EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
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C 21134 September 2021 | 9 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Wer hat die Macht? Der Allmächtige oder der Mensch? Abgang der Schwache Das Asyl der Machthaber und Macht und Macht Honeckers. Eine Alleskönner der Schwachen Vergebungsgeschichte.
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, das Verlangen nach eindeutigen Antworten ist bei vielen Menschen unstillbar – auch in der Kirche. Da durchlaufen Studenten und Stu- dentinnen der Theologie ein recht komplexes Studium, setzen sich mit Religionsgeschichte sowie dem Wandel des JHWH-Glaubens in Israel auseinander, denken über den Sinn des Lebens angesichts der Ewigkeit nach, studieren Paul Tillich und andere, die Gott als die Tiefe des Seins verstehen – und kaum sind sie als Pastorin oder Pastor in der Gemeinde, wird bei einigen aus diesem differenzierten Gedan- ken- und Glaubensgebilde ein eher schlichtes Gottesbild, das mehr an Kindergottesdienste erinnert als an ein hochspezialisiertes Studi- um der Theologie. In den Gemeinden ist die Verführung groß (ich kenne das sehr wohl), eindeutige Antworten auf – vielleicht noch nicht einmal gestellte – Fragen nach der Wirklichkeit Gottes, der Auf- erstehung oder dem Pfingstwunder zu geben. Dabei dürfte das gel- ten, was Christian Lehnert (Der Gott in einer Nuss. 2017) so sagt: FRIEDRICH Die Wirklichkeit Gottes liegt ... jenseits des Wortpaares anwesend-ab- BRANDI wesend. Das ist eine Erfahrung vieler gläubiger Menschen, daß Gott ihnen gerade dort am stärksten gegenwärtig sein kann, wo er schmerzlich vermißt ist. Die Frage nach „Gott“ ist vielleicht bereits die deutlichste Form seiner Gegenwart, und wo er vollmundig bekannt wird, kann er ferner sein denn je. (S.21) Es ist nicht leicht, aber not- wendig, diese Spannung auszuhalten. So ist das Ergebnis (wenn das denn überhaupt der richtige Begriff ist) des 2. Ratzeburger Unikollegs zu „Wer hat die Macht?“ nur fol- gerichtig: Es gibt keins. Aber, auch das ein Ergebnis dieser hier do- kumentierten Beiträge der Tagung, es ist unverzichtbar, sich darüber Gedanken zu machen und diese zu vertiefen – an den Universitäten und eben auch in den Gemeinden. Es wünscht eine ambivalenz- und theologiegesättigte Lektüre Ihr www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 3
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial Friedrich Brandi 4 6 „Wer hat die Macht?“ Anne Gidion und Martin Zerrath 8 Macht und Ohnmacht Gottes Christoph Berner 37 Netzwerken, unterstützen und Impulse geben 13 Abgang der Machthaber Marion Janser und Alleskönner Michael Moxter 40 Allmächtig Christoph Karstens 19 Schwache Macht und Macht der Schwachen 41 Video: Alles helal Dr. Heinrich Assel Martin Schulz 43 Zu guter Letzt 24 Die Pandemie — Strafe Gottes Friedrich Brandi 44 Vorschau 27 Mehr als ein Praxis-Handbuch Marcus Friedrich 30 Eine Evangelische Stimme Michael Ahme 32 Faktencheck Bugenhagen Ferdinand Ahuis 35 Eine Vergebungsgeschichte Jürgen Wehrs Titelbild: Macht und Ohnmacht Foto: Pixabay EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 5
THEMA Abgang der Machthaber und Alleskönner Glaube an Gott nach dem Ende Politischer Theologie Angeregt ist mein Vortragstitel eben auch, um sich auf bestimmte von den Einleitungskapiteln des Weise darzustellen. Natürlich gilt Lukasevangeliums, sozusagen auch die Umkehrung, von der als als Widerhaken für einen neu- erstes die Rede sein soll: die Aus- testamentlichen Beitrag, denn er richtung der Rede von Gott am greift den oft nachgesungenen Phänomen der Macht. Im Blick Vers aus dem Magnificat auf: „Er auf beide Seiten möchte ich die stößt die Machthaber vom Thron Aufmerksamkeit auf die Reprä- und erhebet die Niedrigen“ (Lk sentationsformen, auf Figuren und 1,52). Figurationen, in denen sich Macht Dr. Michael präsentiert, lenken und also die Moxter gestellte Frage: Wer hat die Macht? D ist Professor für Syste- iese Überzeugung antwor- mit medialem Hintersinn ange- matische Theologie an tet auf die Ankündigung hen: wie stellt sich Macht dar? der Universität Hamburg des Engels Gabriel, die sich im weiteren Verlauf der Erzählung 1. Was ist mit Politischer freilich nicht bestätigt: der Ankün- Theologie gemeint? digung, dieser werde groß sein und Ich gebrauche den Begriff nicht im Sohn des Höchsten genannt und ihm werde der Sinne einer Theologie, in die bestimmte poli- Thron seines Vaters David gegeben und als Kö- tische Überzeugungen eingemischt sind, auch nig über Jakob für immer herrschen. Da mag nicht im Sinne einer Theologie, die öffentliche der Engel etwas geflunkert haben – um Maria Verantwortung übernehmen will, darum auch zur Mitarbeit zu gewinnen. Aber er schließt zu politischen Statements bereit ist. Mein Inter- seine Rede mit der berühmten Bemerkung: esse zielt auf den älteren und spezifischeren Ge- Bei Gott ist kein Ding unmöglich – womit der brauch, unter dem Carl Schmitt seine Attacken Begriff der Allmacht im Sinne eines Alles-Kön- gegen die Weimarer Republik geführt hat und nens zumindest kurz aufscheint. der im Widerspruch zu seinem Nationalsozi- Sodann ist von Politischer Theologie die alismus in den dreißiger Jahren schon die Ge- Rede und sogar von deren Ende: Dieser Teil genthese von der „theologische[n] Erledigung des Titels steht für die Beobachtung, dass die der politischen Theologie“ auf sich zog (Erik Selbstbeschreibung und Selbstinszenierung Peterson), mit Blick auf die später alternative, von Macht sich der Theologie und also der Got- faschismusresistentere Formen einer anderen tesvorstellungen bedient hat, ihrer Bilder und Politischen Theologie (Kantorowicz/Taubes) Metaphern, ihrer Erzählungen und Vorstellun- skizziert wurden und die schließlich in den gen, um sich Legitimität zu beschaffen, aber letzten Jahrzehnten neue Aufmerksamkeit vor EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 13
