EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Kirche & Kino
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C 21134 März 2022 | 3 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Kirche & Kino Ambivalenzen der Bilder des Altwerdens Opfer und Erlösung. Wirklichkeit – und Impressionen „Mein Name ist Bond, „Das Kino lebt!“ von der Berlinale James Bond.“
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial Friedrich Brandi 47 6 Ambivalenzen der Wirklichkeit Dietmar Adler 43 „Ins Kino gegangen, geweint.“ (Kafka) 10 Operation am offenen Hans-Jürgen Benedict Herzen Inge Kirsner 47 Jim Jarmusch, Paterson Karsten Visarius 16 Eine Evangelische Stimme 51 Ausschau nach Trost Hans-Martin Gutmann Matthias Kaiser 18 Kino als gelebte Religion 53 Das letzte Wort Jörg Herrmann 54 Vorschau 23 Opfer und Erlösung Hans-Martin Gutmann 31 „Das Kino lebt!“ Dietmar Adler 37 Ort der Sehnsucht Linde Fröhlich 39 Bilder des Altwerdens im Film Hans J. Wulff Titelbild: Die Kirche im hessischen Witzenhausen-Hundelshausen Foto: epd-bild/Christian Schaefer EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 5
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Der Lieblingsfilm? Oft der, den ich gerade gesehen habe. Allerdings gibt es für mich einen, der alle je gesehenen Filme überstrahlt: Or- phée von Jean Cocteau. Kein anderer Film hat die Dimension des irdischen Lebens so schön und poetisch transzendiert, wie dieses Schwarz-Weiß-Meisterwerk von 1950. Wenn der wunderbare Jean Marais als Orpheus durch den Spiegel in die jenseitige Welt eintritt, dann versteht man 1. Kor 13,12 noch einmal neu. („Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich er- kennen, gleichwie ich erkannt bin.“) Und dazu das betörend schöne Flötensolo aus C.W.Glucks gleichnamiger Oper. Cinema at its best. Aber das Kino ist nicht nur tiefsinnig, es dient oft genug der Volksbe- ruhigung. Oder auch der Propaganda. Der große Filmtheoretiker und Journalist Rudolf Arnheim schrieb schon 1930 von einem „Bilderkul- FRIEDRICH tus, der sich inzwischen zu einer geistigen Epidemie ausgewachsen BRANDI hat. Überall, wo früher Worte, das heißt Gedanken gestanden hatten, gab man nun die rohe, sinnlose Anschauung.“ Doch es kommt nicht von ungefähr, dass sich die kirchliche Filmar- beit in der jungen Bundesrepublik etablieren konnte. Denn von den „Ambivalenzen der Wirklichkeit“ (Dietmar Adler) weiß man sowohl in der Kirche als auch im Kino: Himmel und Hölle, Tod und Leben, Ei- fersucht, Hass und Liebe, Verrat und Verlust, Krieg und Frieden sowie das unstillbare menschliche Verlangen, wie Gott sein zu wollen – das sind die Themen großer Filme. Und die der Kirche. Deswegen fahren, salopp gesagt, Theologen auch so aufs Kino ab. Mich haben die Beiträge dieses Heftes angeregt, und ich hoffe, dass es Ihnen ähnlich gehen wird, wenn Sie bei Siegfried Kracauer ange- kommen sind. Ich wünsche ich eine erhellende Lektüre, Ihr www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 3
THEMA Ambivalenzen der Wirklichkeit Filmfestivals und kirchliche Filmarbeit R ike ist taff. Als Notärztin hat Film des Monats der Jury der Evan- sie alles im Griff. Und für gelischen Filmarbeit.1 ihren Segeltörn, ausgehend von Gibraltar, klappt alles, vom Filmfestivals Einkauf über das Verstauen der Ökumenische Jury? Ja, bei be- Lebensmittel auf der Elf-Meter- deutenderen Filmfestivals gibt es Yacht bis zur ausgefeilten Technik. kirchliche Jurys, und das schon seit Tausende von Seemeilen in den At- den 1950er- / 60er-Jahren, zunächst lantik hinein geht Rikes Ein-Frau- konfessionell getrennt, später dann Törn. Es sind eindrückliche Bil- seit den 1970er-Jahren ökume- Dietmar der, die der Film STYX uns zeigt: nisch. Bei zwei Dokumentarfesti- Adler die starke, kontrollierte Frau und vals konnten inzwischen sogar in- ist Gemeindepastor das Meer. Ein Sturm kommt auf, terreligiöse Jurys etabliert werden. in Bad Münder sowie das fordert die Skipperin und das Diese Jurys zählen zu den „Unab- Jury-Koordinator und Boot. Aber sie meistern es. Rike hängigen Jurys“ und genießen bei Vorstandmitglied bei träumt sich an das Ziel ihrer Fahrt: den Festivals ein bemerkenswert INTERFILM. Urwald-Inseln mitten im Atlantik, hohes Ansehen. Nominiert wer- ein Paradies. den sie von den kirchlichen Fil- Als alles wieder ruhig ist, da ge- morganisationen SIGNIS (für die schieht etwas: Sie entdeckt ein Boot, voll mit katholischen Juror*innen) und INTERFILM Menschen. Manche springen ins Wasser. Ein (für die protestantischen, anglikanischen und Junge schwimmt heran, sie hilft ihm an Bord. orthodoxen). Die drei- bis sechsköpfigen Jurys Es ist Kingsley, etwa 14 Jahre alt, erschöpft, ver- schauen zumeist die Internationalen Wettbe- zweifelt. werbsprogramme der Festivals, beraten sich un- Rike fragt nicht nach dem Woher und Wo- abhängig von Einflussnahme durch irgendeine hin. Die Menschen sind in Gefahr. Sie funkt die Seite und vergeben