zusätzlich ein eigener Verein
Filmerlebnis auf einer Leinwand in einem an-           „INTERFILM Deutschland“ gegründet, auch er
sonsten dunklen Saal. Filmeinführungen und             dient in erster Linie der Vernetzung der kirch-
Filmgespräche, in denen ich meine Filmerfah-           lichen Filmarbeitenden – nun auf nationaler
rungen mit denen anderer in Beziehung setzen           Ebene: untereinander und mit der internatio-
kann, sind ein Merkmal kirchlicher Filmarbeit.         nal arbeitenden Organisation INTERFILM.
In den Schulen bieten Kurz-, Dokumentar- und
Spielfilme Medien, die immer wieder heraus-            Links
fordern und unterrichtliche Prozesse in Gang           •		 Interfilm: www.inter-film.org
setzen. In der Jugendarbeit, der Erwachsenen-          •		 Film des Monats: www.film-des-monats.de
bildung und in der Seniorenarbeit werden sie           •		 Haus Kirchlicher Dienste Hannover:
ebenfalls eingesetzt. Für viele Pädagog*innen,         •		 www.kunstinfo.net/film
Gruppenleiter*innen und Diakon*innen und               •		 www.medienzentralen.de
Pastor*innen ist das Medium Film aus ihrer
Praxis nicht mehr wegzudenken. Und auch der            Q    Anmerkungen
Film STYX ist für den Einsatz in Schule und Er-        (1)	Vgl. Adler, Dietmar: Mit einer jungen Frau unterwegs nach
                                                            New York. www.feinschwarz.net/mit-einer-jungen-frau-un-
wachsenenbildung geeignet.3                                 terwegs-nach-new-york (Abruf 12.5.21).
                                                       (2)	Vgl. den Beitrag „Das Projekt „Kirchen und Kino“ Pelikan
Arbeitskreis Kirche und Film                                02/2021, S. 23.
Um den Graben zwischen kirchlicher Filmar-             (3)	Weiterführendes Material zum Film von Gundi Doppel-
                                                            hammer: www.kunstinfo.net/film/filmbesprechungen
beit auf internationaler Ebene und der Praxis
in Schule, Gemeinde und Kultur- und Bildungs-
arbeit vor Ort zu schließen, wurde 2002 in der         Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Loccumer
Landeskirche Hannover der „Arbeitskreis Kir-           Pelikan 02/2021, der Zeitschrift des rpi der Han-
che und Film“ gegründet, der mit dem Arbeits-          noverschen Kirche.
bereich Kunst und Kultur im Haus kirchlicher
Dienste Hannover verbunden ist.                        DietmarAdler@aol.com
   Angesprochen sind natürlich Multiplika-
tor*innen (Schule, Gemeinde, Kultur, Bildung),
aber auch überhaupt Menschen, die sich für
den Film interessieren und eine Beziehung zur
Kirche haben. Es geht um Impulse, aber auch
um Vernetzung und Austausch untereinander.
Bei den ein bis zwei Treffen im Jahr werden die
unterschiedlichsten Themen behandelt: Mal
geht es um die Reformation im Film, mal um
die Darstellung von Lebensentwürfen im Film.
Mal ist es die dezidierte Darstellung religiöser