THEMA allem bei Giorgio Agamben fanden, übrigens einer durchsetzt und alle anderen samt des zu- auch im posthum veröffentlichten Briefwech- gehörigen Volkes unterwirft, so obsiegt Zeus, sel Hans Blumenbergs mit Schmitt. Den vielen der Höchste, über die anderen Götter, die ihm Namen, mit denen ich hier auffahre, kann ich fortan unterstellt sind, und deren Prädikate er selbstverständlich nicht gerecht werden. Ich er- im Übergang von der Monolatrie zum Mono- laube mir, ohne Rücksicht auf Verluste einige theismus allmählich übernimmt. Gegenläufig eigene Eindrücke herauszuarbeiten. verbindet sich, wie man in unserer Zeit be- Dass zwischen sozialer und politischer Ord- obachten kann, das politische Bekenntnis zu nung einerseits und Religion andererseits ein Demokratie, Pluralismus und Konvivenz mit innerer Zusammenhang besteht, werden Pro- massiver Kritik an immanenter Gewalt der Mo- testantinnen und Protestanten nicht bestrei- notheismen und Einzigkeitsansprüche und ten- ten, vor allem nicht mitten in der Annäherung denziell mit einem Plädoyer für Polytheismus an die 500 Jahr-Feier des Wormser Reichstag. oder einer Hochschätzung einer Antike, in der Aufregung hier bedeutet Unruhe dort und alles bunt und friedlich gewesen sei. Hier wie umgekehrt. Den Sachgrund für diese Zusam- dort gilt: Gottesglaube und politische Ordnung mengehörigkeit könnte die These liefern, dass reflektieren sich ineinander: Gott als Herrscher, die religiösen Handlungen und Vorstellungen der Herrscher als Gott – die Einheit der Macht ihren Gehalt in der Macht haben, die das Zu- erscheint als das probate Mittel gegen Ord- sammensein mit anderen, also auch: die Gesell- nungsschwund, Atheismen aller Art führen zu schaft über die einzelnen, ausübt. Schlechthin- Anarchie und Umsturz, Stabilisierungen der nig abhängig sind die Mitglieder einer Gruppe politischen Ordnung bedienen sich der Religi- oder Gesellschaft von dem größeren Ganzen, on, neigen aber auch dazu, diese für obsolet zu dem sie angehören, sie verdanken der Gesell- erklären, sobald sie sich mit einer Art Ewigkeits- schaft eine Fülle von Möglichkeiten (von der garantie ausgestattet glauben. Sprache bis zur Krankenkasse), sie müssen aber Von diesem allgemeinen Hintergrund hebt deren Macht auch fürchten (von Strafen über sich Carl Schmitts Begriff der Politischen Theo- soziale Ausgrenzung bis zum Staatsbankrott). logie zunächst dadurch ab, dass er ein Säkula- Mit dieser Ambivalenz von ermöglichender risierungstheorem in die Wahrnehmung dieses und repressiver Abhängigkeit (Jürgen Haber- Zusammenhangs von Sozialität und Theolo- mas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. gie einmischt, nämlich seine Behauptung, alle II, 581) müssen die Einzelnen zurechtkommen. prägnanten Begriffe der Politischen Theorie Religionen vergegenständlichen und bearbei- seien säkularisierte theologische Begriffe. Das ten diese soziale Urphänomene, sie geben der gilt vor allem für den Leit- und Hauptbegriff Macht, von der alle abhängen, Namen, sie ver- der Souveränität: zunächst sei Gott als Souve- ehren die Götter, die ebenso sehr Schutz wie rän und als Machthaber gedacht worden, im Infragestellung, ebenso sehr Ermutigung zum Licht ihrer göttlichen Beauftragung, auf dem Leben wie Krisis bedeuten (Emile Durkheim). Goldgrund der Repräsentation, ja Inkarnation, Dieser Zusammenhang konkretisiert sich, heiliger Macht vermochten Fürsten und Köni- wenn die politische Ordnung Herrschaftsfor- ge, schließlich der Kaiser, ihre jeweilige Macht men ausbildet, denen Gottesvorstellungen herzuleiten und zu bekräftigen. Auf dem Bo- präzise entsprechen, etwa wenn sich Allein- den der Republik und angesichts der Vorstel- herrschaft (Monarchie) mit Monotheismus ver- lung, dass alle Macht vom Volk ausgehe, sei bindet und die Durchsetzung des Machthabers dieses Erbe enttheologisiert und dabei einem gegenüber anderen sich im Glauben an den Liberalismus ausgesetzt worden, der die Eigen- einen Gott oder in der Göttlichkeit des Einen art des Politischen nicht einmal mehr begreife. spiegelt. Wie sich unter Thronprätendenten Souveränität werde im liberalen Rechtsstaat in 14 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA Es ist eher das trinitarische Gottesbild als das Ende der Monarchie, womit die Vorstellung von Gott als dem alleinigen Weltenherrscher obsolet geworden ist. Foto: unsplash institutionelle Kompetenzen verwandelt und Interpretationen und Lesarten. dadurch als persönliche Macht unsichtbar ge- Wenn wir Schmitts Analyse der Politischen macht: in der öffentlichen Wahrnehmung und Theologie von dieser großformatigen und offiziellen Selbstbeschreibung dominierten nur schon darum verdächtigen Säkularisierungsthe- noch Regeln und