dann einen oder mehrere Küstenwache an. Diese sagen Hilfe zu, raten ihr Preise. aber selbst, sich von dem Boot zu entfernen. Nach welchen Kriterien prämieren sie die Nichts geschieht, stundenlang. Angefunkte Filme? Es geht nicht um einen ausdrücklichen Schiffe ziehen weiter. Das Schicksal der Men- religiösen Bezug. Ein Festivalleiter sprach es bei schen in Seenot scheint niemanden zu interes- einem Ökumenischen Empfang aus: Preisträ- sieren. gerfilme der kirchlichen Jurys seien meist seine Der Film STYX des Regisseurs Wolfgang persönlichen Lieblingsfilme, aber sie zeichne- Fischer wurde bei der Berlinale 2018 uraufge- ten sich nicht etwa dadurch aus, dass da „ein führt, die Hauptrollen spielen Susanne Wolff kleiner Jesus durchs Bild flattert“. Die Filme und Gedion Wekesa Oduor. In Berlin gewann brauchen keinen explizit christlichen Bezug, er auch den Preis der Ökumenischen Jury in um in Betracht zu kommen. Die Kriterien, auf der Sektion Panorama. Später wurde er auch die sich die kirchlichen Jurys beziehen, sehen 6 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA zum einen eine hohe künstlerische Qualität Kritiker*innen, Pädagog*innen. Gerade die vor. Zum anderen werden Filme ausgezeichnet, verschiedenen Perspektiven auf einen Film ma- die in besonderer Weise Menschenwürde und chen eine gute Jury-Arbeit aus. Dennoch sind Menschenrechtsfragen sowie christliche Werte viele Jury-Entscheidungen recht einmütig. thematisieren. Ferner werden Filme ausgezeich- Zur kirchlichen Präsenz auf Filmfestivals net, die die Zuschauenden für transzendente gehören bei vielen Festivals auch Ökumeni- Dimensionen des Lebens sensibilisieren. sche Filmempfänge. Begegnung und Austausch Praktisch sieht eine Jury-Arbeit aber nun zwischen Film-sensiblen Menschen aus den Kir- nicht so aus, dass mit einem Katalog mit Krite- chen und Filmschaffenden, Kritiker*innen und rien zum Abhaken gearbeitet würde. Ein Film Festivalleuten eröffnen allen immer wieder muss einen schon packen, in Bann ziehen und neue Perspektiven. begeistern, wenn man ihm einen Preis verlei- Ein Film wie STYX ist ein gutes Beispiel ge- hen will. Wichtig ist der Austausch über die rade für die Sensibilisierung der Rezipierenden Filme, oft findet ein Ringen in den Jurys statt. durch einen Film. Er zieht in Bann, aber er kon- Diese sind international besetzt, die Juror*in- frontiert uns zugleich mit Fragen der Humani- nen kommen aus verschiedenen Berufen, da tät. Mit seiner fiktiven Geschichte zeigt und fo- sind Theolog*innen dabei, Filmschaffende, kussiert er, was täglich passiert, wenn Menschen Rike (Susanne Wolff) kann nicht ausweichen – sie muss sich der Herausforderung stellen und den Flüchtling aufneh- men, ob sie will oder nicht. Selbst im Urlaub. Foto: Schiwago-Film GmbH EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 7
THEMA „Mayday, Mayday“ – was als Urlaubsevent geplant war, entwickelt sich zu einem Abenteuer existentieller Art. Bestimm- ten Forderungen im Leben lässt sich eben nicht ausweichen. Foto: Schiwago-Fim GmbH sich über die Meere auf die Flucht machen. Aus nicht-kommerzielle Vorführung zu entleihen. dem Film vernehme ich die Frage, was ich denn Bei der Auswahl der Filmpreise auf einem getan hätte, wäre mir dieser Junge und dieses Festival oder der Arbeit der Jury für den „Film Schiff voller Geflüchteter begegnet. Und uni- des Monats“ geht es zunächst nicht um eine versalisiert höre ich die Frage nach unserer Ver- „Verwertbarkeit“ in didaktischen Zusammen- antwortung in den europäischen Gesellschaf- hängen. Sich von den Empfehlungen kirchlicher ten für Menschen, die sich unter Lebensgefahr Film-Jurys für die eigene Film-Rezeption inspi- auf den Weg machen. Ein Thema, von dem ich rieren zu lassen, tut wachen Christenmenschen in den Nachrichten höre, kommt mir auf der auch ohne Verwertungsabsicht gut. Viele dieser Leinwand mit einem Mal sehr nah. Bei STYX Filme fordern heraus, erweitern Horizonte, ins- in einem Spielfilm, den man trotz der Weite des pirieren: Sie können als persönlichkeitsbildend Meeres auch als Kammerspiel verstehen kann. erlebt werden. Zu einer zeitgenössischen christ- Aber auch zwei ebenfalls von der kirchlichen lichen Existenz gehört die Bereitschaft, sensibel Filmarbeit ausgezeichnete Dokumentarfilme für die Ambivalenzen der Wirklichkeit und die zum gleichen Themenbereich „Seenotrettung Fragen und Zweifel der Mitmenschen zu sein. Geflüchteter“ berühren und zwingen zur Aus- Die Begegnung mit Filmen bereichert Men- einandersetzung: SEEFEUER (Gianfranco Rosi, schen – gerade wenn sie irritieren. 