                                                                              EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022        9
THEMA

„Ins Kino gegangen, geweint“
Filmerfahrungen eines langen Lebens

E
      inmal im Monat musste ich                                    der Sternbrücke, aus dem ich ganz
      am Sonntagvormittag nicht                                    anders herauskam als aus dem
      ins den Kindergottesdienst                                   Kirchsaal der Melanchthonkirche
gehen, sondern durfte mit der Li-                                  – auf seltsame Weise benommen
nie 11 zur Sternbrücke in Ham-                                     und im Lebensgefühl gesteigert
burg-Altona fahren. Meine Tante                                    von dieser phantastischen Welt der
Tutti (Ottilie) betrieb dort mit                                   bewegten Bilder und dramatischen
ihrem Mann eine Gastwirtschaft,                                    Abenteuer. Kinofilme aus der Pers-
in deren Saal um 11 Uhr Filme                                      pektive der Kleinen, der Unschein-
gezeigt wurden. Ich hatte freien                                   baren und Verlierer, der Leiden-
                                           Dr. Hans-Jürgen
Eintritt und sah in Tante Tuttis                                   den und Unterdrückten tauchten
                                               Benedict
Kneipe meine ersten Zorro- und                                     erst später auf. Selbst klein und oft
                                         Theologe und Publizist
Tarzan-Filme. Zwei Szenen aus                                      gedemütigt, interessierten mich
                                             aus Hamburg
den Abenteuern des schwarzge-                                      vor allem die Helden und Sieger.
kleideten maskierten Rächers                                          Filmtheater, Kino-Orte – in
sind mir besonders in Erinnerung                                   meiner unmittelbaren Umgebung,
geblieben. Zorro im Gebirge, ver-                                  das heißt in einem Umkreis von
folgt von einer Übermacht: er kommt an eine           drei Kilometern, gab es vier Kinos. Eins davon
Felsenkluft, zügelt sein Pferd, lässt es erneut       war das stadtbekannte Liliencron-Filmkunst-
Anlauf nehmen und überwindet mit einem ge-            theater. 200 Meter von diesem entfernt wur-
waltigen Satz die Schlucht. Die Verfolger wagen       de Mitte der fünfziger Jahre ein Kino für den
das nicht. Und die zweite Szene: Zorro gefangen       breiten Publikumsgeschmack gebaut. Dann
in einem dunklen Verließ, dessen eine mobile          gab es eines in der belebten Waitzstraße, das
Wand sich unaufhaltsam auf ihn zu bewegt und          Floki, und eines in Bahrenfeld. Wir konnten
ihn zu zerquetschen droht. In letzter Sekunde         als Jugendliche, wenn das Taschengeld reichte,
kann er einen Stein aus dem Boden lösen und           uns unterschiedliche Filme an verschiedenen
mit ihm als Sperre die tödliche Bedrohung auf-        Kinoorten anzuschauen. Besonders aufregend
halten.                                               war der Versuch, in nicht jugendfreie Filme zu
    Zwei Szenen wie aus Alpträumen, aber mit          kommen. Ich mit meinem Milchgesicht traute
glücklichem Ausgang. Der gewaltige Sprung             mich in der Regel nicht. Aber als der Film Nana
des Pferdes als herrliches Bild der Rettung ging      (mit Martine Carol und Charles Boyer) nach
mir nicht mehr aus dem Sinn und wirkte über-          dem gleichnamigen Roman von Emile Zola
zeugender als das Kindergottesdienstbildchen          gezeigt wurde, in dem es angeblich einen nack-
vom demütigen Messias auf dem Esel. Das Kino          ten Busen zu sehen gab, fasste ich mir ein Herz
mit seiner Fähigkeit, in bewegten Bildern un-         und gelangte auch tatsächlich ins Kino an der
geheuer spannende Geschichten zu erzählen,            Waitzstraße. An den Film habe ich weiter keine
hatte mich in seinen Bann geschlagen – in der         Erinnerungen, aber durchaus noch an den Ort,
stickigen Luft des provisorischen Kinosaals an        an dem ich diese Überschreitung eines Verbots

