EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN

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C 21134                              September 2021 | 9

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                     ZEITFRAGEN
                                     UND KIRCHE IN
                                     NORDDEUTSCHLAND

Wer hat die Macht? Der Allmächtige oder der Mensch?
 Abgang der       Schwache          Das Asyl der
 Machthaber und   Macht und Macht   Honeckers. Eine
 Alleskönner      der Schwachen     Vergebungsgeschichte.
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            das Verlangen nach eindeutigen Antworten ist bei vielen Menschen
            unstillbar – auch in der Kirche. Da durchlaufen Studenten und Stu-
            dentinnen der Theologie ein recht komplexes Studium, setzen sich
            mit Religionsgeschichte sowie dem Wandel des JHWH-Glaubens in
            Israel auseinander, denken über den Sinn des Lebens angesichts der
            Ewigkeit nach, studieren Paul Tillich und andere, die Gott als die Tiefe
            des Seins verstehen – und kaum sind sie als Pastorin oder Pastor in
            der Gemeinde, wird bei einigen aus diesem differenzierten Gedan-
            ken- und Glaubensgebilde ein eher schlichtes Gottesbild, das mehr
            an Kindergottesdienste erinnert als an ein hochspezialisiertes Studi-
            um der Theologie. In den Gemeinden ist die Verführung groß (ich
            kenne das sehr wohl), eindeutige Antworten auf – vielleicht noch
            nicht einmal gestellte – Fragen nach der Wirklichkeit Gottes, der Auf-
            erstehung oder dem Pfingstwunder zu geben. Dabei dürfte das gel-
            ten, was Christian Lehnert (Der Gott in einer Nuss. 2017) so sagt:
FRIEDRICH   Die Wirklichkeit Gottes liegt ... jenseits des Wortpaares anwesend-ab-
 BRANDI     wesend. Das ist eine Erfahrung vieler gläubiger Menschen, daß
            Gott ihnen gerade dort am stärksten gegenwärtig sein kann, wo er
            schmerzlich vermißt ist. Die Frage nach „Gott“ ist vielleicht bereits die
            deutlichste Form seiner Gegenwart, und wo er vollmundig bekannt
            wird, kann er ferner sein denn je. (S.21) Es ist nicht leicht, aber not-
            wendig, diese Spannung auszuhalten.

            So ist das Ergebnis (wenn das denn überhaupt der richtige Begriff
            ist) des 2. Ratzeburger Unikollegs zu „Wer hat die Macht?“ nur fol-
            gerichtig: Es gibt keins. Aber, auch das ein Ergebnis dieser hier do-
            kumentierten Beiträge der Tagung, es ist unverzichtbar, sich darüber
            Gedanken zu machen und diese zu vertiefen – an den Universitäten
            und eben auch in den Gemeinden.

            Es wünscht eine ambivalenz- und theologiegesättigte Lektüre Ihr

            www.evangelische-stimmen.de

                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   3
EVANGELISCHE
        STIMMEN

       INHALT

      3         Editorial
                Friedrich Brandi
                                                                                        4
      6         „Wer hat die Macht?“
                Anne Gidion und Martin Zerrath

      8         Macht und Ohnmacht Gottes
                Christoph Berner                 37   Netzwerken, unterstützen
                                                      und Impulse geben
      13        Abgang der Machthaber                 Marion Janser
                und Alleskönner
                Michael Moxter                   40   Allmächtig
                                                      Christoph Karstens
      19        Schwache Macht und
                Macht der Schwachen              41   Video: Alles helal
                Dr. Heinrich Assel                    Martin Schulz

                                                 43   Zu guter Letzt
      24        Die Pandemie ­— Strafe Gottes
                Friedrich Brandi                 44   Vorschau

      27        Mehr als ein Praxis-Handbuch
                Marcus Friedrich

      30        Eine Evangelische Stimme
                Michael Ahme

      32        Faktencheck Bugenhagen
                Ferdinand Ahuis

      35        Eine Vergebungsgeschichte
                Jürgen Wehrs

Titelbild: Macht und Ohnmacht   Foto: Pixabay

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THEMA

Abgang der Machthaber
und Alleskönner
Glaube an Gott nach dem Ende Politischer Theologie

Angeregt ist mein Vortragstitel                                  eben auch, um sich auf bestimmte
von den Einleitungskapiteln des                                  Weise darzustellen. Natürlich gilt
Lukasevangeliums,     sozusagen                                  auch die Umkehrung, von der als
als Widerhaken für einen neu-                                    erstes die Rede sein soll: die Aus-
testamentlichen Beitrag, denn er                                 richtung der Rede von Gott am
greift den oft nachgesungenen                                    Phänomen der Macht. Im Blick
Vers aus dem Magnificat auf: „Er                                 auf beide Seiten möchte ich die
stößt die Machthaber vom Thron                                   Aufmerksamkeit auf die Reprä-
und erhebet die Niedrigen“ (Lk                                   sentationsformen, auf Figuren und
1,52).                                                           Figurationen, in denen sich Macht
                                            Dr. Michael
                                                                 präsentiert, lenken und also die
                                              Moxter
                                                                 gestellte Frage: Wer hat die Macht?

D
                                      ist Professor für Syste-
        iese Überzeugung antwor-                                 mit medialem Hintersinn ange-
                                      matische Theologie an
        tet auf die Ankündigung                                  hen: wie stellt sich Macht dar?
                                     der Universität Hamburg
        des Engels Gabriel, die sich
im weiteren Verlauf der Erzählung                                1. Was ist mit Politischer
freilich nicht bestätigt: der Ankün-                             Theologie gemeint?
digung, dieser werde groß sein und                                 Ich gebrauche den Begriff nicht im
Sohn des Höchsten genannt und ihm werde der         Sinne einer Theologie, in die bestimmte poli-
Thron seines Vaters David gegeben und als Kö-       tische Überzeugungen eingemischt sind, auch
nig über Jakob für immer herrschen. Da mag          nicht im Sinne einer Theologie, die öffentliche
der Engel etwas geflunkert haben – um Maria         Verantwortung übernehmen will, darum auch
zur Mitarbeit zu gewinnen. Aber er schließt         zu politischen Statements bereit ist. Mein Inter-
seine Rede mit der berühmten Bemerkung:             esse zielt auf den älteren und spezifischeren Ge-
Bei Gott ist kein Ding unmöglich – womit der        brauch, unter dem Carl Schmitt seine Attacken
Begriff der Allmacht im Sinne eines Alles-Kön-      gegen die Weimarer Republik geführt hat und
nens zumindest kurz aufscheint.                     der im Widerspruch zu seinem Nationalsozi-
   Sodann ist von Politischer Theologie die         alismus in den dreißiger Jahren schon die Ge-
Rede und sogar von deren Ende: Dieser Teil          genthese von der „theologische[n] Erledigung
des Titels steht für die Beobachtung, dass die      der politischen Theologie“ auf sich zog (Erik
Selbstbeschreibung und Selbstinszenierung           Peterson), mit Blick auf die später alternative,
von Macht sich der Theologie und also der Got-      faschismusresistentere Formen einer anderen
tesvorstellungen bedient hat, ihrer Bilder und      Politischen Theologie (Kantorowicz/Taubes)
Metaphern, ihrer Erzählungen und Vorstellun-        skizziert wurden und die schließlich in den
gen, um sich Legitimität zu beschaffen, aber        letzten Jahrzehnten neue Aufmerksamkeit vor