2016), der die Menschen auf der Mittelmeerin- sel Lampedusa zeigt, und ELDORADO (Markus Kirchliche Filmarbeit Imhoof, 2018), der den Weg Geflüchteter von Gleichwohl gibt es aus der kirchlichen Juryar- der Rettung nach Mitteleuropa verfolgt, dabei beit heraus auch Empfehlungen für die kirch- aber einen sehr persönlichen Zugang des Regis- lichen Medienzentralen für den nicht-kommer- seurs wählt. Alle drei genannten Filme sind üb- ziellen Verleih. Diese Verleihmöglichkeiten rigens über kirchliche Medienzentralen für die bilden die Grundlage für die kirchliche Filmar- 8 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA beit, die vor Ort höchst lebendig ist. So gibt es in Motive im Film, mal die Gestaltung von Film- vielen Kirchengemeinden Filmclubarbeit, auch gottesdiensten mit höchst weltlich daherkom- Kooperationen mit Kinos.2 menden Filmen. Hinzu kommen Filmveran- Die Corona-Zeit zeigt: Natürlich kann man staltungen in Kooperation mit Kinos, aber auch auch qualitativ hochwertige Medien zu Hause Fortbildungsveranstaltungen in Kooperation streamend konsumieren, und Streamingdiens- mit anderen. Zwischendurch gibt es Newsletter te bieten inzwischen auch Filme, die bei Festi- mit Hinweisen zum Themenbereich Film und vals ausgezeichnet werden. Aber es gibt eben Religion. doch eine Sehnsucht nach dem gemeinsamen 2021 wurde zusätzlich ein eigener Verein Filmerlebnis auf einer Leinwand in einem an- „INTERFILM Deutschland“ gegründet, auch er sonsten dunklen Saal. Filmeinführungen und dient in erster Linie der Vernetzung der kirch- Filmgespräche, in denen ich meine Filmerfah- lichen Filmarbeitenden – nun auf nationaler rungen mit denen anderer in Beziehung setzen Ebene: untereinander und mit der internatio- kann, sind ein Merkmal kirchlicher Filmarbeit. nal arbeitenden Organisation INTERFILM. In den Schulen bieten Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme Medien, die immer wieder heraus- Links fordern und unterrichtliche Prozesse in Gang • Interfilm: www.inter-film.org setzen. In der Jugendarbeit, der Erwachsenen- • Film des Monats: www.film-des-monats.de bildung und in der Seniorenarbeit werden sie • Haus Kirchlicher Dienste Hannover: ebenfalls eingesetzt. Für viele Pädagog*innen, • www.kunstinfo.net/film Gruppenleiter*innen und Diakon*innen und • www.medienzentralen.de Pastor*innen ist das Medium Film aus ihrer Praxis nicht mehr wegzudenken. Und auch der Q Anmerkungen Film STYX ist für den Einsatz in Schule und Er- (1) Vgl. Adler, Dietmar: Mit einer jungen Frau unterwegs nach New York. www.feinschwarz.net/mit-einer-jungen-frau-un- wachsenenbildung geeignet.3 terwegs-nach-new-york (Abruf 12.5.21). (2) Vgl. den Beitrag „Das Projekt „Kirchen und Kino“ Pelikan Arbeitskreis Kirche und Film 02/2021, S. 23. Um den Graben zwischen kirchlicher Filmar- (3) Weiterführendes Material zum Film von Gundi Doppel- hammer: www.kunstinfo.net/film/filmbesprechungen beit auf internationaler Ebene und der Praxis in Schule, Gemeinde und Kultur- und Bildungs- arbeit vor Ort zu schließen, wurde 2002 in der Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Loccumer Landeskirche Hannover der „Arbeitskreis Kir- Pelikan 02/2021, der Zeitschrift des rpi der Han- che und Film“ gegründet, der mit dem Arbeits- noverschen Kirche. bereich Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste Hannover verbunden ist. DietmarAdler@aol.com Angesprochen sind natürlich Multiplika- tor*innen (Schule, Gemeinde, Kultur, Bildung), aber auch überhaupt Menschen, die sich für den Film interessieren und eine Beziehung zur Kirche haben. Es geht um Impulse, aber auch um Vernetzung und Austausch untereinander. Bei den ein bis zwei Treffen im Jahr werden die unterschiedlichsten Themen behandelt: Mal geht es um die Reformation im Film, mal um die Darstellung von Lebensentwürfen im Film. Mal ist es die dezidierte Darstellung religiöser EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 9
THEMA „Ins Kino gegangen, geweint“ Filmerfahrungen eines langen Lebens E inmal im Monat musste ich der Sternbrücke, aus dem ich ganz am Sonntagvormittag nicht anders herauskam als aus dem ins den Kindergottesdienst Kirchsaal der Melanchthonkirche gehen, sondern durfte mit der Li- – auf seltsame Weise benommen nie 11 zur Sternbrücke in Ham- und im Lebensgefühl gesteigert burg-Altona fahren. Meine Tante von dieser phantastischen Welt der Tutti (Ottilie) betrieb dort mit bewegten Bilder und dramatischen ihrem Mann eine Gastwirtschaft, Abenteuer. Kinofilme aus der Pers- in deren Saal um 11 Uhr Filme pektive der Kleinen, der Unschein- gezeigt wurden. Ich hatte freien baren und Verlierer, der Leiden- Dr. Hans-Jürgen Eintritt und sah in Tante Tuttis den und Unterdrückten tauchten Benedict Kneipe meine ersten Zorro- und erst später auf. Selbst klein und oft Theologe und Publizist Tarzan-Filme. Zwei Szenen aus gedemütigt, interessierten mich aus Hamburg den Abenteuern des schwarzge- vor allem die Helden und Sieger. kleideten maskierten Rächers Filmtheater, Kino-Orte – in sind mir besonders in Erinnerung meiner unmittelbaren Umgebung, geblieben. Zorro im Gebirge, ver- das heißt in einem Umkreis von folgt von einer Übermacht: er kommt an eine drei Kilometern, gab es vier Kinos. Eins davon Felsenkluft, zügelt sein Pferd, lässt es erneut war das stadtbekannte Liliencron-Filmkunst- Anlauf nehmen und überwindet mit einem ge- theater. 