                                                                         EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   43
THEMA

wagte. Als ich den Film jetzt auf ARTE wieder-     kung Lars von Trier mit Breaking the waves und
sah, sah ich zwar gewagte Dekolletees der um-      Melancholia.
werfend charmant verführerisch spielenden             Jedenfalls eröffneten mir die jugendlichen
Martine Carol, aber keinen nackten Busen!          ersten Filmerlebnisse die große Welt des Ki-
    Im Bahrenfelder Kino, Bahrenfeld war an-       nos. Trotz des Siegeszugs des Fernsehens in
ders als Groß- Flottbek ein Arbeiterviertel, sah   den 60er und 70er Jahren blieb ich ein treuer
ich meine ersten Western. High Noon mit dem        Kinogänger. Denn der Kinobesuch ist etwas
einsamen Sheriff Gary Cooper, Der Mann, der        Besonderes, genauso wie der Opern-und Thea-
Liberty Valence erschoß mit John Wayne, der        terbesuch. Der dunkle Vorführraum, die große
uneigennützig seinem Konkurrenten um die           Leinwand, inzwischen die bombastischen Ton-
Liebe einer Frau, dem von James Stewart dar-       anlagen, dazu natürlich auch das Popcorn, tren-
gestellten Anwalt, das Leben rettet und ihn so     nen diese Welt von der da draußen. Es hat sich
berühmt macht. Die Postkutsche nach Santa          mit den großen Multiplex-Kinos sicher viel an
Fe mit dem Trompetensignal der US-Kavalle-         der Film-Rezeption geändert. Und es wird nie-
rie, das wie in Beethovens Fidelio zunächst von    manden verwundern, wenn ich sage, dass ich
draußen ertönend die Rettung vor den die Kut-      viel lieber in die kleinen Programmkinos gehe,
sche verfolgenden Indianern ankündigt. Als ich     die es glücklicherweise noch gibt. Oder in die
das Schema begriffen und internalisiert hatte,     kommunalem Kinos, die selten gezeigte Filme
Showdown mit dem Sieg des Guten und der            spielen. Im Metropolis-Kino in Hamburg mit
Zähmung der Gewalt durch Institutionen des         seiner originalen Einrichtung aus den fünfziger
Rechts (kürzlich sah ich den dafür exemplari-      Jahren kann ich die Erfahrung meiner Jugend-
schen Film Der Ritt zum Ox Bow noch mal) ,         jahre mit denen des älteren schon erprobten
begann ich manchmal mit dem bösen Helden           Kinogängers verbinden.
zu sympathisieren, vielleicht ein Versuch infan-      Ich habe Filmkritiken geschrieben und ver-
tiler Allmachtsphantasien, dadurch das erwart-     sucht Filme theologisch zu deuten, an vielen
bare Schema aufzubrechen. Später geschah das       Filmgesprächen in der Reihe „Licht und Dun-
in den Hollywoodfilmen selber, die die Bösen       kel“ im Abaton-Kino mitgewirkt. Ein erster
stärker ins Zentrum rückten; das tun vor allem     Artikel hieß „Der Theologe geht ins Kino“ und
die Batman-Filme, die in Gothic City spielen       erschien 1992 in der Pastoraltheologie. Seitdem
bis hin zu dem jüngsten Blockbuster Joker. In      gibt es populärtheologische Analysen zuhauf.
diesen Filmen geschieht die Rettung der Welt,      Darin konnten jüngere Theologen endlich
die durch eine böse Macht bedroht wird, durch      einmal ihre kulturellen Vorlieben und Leiden-
einen messianischen gewalttätigen Erlöser -        schaften mit ihrer theologischen Wissenschaft
Endzeitdramen, deren Vorläufer die biblische       verbinden und deren hermeneutische Qualitä-
Johannes-Apokalypse ist.                           ten an Film- und Populärkunst erproben. Stell-
    Und natürlich die großen Liebesfilme, kei-     vertretend für viele nenne ich Inge Kirsner, die
nesfalls immer mit Happy End. Im Heidelber-        in den letzten 25 Jahren (seit ihrem Buch Erlö-
ger Studenten-Kino sah ich zum ersten Mal Les      sung im Film 1996) regelmäßig unter religions-
enfants du paradis. Ich erinnere mich noch, wie    pädagogischem Aspekt dazu publizierte. Und
ich nach der Schlussszene – Jean Louis Barrault    Jörg Herrmann, der die Sinnmaschine Kino
als Baptiste sucht verzweifelt die geheimnisvol-   und die Sinnproduktion via Populärkultur
le Garance, die im undurchdringlichen Gewühl       im Erlebnishaushalt seiner Zeitgenossen wis-
des Straßenkarnevals verschwunden ist - in die     senschaftlich eruiert hat. Voraussetzung dieser
Heidelberger Nacht ging, benommen von den          Analysen war: Man versteht Filme und andere
großen Gefühlen und tragischen Verwicklun-         kulturelle Produkte manchmal besser, wenn
gen auf der Leinwand. Heute erreicht diese Wir-    man sie theologisch interpretiert, entdeckt das

