EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe? - evangelische-zeitung
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C 21134 Juli/August 2021 | 7/8 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe? Der Suizid „Etwas besseres als Seelsorge bei und die Freiheit? den Tod findest du assistiertem Suizid überall.“
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Die leitenden Verantwortlichen der Nordkirche ringen gegenwärtig um eine gemeinsame Position in Sachen „Assistierter Suizid“. Die Landesbischöfin hatte zu diesem Thema im zweiten Quartal des Jah- res eine Veranstaltung anberaumt, mit der ein Diskussionsprozess in unserer Kirchen angeregt wurde. Eine verbindliche Stellungnahme der Kirchenleitung steht allerdings noch aus. Befremdlich finde ich, dass gegenwärtig breit über Sterbehilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtung diskutiert wird, aber es mit dem Emmaus-Hospiz (Hamburg-Blankenese) lediglich ein einziges Hospiz in der Nordkirche gibt, das sich mehrheitlich in einer kirchlichen Trä- gerschaft befindet und von der Diakonie Hamburg-West/Südholstein geleitet wird. Böse Zungen könnten meinen, der Kirche läge mehr an der Hilfe zum raschen Tod als an der fürsorgenden Begleitung im natürlichen Sterbeprozess. FRIEDRICH BRANDI Aber das ist natürlich zu einfach gedacht, und die Beiträge im vorlie- genden Heft argumentieren da auch sehr viel differenzierter. Nach der Lektüre der Artikel kann ich die Frage, ob ich nun für oder gegen die Sterbehilfe bin, nicht anders beantworten als: Das lässt sich eben nicht allgemeingültig beantworten. Der Einzelfall muss bedacht wer- den. Es ist deswegen wohl kein Zufall, dass die meisten Artikel – ob dafür oder dagegen – Fallbeispiele schildern. Und diese sind in der Regel überzeugend. So oder so. Ob also eine verbindliche Stellung- nahme unserer Landeskirche wirklich zielführend ist, wage ich zu be- zweifeln. Protestantische Vielfalt wäre sinnvoller und weiterführender. Bleibt zu hoffen, dass dieses Heft den innerkirchlichen Diskurs fördert und jede Leserin und jeder Leser vorbereitet ist, wenn sie in unmit- telbare Berührung mit dieser Frage kommen. www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 3
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial Friedrich Brandi 6 Assistierter Suizid Thomas Schaack 44 Seelsorge bei 9 Ambivalenter Wunsch assistiertem Suizid Reinhard Lindner Florian-Sebastian Ehlert 14 „Ich bin mit meiner Kraft 48 Der sichere Ort für alle. am Ende.“ Für alle! Manfred Wilde, Martin Nils Christiansen Mommsen von Geisau, Dirk Outzen 55 Begegnung mit dem Judentum 21 Kein Seufzen im Joachim Liß-Walther Elfenbeinturm Michael Brems 59 Literarischer Trost zur Seuchenzeit 26 Der Suizid und die Hans-Jürgen Benedict Freiheit? Michael Wunder 63 Kirche der Zukunft Friedrich Brandi 32 „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ 65 Zu guter Letzt Annegret Reitz-Dinse 66 Vorschau 37 Selbstbestimmt sterben Hella Lemke 42 Eine Ev. Stimme Annette Klinkhardt Titelbild: Themenfoto für eine Aktion von 10 Bundestagsabgeordeten zur Regelung von Sterbehilfe im Jahr 2015 Foto: epd-bild/Jürgen Blume EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 5