Verfahren, Normentexte, die se abkoppeln, können wir andere Motive, die ausgelegt, fortgeschrieben, gelegentlich auch sie zu ihr gehören, auf den Prüfstand legen. Ich geändert, die aber nicht länger von einer höchs- denke zuerst an den Begriff der Souveränität, der ten Macht aus gedacht werden. Der Gesetzge- Schmitts Überlegungen zur Politischen Theolo- ber verschwindet hinter dem Gesetz, das er gie einleitet. Souveränität ist höchste, nicht ab- aber doch nur geben konnte, weil und insofern geleitete Herrschermacht. Insofern ist die Frage er die höchste, jeden anderen Willen bindende dieses Kollegs: wer hat die Macht? die Frage da- Macht ist und bleibt. Entsprechend die Theolo- nach, wer Souverän ist. Sie setzt in dieser Fas- gie im Zeitalter ihrer Liberalisierung: sie weiß sung voraus, dass schon klar ist, worin ‚Macht‘ alles über Texte und legt diese historisch oder besteht, aber noch offen bleibt, wer sie innehat. gegenwartsbezogen aus, aber sie kennt hinter Das passt ganz gut zum methodischen Vorge- den Traditionen und Überlieferungen der Bibel hen Schmitts, der danach fragt, wer Souveränität keinen göttlichen Autor mehr, der im Ernst et- ausübt, wer entscheidet. In diesem Sinne einer was zu sagen hätte. Hier wie dort, in der Religi- Verortung von Macht lautet seine berühmt-be- on wie im Recht, löse sich die auctoritas, die für rüchtigte Definition: „Souverän ist, wer über die Texte bürgte, auf und hinterlasse nur noch den Ausnahmezustand entscheidet“. In dieser EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 15
THEMA Definition verbindet sich der Begriff der Ent- weil ich an die Gegenthese erinnern möchte, scheidung (Dezision) mit dem des Ausnahme- die ihm erst später bekannt wurde, und ihn zustandes, der in den letzten Jahren besondere zum Wutanfall und angeblich zu einer Herzat- Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Ausnahme- tacke geriet und die ihn bis in die letzten Jahre zustand ist für Schmitt weder Belagerungszu- seiner Autorschaft umgetrieben hat. Ich meine stand noch Notstand im Horizont äußerer Ge- die These seines einstigen Freundes und Trau- fahren, sondern ist seiner inneren begrifflichen zeugen Erik Petersons, des von Karl Barth we- Struktur nach der Fall einer Außerkraftsetzung gen seiner Socken lächerlich gemachten, nach der Regeln und Normen. Und zwar eine solche der Konversion zum Katholischen Glauben Form, in der der Normenbestand nicht durch aus der Bonner Fakultät ausgeschiedenen Kir- eine andere und insofern neue Norm abgelöst chengeschichtler. Petersons These lautete, dass oder korrigiert wird, sondern in dem dessen das von Schmitt herausgestellte Syndrom Poli- Geltung im Prinzip aufrecht erhalten bleibt, tischer Theologie theologisch erledigt sei, weil aber (vorübergehend) suspendiert wird. Und die christliche Theologie sich gerade nicht im die Frage nach der Macht ist auf eben diese Horizont eines gesteigerten Monotheismus, der Möglichkeit bezogen: Souverän ist, wer Norma- Monarchia und der absoluten Macht, sondern lität als Durchsetzung der Norm sistieren kann. als Explikationsgestalt eines trinitarischen Got- Diese Bestimmung des politischen Souver- tesglaubens entworfen habe. Für Petersons ei- äns ist theologisch durch und durch. Denn so genwillige Auslegung altkirchlicher Texte muss wie Gott als der Schöpfer aller Dinge Naturge- man keine Zustimmung unter Kolleginnen und setze in Geltung setzt, die für immer gelten und Kollegen der Kirchengeschichte erwarten. Aber den Lauf der Gestirne oder den Wechsel von da der Autor als enfant terrible der dialekti- Sommer und Winter verlässlich gestalten, so ist schen Theologie zu schaffen machte, könnten er doch zugleich der Allmächtige, der die Son- wir seinen „Einspruch“ (E. Jüngel) immerhin ne stillstehen lassen kann, um Israel zu retten, als Hinweis und Platzhalter für eine noch aus- und der Wunder ausübt, wenn er Naturgesetze stehende Dekonstruktion des Machtdiskurses und routinierte Abläufe durchbricht. Und nicht verstehen. Es bliebe zweideutig die Frage, wer nur als Schöpfer bleibt Gott Souverän. Gerade die Macht habe, mit dem Bekenntnis zu Gott auch als Erlöser, der Heil und Rettung bringt beantworten zu wollen, solange man nicht in und will, dass allen Menschen geholfen werde, der Lage ist, Gott so zu denken, dass man der ist dieser Gott vor allem Souverän, der seinen hier skizzierten mesalliance entgeht. Heilswillen auch sistieren und so einerseits die- sen oder jenen Menschen, andererseits aber so- 2. Bedeutungstransfer gar die überwiegende Anzahl verwerfen kann. Schmitts Säkularisierungsthese schränkt das Sowohl im Verhältnis von Schöpfungs- und Verhältnis von Machtphänomen und Gottes- Geschichtshandeln wie auch im Verhältnis von glaube auf Herkunft und Verfall, auf einlinige Rettung und Verwerfung wird Gott als einer Dependenz und das Vorrecht des Ursprungs gedacht, dessen Macht sich darin zeigt, dass er ein. Sie ist mit einer gewissen Vorliebe für den alles wohl ordnet und heilvoll wendet, zugleich Adel gedacht. Man könnte aber auch an einen aber die noch größere Macht der Durchbre- wechselseitigen Transfer von Bedeutungen den- chung der Ordnung für sich behält: eine potes- ken, an Verschiebungen im Symbolsystem, an tas absoluta, die dem irdischen Machthaber äh- Netzwerke, in denen es auf Verbindungsmög- nelt, der legibus