200 Meter von diesem entfernt wur- waltigen Satz die Schlucht. Die Verfolger wagen de Mitte der fünfziger Jahre ein Kino für den das nicht. Und die zweite Szene: Zorro gefangen breiten Publikumsgeschmack gebaut. Dann in einem dunklen Verließ, dessen eine mobile gab es eines in der belebten Waitzstraße, das Wand sich unaufhaltsam auf ihn zu bewegt und Floki, und eines in Bahrenfeld. Wir konnten ihn zu zerquetschen droht. In letzter Sekunde als Jugendliche, wenn das Taschengeld reichte, kann er einen Stein aus dem Boden lösen und uns unterschiedliche Filme an verschiedenen mit ihm als Sperre die tödliche Bedrohung auf- Kinoorten anzuschauen. Besonders aufregend halten. war der Versuch, in nicht jugendfreie Filme zu Zwei Szenen wie aus Alpträumen, aber mit kommen. Ich mit meinem Milchgesicht traute glücklichem Ausgang. Der gewaltige Sprung mich in der Regel nicht. Aber als der Film Nana des Pferdes als herrliches Bild der Rettung ging (mit Martine Carol und Charles Boyer) nach mir nicht mehr aus dem Sinn und wirkte über- dem gleichnamigen Roman von Emile Zola zeugender als das Kindergottesdienstbildchen gezeigt wurde, in dem es angeblich einen nack- vom demütigen Messias auf dem Esel. Das Kino ten Busen zu sehen gab, fasste ich mir ein Herz mit seiner Fähigkeit, in bewegten Bildern un- und gelangte auch tatsächlich ins Kino an der geheuer spannende Geschichten zu erzählen, Waitzstraße. An den Film habe ich weiter keine hatte mich in seinen Bann geschlagen – in der Erinnerungen, aber durchaus noch an den Ort, stickigen Luft des provisorischen Kinosaals an an dem ich diese Überschreitung eines Verbots EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 43
THEMA wagte. Als ich den Film jetzt auf ARTE wieder- kung Lars von Trier mit Breaking the waves und sah, sah ich zwar gewagte Dekolletees der um- Melancholia. werfend charmant verführerisch spielenden Jedenfalls eröffneten mir die jugendlichen Martine Carol, aber keinen nackten Busen! ersten Filmerlebnisse die große Welt des Ki- Im Bahrenfelder Kino, Bahrenfeld war an- nos. Trotz des Siegeszugs des Fernsehens in ders als Groß- Flottbek ein Arbeiterviertel, sah den 60er und 70er Jahren blieb ich ein treuer ich meine ersten Western. High Noon mit dem Kinogänger. Denn der Kinobesuch ist etwas einsamen Sheriff Gary Cooper, Der Mann, der Besonderes, genauso wie der Opern-und Thea- Liberty Valence erschoß mit John Wayne, der terbesuch. Der dunkle Vorführraum, die große uneigennützig seinem Konkurrenten um die Leinwand, inzwischen die bombastischen Ton- Liebe einer Frau, dem von James Stewart dar- anlagen, dazu natürlich auch das Popcorn, tren- gestellten Anwalt, das Leben rettet und ihn so nen diese Welt von der da draußen. Es hat sich berühmt macht. Die Postkutsche nach Santa mit den großen Multiplex-Kinos sicher viel an Fe mit dem Trompetensignal der US-Kavalle- der Film-Rezeption geändert. Und es wird nie- rie, das wie in Beethovens Fidelio zunächst von manden verwundern, wenn ich sage, dass ich draußen ertönend die Rettung vor den die Kut- viel lieber in die kleinen Programmkinos gehe, sche verfolgenden Indianern ankündigt. Als ich die es glücklicherweise noch gibt. Oder in die das Schema begriffen und internalisiert hatte, kommunalem Kinos, die selten gezeigte Filme Showdown mit dem Sieg des Guten und der spielen. Im Metropolis-Kino in Hamburg mit Zähmung der Gewalt durch Institutionen des seiner originalen Einrichtung aus den fünfziger Rechts (kürzlich sah ich den dafür exemplari- Jahren kann ich die Erfahrung meiner Jugend- schen Film Der Ritt zum Ox Bow noch mal) , jahre mit denen des älteren schon erprobten begann ich manchmal mit dem bösen Helden Kinogängers verbinden. zu sympathisieren, vielleicht ein Versuch infan- Ich habe Filmkritiken geschrieben und ver- tiler Allmachtsphantasien, dadurch das erwart- sucht Filme theologisch zu deuten, an vielen bare Schema aufzubrechen. Später geschah das Filmgesprächen in der Reihe „Licht und Dun- in den Hollywoodfilmen selber, die die Bösen kel“ im Abaton-Kino mitgewirkt. Ein erster stärker ins Zentrum rückten; das tun vor allem Artikel hieß „Der Theologe geht ins Kino“ und die Batman-Filme, die in Gothic City spielen erschien 1992 in der Pastoraltheologie. Seitdem bis hin zu dem jüngsten Blockbuster Joker. In gibt es populärtheologische Analysen zuhauf. diesen Filmen geschieht die Rettung der Welt, Darin konnten jüngere Theologen endlich die durch eine böse Macht bedroht wird, durch einmal ihre kulturellen Vorlieben und Leiden- einen messianischen gewalttätigen Erlöser - schaften mit ihrer theologischen Wissenschaft Endzeitdramen, deren Vorläufer die biblische verbinden und deren hermeneutische Qualitä- Johannes-Apokalypse ist. ten an Film- und Populärkunst erproben. Stell- Und natürlich die großen