THEMA Ambivalenter Wunsch Assistenz beim Suizid. Perspektiven der Suizidprävention Suizid und Suizidalität organisation WHO geht jedoch da- Suizidhandlungen und ihre Fol- von aus, dass auf jeden vollendeten gen sind ein kulturelles, soziales, Suizid etwa zehn bis 20 Suizidver- gesundheitliches und nicht zuletzt suche kommen. auch theologisches Problem, das Suizidalität wird verstanden als oft unterschätzt wird. Jährlich neh- „Ausdruck einer Zuspitzung einer see- men sich rund 9.000 Menschen lischen Entwicklung, in der die Men- in Deutschland das Leben. Schaut schen hoffnungslos und verzweifelt man genauer hin, so trägt der Su- über sich selbst, das eigene Leben und izid die Handschrift des Alters. seine Perspektiven sind und ihre Si- Prof. Dr. Reinhard Häufig ist es ein stiller Tod, der von tuation als ausweglos erleben. Selbst Lindner anderen kaum wahrgenommen entwertung, Verachtung und Impulse Facharzt für Neurologie, wird. Hinter der Absicht, sich zu der Rache können sich steigern und in Psychiatrie, Psychothe- töten und dem Entschluss zu einer Wut und Hass umschlagen (Lindner rapie, für Psychosoma- Suizidhandlung verbirgt sich oft 2006, S. 42f). tische Medizin und Psy- eine verengte, ausweglos erschei- Im Jahr 2019 suizidierten sich in chotherapie, Professor nende Lebenssituation. Schwere Deutschland 9041 Menschen. Dar- für „Theorie, Empirie und Einbußen an Lebensqualität, sei es unter waren knapp 7000 Männer. Methoden der Sozialen durch physische oder psychische Die durchschnittliche Suizidrate Therapie“ an der Univer- Erkrankungen, Verlusterfahrun- betrug 10,9 Suizide pro 100.000 sität Kassel gen und soziale Isolation können Einwohner. Das durchschnittliche sich zu einer schweren Krise ver- Sterbealter durch einen Suizid lag dichten. Bei alten Menschen wird bei 58,5 Jahren, im Jahr 1998 lag als Folge eines oft negativen gesellschaftlichen die Zahl noch bei 53,2 Jahren. Insbesondere bei Altersbildes eine Suizidhandlung eher gebilligt Männern steigt die Suizidrate mit dem Alter er- als bei jungen Menschen. Trotz des erhöhten heblich. So lag die Suizidrate im Jahr 2019 bei Suizidrisikos werden immer noch zu wenige Männern zwischen 65 und 70 Jahren bei 21,3 Anstrengungen unternommen, den Ursachen und bei Männern zwischen 85 und 90 Jahren vorzubeugen und Hilfsangebote für Menschen bei 72,7. in suizidalen Krisen vorzuhalten. Suizidale Als Risikofaktoren für Suizid gelten psychi- Tendenzen zu erkennen, ernst zu nehmen und sche Störungen, psychosoziale Krisen, Verluste, bei Bedarf weitere Hilfen einzuleiten, ist eine Trennungen und psychosoziale Folgen körper- wichtige Aufgabe im Gesundheitswesen, im licher Erkrankungen. In internationalen empi- psychosozialen Bereich und auch in der Arbeit rischen Studien konnte nachgewiesen werden, der Kirchen. dass ca. 90% aller Suizide im Zustand einer psy- In Deutschland sterben jährlich etwa 10.000 chischen Störung begangen werden. Menschen durch Suizid. Suizidversuche werden nicht systematisch erfasst. Die Weltgesundheits- EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 9
THEMA Suizidalität im Alter Suizidalität verstehen Insbesondere im hohen Lebensalter muss bei Um Suizidalität zu verstehen bedarf es einiger der Erfassung von Suiziden von einer erhebli- grundsätzlicher Kenntnisse ihrer psychischen chen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die Funktion und Bedeutung. Suizidalität ist ein amtlichen Statistiken beinhalten keine indirek- individuell unbeständiges psychisches Gesche- ten suizidalen Handlungen, wie beispielsweise hen. Sie verändert sich, abhängig von inneren riskantes Verhalten im Straßenverkehr, Nicht- und äußeren Aspekten und kann durch medizi- befolgung ärztlicher Maßnahmen (falsche Do- nische und psychosoziale Behandlungen beein- sierung von Medikation) oder auch das Einstel- flusst werden. Es gibt eine Reihe von empirisch len von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mit