44   EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA

Eigene im Fremden, kann das Fremdgeworde-            terzäunen, Neubaugerippen, Niemandsland
ne der Religion mithilfe der Kultur wieder zum       und Heideflächen, die mitlaufenden Kinder,
Eigenen machen. Eine Win/Win-Situation also,         die Darbietungen auf Marktplätzen. Und dann
wobei mir zuweilen die etwas zwanghafte Me-          der herzzerreißende Schluss, als sich Zampano,
thode, Filme theologisch auszuleuchten, auch         nachdem er von Gelsominas Tod erfahren hat,
eine Kompensation des Bedeutungsverlusts von         betrinkt und weinend am Meeresstrand zu Bo-
Theologie und Kirche scheint. Wir können of-         den wirft – das kann nur das Kino, jenes Medi-
fensichtlich nicht mehr selber so erzählen vom       um, das Epiphanien inszenieren kann wie kein
Reich Gottes, dass es aufleuchtet. Wir brauchen      anderes, ohne in Illusionismus abdriften zu
die Medien Film, Literatur, Kunst, um überhaupt      müssen, wenn es denn großes Kino ist.
eine Ahnung vom ganz Anderen zu vermitteln.              Eine Kunst, die das Eis der Seele spaltet. „Ins
   Mit 8 Jahren ins Kino von Tante Tutti – und       Kino gegangen, geweint.“ (Kafka) In der Predigt
jetzt mit 80 Jahren bin ich immer noch ein akti-     können wir Theologen dem nur nacherzählend
ver Kinogänger. Vielleicht habe ich sogar schon      hinterherhinken und, wenn es uns sprachlich
die „tausend besten Filme“ gesehen, die man          gelingt, bestenfalls etwas aufleuchten lassen
nach einem Buchtitel vor seinem Tode gesehen         von diesen Gleichniserzählungen der Moder-
haben soll. Ich bin ein Cineast geworden, der        ne – etwa den Schluss von Chaplins Lichter
mindestens einmal in der Woche ins Kino geht.        der Großstadt: Der Tramp steht verlegen vor
Das Kinoerlebnis ist doch etwas anderes, als auf     dem Blumenladen seiner heimlichen Liebe,
der Mattscheibe einen Film zu sehen. Trotzdem        die dank seiner Hilfe ihr Augenlicht wiederge-
Dank an ARTE, das die Filme meiner Lieblings-        funden hat. Sie erkennt ihn nicht. Aus Mitleid
regisseure Fellini, Hitchcock, Bunuel, Godard,       schenkt sie ihm eine Blume und drückt sie ihm
Truffaut, Ingmar Bergmann, Kubrick, Altmann,         in die Hand. Und an dieser Berührung merkt
Wenders, Herzog, Faßbinder, Haneke, Dresen u.a       sie, dass es die Hand ihres unbekannten Gön-
zeigt. Gelegentlich gibt es diese Filme auch noch    ners ist. Du bist es? Der Tramp nickt und lächelt
mal wieder im Kino zu sehen. Man kennt den           zart. Dieser große Moment der Anagnorisis,
Film schon und entdeckt doch etwas Neues, er-        der Wiedererkennung zweier Menschen - ist
innert sich an das erste Mal, als man den Film in    er nicht die filmische Realisierung des paulini-
einem Kino sah, das es vielleicht nicht mehr gibt.   schen Satzes „dann werde ich erkennen, wie ich
   Wo ich zuerst Fellinis La Strada gesehen          erkannt bin“?
habe, ich weiß es nicht mehr. Aber als ich ihn
jetzt wiedersah im Metropolis-Kino, war ich
so betroffen von diesem wunderbaren Film             hj-benedict@web.de
wie beim ersten Sehen – in der Liebe des nai-
ven Mädchens Gelsomina zu dem sie ausbeu-
tenden Schausteller Zampano leuchtet „die
Gnade auf, in der sie sich befindet, ohne es zu
wissen.“ (U.Gregor/E.Patalas) Selten ist im Kino
der Glaube daran, dass auch das unscheinbarste
Leben einen Sinn hat, so überzeugend realisiert
worden. Man weint in dem untrüglichen Ge-
fühl dafür, dass man nur so zu sein braucht, wie
Gelsomina es in jenem Moment ist, als sie dem
Seiltänzer lauscht und sich ihr Gesichtsaus-
druck verlegen aufhellt, als er ihr sagt, Zampano
liebt dich vielleicht. Jene arme Welt aus Bret-

                                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   45
THEMA

Jim Jarmusch, Paterson
Meditative Betrachtungen zu einem Film

Der folgende Beitrag ist ein leicht                                   wir in Jarmuschs Film gesprochen
überarbeiteter Vortrag, den der                                       hören. Gedichte sind aber auch
Verfasser im November 2016 bei                                        Bilder, Schriftbilder. Und Jarmusch
der Mitgliederversammlung der                                         zeigt uns, wie die Gedichte Pater-
Arbeitsgemeinschaft für Erwach-                                       sons auf die Filmbilder geschrieben
senenbildung der Evangelische                                         und damit selbst zum Bild werden.
Kirche in Hessen und Nassau ge-                                       Wir bleiben in der Welt des Alltägli-
halten hat.                                                           chen. Aber es hat sich fast unmerk-
                                                                      lich verwandelt, in die Innenwelt
                                                                      des Atemraums und eine von uns