Liebesfilme, kei- vertretend für viele nenne ich Inge Kirsner, die nesfalls immer mit Happy End. Im Heidelber- in den letzten 25 Jahren (seit ihrem Buch Erlö- ger Studenten-Kino sah ich zum ersten Mal Les sung im Film 1996) regelmäßig unter religions- enfants du paradis. Ich erinnere mich noch, wie pädagogischem Aspekt dazu publizierte. Und ich nach der Schlussszene – Jean Louis Barrault Jörg Herrmann, der die Sinnmaschine Kino als Baptiste sucht verzweifelt die geheimnisvol- und die Sinnproduktion via Populärkultur le Garance, die im undurchdringlichen Gewühl im Erlebnishaushalt seiner Zeitgenossen wis- des Straßenkarnevals verschwunden ist - in die senschaftlich eruiert hat. Voraussetzung dieser Heidelberger Nacht ging, benommen von den Analysen war: Man versteht Filme und andere großen Gefühlen und tragischen Verwicklun- kulturelle Produkte manchmal besser, wenn gen auf der Leinwand. Heute erreicht diese Wir- man sie theologisch interpretiert, entdeckt das 44 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA Eigene im Fremden, kann das Fremdgeworde- terzäunen, Neubaugerippen, Niemandsland ne der Religion mithilfe der Kultur wieder zum und Heideflächen, die mitlaufenden Kinder, Eigenen machen. Eine Win/Win-Situation also, die Darbietungen auf Marktplätzen. Und dann wobei mir zuweilen die etwas zwanghafte Me- der herzzerreißende Schluss, als sich Zampano, thode, Filme theologisch auszuleuchten, auch nachdem er von Gelsominas Tod erfahren hat, eine Kompensation des Bedeutungsverlusts von betrinkt und weinend am Meeresstrand zu Bo- Theologie und Kirche scheint. Wir können of- den wirft – das kann nur das Kino, jenes Medi- fensichtlich nicht mehr selber so erzählen vom um, das Epiphanien inszenieren kann wie kein Reich Gottes, dass es aufleuchtet. Wir brauchen anderes, ohne in Illusionismus abdriften zu die Medien Film, Literatur, Kunst, um überhaupt müssen, wenn es denn großes Kino ist. eine Ahnung vom ganz Anderen zu vermitteln. Eine Kunst, die das Eis der Seele spaltet. „Ins Mit 8 Jahren ins Kino von Tante Tutti – und Kino gegangen, geweint.“ (Kafka) In der Predigt jetzt mit 80 Jahren bin ich immer noch ein akti- können wir Theologen dem nur nacherzählend ver Kinogänger. Vielleicht habe ich sogar schon hinterherhinken und, wenn es uns sprachlich die „tausend besten Filme“ gesehen, die man gelingt, bestenfalls etwas aufleuchten lassen nach einem Buchtitel vor seinem Tode gesehen von diesen Gleichniserzählungen der Moder- haben soll. Ich bin ein Cineast geworden, der ne – etwa den Schluss von Chaplins Lichter mindestens einmal in der Woche ins Kino geht. der Großstadt: Der Tramp steht verlegen vor Das Kinoerlebnis ist doch etwas anderes, als auf dem Blumenladen seiner heimlichen Liebe, der Mattscheibe einen Film zu sehen. Trotzdem die dank seiner Hilfe ihr Augenlicht wiederge- Dank an ARTE, das die Filme meiner Lieblings- funden hat. Sie erkennt ihn nicht. Aus Mitleid regisseure Fellini, Hitchcock, Bunuel, Godard, schenkt sie ihm eine Blume und drückt sie ihm Truffaut, Ingmar Bergmann, Kubrick, Altmann, in die Hand. Und an dieser Berührung merkt Wenders, Herzog, Faßbinder, Haneke, Dresen u.a sie, dass es die Hand ihres unbekannten Gön- zeigt. Gelegentlich gibt es diese Filme auch noch ners ist. Du bist es? Der Tramp nickt und lächelt mal wieder im Kino zu sehen. Man kennt den zart. Dieser große Moment der Anagnorisis, Film schon und entdeckt doch etwas Neues, er- der Wiedererkennung zweier Menschen - ist innert sich an das erste Mal, als man den Film in er nicht die filmische Realisierung des paulini- einem Kino sah, das es vielleicht nicht mehr gibt. schen Satzes „dann werde ich erkennen, wie ich Wo ich zuerst Fellinis La Strada gesehen erkannt bin“? habe, ich weiß es nicht mehr. Aber als ich ihn jetzt wiedersah im Metropolis-Kino, war ich so betroffen von diesem wunderbaren Film hj-benedict@web.de wie beim ersten Sehen – in der Liebe des nai- ven Mädchens Gelsomina zu dem sie ausbeu- tenden Schausteller Zampano leuchtet „die Gnade auf, in der sie sich befindet, ohne es zu wissen.“ (U.Gregor/E.Patalas) Selten ist im Kino der Glaube daran, dass auch das unscheinbarste Leben einen Sinn hat, so überzeugend realisiert worden. Man weint in dem untrüglichen Ge- fühl dafür, dass man nur so zu sein braucht, wie Gelsomina es in jenem Moment ist, als sie dem Seiltänzer lauscht und sich ihr Gesichtsaus- druck verlegen aufhellt, als er ihr sagt, Zampano liebt dich vielleicht. Jene arme Welt aus Bret- EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 45