absolutus sich über die Regeln lichkeiten ankommt. So wenig Bedeutungen et- hinwegsetzt, die eigentlich für alle gelten. was bloß mentales, ausgedachtes oder gemein- Ich habe Ihnen Carl Schmitt als einen Macht- tes sind, sondern Ordnungen präsentieren und theoretiker der strengen Observanz vorgeführt, Praxen orientieren, so sehr kommt es darauf an, 16 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA auf Bedeutungsübertragung (Metaphorisierun- Versuch einer kreuzestheologischen Dekonst- gen), auf Beweglichkeiten und Anschlussfähig- ruktion der Macht Gottes, so wird mit der Figur, keit zu achten. beim wahren Gott sei eben alles anders, alleine Bedeutungskonstitution in beweglichen nicht auskommen können. In den Blick genom- Grenzen macht auch verständlich, warum der men werden müssen auch unsere Erwartungen Wandel der politischen Ordnung im Symbolsys- an die Macht und die Gründe, warum wir nach tem Konsequenzen zeitigt. Dass wir uns heute ihr begehren. Gott nicht mehr als souveränen Weltherrscher Viel ist gegenwärtig vom Gebet die Rede, vorstellen, der sich in launigen Momenten vä- aber die Rekonstruktion des Bittstellers oder terlich gibt, ist vermutlich nicht nur der Kritik der Vorzimmercharme dessen, was bei Schmitt patriarchaler Ordnungen gedankt, auch nicht Zugang zum Machthaber heißt, verdiente deut- das ausschließliche Resultat der Beobachtung, licher betrachtet zu werden. Es war kein Zufall, dass die Wiederkehr der Autokraten zum Auf- dass Bonhoeffer gerade am Phänomen des Bitt- tritt der Schurken gerät, sondern ist vor allem gebets in Lebensgefahr Luthers Kreuzestheolo- Ausdruck und Medium eines anderen Verständ- gie erneut eindrücklich wurde. Aber dass Gott nisses des Politischen. als der Gekreuzigte uns mit seiner Schwäche Schaut man zurück auf die von Dietrich hilft, wird doch erst dann recht bedacht, wenn Bonhoeffer markierte Überführung des All- verstanden ist, dass die bloße Ersetzung von machtgedankens in die Rede von der Schwach- Allmacht durch Schwäche mit dem Grenzwert heit Gottes, in merkwürdiger Nähe zur schwa- ‚Ohnmacht‘ viele Fragen offen lässt. Dogmati- chen messianischen Kraft, und liest man sie als sche Aufklärung schafft die Faszination für die „Am Anfang war das Wort“ - wer die Macht haben sollte, war für den frühen Luther recht eindeutig beantwortet. Foto: epd-bild/Tim Wegner EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 17
THEMA Macht nicht aus der Welt. In der Religion muss Bleibt schließlich noch die Möglichkeit, dass man mit der Dialektik von Erwartung und Ent- man die Macht Gottes gut evangelisch als eine täuschung produktiv umgehen. Macht des Wortes, als Macht, die Wahrheit zur Die Umwertung im Symbolsystem unter Darstellung zu bringen, denkt. Kommunikative dem Motto: Statt Allmacht lieber göttliche Soli- Macht wäre von der Art einer Einsicht, die sich darität mit denen, die auch keine Macht haben durchsetzt – was nur geschieht, wo Menschen mag für einen ersten Blick revolutionär klin- sie selbst nachvollziehen und also in eigener gen. Aber man darf und muss doch auch nach- Freiheit zu bekräftigen vermögen. Ungezwun- fragen, ob der ausgerufene Minimalismus nicht gene Zustimmung zu etwas, worauf man selbst von der heimlichen Überzeugung begleitet ist, doch nicht gekommen wäre, das wäre Erfah- lean sei beautiful, die wahre Supermacht baue rung einer Macht, die bewegt, ohne diejenigen, sich von unten auf. Wäre theologisch mit dieser die sie anregt und anstößt, etwas demonstrieren Umwertung der Machtwerte geholfen? und aufzwingen zu müssen. Ich neige zur Zurückhaltung auch gegen- Wenn Gottes Macht nicht im Paradigma des über dem Versuch, die Phänomene der Macht strategischen, instrumentalisierenden, manipu- qualitativ umzuprägen. Letzteres geschieht, lierenden Handelns zu denken ist, könnte man wo an die Stelle von Durchsetzungsmacht und sie im Kontext des darstellenden Handelns re- Willkür göttlicher Souveränität die Macht zum konstruieren. An und mit der Macht, die sich Guten oder die Macht der Liebe treten. Also inszenieren muss, um Macht zu sein, hatten wir gewissermaßen ein Abstieg von der bezwingen- oben die Relevanz der Darstellung schon ken- den Macht des Zentralgestirns, um das alles in nengelernt, jetzt müsste sozusagen im Gegen- schlechthinniger Abhängigkeit kreisen muss, schuss von einer Macht gesprochen werden, die zugunsten der schmalen habitablen Zone einer allein aus Darstellung resultiert. Leben ermöglichenden gesunden Distanz, in Die Macht der Wahrheit, die sich durchsetzt, der ‚Gottes Liebe ist wie die Sonne‘ wenig er- das Licht, das einem aufgeht, aber auch das, was schreckendes mehr hat. uns Lachen macht – wären Beispiele für Unver- Man muss solchen Bearbeitungen unseres fügbares, das sich nicht zur Übermacht steigert, Themas ihr gutes Rechts nicht absprechen, aber jedenfalls nicht notwendigerweise und nicht doch die Frage nicht vergessen, ob solche dog- von Haus aus. Kann man der Macht – so meine matischen Rekonstruktionen nicht zu großzü- Abschlussfrage –, die stets eine Seite der Dar- gig Weichspüler einsetzen und in der Umprä- stellung, der Repräsentation hat, die Umkeh- gung bzw. Umdeutung des Macht-Wortes aus rung zur Seite stellen: eine Darstellung, die alle den Augen verlieren, worüber wir sprechen Macht daraus bezieht, dass sie Darstellung ist? müssen. Wenn nach Max Webers berühmter Definition, Macht in der Chance besteht, einem anderen einen Willen aufzuzwingen, der nicht michael.moxter@uni-hamburg.de der seinige ist, so ist daran jedenfalls so viel rich- tig, dass auch das Leben nicht immer freundlich und großzügig ist, sondern gelegentlich mit uns über Stock und Stein Schlitten fährt, weshalb Gottes Macht nicht ausschließlich auf die Seite dessen verbucht werden kann, was wir ohnehin begrüßen. Der Versuch, die Differenz zwischen Macht und Liebe von der Seite der Liebe aus entspannen zu wollen, verdeckt die Brüche, die zu uns gehören. 