                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   13
THEMA

allem bei Giorgio Agamben fanden, übrigens         einer durchsetzt und alle anderen samt des zu-
auch im posthum veröffentlichten Briefwech-        gehörigen Volkes unterwirft, so obsiegt Zeus,
sel Hans Blumenbergs mit Schmitt. Den vielen       der Höchste, über die anderen Götter, die ihm
Namen, mit denen ich hier auffahre, kann ich       fortan unterstellt sind, und deren Prädikate er
selbstverständlich nicht gerecht werden. Ich er-   im Übergang von der Monolatrie zum Mono-
laube mir, ohne Rücksicht auf Verluste einige      theismus allmählich übernimmt. Gegenläufig
eigene Eindrücke herauszuarbeiten.                 verbindet sich, wie man in unserer Zeit be-
    Dass zwischen sozialer und politischer Ord-    obachten kann, das politische Bekenntnis zu
nung einerseits und Religion andererseits ein      Demokratie, Pluralismus und Konvivenz mit
innerer Zusammenhang besteht, werden Pro-          massiver Kritik an immanenter Gewalt der Mo-
testantinnen und Protestanten nicht bestrei-       notheismen und Einzigkeitsansprüche und ten-
ten, vor allem nicht mitten in der Annäherung      denziell mit einem Plädoyer für Polytheismus
an die 500 Jahr-Feier des Wormser Reichstag.       oder einer Hochschätzung einer Antike, in der
Aufregung hier bedeutet Unruhe dort und            alles bunt und friedlich gewesen sei. Hier wie
umgekehrt. Den Sachgrund für diese Zusam-          dort gilt: Gottesglaube und politische Ordnung
mengehörigkeit könnte die These liefern, dass      reflektieren sich ineinander: Gott als Herrscher,
die religiösen Handlungen und Vorstellungen        der Herrscher als Gott – die Einheit der Macht
ihren Gehalt in der Macht haben, die das Zu-       erscheint als das probate Mittel gegen Ord-
sammensein mit anderen, also auch: die Gesell-     nungsschwund, Atheismen aller Art führen zu
schaft über die einzelnen, ausübt. Schlechthin-    Anarchie und Umsturz, Stabilisierungen der
nig abhängig sind die Mitglieder einer Gruppe      politischen Ordnung bedienen sich der Religi-
oder Gesellschaft von dem größeren Ganzen,         on, neigen aber auch dazu, diese für obsolet zu
dem sie angehören, sie verdanken der Gesell-       erklären, sobald sie sich mit einer Art Ewigkeits-
schaft eine Fülle von Möglichkeiten (von der       garantie ausgestattet glauben.
Sprache bis zur Krankenkasse), sie müssen aber         Von diesem allgemeinen Hintergrund hebt
deren Macht auch fürchten (von Strafen über        sich Carl Schmitts Begriff der Politischen Theo-
soziale Ausgrenzung bis zum Staatsbankrott).       logie zunächst dadurch ab, dass er ein Säkula-
Mit dieser Ambivalenz von ermöglichender           risierungstheorem in die Wahrnehmung dieses
und repressiver Abhängigkeit (Jürgen Haber-        Zusammenhangs von Sozialität und Theolo-
mas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd.     gie einmischt, nämlich seine Behauptung, alle
II, 581) müssen die Einzelnen zurechtkommen.       prägnanten Begriffe der Politischen Theorie
Religionen vergegenständlichen und bearbei-        seien säkularisierte theologische Begriffe. Das
ten diese soziale Urphänomene, sie geben der       gilt vor allem für den Leit- und Hauptbegriff
Macht, von der alle abhängen, Namen, sie ver-      der Souveränität: zunächst sei Gott als Souve-
ehren die Götter, die ebenso sehr Schutz wie       rän und als Machthaber gedacht worden, im
Infragestellung, ebenso sehr Ermutigung zum        Licht ihrer göttlichen Beauftragung, auf dem
Leben wie Krisis bedeuten (Emile Durkheim).        Goldgrund der Repräsentation, ja Inkarnation,
    Dieser Zusammenhang konkretisiert sich,        heiliger Macht vermochten Fürsten und Köni-
wenn die politische Ordnung Herrschaftsfor-        ge, schließlich der Kaiser, ihre jeweilige Macht
men ausbildet, denen Gottesvorstellungen           herzuleiten und zu bekräftigen. Auf dem Bo-
präzise entsprechen, etwa wenn sich Allein-        den der Republik und angesichts der Vorstel-
herrschaft (Monarchie) mit Monotheismus ver-       lung, dass alle Macht vom Volk ausgehe, sei
bindet und die Durchsetzung des Machthabers        dieses Erbe enttheologisiert und dabei einem
gegenüber anderen sich im Glauben an den           Liberalismus ausgesetzt worden, der die Eigen-
einen Gott oder in der Göttlichkeit des Einen      art des Politischen nicht einmal mehr begreife.
spiegelt. Wie sich unter Thronprätendenten         Souveränität werde im liberalen Rechtsstaat in