THEMA Jim Jarmusch, Paterson Meditative Betrachtungen zu einem Film Der folgende Beitrag ist ein leicht wir in Jarmuschs Film gesprochen überarbeiteter Vortrag, den der hören. Gedichte sind aber auch Verfasser im November 2016 bei Bilder, Schriftbilder. Und Jarmusch der Mitgliederversammlung der zeigt uns, wie die Gedichte Pater- Arbeitsgemeinschaft für Erwach- sons auf die Filmbilder geschrieben senenbildung der Evangelische und damit selbst zum Bild werden. Kirche in Hessen und Nassau ge- Wir bleiben in der Welt des Alltägli- halten hat. chen. Aber es hat sich fast unmerk- lich verwandelt, in die Innenwelt des Atemraums und eine von uns I Karsten ch möchte über den Film „Pa- nicht betretbare Bilderwelt, die sich Visarius terson“ von Jim Jarmusch spre- beide ineinander spiegeln. Die Din- ist Executive Director chen (kurz bevor er 2016 in die ge sind plötzlich ein wenig entrückt von INTERFILM. deutschen Kinos kam). Der Film und gleichzeitig näher als sonst handelt von einem Busfahrer, der Dinge es sein können. so heißt wie die Stadt, in der er Man solle, hat Jarmusch gesagt, lebt, und wie der Film, der von bei- den Film einfach an sich vorüber- den erzählt, Paterson also. ziehen lassen. Wie Gedanken, würde ich hin- Paterson wacht jeden Morgen zwischen 6 zufügen – wir sind ja in einer Filmmeditation. und halb 7 neben seiner bildschönen und phan- Etwas abstrakter gesagt, folgen wir in „Paterson“ tasiebegabten Frau auf, frühstückt, geht zur Ar- einer Transformation, die das Alltägliche spiri- beit, fährt mit dem Bus durch die Stadt – also tualisiert. Es gewinnt etwas, was Walter Benja- Paterson -, isst zuhause zu Abend, führt den min dem Film prinzipiell abgesprochen hat, Hund aus und trinkt in einer Kneipe ein Bier, eine Aura – nach seiner Definition die einma- sechs Mal hintereinander, dann kommt der lige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch Sonntag. Ein Durchschnittsmensch. Er tut al- sein mag. lerdings etwas, was nur wenige tun: er schreibt Am Sonntag trifft Paterson auf einem Spa- Gedichte. Wie sein Vorbild, William Carlos Wil- ziergang einen Japaner, ebenfalls ein Dichter, liams, der einen großen Gedichtzyklus mit dem der wegen William Carlos Williams nach Pater- Titel „Paterson“ geschrieben hat. son gekommen ist. Paterson, der Busfahrer, schreibt über das, was Warum ausgerechnet ein Japaner? Ich vermu- er sieht und hört, eine Streichholzschachtel auf te, weil der größte Poet des Kinos, jedenfalls für dem Frühstückstisch zum Beispiel, die zum An- viele, die das Kino lieben, der japanische Regis- fang eines Gedichts wird. seur Yasujiro Ozu ist. Von seinen über dreißig Wenn Dinge in ein Gedicht eingehen, dann Filmen heißt es, er habe, mit Variationen, immer wandern sie in den Atemraum, wie Paul Celan wieder den gleichen Film gedreht. Wie Paterson, das genannt hat. Das bezieht sich natürlich auf in Variationen, immer wieder den gleichen Ta- gesprochene und gehörte Gedichte, wie die, die geszyklus durchlebt. Das große Thema bei Ozu EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 47
THEMA Eine Filmmediation. Paterson (gespielt von Adam Driver) ist Busfahrer in Paterson und macht, was Busfahrer normaler- weise nicht tun: Er schreibt Gedichte. Foto: vice und in „Paterson“ ist die Zeit – und die Zeitlosig- genannt. Er praktiziere den Buddhismus zwar keit der Zeit. nicht, lese aber viel darüber. Sich der Zeit zu entziehen, ist kein westliches In „Paterson“ gibt es keine Buddhas, keine Motiv. Der Westen ordnet vielmehr alles der Mönche, es werden keine Suren gelesen und Zeit unter. Ich weiß, das ist eine starke Behaup- kein Gong angeschlagen, und sein Schöpfer tung, aber im Rahmen meiner kleinen Medit- ist, wie er sagt, höchstens ein Pseudo-Buddhist. ation sei sie mir gestattet. Mit dem Blick eines Dennoch ist es ein Film, dessen Haltung, dessen Japaners hingegen betrachtet kommt es darauf Erzählweise und visueller Stil von buddhisti- an, sich von der Zeit zu lösen. Und damit von schen Ideen, Einsichten und Prinzipien beein- all den Ambitionen, die uns an die Zeit ketten, flusst sind. Wir oder die meisten von uns wer- von den Leidenschaften, vom Begehren, vom den das wahrscheinlich nicht erkennen. Weil Ehrgeiz, vom Willen zur Macht. unser Säkularismus selbst eine christliche Erb- Diese Haltung, dieses Konzept, ist religiös in- schaft ist, die uns den Blick auf uns selbst und spiriert, nicht nur, aber auch. Allerdings stammt auf die Religionen der Welt verstellt. diese Inspiration nicht aus dem Christentum auch nicht aus dem Judentum oder dem Islam. Medien und Kultur Es kommt vielmehr aus der asiatischen Welt, aus „Paterson“ ist FILM DES MONATS November dem Buddhismus, der in den letzten Jahrzehn- 2016 der Evangelischen Filmjury. Zu „Pater- ten auch Menschen der westlichen Welt angezo- son“ wäre noch einiges mehr zu sagen. Man gen hat. Er ist von Ost nach West gewandert, wie kann ihn zum Beispiel als einen Anti-Trump- der Japaner in „Paterson“. In einem Interview Film sehen und ihn in einen aktuellen Kontext hat Jarmusch sich „eine Art Pseudo-Buddhist“ stellen. Auch der Busfahrer Paterson gehört zu 48 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