I
                                                 Karsten
   ch möchte über den Film „Pa-                                       nicht betretbare Bilderwelt, die sich
                                                 Visarius
   terson“ von Jim Jarmusch spre-                                     beide ineinander spiegeln. Die Din-
                                          ist Executive Director
   chen (kurz bevor er 2016 in die                                    ge sind plötzlich ein wenig entrückt
                                             von INTERFILM.
deutschen Kinos kam). Der Film                                        und gleichzeitig näher als sonst
handelt von einem Busfahrer, der                                      Dinge es sein können.
so heißt wie die Stadt, in der er                                         Man solle, hat Jarmusch gesagt,
lebt, und wie der Film, der von bei-                                  den Film einfach an sich vorüber-
den erzählt, Paterson also.                             ziehen lassen. Wie Gedanken, würde ich hin-
   Paterson wacht jeden Morgen zwischen 6               zufügen – wir sind ja in einer Filmmeditation.
und halb 7 neben seiner bildschönen und phan-           Etwas abstrakter gesagt, folgen wir in „Paterson“
tasiebegabten Frau auf, frühstückt, geht zur Ar-        einer Transformation, die das Alltägliche spiri-
beit, fährt mit dem Bus durch die Stadt – also          tualisiert. Es gewinnt etwas, was Walter Benja-
Paterson -, isst zuhause zu Abend, führt den            min dem Film prinzipiell abgesprochen hat,
Hund aus und trinkt in einer Kneipe ein Bier,           eine Aura – nach seiner Definition die einma-
sechs Mal hintereinander, dann kommt der                lige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch
Sonntag. Ein Durchschnittsmensch. Er tut al-            sein mag.
lerdings etwas, was nur wenige tun: er schreibt             Am Sonntag trifft Paterson auf einem Spa-
Gedichte. Wie sein Vorbild, William Carlos Wil-         ziergang einen Japaner, ebenfalls ein Dichter,
liams, der einen großen Gedichtzyklus mit dem           der wegen William Carlos Williams nach Pater-
Titel „Paterson“ geschrieben hat.                       son gekommen ist.
   Paterson, der Busfahrer, schreibt über das, was          Warum ausgerechnet ein Japaner? Ich vermu-
er sieht und hört, eine Streichholzschachtel auf        te, weil der größte Poet des Kinos, jedenfalls für
dem Frühstückstisch zum Beispiel, die zum An-           viele, die das Kino lieben, der japanische Regis-
fang eines Gedichts wird.                               seur Yasujiro Ozu ist. Von seinen über dreißig
   Wenn Dinge in ein Gedicht eingehen, dann             Filmen heißt es, er habe, mit Variationen, immer
wandern sie in den Atemraum, wie Paul Celan             wieder den gleichen Film gedreht. Wie Paterson,
das genannt hat. Das bezieht sich natürlich auf         in Variationen, immer wieder den gleichen Ta-
gesprochene und gehörte Gedichte, wie die, die          geszyklus durchlebt. Das große Thema bei Ozu

                                                                           EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   47
THEMA

Eine Filmmediation. Paterson (gespielt von Adam Driver) ist Busfahrer in Paterson und macht, was Busfahrer normaler-
weise nicht tun: Er schreibt Gedichte.                                                                       Foto: vice

und in „Paterson“ ist die Zeit – und die Zeitlosig-            genannt. Er praktiziere den Buddhismus zwar
keit der Zeit.                                                 nicht, lese aber viel darüber.
    Sich der Zeit zu entziehen, ist kein westliches                In „Paterson“ gibt es keine Buddhas, keine
Motiv. Der Westen ordnet vielmehr alles der                    Mönche, es werden keine Suren gelesen und
Zeit unter. Ich weiß, das ist eine starke Behaup-              kein Gong angeschlagen, und sein Schöpfer
tung, aber im Rahmen meiner kleinen Medit-                     ist, wie er sagt, höchstens ein Pseudo-Buddhist.
ation sei sie mir gestattet. Mit dem Blick eines               Dennoch ist es ein Film, dessen Haltung, dessen
Japaners hingegen betrachtet kommt es darauf                   Erzählweise und visueller Stil von buddhisti-
an, sich von der Zeit zu lösen. Und damit von                  schen Ideen, Einsichten und Prinzipien beein-
all den Ambitionen, die uns an die Zeit ketten,                flusst sind. Wir oder die meisten von uns wer-
von den Leidenschaften, vom Begehren, vom                      den das wahrscheinlich nicht erkennen. Weil
Ehrgeiz, vom Willen zur Macht.                                 unser Säkularismus selbst eine christliche Erb-
    Diese Haltung, dieses Konzept, ist religiös in-            schaft ist, die uns den Blick auf uns selbst und
spiriert, nicht nur, aber auch. Allerdings stammt              auf die Religionen der Welt verstellt.
diese Inspiration nicht aus dem Christentum
auch nicht aus dem Judentum oder dem Islam.                    Medien und Kultur
Es kommt vielmehr aus der asiatischen Welt, aus                „Paterson“ ist FILM DES MONATS November
dem Buddhismus, der in den letzten Jahrzehn-                   2016 der Evangelischen Filmjury. Zu „Pater-
ten auch Menschen der westlichen Welt angezo-                  son“ wäre noch einiges mehr zu sagen. Man
gen hat. Er ist von Ost nach West gewandert, wie               kann ihn zum Beispiel als einen Anti-Trump-
der Japaner in „Paterson“. In einem Interview                  Film sehen und ihn in einen aktuellen Kontext
hat Jarmusch sich „eine Art Pseudo-Buddhist“                   stellen. Auch der Busfahrer Paterson gehört zu