18 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA Schwache Macht und Macht der Schwachen Christologische und messianische Perspektiven 1. „Schwache Religionsge- zivilreligiösen Rhetorik der Bi- meinschaften“ und „die Su- den-Inauguration. In Deutschland, che nach dem Wir“ so Großbölting, fehle uns diese Interview mit Thomas Großböl- zivilreligiös zelebrierte Wiederge- ting, dem Direktor der Hamburger burt des We, the fellow Americans. Forschungsstelle für Zeitgeschich- Kanzler*innen-Wechsel sind keine te, am 24. Januar 2021 in Deutsch- Rituale der Bundeserneuerung. landradio Kultur. Das Jahres-The- O-Ton Großbölting: „Wir haben ma der Interview-Reihe im Format mit der hinkenden Trennung von „Religionen“, von den Hörer*in- Dr. Heinrich Staat und Kirche gute Erfahrungen nen mehrheitlich gewünscht, lau- Assel gemacht. Wir sind jetzt im Über- tet: „Auf der Suche nach dem Wir“. ist Professor für gang zum religions-paritätischen Welches „Wir“ sucht da eigentli- Systematische Religionsrecht“. Wir brauchen ches welches „Wir“? Sorgt sich das Theologie an der Kirchen und Religionsgemein- Nischen-Wir bildungsbürgerlicher, Universität Greifswald schaften. Aber primär als zivilge- linksliberal-wertkonservativer Hö- sellschaftliche Kollektive ‚starker rer*innen des Deutschlandradios Überzeugungen‘ und ‚resilienter, ums bürgerschaftliche Wir – vor ziviler Tugenden‘.“ Augen die randalierenden Kollektive Deklas- Gewissensbindung kraft Religion, kraft ma- sierter? Haben „wir demokratischen Bürgerin- jor moral tradition habe gewiss zutiefst dissozia- nen und Bürger“ den American Abyss, den ame- tive Energie. Aber Religionen entwickeln „Am- rikanischen Abgrund vor Augen, den Timothy biguitätstoleranz“: Starke Überzeugungen nach Snyder in der New York Times am 9. Januar auf- innen, ambiguitätsfähige Toleranz nach außen, sehenerregend analysiert? 1 für die starken Überzeugungen und Tugenden Diesmal war’s Mob und Lumpenproletariat. anderer Religionen und moral traditions. Aber der präfaschistische Trumpismus formiert Von Übel für Religionsgemeinschaften sei ein neues „Wir“, einen neuen historischen Machtkonzentration. Beispiel: Machtkonzent- Block. Ideologisiert durch die „Große Lüge“ ration im hierarchischen Episkopat. Machtkon- vom Wahlbetrug. Ziel: In vier Jahren die „cha- zentration, rigide gehandhabt, wird kontrapro- rismatische“ Selbst-Ermächtigung einer Partei duktiv: Der „Kardinal Woelki-Komplex“. Aus von Law-Breakern und Law-Gamern. Wahlbe- dem Zwang zum Schutz der Institution und des trug mit Wahlbruch beantwortet. Mitklerikers werde die „rechtliche Parallelwelt Diesen American Abyss vor Augen, widmet im Katholizismus“. So der Katholik und Bi- sich das Interview im Deutschlandfunk der schofs-Berater Großbölting. EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 19
THEMA Und jetzt die Summe, die Schlussfolgerung lichen Solidar-Recht zu handeln, sondern auch des Interviews: Deutschlandfunk: „Also sind nach eigenem Solidar-Recht. im Grunde schwache Religionsgemeinschaften (2) „Wir“ sind das Wahlvolk, der Souverän; bessere Helfer für die Suche nach dem Wir?“ genauer: „Wir“ sind ein Teilkollektiv dieses Großbölting: „Für die Gesamtgesellschaft wür- „Wir“ des politischen Souveräns, von dem alle de ich das so sehen.“ Gewalt in der Legislative ausgeht und in dessen So what? Sind wir allhier?! – wir Bürgerin- Namen Judikative Recht spricht und Recht fort- nen und Bürger der evangelischen Kirche im schreibt. Souverän, vor dem sich alle exekutive Norden, Musterexemplar einer „schwachen Re- Macht im deutschen Staat zu legitimieren hat ligionsgemeinschaft“? oder doch hätte. „Wir“, dieser Volkssouverän konstituiert sich 2. „Schwache“ Religionsgemeinschaf- aus Bürger*innen deutscher Staatsangehörig- ten, „starke“ Überzeugungen: Ambi- keit unter dem Grundgesetz. Aber konstituiert guitätstoleranz sich der Souverän nicht auch aus Bürger*innen Ich gehe ein paar Schritte an der Krücke dieser der Europäischen Union, die ja nun keine Ver- Trias, suchend meine Antwort auf die gestellte fassung hat, sondern nur Lissaboner Verträge? Frage: „Wer hat die Macht?“ Meine erste Ant- (3) “Wir“, als Volkssouverän des Grundgeset- wort muss natürlich lauten: „Wir, wir haben die zes, stellen uns unter die Herrschaft des Rechts. Macht!