THEMA jener unteren Mittelschicht, die, wie es heißt, 10 Thesen zur kirchlichen Kommuni- das wichtigste Wählerpotential Donald Trumps kation der Bilder-Galaxis bildet. Und es ist nicht ganz uninteressant, ein Gegenbild zu jenen weißen, wütenden, von Ab- Thesen stiegsängsten geplagten und ressentimentgela- 1. Die filmische oder „audiovisuelle“ Kom- denen Männern zu sehen, denen Trump eine munikation im 21. Jahrhundert umfasst alle Stimme gibt. Lebensbereiche. Sie dominiert die Kommuni- Es ist auch, wie ich versucht habe zu zeigen, kation in wachsendem Maße und nutzt von der ein Film zum interreligiösen Dialog, der aller- spontanen Mitteilung über Propagandavideos dings die Fixierung auf den Dialog mit Mus- bis zu komplexen filmischen Universen die un- limen und Juden hinter sich lässt und damit terschiedlichsten Formen. Aktuell verbringen erkennbar macht, dass es dabei gar nicht um die Deutschen mit Bildmedien durchschnittlich einen Dialog der Religionen geht, sondern um 351 Minuten pro Tag, mit Printmedien 51 Mi- politische und soziale Fragen. Ginge es um Re- nuten(Stand: 2014). ligion, müsste man sich wohl zuerst die eigene 2. Auch Religion wird im 21. Jahrhundert in religiöse Indifferenz eingestehen. filmischen Bildern erzählt. Vor allem für die, Schließlich ist es auch – wenn auch vielleicht die nicht mehr oder kaum noch in den Gottes- nur am Rande – ein Film zum Verhältnis von dienst gehen. Und sowieso immer dann, wenn Medien und Kultur. Paterson verzichtet zum Gottesdienste nicht stattfinden. Erzählende Beispiel ausdrücklich auf ein Handy. Er schreibt Filme mit ihren vielfältigen Sinn- und Deu- seine Gedichte in ein Notizheft, und der Film tungshorizonten werden zu einer Quelle religi- schreibt sie noch einmal auf die Leinwand. öser Erfahrung. Auch deshalb ignoriert der Film all das, was die 3. Die meisten religiösen Filmerzählungen Medien uns von morgens bis abends als aktuel- sind nicht oder nur indirekt christlicher Her- le Gegenwartsfragen vor die Füße werfen. Peter kunft. Von Avatar über Harry Potter, Lord of Sloterdijk hat die von den modernen Medien, the Rings oder Star Wars (und ihre Fortschrei- hauptsächlich Fernsehen und Internet, durch- bungen) schöpfen sie aus den unterschiedlichs- drungenen Gesellschaften als „Erregungsge- ten religiösen Quellen und verschmelzen sie meinschaften“ gekennzeichnet, die sich ständig zu neuen Synthesen. Sie spiegeln die religiöse in einem gewissermaßen hysterischen Modus Dynamik der Gegenwart und sind besonders befinden. Die wunderbare Entspanntheit und wirkungsvoll auch deshalb, weil die genuine Gelassenheit, die der Film sich erlaubt, ist ein Kenntnis der religiösen Tradition schwindet. Gegenbild zu diesem Zustand – wenn auch viel- 4. Filmischen Erzählungen gelingt es, öf- leicht nur ein Wunschbild. fentliche Gemeinschaften zu erzeugen. Im Unterschied zur individuellen und privaten Nutzung von Filmen über Fernsehen und In- ternet versammeln sich Menschen im Kino zu einem gemeinsamen Filmerlebnis. Diese Form kollektiver Erfahrung verbindet den Kinofilm mit dem Theater, der Kunstausstellung, dem Fußballspiel oder dem Konzert – und mit der Kirche. Die Intensität der gemeinsamen Erfah- rung hinterlässt dauerhafte Erinnerungsspuren in den individuellen Biografien. 5. Für die Vermittlung ihrer religiösen Bot- schaften und ihrer ethischen Positionen muss EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 49
THEMA die Kirche imstande sein, an den Prozessen Film seit Beginn und haben bis heute nichts filmischer Kommunikation teilzunehmen. Auf- von ihrer Attraktivität verloren. Sie bilden zu- grund des hohen finanziellen und technischen gleich ein mächtiges Deutungsmuster für die Aufwands für massenwirksame filmische Ange- Welt und das eigene Schicksal in ihr. Das kirch- bote kann die Kirche dies nur in seltenen Fällen liche Filmverständnis ist einem anderen Deu- durch eigene (Film-)Produktionen erreichen. tungsmuster verpflichtet, das seine Kraft aus an- Sie muss deshalb intelligente Formen nutzen, deren Quellen bezieht. Die antiheroische und um sowohl die Köpfe der „Macher“ als auch die antiglamouröse Botschaft der Kirche muss sich der Nutzer zu erreichen. auch in der Filmkultur bewähren. 6. Die Stärke der Kirche liegt im Bereich der 10. Bildung: Filmbilder wirken unmittelbar Metakommunikation. Metakommunikation im und können verschiedenen Zwecken dienen. Filmbereich heißt: Deutung (im Dialog, durch Deshalb ist Aufklärung über Filme notwen- Reflexion und Kritik), Orientierung (durch dig. Filme funktionieren ohne Vorbildung und Auswahlkriterien, Empfehlungen und Aus- ohne Ausbildung. Sie erreichen deshalb ihr Pu- zeichnungen), Bildung (durch Vermittlung von blikum ungefiltert, auch die dümmsten, verlo- filmkulturellem Wissen und Fähigkeiten) und gensten und scheußlichsten. Für eine humane, Glaubwürdigkeit (durch Kompetenz über den erst recht christlichen Maßstäben verpflichtete Filmbereich hinaus). Filmkultur ist deshalb, neben dem Schutz von 7. Deutung: Filmische Bilder sind grundsätz- Kindern und