48   EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA

jener unteren Mittelschicht, die, wie es heißt,      10 Thesen zur kirchlichen Kommuni-
das wichtigste Wählerpotential Donald Trumps         kation der Bilder-Galaxis
bildet. Und es ist nicht ganz uninteressant, ein
Gegenbild zu jenen weißen, wütenden, von Ab-         Thesen
stiegsängsten geplagten und ressentimentgela-           1. Die filmische oder „audiovisuelle“ Kom-
denen Männern zu sehen, denen Trump eine             munikation im 21. Jahrhundert umfasst alle
Stimme gibt.                                         Lebensbereiche. Sie dominiert die Kommuni-
    Es ist auch, wie ich versucht habe zu zeigen,    kation in wachsendem Maße und nutzt von der
ein Film zum interreligiösen Dialog, der aller-      spontanen Mitteilung über Propagandavideos
dings die Fixierung auf den Dialog mit Mus-          bis zu komplexen filmischen Universen die un-
limen und Juden hinter sich lässt und damit          terschiedlichsten Formen. Aktuell verbringen
erkennbar macht, dass es dabei gar nicht um          die Deutschen mit Bildmedien durchschnittlich
einen Dialog der Religionen geht, sondern um         351 Minuten pro Tag, mit Printmedien 51 Mi-
politische und soziale Fragen. Ginge es um Re-       nuten(Stand: 2014).
ligion, müsste man sich wohl zuerst die eigene          2. Auch Religion wird im 21. Jahrhundert in
religiöse Indifferenz eingestehen.                   filmischen Bildern erzählt. Vor allem für die,
    Schließlich ist es auch – wenn auch vielleicht   die nicht mehr oder kaum noch in den Gottes-
nur am Rande – ein Film zum Verhältnis von           dienst gehen. Und sowieso immer dann, wenn
Medien und Kultur. Paterson verzichtet zum           Gottesdienste nicht stattfinden. Erzählende
Beispiel ausdrücklich auf ein Handy. Er schreibt     Filme mit ihren vielfältigen Sinn- und Deu-
seine Gedichte in ein Notizheft, und der Film        tungshorizonten werden zu einer Quelle religi-
schreibt sie noch einmal auf die Leinwand.           öser Erfahrung.
Auch deshalb ignoriert der Film all das, was die        3. Die meisten religiösen Filmerzählungen
Medien uns von morgens bis abends als aktuel-        sind nicht oder nur indirekt christlicher Her-
le Gegenwartsfragen vor die Füße werfen. Peter       kunft. Von Avatar über Harry Potter, Lord of
Sloterdijk hat die von den modernen Medien,          the Rings oder Star Wars (und ihre Fortschrei-
hauptsächlich Fernsehen und Internet, durch-         bungen) schöpfen sie aus den unterschiedlichs-
drungenen Gesellschaften als „Erregungsge-           ten religiösen Quellen und verschmelzen sie
meinschaften“ gekennzeichnet, die sich ständig       zu neuen Synthesen. Sie spiegeln die religiöse
in einem gewissermaßen hysterischen Modus            Dynamik der Gegenwart und sind besonders
befinden. Die wunderbare Entspanntheit und           wirkungsvoll auch deshalb, weil die genuine
Gelassenheit, die der Film sich erlaubt, ist ein     Kenntnis der religiösen Tradition schwindet.
Gegenbild zu diesem Zustand – wenn auch viel-           4. Filmischen Erzählungen gelingt es, öf-
leicht nur ein Wunschbild.                           fentliche Gemeinschaften zu erzeugen. Im
                                                     Unterschied zur individuellen und privaten
                                                     Nutzung von Filmen über Fernsehen und In-
                                                     ternet versammeln sich Menschen im Kino zu
                                                     einem gemeinsamen Filmerlebnis. Diese Form
                                                     kollektiver Erfahrung verbindet den Kinofilm
                                                     mit dem Theater, der Kunstausstellung, dem
                                                     Fußballspiel oder dem Konzert – und mit der
                                                     Kirche. Die Intensität der gemeinsamen Erfah-
                                                     rung hinterlässt dauerhafte Erinnerungsspuren
                                                     in den individuellen Biografien.
                                                        5. Für die Vermittlung ihrer religiösen Bot-
                                                     schaften und ihrer ethischen Positionen muss