“ Anerkennen republikanische Rechtsherrschaft, (1) Wir sind das Kirchenvolk – „Wir“ partizi- Menschenrechte, Grundrechte, Minderhei- pieren am allgemeinen Priestertum und König- tenschutz. Und sofern Wir uns zum Wir des Kir- tum, sofern wir getauft sind und also die vollen chenvolks des evangelischen Nordens rechnen, bürgerschaftlichen Rechte in der Bürgerschaft mögen wir diese republikanische Herrschaft des Christi haben. Und dies sind Grund-Freiheiten Rechts als weltliche Herrschaft Gottes verstehen eines Christenmenschen: und auch aus religiösen Gründen anerkennen. • Gewissensfreiheit Ob wir dazu den schwierigen Begriff des na- • Glaubensfreiheit türlichen Vernunftrechts bemühen, der – trotz • Nächstenschaft Ernst Troeltsch – ein progressives Element • mithin das Recht, Barmherzigkeit zu emp- lutherischer Gewissensreligion war? Es sei der fangen und Barmherzigkeit zu üben, z.B. Diskussion überlassen. Jedenfalls wird das pro- Gastfreundschaft nach religiösem Maß, testantische Wir als Minderheit innerhalb des auch als Kirchenasyl. norddeutschen Wir auf republikanische Min- Dieses „Wir“, das die Macht hat, übt sie aus, als derheiten-Rechte künftig mehr denn früher an- wäre Jesus Christus ihr religiöser Souverän. Da- gewiesen sein. Dazu gleich mehr, wenn es um’s her ohne Gewalt, kein eigenes Exkommunikati- Toleranz-Konzept geht. onsrecht, kein Strafrecht, kein Disziplinarrecht, (4) Wir sind das Kirchenvolk und wir sind keine rechtliche Parallel-Welt. Sondern Lei- auch doppelter Souverän des Staats-Kirchen- tungsautorität durch‘s Wort des Evangeliums. rechts. Die hierarchische Machtkonzentration Manchmal auch durch Berufung auf eine Wür- eines dreifachen Bischofsamts ist in der Verfas- de des Fremden, Nackten, Gefangenen, Hung- sung der Nordkirche völlig aufgelöst zugunsten rigen, Durstigen, die so verborgen ist, dass sie multizentrisch ausbalancierter Entscheidungs- noch nicht einmal im staatlich gewährten Soli- prozesse. dar-Recht des Fremden, des Nackten, des Gefan- Selbst das allgemeine Priestertum der genen hinreichend symbolisiert und garantiert Christ*innen, das noch in den Verfassungs- ist. Daher bisweilen die Selbstermächtigung grundsätzen des Fusionsvertrags vom 5. Febru- diakonischer Arbeit, nicht nur im sozialstaat- ar 2009 als das Prinzip aller der Kirchengewalt 20 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA einer künftigen Einigungs-Verfassung in Artikel nerhalb der Grenzen liberaler Grundrechts- I.1.1 ausgerufen war, wurde im Vereinigungs- kongruenz, wie sie sich am spektakulärsten prozess der Nordkirche in die 2012 urbeschlos- 2012 in den deutschen Gerichtsurteilen sene Verfassung hinein aufgelöst. 3 zur jüdischen und muslimischen Beschnei- Die Kunst der mehrfachen Gewaltenteilung dungspraxis zeigte. Der robuste richterliche der Kirchenmacht; die Kunst legitimer struktu- und höchstrichterliche Ausbau des religi- reller Kompromisse in unserer Kirchenverfas- onsneutralen Souveränitäts-Konzepts in sung ist respektabel. Gut versteckt ist darin, was Deutschland ist m.E. virulent; und er wird Immanuel Kant politische secreta des ethischen zunehmen. Gemein-Wesens namens Kirche nennt. - Zu fordern ist akkommodative Toleranz, Die politischen secreta der Herrschaft in die der nonkonformistische Puritaner Ro- empirischen Rechts-Kirchen sind dabei nicht ger Williams erstmals formulierte. Die re- zu verwechseln mit dem religiösen mysterium ligionspolitisch aktive Akkommodation an der schwachen Macht der Kirche als ethisches positive Religionsfreiheiten. Gemeinwesen. In der deutschen Beschneidungsdiskussion war es eine legislative Mehr-Parteien-Koalition, die 3. Ambiguitäts-Toleranz? das jüdische und muslimische Beschneidungs- (1) Gewissensfreiheit ist eine schwache Macht recht legislativ verankerte, unter zähneknir- und gewiss das rarste Gut der Religion, der ei- schender Zulassung der Justiz und ohne echte genen wie der fremden Religion. Sie ist das öffentliche religionspolitische Debatte. mysterium der Religion als Vernunftreligion. Modellhaft ist da der US-Supreme Court (1. Sie ist der grundlose Grund einer schwachen Dezember 2020), den katholisch und jüdisch-or- Macht des verborgenen Wirs des Volkes Gottes, thodoxe Kläger gegen den New Yorker Gouver- des ethischen Gemein-Wesens. Aber 500 Jahre neur Andrew Cuomo anriefen, und zwar gegen nach dem Wormser Reichstag 1521 mit seinem dessen „hyper-restrictive rules for in-person reli- legendären „Hier stehe ich, ich kann nicht an- gious services in New York during public health ders“ darf ich wohl daran erinnern. emergency“. 4 (2) Ambiguitäts-Toleranz wird sukzessive Auch in Public-Health-Notsituationen gelte höherstufig. Bis sie schließlich paradox wird: die ortsbezogene und akkomodative Verhält- Gerade das religiöses Bekenntnis zur Erwäh- nismäßigkeit der Personen-Restriktionen öf- lungsmacht Gottes im Anderen und Fremden fentlicher Gottesdienste: Gottesdienste auf 10 entlässt die starke Überzeugung religiöser To- Personen zu beschränken, unabhängig von der leranz aus sich: die starke Überzeugung von Religion und der Größe des Gottesdienstraums, Gewissens- und Religionsfreiheit in der eigenen komme einem de-facto-Verbot jüdisch-ortho- und fremden Religion. doxer Gottesdienste für Frauen gleich, deren (3) Was Großbölting „Ambiguitätstoleranz Minjan aus 10 Männern bestehen muss. Man aufgrund starker Überzeugungen“ nannte, muss die Definition des jüdisch-orthodoxen möchte ich mit Martha Nussbaum (Die Poli- Minjan nicht gutheißen. Aber man soll sie in tik der Angst) jetzt zu drei Typen von Toleranz diesem Fall tolerieren. konkretisieren: - Abzulehnen ist Assimilative Toleranz, wie 5. Reasonable comprehensive doctri- sich z.B. aktuell in der Schweizer islam-as- nes oder politische Ideologie? similativen Religionspolitik zeigt, im Mina- Das „Christologische“ und das „Messianische“ rett-Verbot. sind ja öffentliche, politische Sprachen, in ihrer - Kritisch zu gebrauchen ist Liberale Tole- Emanzipationskraft oft benutzt, viel verbraucht, ranz, jene v.a. negative Religionsfreiheit in- aber keineswegs erschöpft. Diese öffentlichen EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 21