14   EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA

      Es ist eher das trinitarische Gottesbild als das Ende der Monarchie, womit die Vorstellung von Gott als dem
      alleinigen Weltenherrscher obsolet geworden ist.                                            Foto: unsplash

institutionelle Kompetenzen verwandelt und                     Interpretationen und Lesarten.
dadurch als persönliche Macht unsichtbar ge-                      Wenn wir Schmitts Analyse der Politischen
macht: in der öffentlichen Wahrnehmung und                     Theologie von dieser großformatigen und
offiziellen Selbstbeschreibung dominierten nur                 schon darum verdächtigen Säkularisierungsthe-
noch Regeln und Verfahren, Normentexte, die                    se abkoppeln, können wir andere Motive, die
ausgelegt, fortgeschrieben, gelegentlich auch                  sie zu ihr gehören, auf den Prüfstand legen. Ich
geändert, die aber nicht länger von einer höchs-               denke zuerst an den Begriff der Souveränität, der
ten Macht aus gedacht werden. Der Gesetzge-                    Schmitts Überlegungen zur Politischen Theolo-
ber verschwindet hinter dem Gesetz, das er                     gie einleitet. Souveränität ist höchste, nicht ab-
aber doch nur geben konnte, weil und insofern                  geleitete Herrschermacht. Insofern ist die Frage
er die höchste, jeden anderen Willen bindende                  dieses Kollegs: wer hat die Macht? die Frage da-
Macht ist und bleibt. Entsprechend die Theolo-                 nach, wer Souverän ist. Sie setzt in dieser Fas-
gie im Zeitalter ihrer Liberalisierung: sie weiß               sung voraus, dass schon klar ist, worin ‚Macht‘
alles über Texte und legt diese historisch oder                besteht, aber noch offen bleibt, wer sie innehat.
gegenwartsbezogen aus, aber sie kennt hinter                   Das passt ganz gut zum methodischen Vorge-
den Traditionen und Überlieferungen der Bibel                  hen Schmitts, der danach fragt, wer Souveränität
keinen göttlichen Autor mehr, der im Ernst et-                 ausübt, wer entscheidet. In diesem Sinne einer
was zu sagen hätte. Hier wie dort, in der Religi-              Verortung von Macht lautet seine berühmt-be-
on wie im Recht, löse sich die auctoritas, die für             rüchtigte Definition: „Souverän ist, wer über
die Texte bürgte, auf und hinterlasse nur noch                 den Ausnahmezustand entscheidet“. In dieser

                                                                                     EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021     15
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Definition verbindet sich der Begriff der Ent-      weil ich an die Gegenthese erinnern möchte,
scheidung (Dezision) mit dem des Ausnahme-          die ihm erst später bekannt wurde, und ihn
zustandes, der in den letzten Jahren besondere      zum Wutanfall und angeblich zu einer Herzat-
Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Ausnahme-          tacke geriet und die ihn bis in die letzten Jahre
zustand ist für Schmitt weder Belagerungszu-        seiner Autorschaft umgetrieben hat. Ich meine
stand noch Notstand im Horizont äußerer Ge-         die These seines einstigen Freundes und Trau-
fahren, sondern ist seiner inneren begrifflichen    zeugen Erik Petersons, des von Karl Barth we-
Struktur nach der Fall einer Außerkraftsetzung      gen seiner Socken lächerlich gemachten, nach
der Regeln und Normen. Und zwar eine solche         der Konversion zum Katholischen Glauben
Form, in der der Normenbestand nicht durch          aus der Bonner Fakultät ausgeschiedenen Kir-
eine andere und insofern neue Norm abgelöst         chengeschichtler. Petersons These lautete, dass
oder korrigiert wird, sondern in dem dessen         das von Schmitt herausgestellte Syndrom Poli-
Geltung im Prinzip aufrecht erhalten bleibt,        tischer Theologie theologisch erledigt sei, weil
aber (vorübergehend) suspendiert wird. Und          die christliche Theologie sich gerade nicht im
die Frage nach der Macht ist auf eben diese         Horizont eines gesteigerten Monotheismus, der
Möglichkeit bezogen: Souverän ist, wer Norma-       Monarchia und der absoluten Macht, sondern
lität als Durchsetzung der Norm sistieren kann.     als Explikationsgestalt eines trinitarischen Got-
    Diese Bestimmung des politischen Souver-        tesglaubens entworfen habe. Für Petersons ei-
äns ist theologisch durch und durch. Denn so        genwillige Auslegung altkirchlicher Texte muss
wie Gott als der Schöpfer aller Dinge Naturge-      man keine Zustimmung unter Kolleginnen und
setze in Geltung setzt, die für immer gelten und    Kollegen der Kirchengeschichte erwarten. Aber
den Lauf der Gestirne oder den Wechsel von          da der Autor als enfant terrible der dialekti-
Sommer und Winter verlässlich gestalten, so ist     schen Theologie zu schaffen machte, könnten
er doch zugleich der Allmächtige, der die Son-      wir seinen „Einspruch“ (E. Jüngel) immerhin
ne stillstehen lassen kann, um Israel zu retten,    als Hinweis und Platzhalter für eine noch aus-
und der Wunder ausübt, wenn er Naturgesetze         stehende Dekonstruktion des Machtdiskurses
und routinierte Abläufe durchbricht. Und nicht      verstehen. Es bliebe zweideutig die Frage, wer
nur als Schöpfer bleibt Gott Souverän. Gerade       die Macht habe, mit dem Bekenntnis zu Gott
auch als Erlöser, der Heil und Rettung bringt       beantworten zu wollen, solange man nicht in
und will, dass allen Menschen geholfen werde,       der Lage ist, Gott so zu denken, dass man der
ist dieser Gott vor allem Souverän, der seinen      hier skizzierten mesalliance entgeht.
Heilswillen auch sistieren und so einerseits die-
sen oder jenen Menschen, andererseits aber so-      2. Bedeutungstransfer
gar die überwiegende Anzahl verwerfen kann.         Schmitts Säkularisierungsthese schränkt das
Sowohl im Verhältnis von Schöpfungs- und            Verhältnis von Machtphänomen und Gottes-
Geschichtshandeln wie auch im Verhältnis von        glaube auf Herkunft und Verfall, auf einlinige
Rettung und Verwerfung wird Gott als einer          Dependenz und das Vorrecht des Ursprungs
gedacht, dessen Macht sich darin zeigt, dass er     ein. Sie ist mit einer gewissen Vorliebe für den
alles wohl ordnet und heilvoll wendet, zugleich     Adel gedacht. Man könnte aber auch an einen
aber die noch größere Macht der Durchbre-           wechselseitigen Transfer von Bedeutungen den-
chung der Ordnung für sich behält: eine potes-      ken, an Verschiebungen im Symbolsystem, an
tas absoluta, die dem irdischen Machthaber äh-      Netzwerke, in denen es auf Verbindungsmög-
nelt, der legibus absolutus sich über die Regeln    lichkeiten ankommt. So wenig Bedeutungen et-
hinwegsetzt, die eigentlich für alle gelten.        was bloß mentales, ausgedachtes oder gemein-
    Ich habe Ihnen Carl Schmitt als einen Macht-    tes sind, sondern Ordnungen präsentieren und
theoretiker der strengen Observanz vorgeführt,      Praxen orientieren, so sehr kommt es darauf an,