Jugendlichen, eine filmische Al- lich mehrdeutig. Deutung ist selbst ein Teil des phabetisierung unerlässlich. Wirkungsvoller als filmischen Kommunikationsprozesses. Sie voll- Verbote ermöglicht sie dem Filmzuschauer, die zieht sich spontan und bleibt häufig unbewusst. Qualität von Filmen selbständig zu beurteilen, Dabei kann sie Vorurteile bestätigen wie um- die eigenen Filmvorlieben zu verstehen und ein gekehrt die eigene Urteilsbildung anregen. An selbstbestimmtes Verhalten gegenüber Filmen dieser Stelle setzt die kirchliche Filmkritik an. einzunehmen. Sie nimmt den Dialog mit den Filmen und mit den Zuschauern auf und stärkt Reflexion und Urteilsfähigkeit. kvisarius@gep.de 8. Orientierung: Durch die Bilderproduktion entsteht ein Bildermeer, deshalb ist ein Kom- pass nützlich. Filme lassen uns an den Erfah- rungen anderer Menschen teilhaben. Sie kön- nen uns sowohl Mitleid und Trauer vermitteln wie Bilder der Hoffnung und eines erfüllten Lebens schenken. Es gibt aber auch Bilder, die verführen, manipulieren, zu Gewalt anstiften und die Sinne abstumpfen. Es bedarf filmerfah- rener Mentoren oder Kuratoren, um in diesen Ambivalenzen Orientierung anbieten zu kön- nen. Orientierung entsteht durch überprüfba- re Qualitätsmaßstäbe und eine darauf fußende Auswahl. Nationale und internationale kirchli- che Filmjurys bauen einen exemplarischen Ka- non empfehlenswerter Filme auf. 9. Glaubwürdigkeit: Filmbilder sind immer auch Vorbilder. Helden und Stars begleiten den 50 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
DIE LETZTE SEITE Das letzte Wort Filme ergänzen das wirkliche Leben. Sie verleihen öffentlichen Meinungsbefragungen Farbe. Sie schär- fen unsere Bewußtheit fürs Ungreifbare und spie- geln den verborgenen Verlauf unserer Erfahrung. Sie stellen Situationen heraus, die direkt oft nur schwer faßbar sind, die uns aber zeigen, was wir unter der Oberfläche über uns selber denken. Dies trifft in be- sonderer Weise auf solche Leinwandmotive zu, die scheinbar unbeabsichtigt eingeführt worden sind. Die Filmemacher haben ein vitales Interesse an SIEGFRIED dem Massenpublikum, und so darf angenommen KRACAUER werden, daß solche Motive – vorausgesetzt, sie treten mit einiger Regelmäßigkeit auf – einen Bezug zu den Haltungen, Wünschen und Reaktionen vieler, sehr viele Menschen haben. Filme spiegeln unsere Realität. Schauen wir also in diesen Spiegel. Siegfried Kracauer, Kino (Hg. Karsten Witte) Frankfurt a.M., 1974, S. 249 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022 53
VORSCHAU & IMPRESSUM Vorschau Kirche & Geld In der Kirche werde mehr über Geld als über das Evangelium ge- sprochen, sagen die Einen. Die Anderen, erst kämen die Finanzen, dann die biblische Botschaft. Wofür gibt die Kirche ihr Geld aus? Beiträge bitte bis zum 15. März 2022 Israel & Palästina Die Nordkirche bezeugt laut Verfassung die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Was aber ist gemeint, wenn im Kontext pro- testantischer Theologie „Israel“ gesagt wird? Beiträge bitte bis zum 15. April Rassismus Welche Rolle spielt unsere europäische von weißen Männern und Frauen dominierte Kirche bei diesem Thema? Was kann und was muss getan werden, um dem schleichenden Rassismus entgegen- zuwirken? Oder wird das Thema überbewertet? Beiträge bitte bis zum 15. Mai Schreiben Sie! Zu Themenschwerpunkten, die für die nächsten Ausgaben geplant sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden. redaktion@evangelische-stimmen.de IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Druck: Evangelischer Presseverband Dr. Friedrich Brandi (ViSdP) Hugo Hamann Norddeutschland GmbH, Offsetdruckerei, Kiel Gartenstr. 20, 24103 Kiel Layout: Evangelischer Presseverband Die Evangelischen Stimmen erscheinen mo- Verlag: Norddeutschland GmbH natlich. Das Jahresabonnement kostet 55,20 € Evangelischer Presseverlag Nord GmbH, Tel. (040) 709 75 - 277 inkl. Versandkosten innerhalb Deutschlands. Gartenstr. 20, 24103 Kiel, Die Kündigungsfrist beträgt Postfach 34 66, 24033 Kiel, Anzeigen: 6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die Tel. (0431) 55 77 99 Kristina Heesch Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen Fax (0431) 55 779 - 292 Tel. (0431) 55 77 9 - 206 oder Initialen gekennzeichnete Beiträge Geschäftsführer: Bodo Elsner Fax (0431) 55 77 9 - 292 geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte Redaktionsanschrift: Vertrieb und Abonnementverwaltung: Beiträge und Bücher werden nicht zurück- Evangelischer Presseverband Inge Limburg geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind Norddeutschland GmbH, Tel. (0431) 55 77 9 - 271 urheberrechtlich geschützt. Schillerstraße 44a, 22767 Hamburg E-Mail: vertrieb@evangelische-stimmen.de ISSN 0938-3697 Tel. (040) 70 975 - 200 Fax (040) 70 975 - 249 E-Mail: redaktion@evangelische-stimmen.de 54 EVANGELISCHE STIMMEN 3 | 2022
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