THEMA Die „Deutsche Akade- mie der Naturforscher Leopoldina - Nationale Akademie der Wissen- schaft“ hat ihren Sitz in Halle/Saale. Schirmherr ist der Bundespräsi- dent. Die Leopoldina ist unabhängig und dem Gemeinwohl verpflichtet. Foto: epd-bild / Kai-Uwe Hündorf politischen Sprachen sind selbst die primäre religiöse Überzeugungen Privatsache und nicht imaginäre und politische Institution der christ- selbst öffentlich? Reasonable comprehensive lichen und jüdischen Religion. Aus ihren wirk- doctrines übersetze ich auch mit: hinreichend samen Rhetoriken können reasonable compre- sauber dogmatisch ausgearbeitet; argumentati- hensive doctrines werden. Sie treten in die so ve Bürden anerkennend; im Konfliktfall politi- überzeugungsstarke wie tolerante Konkurrenz schen Gesichtspunkten Recht, ja sogar Vorrang um die jeweils besten Gerechtigkeitsgrundsätze vor dogmatischen Gesichtspunkten einräumend. und größtmöglichen Verfassungsfreiheiten ein. Im Gegenzug die Gegenfrage an Jürgen Ha- Jürgen Habermas kritisiert dieses Konzept, bermas: Ist seine Forderung nach autonomen zuletzt in seinem dicken Buch Glauben und Gründen öffentlichen Diskurses und nach de- Wissen. Er verwirft die These vom overlapping mokratischer Legitimation, ist sein Plädoyer consensus starker religiöser Überzeugungen und im Zweifel für liberale Toleranz angesichts der Überzeugungskollektive. Dieser Consensus sei realen Deklassierungen demokratischer Bür- nicht das Ergebnis eines autonomen, demokrati- ger*innen nicht selbst problematisch schwach schen, öffentlichen Diskurses. Er werde vielmehr und tendenziell ideologisch? aus der gegenseitigen Beobachtung der Weltan- schauungsgruppen und Religionen mit dem Ziel 6. Wunschdenken: Center for reason- festgestellt, ob sich im Hinblick auf ihre ‚politi- able comprehensive convictions schen Werte‘ Übereinstimmungen herausstellen. Wer in der Pandemie die Karriere der Nationa- Wer aber nur aus religiösen „nichtöffentlichen len Akademie der Wissenschaften, der Leopol- Gründen“ politische Konsense herstelle, der ge- dina, verfolgte, darf staunen. Darf staunen über brauche die Vernunft in privatem Interesse bei die politische ad-hoc-Macht einer Akademie im „politisch öffentlicher Absicht.“ 5 Ausnahmezustand. Auch über ihre ad-hoc-Legi- In dieser Habermas-Kritik an starken, poli- timierung durch die Massen-Medien. Dass die tisch ermächtigenden Überzeugungen geht ein Leopoldina die tonangebende Politikberatungs- Gespenst um, das Gespenst des religiösen Fun- instanz wurde, ist das Ergebnis längerfristiger po- damentalismus: „Orthodoxe und Ultra-Ortho- litischer Lobbyarbeit einer bestimmten commu- doxe, Fundamentalisten und Hierarchen verei- nity universitärer Forscherinnen und Forscher. nigt Euch!“ Auch die Theologie darf da mitmischen. Aber mal bei Licht besehen: Seit wann sind Die außer-universitären Forschungsein 22 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA richtungen – die Helmholtz-Zentren, Max- praktischer Beratung haben hier ein Forum Planck-Zentren und Fraunhofer-Institute, das diskursiver Information und Meinungsbildung. RKI – sie merken das natürlich. Sie konkurrie- In der Nordkirche sehe ich einen Bedarf ren um Beratungshoheit. Aber die universitäre an dieser prospektiven zivilgesellschaftli- community der Leopoldina macht ihre Sache chen Artikulationskraft. Das zeigt die aktuelle gut. Sie lassen sich die Butter nicht vom Brot Ad-hoc-Vorlesungs-Reihe der Landesbischöfin nehmen. Sie setzen immer wieder Initiativen. zum assistierten Suizid. Ich vermute in den vier Das Beispiel zeigt: Universitäre Beratungs- Fakultäten noch ungenutztes Potential für eine kompetenz ist organisatorisch nicht so träge, third mission dieses Zuschnitts. Ich glaube auch, wie es scheint. Sie ist nicht elitär, wie es der dass es außerhalb der Theologie an den vier Rechtspopulismus will. Sie stellt sich der mas- Universitäten Kolleginnen und Kollegen gibt, senmedialen Kontroverse und dem politischen die ad hoc bereit sind, Fachwissen einzubrin- Widerspruch. Neben Forschung und Lehre ist gen, wenn es um mehr geht als kirchenamtliche der Transfer von Orientierungswissen heute die Verwertung von Diskussionspapieren. third mission. Geht es nicht um mehr? Geht es nicht um‘s Blicke ich zehn Jahre nach Gründung der zivilgesellschaftliche empowerment der ten- Nordkirche auf die Rolle universitärer Theolo- denziell Deklassierten in realen oder potentiel- gie, so sehe ich in dieser Tagung zwischen Pasto- len Krisen unserer Demokratie? Ja, ich wünsch- ralkolleg und Fakultäts-Theologie eine Chance: te mir ein Center for reasonable comprehensive Die administrative Lawine der Kirchenfusion convictions im kirchlichen Norden! hat die Theologische Kammer der Nordkirche überrollt. Die Theologische Kammer ist durch die Fülle administrativer Novellierungen mehr assel@uni-greifswald.de als ausgelastet. Quellenangaben: Die Nordkirche ist aber im Norden und Nor- dosten Deutschland ein zu wichtiger zivilgesell- 1) „Trump konnte seine Unterstützer nach Washington bringen schaftlicher Mitspieler, um nicht neu über die und sie zum Randalieren ins Kapitol schicken, aber niemand schien eine sehr klare Vorstellung davon zu haben, wie das third mission nachzudenken. ausgehen sollte oder was ihre Anwesenheit erreichen könn- Blicke ich in die bundesdeutsche Kirchen- te. Es fällt einem kaum ein anderer vergleichbarer aufstän- landschaft, so haben großen Landeskirchen im discher Moment ein, bei dem ein sehr wichtiges Gebäude Süden und in der Mitte Foren etabliert, in de- besetzt wurde und die Leute so viel herumliefen.