                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   49
THEMA

die Kirche imstande sein, an den Prozessen          Film seit Beginn und haben bis heute nichts
filmischer Kommunikation teilzunehmen. Auf-         von ihrer Attraktivität verloren. Sie bilden zu-
grund des hohen finanziellen und technischen        gleich ein mächtiges Deutungsmuster für die
Aufwands für massenwirksame filmische Ange-         Welt und das eigene Schicksal in ihr. Das kirch-
bote kann die Kirche dies nur in seltenen Fällen    liche Filmverständnis ist einem anderen Deu-
durch eigene (Film-)Produktionen erreichen.         tungsmuster verpflichtet, das seine Kraft aus an-
Sie muss deshalb intelligente Formen nutzen,        deren Quellen bezieht. Die antiheroische und
um sowohl die Köpfe der „Macher“ als auch die       antiglamouröse Botschaft der Kirche muss sich
der Nutzer zu erreichen.                            auch in der Filmkultur bewähren.
   6. Die Stärke der Kirche liegt im Bereich der       10. Bildung: Filmbilder wirken unmittelbar
Metakommunikation. Metakommunikation im             und können verschiedenen Zwecken dienen.
Filmbereich heißt: Deutung (im Dialog, durch        Deshalb ist Aufklärung über Filme notwen-
Reflexion und Kritik), Orientierung (durch          dig. Filme funktionieren ohne Vorbildung und
Auswahlkriterien, Empfehlungen und Aus-             ohne Ausbildung. Sie erreichen deshalb ihr Pu-
zeichnungen), Bildung (durch Vermittlung von        blikum ungefiltert, auch die dümmsten, verlo-
filmkulturellem Wissen und Fähigkeiten) und         gensten und scheußlichsten. Für eine humane,
Glaubwürdigkeit (durch Kompetenz über den           erst recht christlichen Maßstäben verpflichtete
Filmbereich hinaus).                                Filmkultur ist deshalb, neben dem Schutz von
   7. Deutung: Filmische Bilder sind grundsätz-     Kindern und Jugendlichen, eine filmische Al-
lich mehrdeutig. Deutung ist selbst ein Teil des    phabetisierung unerlässlich. Wirkungsvoller als
filmischen Kommunikationsprozesses. Sie voll-       Verbote ermöglicht sie dem Filmzuschauer, die
zieht sich spontan und bleibt häufig unbewusst.     Qualität von Filmen selbständig zu beurteilen,
Dabei kann sie Vorurteile bestätigen wie um-        die eigenen Filmvorlieben zu verstehen und ein
gekehrt die eigene Urteilsbildung anregen. An       selbstbestimmtes Verhalten gegenüber Filmen
dieser Stelle setzt die kirchliche Filmkritik an.   einzunehmen.
Sie nimmt den Dialog mit den Filmen und mit
den Zuschauern auf und stärkt Reflexion und
Urteilsfähigkeit.                                   kvisarius@gep.de
   8. Orientierung: Durch die Bilderproduktion
entsteht ein Bildermeer, deshalb ist ein Kom-
pass nützlich. Filme lassen uns an den Erfah-
rungen anderer Menschen teilhaben. Sie kön-
nen uns sowohl Mitleid und Trauer vermitteln
wie Bilder der Hoffnung und eines erfüllten
Lebens schenken. Es gibt aber auch Bilder, die
verführen, manipulieren, zu Gewalt anstiften
und die Sinne abstumpfen. Es bedarf filmerfah-
rener Mentoren oder Kuratoren, um in diesen
Ambivalenzen Orientierung anbieten zu kön-
nen. Orientierung entsteht durch überprüfba-
re Qualitätsmaßstäbe und eine darauf fußende
Auswahl. Nationale und internationale kirchli-
che Filmjurys bauen einen exemplarischen Ka-
non empfehlenswerter Filme auf.
   9. Glaubwürdigkeit: Filmbilder sind immer
auch Vorbilder. Helden und Stars begleiten den