16   EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA

auf Bedeutungsübertragung (Metaphorisierun-         Versuch einer kreuzestheologischen Dekonst-
gen), auf Beweglichkeiten und Anschlussfähig-       ruktion der Macht Gottes, so wird mit der Figur,
keit zu achten.                                     beim wahren Gott sei eben alles anders, alleine
    Bedeutungskonstitution in beweglichen           nicht auskommen können. In den Blick genom-
Grenzen macht auch verständlich, warum der          men werden müssen auch unsere Erwartungen
Wandel der politischen Ordnung im Symbolsys-        an die Macht und die Gründe, warum wir nach
tem Konsequenzen zeitigt. Dass wir uns heute        ihr begehren.
Gott nicht mehr als souveränen Weltherrscher           Viel ist gegenwärtig vom Gebet die Rede,
vorstellen, der sich in launigen Momenten vä-       aber die Rekonstruktion des Bittstellers oder
terlich gibt, ist vermutlich nicht nur der Kritik   der Vorzimmercharme dessen, was bei Schmitt
patriarchaler Ordnungen gedankt, auch nicht         Zugang zum Machthaber heißt, verdiente deut-
das ausschließliche Resultat der Beobachtung,       licher betrachtet zu werden. Es war kein Zufall,
dass die Wiederkehr der Autokraten zum Auf-         dass Bonhoeffer gerade am Phänomen des Bitt-
tritt der Schurken gerät, sondern ist vor allem     gebets in Lebensgefahr Luthers Kreuzestheolo-
Ausdruck und Medium eines anderen Verständ-         gie erneut eindrücklich wurde. Aber dass Gott
nisses des Politischen.                             als der Gekreuzigte uns mit seiner Schwäche
    Schaut man zurück auf die von Dietrich          hilft, wird doch erst dann recht bedacht, wenn
Bonhoeffer markierte Überführung des All-           verstanden ist, dass die bloße Ersetzung von
machtgedankens in die Rede von der Schwach-         Allmacht durch Schwäche mit dem Grenzwert
heit Gottes, in merkwürdiger Nähe zur schwa-        ‚Ohnmacht‘ viele Fragen offen lässt. Dogmati-
chen messianischen Kraft, und liest man sie als     sche Aufklärung schafft die Faszination für die

                                                         „Am Anfang war das Wort“ - wer die
                                                         Macht haben sollte, war für den frühen
                                                         Luther recht eindeutig beantwortet.
                                                         Foto: epd-bild/Tim Wegner

                                                                       EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   17
THEMA

Macht nicht aus der Welt. In der Religion muss              Bleibt schließlich noch die Möglichkeit, dass
man mit der Dialektik von Erwartung und Ent-             man die Macht Gottes gut evangelisch als eine
täuschung produktiv umgehen.                             Macht des Wortes, als Macht, die Wahrheit zur
    Die Umwertung im Symbolsystem unter                  Darstellung zu bringen, denkt. Kommunikative
dem Motto: Statt Allmacht lieber göttliche Soli-         Macht wäre von der Art einer Einsicht, die sich
darität mit denen, die auch keine Macht haben            durchsetzt – was nur geschieht, wo Menschen
mag für einen ersten Blick revolutionär klin-            sie selbst nachvollziehen und also in eigener
gen. Aber man darf und muss doch auch nach-              Freiheit zu bekräftigen vermögen. Ungezwun-
fragen, ob der ausgerufene Minimalismus nicht            gene Zustimmung zu etwas, worauf man selbst
von der heimlichen Überzeugung begleitet ist,            doch nicht gekommen wäre, das wäre Erfah-
lean sei beautiful, die wahre Supermacht baue            rung einer Macht, die bewegt, ohne diejenigen,
sich von unten auf. Wäre theologisch mit dieser          die sie anregt und anstößt, etwas demonstrieren
Umwertung der Machtwerte geholfen?                       und aufzwingen zu müssen.
    Ich neige zur Zurückhaltung auch gegen-                 Wenn Gottes Macht nicht im Paradigma des
über dem Versuch, die Phänomene der Macht                strategischen, instrumentalisierenden, manipu-
qualitativ umzuprägen. Letzteres geschieht,              lierenden Handelns zu denken ist, könnte man
wo an die Stelle von Durchsetzungsmacht und              sie im Kontext des darstellenden Handelns re-
Willkür göttlicher Souveränität die Macht zum            konstruieren. An und mit der Macht, die sich
Guten oder die Macht der Liebe treten. Also              inszenieren muss, um Macht zu sein, hatten wir
gewissermaßen ein Abstieg von der bezwingen-             oben die Relevanz der Darstellung schon ken-
den Macht des Zentralgestirns, um das alles in           nengelernt, jetzt müsste sozusagen im Gegen-
schlechthinniger Abhängigkeit kreisen muss,              schuss von einer Macht gesprochen werden, die
zugunsten der schmalen habitablen Zone einer             allein aus Darstellung resultiert.
Leben ermöglichenden gesunden Distanz, in                   Die Macht der Wahrheit, die sich durchsetzt,
der ‚Gottes Liebe ist wie die Sonne‘ wenig er-           das Licht, das einem aufgeht, aber auch das, was
schreckendes mehr hat.                                   uns Lachen macht – wären Beispiele für Unver-
    Man muss solchen Bearbeitungen unseres               fügbares, das sich nicht zur Übermacht steigert,
Themas ihr gutes Rechts nicht absprechen, aber           jedenfalls nicht notwendigerweise und nicht
doch die Frage nicht vergessen, ob solche dog-           von Haus aus. Kann man der Macht – so meine
matischen Rekonstruktionen nicht zu großzü-              Abschlussfrage –, die stets eine Seite der Dar-
gig Weichspüler einsetzen und in der Umprä-              stellung, der Repräsentation hat, die Umkeh-
gung bzw. Umdeutung des Macht-Wortes aus                 rung zur Seite stellen: eine Darstellung, die alle
den Augen verlieren, worüber wir sprechen                Macht daraus bezieht, dass sie Darstellung ist?
müssen. Wenn nach Max Webers berühmter
Definition, Macht in der Chance besteht, einem
anderen einen Willen aufzuzwingen, der nicht             michael.moxter@uni-hamburg.de
der seinige ist, so ist daran jedenfalls so viel rich-
tig, dass auch das Leben nicht immer freundlich
und großzügig ist, sondern gelegentlich mit uns
über Stock und Stein Schlitten fährt, weshalb
Gottes Macht nicht ausschließlich auf die Seite
dessen verbucht werden kann, was wir ohnehin
begrüßen. Der Versuch, die Differenz zwischen
Macht und Liebe von der Seite der Liebe aus
entspannen zu wollen, verdeckt die Brüche, die
zu uns gehören.