“ (New York Times, 9. Januar 2021, deutsch in: Blätter für Deutsche und nen reasonable comprehensive convictions zu Internationale Politik 2021/1, 68.) politischen und ethischen Brennpunkt-Fragen 3) Vertrag über die Bildung einer Evangelisch-Lutherischen vorausgedacht und diskursiv erprobt werden. Kirche in Norddeutschland 5. Februar 2009, Anlage gem. § 2 Absatz 2, Grundsätze für eine Verfassung der gemein- Ich denke an das Institut Technik-Theologie-Na- samen Kirche und für ein Einführungsgesetz, Grundlagen I.1 turwissenschaften an der LMU München in Grundartikel I.1.1 „Das Allgemeine Priestertum aller getauf- Kooperation mit der Bayrischen Kirche. 6 Oder ten Glaubenden bildet die Grundlage für den Aufbau und an das Zentrum für Gesundheitsethik an der für die Struktur der Verfassung.“ – Vgl. damit die Verfassung vom 7. Januar 2012, KABL 2, 127. Akademie in Loccum in Kooperation mit der 4) New York Times, 20.12.2020, Michael McConell, Göttinger Fakultät. Max Raskin. In diesen Foren werden Themen, die dem- 5) Habermas, Glaube und Wissen 1, 212. nächst auf die zivilgesellschaftliche und po- 6) Sein Jahresbericht 2021 Ethik in der Krise erschien diese Woche. litische Agenda kommen, diskursiv erprobt. Pastor*innen und Pröpst*innen, Synodal*in- nen und Bischöf*innen zusammen mit Vertre- ter*innen universitärer Forschung und berufs- EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 23
DIE LETZTE SEITE Zu guter Letzt Schöpfer und Geschöpf Am siebenten Tag aber legte Gott die Hände in den Schoß und sprach: Ich hab vielleicht was durchgemacht, ich hab den Mensch, den Lurch gemacht, sind beide schwer missraten. Ich hab den Storch, den Hecht gemacht, hab sie mehr schlecht als recht gemacht, man sollte sie gleich braten. Ich hab die Nacht, das Licht gemacht, hab beide schlicht um schlicht gemacht, mehr konnte ich nicht geben. Ich hab das All, das Nichts gemacht, ich fürchte, es hat nichts gebracht. Na ja, man wird’s erleben. Foto: © epd-bild Sven Paustian ROBERT GERNHARDT EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021 43
VORSCHAU & IMPRESSUM Vorschau Diakonie und Pädagogik in der Gemeinde Der Bildungsauftrag der Kirche bleibt in der Öffentlichkeit wie auch in der Kirche selbst viel zu oft unberücksichtigt. Welche Rolle neh- men Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Diakonie & Pädagogik ein? Beiträge bitte bis zum 15. September Konfessionalität im Religionsunterricht Der Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Gesellschaft wirft die Frage auf: Macht der Unterschied von Konfessionen überhaupt noch Sinn? Wie kommen die verschiedenen Traditionen und kulturellen Prägungen zusammen – nicht nur, aber vor allem in der Schule? Beiträge bitte bis zum 15. Oktober Die Taufe Eine berührende Zeremonie – aus der Zeit gefallen – Sakrament – Säuglings- oder Erwachsenentaufe? – Gottes Hilfe bei drohender Abschiebung.... Schreiben Sie von Ihren Erfahrungen, von besonde- ren Gestaltungen, von eigenwilligen Abläufen und von Problemen. Beiträge bitte bis zum 15. November Schreiben Sie! Zu Themenschwerpunkten, die für die nächsten Ausgaben geplant sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden. redaktion@evangelische-stimmen.de IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Druck: Evangelischer Presseverband Dr. Friedrich Brandi (ViSdP) Hugo Hamann Norddeutschland GmbH, Offsetdruckerei, Kiel Gartenstr. 20, 24103 Kiel Layout: Evangelischer Presseverband Die Evangelischen Stimmen erscheinen Verlag: Norddeutschland GmbH monatlich. Das Jahresabonnement kostet Evangelischer Presseverlag Nord GmbH, Tel. (040) 709 75 - 277 48,00 € inkl. Versandkosten innerhalb Gartenstr. 20, 24103 Kiel, Deutschlands. Die Kündigungsfrist beträgt Postfach 34 66, 24033 Kiel, Anzeigen: 6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die Tel. (0431) 55 77 99 Kristina Heesch Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen Fax (0431) 55 779 - 292 Tel. (0431) 55 77 9 - 206 oder Initialen gekennzeichnete Beiträge Geschäftsführer: Bodo Elsner Fax (0431) 55 77 9 - 292 geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte Redaktionsanschrift: Vertrieb und Abonnementverwaltung: Beiträge und Bücher werden nicht zurück- Evangelischer Presseverband Stefanie Elsner & Inge Limburg geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind Norddeutschland GmbH, Tel. (0431) 55 77 9 - 271 urheberrechtlich geschützt. Schillerstraße 44a, 22767 Hamburg E-Mail: vertrieb@evangelische-stimmen.de ISSN 0938-3697 Tel. (040) 70 975 - 200 Fax (040) 70 975 - 249 E-Mail: redaktion@evangelische-stimmen.de 44 EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
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