50   EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
DIE LETZTE SEITE

            Das letzte Wort

            Filme ergänzen das wirkliche Leben. Sie verleihen
            öffentlichen Meinungsbefragungen Farbe. Sie schär-
            fen unsere Bewußtheit fürs Ungreifbare und spie-
            geln den verborgenen Verlauf unserer Erfahrung. Sie
            stellen Situationen heraus, die direkt oft nur schwer
            faßbar sind, die uns aber zeigen, was wir unter der
            Oberfläche über uns selber denken. Dies trifft in be-
            sonderer Weise auf solche Leinwandmotive zu, die
            scheinbar unbeabsichtigt eingeführt worden sind.
            Die Filmemacher haben ein vitales Interesse an
SIEGFRIED   dem Massenpublikum, und so darf angenommen
KRACAUER    werden, daß solche Motive – vorausgesetzt, sie
            treten mit einiger Regelmäßigkeit auf – einen Bezug
            zu den Haltungen, Wünschen und Reaktionen vieler,
            sehr viele Menschen haben. Filme spiegeln unsere
            Realität. Schauen wir also in diesen Spiegel.

            Siegfried Kracauer, Kino (Hg. Karsten Witte)
            Frankfurt a.M., 1974, S. 249

                                                   EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022   53
VORSCHAU & IMPRESSUM

Vorschau

Kirche & Geld
In der Kirche werde mehr über Geld als über das Evangelium ge-
sprochen, sagen die Einen. Die Anderen, erst kämen die Finanzen,
dann die biblische Botschaft. Wofür gibt die Kirche ihr Geld aus?
Beiträge bitte bis zum 15. März 2022

Israel & Palästina
Die Nordkirche bezeugt laut Verfassung die bleibende Treue Gottes
zu seinem Volk Israel. Was aber ist gemeint, wenn im Kontext pro-
testantischer Theologie „Israel“ gesagt wird?
Beiträge bitte bis zum 15. April

Rassismus
Welche Rolle spielt unsere europäische von weißen Männern und
Frauen dominierte Kirche bei diesem Thema? Was kann und was
muss getan werden, um dem schleichenden Rassismus entgegen-
zuwirken? Oder wird das Thema überbewertet?
Beiträge bitte bis zum 15. Mai

Schreiben Sie!
Zu Themenschwerpunkten, die für die nächs­ten Ausgaben geplant
sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie
gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden.
redaktion@evangelische-stimmen.de

IMPRESSUM
Herausgeber:                                Redaktion:                                 Druck:
Evangelischer Presseverband                 Dr. Friedrich Brandi (ViSdP)               Hugo Hamann
Norddeutschland GmbH,                                                                  Offsetdruckerei, Kiel
Gartenstr. 20, 24103 Kiel                   Layout:
                                            Evangelischer Presseverband                Die Evangelischen Stimmen erscheinen mo-
Verlag:                                     Norddeutschland GmbH                       natlich. Das Jahresabonnement kostet 55,20 €
Evangelischer Presseverlag Nord GmbH,       Tel. (040) 709 75 - 277                    inkl. Versandkosten innerhalb Deutschlands.
Gartenstr. 20, 24103 Kiel,                                                             Die Kündigungsfrist beträgt
Postfach 34 66, 24033 Kiel,                 Anzeigen:                                  6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die
Tel. (0431) 55 77 99                        Kristina Heesch                            Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen
Fax (0431) 55 779 - 292                     Tel. (0431) 55 77 9 - 206                  oder Initialen gekennzeichnete Beiträge
Geschäftsführer: Bodo Elsner                Fax (0431) 55 77 9 - 292                   geben nicht unbedingt die Meinung der
                                                                                       Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte
Redaktionsanschrift:                        Vertrieb und Abonnementverwaltung:         Beiträge und Bücher werden nicht zurück-
Evangelischer Presseverband                 Inge Limburg                               geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind
Norddeutschland GmbH,                       Tel. (0431) 55 77 9 - 271                  urheberrechtlich geschützt.
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