18   EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA

Schwache Macht und
Macht der Schwachen
Christologische und messianische Perspektiven

1. „Schwache Religionsge-                                          zivilreligiösen Rhetorik der Bi-
meinschaften“ und „die Su-                                         den-Inauguration. In Deutschland,
che nach dem Wir“                                                  so Großbölting, fehle uns diese
Interview mit Thomas Großböl-                                      zivilreligiös zelebrierte Wiederge-
ting, dem Direktor der Hamburger                                   burt des We, the fellow Americans.
Forschungsstelle für Zeitgeschich-                                 Kanzler*innen-Wechsel sind keine
te, am 24. Januar 2021 in Deutsch-                                 Rituale der Bundeserneuerung.
landradio Kultur. Das Jahres-The-                                  O-Ton Großbölting: „Wir haben
ma der Interview-Reihe im Format                                   mit der hinkenden Trennung von
„Religionen“, von den Hörer*in-             Dr. Heinrich            Staat und Kirche gute Erfahrungen
nen mehrheitlich gewünscht, lau-                Assel               gemacht. Wir sind jetzt im Über-
tet: „Auf der Suche nach dem Wir“.        ist Professor für         gang zum religions-paritätischen
    Welches „Wir“ sucht da eigentli-       Systematische            Religionsrecht“. Wir brauchen
ches welches „Wir“? Sorgt sich das       Theologie an der           Kirchen und Religionsgemein-
Nischen-Wir bildungsbürgerlicher,     Universität Greifswald        schaften. Aber primär als zivilge-
linksliberal-wertkonservativer Hö-                                  sellschaftliche Kollektive ‚starker
rer*innen des Deutschlandradios                                     Überzeugungen‘ und ‚resilienter,
ums bürgerschaftliche Wir – vor                                     ziviler Tugenden‘.“
Augen die randalierenden Kollektive Deklas-              Gewissensbindung kraft Religion, kraft ma-
sierter? Haben „wir demokratischen Bürgerin-          jor moral tradition habe gewiss zutiefst dissozia-
nen und Bürger“ den American Abyss, den ame-          tive Energie. Aber Religionen entwickeln „Am-
rikanischen Abgrund vor Augen, den Timothy            biguitätstoleranz“: Starke Überzeugungen nach
Snyder in der New York Times am 9. Januar auf-        innen, ambiguitätsfähige Toleranz nach außen,
sehenerregend analysiert? 1                           für die starken Überzeugungen und Tugenden
    Diesmal war’s Mob und Lumpenproletariat.          anderer Religionen und moral traditions.
Aber der präfaschistische Trumpismus formiert            Von Übel für Religionsgemeinschaften sei
ein neues „Wir“, einen neuen historischen             Machtkonzentration. Beispiel: Machtkonzent-
Block. Ideologisiert durch die „Große Lüge“           ration im hierarchischen Episkopat. Machtkon-
vom Wahlbetrug. Ziel: In vier Jahren die „cha-        zentration, rigide gehandhabt, wird kontrapro-
rismatische“ Selbst-Ermächtigung einer Partei         duktiv: Der „Kardinal Woelki-Komplex“. Aus
von Law-Breakern und Law-Gamern. Wahlbe-              dem Zwang zum Schutz der Institution und des
trug mit Wahlbruch beantwortet.                       Mitklerikers werde die „rechtliche Parallelwelt
    Diesen American Abyss vor Augen, widmet           im Katholizismus“. So der Katholik und Bi-
sich das Interview im Deutschlandfunk der             schofs-Berater Großbölting.

                                                                         EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   19
THEMA

    Und jetzt die Summe, die Schlussfolgerung       lichen Solidar-Recht zu handeln, sondern auch
des Interviews: Deutschlandfunk: „Also sind         nach eigenem Solidar-Recht.
im Grunde schwache Religionsgemeinschaften             (2) „Wir“ sind das Wahlvolk, der Souverän;
bessere Helfer für die Suche nach dem Wir?“         genauer: „Wir“ sind ein Teilkollektiv dieses
Großbölting: „Für die Gesamtgesellschaft wür-       „Wir“ des politischen Souveräns, von dem alle
de ich das so sehen.“                               Gewalt in der Legislative ausgeht und in dessen
    So what? Sind wir allhier?! – wir Bürgerin-     Namen Judikative Recht spricht und Recht fort-
nen und Bürger der evangelischen Kirche im          schreibt. Souverän, vor dem sich alle exekutive
Norden, Musterexemplar einer „schwachen Re-         Macht im deutschen Staat zu legitimieren hat
ligionsgemeinschaft“?                               oder doch hätte.
                                                       „Wir“, dieser Volkssouverän konstituiert sich
2. „Schwache“ Religionsgemeinschaf-                 aus Bürger*innen deutscher Staatsangehörig-
ten, „starke“ Überzeugungen: Ambi-                  keit unter dem Grundgesetz. Aber konstituiert
guitätstoleranz                                     sich der Souverän nicht auch aus Bürger*innen
Ich gehe ein paar Schritte an der Krücke dieser     der Europäischen Union, die ja nun keine Ver-
Trias, suchend meine Antwort auf die gestellte      fassung hat, sondern nur Lissaboner Verträge?
Frage: „Wer hat die Macht?“ Meine erste Ant-           (3) “Wir“, als Volkssouverän des Grundgeset-
wort muss natürlich lauten: „Wir, wir haben die     zes, stellen uns unter die Herrschaft des Rechts.
Macht!“                                             Anerkennen republikanische Rechtsherrschaft,
    (1) Wir sind das Kirchenvolk – „Wir“ partizi-   Menschenrechte, Grundrechte, Minderhei-
pieren am allgemeinen Priestertum und König-        tenschutz. Und sofern Wir uns zum Wir des Kir-
tum, sofern wir getauft sind und also die vollen    chenvolks des evangelischen Nordens rechnen,
bürgerschaftlichen Rechte in der Bürgerschaft       mögen wir diese republikanische Herrschaft des
Christi haben. Und dies sind Grund-Freiheiten       Rechts als weltliche Herrschaft Gottes verstehen
eines Christenmenschen:                             und auch aus religiösen Gründen anerkennen.
    • Gewissensfreiheit                                Ob wir dazu den schwierigen Begriff des na-
    • Glaubensfreiheit                              türlichen Vernunftrechts bemühen, der – trotz
    • Nächstenschaft                                Ernst Troeltsch – ein progressives Element
    • mithin das Recht, Barmherzigkeit zu emp-     lutherischer Gewissensreligion war? Es sei der
       fangen und Barmherzigkeit zu üben, z.B.      Diskussion überlassen. Jedenfalls wird das pro-
       Gastfreundschaft nach religiösem Maß,        testantische Wir als Minderheit innerhalb des
       auch als Kirchenasyl.                        norddeutschen Wir auf republikanische Min-
Dieses „Wir“, das die Macht hat, übt sie aus, als   derheiten-Rechte künftig mehr denn früher an-
wäre Jesus Christus ihr religiöser Souverän. Da-    gewiesen sein. Dazu gleich mehr, wenn es um’s
her ohne Gewalt, kein eigenes Exkommunikati-        Toleranz-Konzept geht.
onsrecht, kein Strafrecht, kein Disziplinarrecht,       (4) Wir sind das Kirchenvolk und wir sind
keine rechtliche Parallel-Welt. Sondern Lei-        auch doppelter Souverän des Staats-Kirchen-
tungsautorität durch‘s Wort des Evangeliums.        rechts. Die hierarchische Machtkonzentration
Manchmal auch durch Berufung auf eine Wür-          eines dreifachen Bischofsamts ist in der Verfas-
de des Fremden, Nackten, Gefangenen, Hung-          sung der Nordkirche völlig aufgelöst zugunsten
rigen, Durstigen, die so verborgen ist, dass sie    multizentrisch ausbalancierter Entscheidungs-
noch nicht einmal im staatlich gewährten Soli-      prozesse.
dar-Recht des Fremden, des Nackten, des Gefan-         Selbst das allgemeine Priestertum der
genen hinreichend symbolisiert und garantiert       Christ*innen, das noch in den Verfassungs-
ist. Daher bisweilen die Selbstermächtigung         grundsätzen des Fusionsvertrags vom 5. Febru-
diakonischer Arbeit, nicht nur im sozialstaat-      ar 2009 als das Prinzip aller der Kirchengewalt

20   EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA

einer künftigen Einigungs-Verfassung in Artikel            nerhalb der Grenzen liberaler Grundrechts-
I.1.1 ausgerufen war, wurde im Vereinigungs-               kongruenz, wie sie sich am spektakulärsten
prozess der Nordkirche in die 2012 urbeschlos-             2012 in den deutschen Gerichtsurteilen
sene Verfassung hinein aufgelöst. 3                        zur jüdischen und muslimischen Beschnei-
   Die Kunst der mehrfachen Gewaltenteilung                dungspraxis zeigte. Der robuste richterliche
der Kirchenmacht; die Kunst legitimer struktu-             und höchstrichterliche Ausbau des religi-
reller Kompromisse in unserer Kirchenverfas-               onsneutralen Souveränitäts-Konzepts in
sung ist respektabel. Gut versteckt ist darin, was         Deutschland ist m.E. virulent; und er wird
Immanuel Kant politische secreta des ethischen             zunehmen.
Gemein-Wesens namens Kirche nennt.                        -
                                                           Zu fordern ist akkommodative Toleranz,
   Die politischen secreta der Herrschaft in               die der nonkonformistische Puritaner Ro-
empirischen Rechts-Kirchen sind dabei nicht                ger Williams erstmals formulierte. Die re-
zu verwechseln mit dem religiösen mysterium                ligionspolitisch aktive Akkommodation an
der schwachen Macht der Kirche als ethisches               positive Religionsfreiheiten.
Gemeinwesen.                                           In der deutschen Beschneidungsdiskussion war
                                                       es eine legislative Mehr-Parteien-Koalition, die
3. Ambiguitäts-Toleranz?                               das jüdische und muslimische Beschneidungs-
(1) Gewissensfreiheit ist eine schwache Macht          recht legislativ verankerte, unter zähneknir-
und gewiss das rarste Gut der Religion, der ei-        schender Zulassung der Justiz und ohne echte
genen wie der fremden Religion. Sie ist das            öffentliche religionspolitische Debatte.
mysterium der Religion als Vernunftreligion.              Modellhaft ist da der US-Supreme Court (1.
Sie ist der grundlose Grund einer schwachen            Dezember 2020), den katholisch und jüdisch-or-
Macht des verborgenen Wirs des Volkes Gottes,          thodoxe Kläger gegen den New Yorker Gouver-
des ethischen Gemein-Wesens. Aber 500 Jahre            neur Andrew Cuomo anriefen, und zwar gegen
nach dem Wormser Reichstag 1521 mit seinem             dessen „hyper-restrictive rules for in-person reli-
legendären „Hier stehe ich, ich kann nicht an-         gious services in New York during public health
ders“ darf ich wohl daran erinnern.                    emergency“. 4
   (2) Ambiguitäts-Toleranz wird sukzessive               Auch in Public-Health-Notsituationen gelte
höherstufig. Bis sie schließlich paradox wird:         die ortsbezogene und akkomodative Verhält-
Gerade das religiöses Bekenntnis zur Erwäh-            nismäßigkeit der Personen-Restriktionen öf-
lungsmacht Gottes im Anderen und Fremden               fentlicher Gottesdienste: Gottesdienste auf 10
entlässt die starke Überzeugung religiöser To-         Personen zu beschränken, unabhängig von der
leranz aus sich: die starke Überzeugung von            Religion und der Größe des Gottesdienstraums,
Gewissens- und Religionsfreiheit in der eigenen        komme einem de-facto-Verbot jüdisch-ortho-
und fremden Religion.                                  doxer Gottesdienste für Frauen gleich, deren
   (3) Was Großbölting „Ambiguitätstoleranz            Minjan aus 10 Männern bestehen muss. Man
aufgrund starker Überzeugungen“ nannte,                muss die Definition des jüdisch-orthodoxen
möchte ich mit Martha Nussbaum (Die Poli-              Minjan nicht gutheißen. Aber man soll sie in
tik der Angst) jetzt zu drei Typen von Toleranz        diesem Fall tolerieren.
konkretisieren:
   - Abzulehnen ist Assimilative Toleranz, wie        5. Reasonable comprehensive doctri-
      sich z.B. aktuell in der Schweizer islam-as-     nes oder politische Ideologie?
      similativen Religionspolitik zeigt, im Mina-     Das „Christologische“ und das „Messianische“
      rett-Verbot.                                     sind ja öffentliche, politische Sprachen, in ihrer
   - Kritisch zu gebrauchen ist Liberale Tole-        Emanzipationskraft oft benutzt, viel verbraucht,
      ranz, jene v.a. negative Religionsfreiheit in-   aber keineswegs erschöpft. Diese öffentlichen

                                                                          EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   21
THEMA

                                                                          Die „Deutsche Akade-
                                                                          mie der Naturforscher
                                                                          Leopoldina - Nationale
                                                                          Akademie der Wissen-
                                                                          schaft“ hat ihren Sitz in
                                                                          Halle/Saale. Schirmherr
                                                                          ist der Bundespräsi-
                                                                          dent. Die Leo­poldina ist
                                                                          unabhängig und dem
                                                                          Gemeinwohl verpflichtet.
                                                                          Foto: epd-bild / Kai-Uwe
                                                                          Hündorf

politischen Sprachen sind selbst die primäre          religiöse Überzeugungen Privatsache und nicht
imaginäre und politische Institution der christ-      selbst öffentlich? Reasonable comprehensive
lichen und jüdischen Religion. Aus ihren wirk-        doctrines übersetze ich auch mit: hinreichend
samen Rhetoriken können reasonable compre-            sauber dogmatisch ausgearbeitet; argumentati-
hensive doctrines werden. Sie treten in die so        ve Bürden anerkennend; im Konfliktfall politi-
überzeugungsstarke wie tolerante Konkurrenz           schen Gesichtspunkten Recht, ja sogar Vorrang
um die jeweils besten Gerechtigkeitsgrundsätze        vor dogmatischen Gesichtspunkten einräumend.
und größtmöglichen Verfassungsfreiheiten ein.            Im Gegenzug die Gegenfrage an Jürgen Ha-
    Jürgen Habermas kritisiert dieses Konzept,        bermas: Ist seine Forderung nach autonomen
zuletzt in seinem dicken Buch Glauben und             Gründen öffentlichen Diskurses und nach de-
Wissen. Er verwirft die These vom overlapping         mokratischer Legitimation, ist sein Plädoyer
consensus starker religiöser Überzeugungen und        im Zweifel für liberale Toleranz angesichts der
Überzeugungskollektive. Dieser Consensus sei          realen Deklassierungen demokratischer Bür-
nicht das Ergebnis eines autonomen, demokrati-        ger*innen nicht selbst problematisch schwach
schen, öffentlichen Diskurses. Er werde vielmehr      und tendenziell ideologisch?
aus der gegenseitigen Beobachtung der Weltan-
schauungsgruppen und Religionen mit dem Ziel          6. Wunschdenken: Center for reason-
festgestellt, ob sich im Hinblick auf ihre ‚politi-   able comprehensive convictions
schen Werte‘ Übereinstimmungen herausstellen.         Wer in der Pandemie die Karriere der Nationa-
Wer aber nur aus religiösen „nichtöffentlichen        len Akademie der Wissenschaften, der Leopol-
Gründen“ politische Konsense herstelle, der ge-       dina, verfolgte, darf staunen. Darf staunen über
brauche die Vernunft in privatem Interesse bei        die politische ad-hoc-Macht einer Akademie im
„politisch öffentlicher Absicht.“ 5                   Ausnahmezustand. Auch über ihre ad-hoc-Legi-
    In dieser Habermas-Kritik an starken, poli-       timierung durch die Massen-Medien. Dass die
tisch ermächtigenden Überzeugungen geht ein           Leopoldina die tonangebende Politikberatungs-
Gespenst um, das Gespenst des religiösen Fun-         instanz wurde, ist das Ergebnis längerfristiger po-
damentalismus: „Orthodoxe und Ultra-Ortho-            litischer Lobbyarbeit einer bestimmten commu-
doxe, Fundamentalisten und Hierarchen verei-          nity universitärer Forscherinnen und Forscher.
nigt Euch!“                                           Auch die Theologie darf da mitmischen.
    Aber mal bei Licht besehen: Seit wann sind            Die außer-universitären Forschungsein­

22   EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
THEMA

richtungen – die Helmholtz-Zentren, Max-            praktischer Beratung haben hier ein Forum
Planck-­­Zentren und Fraunhofer-Institute, das      diskursiver Information und Meinungsbildung.
RKI – sie merken das natürlich. Sie konkurrie-         In der Nordkirche sehe ich einen Bedarf
ren um Beratungshoheit. Aber die universitäre       an dieser prospektiven zivilgesellschaftli-
community der Leopoldina macht ihre Sache           chen Artikulationskraft. Das zeigt die aktuelle
gut. Sie lassen sich die Butter nicht vom Brot      Ad-hoc-Vorlesungs-Reihe der Landesbischöfin
nehmen. Sie setzen immer wieder Initiativen.        zum assistierten Suizid. Ich vermute in den vier
    Das Beispiel zeigt: Universitäre Beratungs-     Fakultäten noch ungenutztes Potential für eine
kompetenz ist organisatorisch nicht so träge,       third mission dieses Zuschnitts. Ich glaube auch,
wie es scheint. Sie ist nicht elitär, wie es der    dass es außerhalb der Theologie an den vier
Rechtspopulismus will. Sie stellt sich der mas-     Universitäten Kolleginnen und Kollegen gibt,
senmedialen Kontroverse und dem politischen         die ad hoc bereit sind, Fachwissen einzubrin-
Widerspruch. Neben Forschung und Lehre ist          gen, wenn es um mehr geht als kirchenamtliche
der Transfer von Orientierungswissen heute die      Verwertung von Diskussionspapieren.
third mission.                                         Geht es nicht um mehr? Geht es nicht um‘s
    Blicke ich zehn Jahre nach Gründung der         zivilgesellschaftliche empowerment der ten-
Nordkirche auf die Rolle universitärer Theolo-      denziell Deklassierten in realen oder potentiel-
gie, so sehe ich in dieser Tagung zwischen Pasto-   len Krisen unserer Demokratie? Ja, ich wünsch-
ralkolleg und Fakultäts-Theologie eine Chance:      te mir ein Center for reasonable comprehensive
Die administrative Lawine der Kirchenfusion         convictions im kirchlichen Norden!
hat die Theologische Kammer der Nordkirche
überrollt. Die Theologische Kammer ist durch
die Fülle administrativer Novellierungen mehr       assel@uni-greifswald.de
als ausgelastet.                                    Quellenangaben:
    Die Nordkirche ist aber im Norden und Nor-
dosten Deutschland ein zu wichtiger zivilgesell-    1) „Trump konnte seine Unterstützer nach Washington bringen
schaftlicher Mitspieler, um nicht neu über die         und sie zum Randalieren ins Kapitol schicken, aber niemand
                                                       schien eine sehr klare Vorstellung davon zu haben, wie das
third mission nachzudenken.                            ausgehen sollte oder was ihre Anwesenheit erreichen könn-
    Blicke ich in die bundesdeutsche Kirchen-          te. Es fällt einem kaum ein anderer vergleichbarer aufstän-
landschaft, so haben großen Landeskirchen im           discher Moment ein, bei dem ein sehr wichtiges Gebäude
Süden und in der Mitte Foren etabliert, in de-         besetzt wurde und die Leute so viel herumliefen.“ (New York
                                                       Times, 9. Januar 2021, deutsch in: Blätter für Deutsche und
nen reasonable comprehensive convictions zu            Internationale Politik 2021/1, 68.)
politischen und ethischen Brennpunkt-Fragen         3) 
                                                       Vertrag über die Bildung einer Evangelisch-Lutherischen
vorausgedacht und diskursiv erprobt werden.            Kirche in Norddeutschland 5. Februar 2009, Anlage gem.
                                                       § 2 Absatz 2, Grundsätze für eine Verfassung der gemein-
Ich denke an das Institut Technik-Theologie-Na-
                                                       samen Kirche und für ein Einführungsgesetz, Grundlagen I.1
turwissenschaften an der LMU München in                Grundartikel I.1.1 „Das Allgemeine Priestertum aller getauf-
Kooperation mit der Bayrischen Kirche. 6 Oder          ten Glaubenden bildet die Grundlage für den Aufbau und
an das Zentrum für Gesundheitsethik an der             für die Struktur der Verfassung.“ – Vgl. damit die Verfassung
                                                       vom 7. Januar 2012, KABL 2, 127.
Akademie in Loccum in Kooperation mit der
                                                    4) 
                                                       New York Times, 20.12.2020, Michael McConell,
Göttinger Fakultät.                                    Max Raskin.
    In diesen Foren werden Themen, die dem-         5) Habermas, Glaube und Wissen 1, 212.
nächst auf die zivilgesellschaftliche und po-       6) Sein Jahresbericht 2021 Ethik in der Krise erschien diese
                                                    Woche.
litische Agenda kommen, diskursiv erprobt.
Pastor*innen und Pröpst*innen, Synodal*in-
nen und Bischöf*innen zusammen mit Vertre-
ter*innen universitärer Forschung und berufs-

                                                                            EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021        23
DIE LETZTE SEITE

  Zu guter Letzt
                                      Schöpfer und Geschöpf
Am siebenten Tag aber legte Gott die Hände
        in den Schoß und sprach:

    Ich hab vielleicht was durchgemacht,
 ich hab den Mensch, den Lurch gemacht,
        sind beide schwer missraten.

 Ich hab den Storch, den Hecht gemacht,
 hab sie mehr schlecht als recht gemacht,
       man sollte sie gleich braten.

   Ich hab die Nacht, das Licht gemacht,
  hab beide schlicht um schlicht gemacht,
       mehr konnte ich nicht geben.

    Ich hab das All, das Nichts gemacht,
     ich fürchte, es hat nichts gebracht.
          Na ja, man wird’s erleben.
     Foto: © epd-bild Sven Paustian

                                              ROBERT
                                            GERNHARDT

                                                              EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021   43
VORSCHAU & IMPRESSUM

Vorschau

Diakonie und Pädagogik in der Gemeinde
Der Bildungsauftrag der Kirche bleibt in der Öffentlichkeit wie auch
in der Kirche selbst viel zu oft unberücksichtigt. Welche Rolle neh-
men Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Diakonie & Pädagogik ein?
Beiträge bitte bis zum 15. September

Konfessionalität im Religionsunterricht
Der Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Gesellschaft wirft die
Frage auf: Macht der Unterschied von Konfessionen überhaupt noch
Sinn? Wie kommen die verschiedenen Traditionen und kulturellen
Prägungen zusammen – nicht nur, aber vor allem in der Schule?
Beiträge bitte bis zum 15. Oktober

Die Taufe
Eine berührende Zeremonie – aus der Zeit gefallen – Sakrament –
Säuglings- oder Erwachsenentaufe? – Gottes Hilfe bei drohender
Abschiebung.... Schreiben Sie von Ihren Erfahrungen, von besonde-
ren Gestaltungen, von eigenwilligen Abläufen und von Problemen.
Beiträge bitte bis zum 15. November

Schreiben Sie!
Zu Themenschwerpunkten, die für die nächs­ten Ausgaben geplant
sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie
gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden.
redaktion@evangelische-stimmen.de

IMPRESSUM
Herausgeber:                                Redaktion:                                 Druck:
Evangelischer Presseverband                 Dr. Friedrich Brandi (ViSdP)               Hugo Hamann
Norddeutschland GmbH,                                                                  Offsetdruckerei, Kiel
Gartenstr. 20, 24103 Kiel                   Layout:
                                            Evangelischer Presseverband                Die Evangelischen Stimmen erscheinen
Verlag:                                     Norddeutschland GmbH                       monatlich. Das Jahresabonnement kostet
Evangelischer Presseverlag Nord GmbH,       Tel. (040) 709 75 - 277                    48,00 € inkl. Versandkosten innerhalb
Gartenstr. 20, 24103 Kiel,                                                             Deutschlands. Die Kündigungsfrist beträgt
Postfach 34 66, 24033 Kiel,                 Anzeigen:                                  6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die
Tel. (0431) 55 77 99                        Kristina Heesch                            Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen
Fax (0431) 55 779 - 292                     Tel. (0431) 55 77 9 - 206                  oder Initialen gekennzeichnete Beiträge
Geschäftsführer: Bodo Elsner                Fax (0431) 55 77 9 - 292                   geben nicht unbedingt die Meinung der
                                                                                       Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte
Redaktionsanschrift:                        Vertrieb und Abonnementverwaltung:         Beiträge und Bücher werden nicht zurück-
Evangelischer Presseverband                 Stefanie Elsner & Inge Limburg             geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind
Norddeutschland GmbH,                       Tel. (0431) 55 77 9 - 271                  urheberrechtlich geschützt.
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44    EVANGELISCHE STIMMEN 9 | 2021
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