belegten Faktoren, die vor Suizidalität schützen der Intention zu sterben. Auch verhält es sich können. Hierzu zählen innere und soziale Fle- so, dass in der Todesursachenstatistik häufig die xibilität, Einstellung zu Religion und Spiritua- vorangegangene somatische Erkrankung und lität, eigene Altersbilder wie auch die kreative nicht das suizidale Handeln oder die körper- und selbstbewusste Auseinandersetzung mit lichen Krankheiten, die in Folge eines Suizid- Endlichkeit und Autonomieeinbußen. Hinzu versuches auftreten, erfasst werden. Sicher aber kommen soziale Faktoren, wie lebendige und ist, dass Ältere deutlich häufiger einen Suizid stabile familiäre und soziale Beziehungen, Un- begehen, d.h. sie sterben häufiger an einer su- terstützung, Mobilität, gutes Wohnen, ausrei- izidalen Handlung als Jüngere. Durch den de- chender Lebensstandard und verantwortungs- mographischen Wandel ist mit einer weiteren volle mediale Berichterstattung über Suizide. Zunahme hochaltriger Menschen mit ihrer be- Grundlagen der Hilfen bei Suizidalität, welche sonderen Suizidgefährdung zu rechnen. auch für die Seelsorge gelten, sind ein ernstneh- mendes, akzeptierendes und Selbstbestimmung Auslöser und Ursachen der Suizidalität förderndes (professionelles) Beziehungsange- Betrachtet man allgemein, welche Auslöser für bot. Suizidalität ist psychotherapeutisch und suizidales Handeln bekannt sind, so sind dies psychiatrisch behandelbar, wobei die Psycho- Verluste, Trennungen, interpersonelle Konflik- therapie u.a. ermöglicht, innere und äußere Ab- te, wie auch Ängste und Befürchtungen vor hängigkeiten zu erkennen, zu verändern und unerträglicher Abhängigkeit. Diese Probleme neu zu bewerten, als Voraussetzung für eigen- aber sind ubiquitär, nicht jeder, der sie erlebt verantwortliche Entscheidungen. wird dabei suizidal. Es bedarf also weiterer Fak- toren, die Menschen zu dieser Art des Erlebens Empirie des assistierten Suizids und Handelns bringen. Aus einer psychoanaly- Über den Wunsch nach assistiertem Suizid gibt tischen Perspektive sind dies oftmals lebenslang es einige, wiewohl noch nicht ausreichende em- erworbene Muster der Beziehungsgestaltung, pirische Kenntnisse: In der Schweiz nimmt der die Menschen in bestimmten (Verlust-)Situati- assistierte Suizid seit Jahren stetig zu. In Län- onen in derart unerträgliche Zustände bringen, dern mit freiem Zugang zu assistiertem Suizid dass eine „radikale“ Vorstellung der Lösung und Tötung auf Verlangen, wie in den Nieder- sich im Sinne eines zunehmenden Handlungs- landen und in einigen Staaten der USA nimmt drucks in den Vordergrund drängt. Zudem er- letzteres, außerhalb Deutschlands oftmals möglicht die psychiatrische Perspektive, aus „Euthanasie“ genannt, über die Jahre deutlich der Diagnose einer psychischen Störung, wie zu. Zugleich sinken die Suizidraten nicht. Das z.B. einer Depression heraus, therapeutische heißt, es gibt Hinweise darauf, dass es sich bei Handlungsoptionen zu finden, wie die einer Personen, die assistiert Suizid begehen, nicht Psychotherapie, deren Wirksamkeit ebenfalls um Personen handelt, die sich andernfalls, wäre empirisch erwiesen ist. ihnen dies nicht möglich, mittels einer anderen 10 EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA Methode suizidieren würden. Es gibt viele em- tentiellen Krisen, den Wunsch haben, mit Hilfe pirische Belege dafür, dass der Wechsel der Su- anderer Personen sich selbst zu töten. In einem izidmethode selten erfolgt und wenige Belege solchen Wunsch kann sich der Wunsch nach ei- für die These, der assistierte Suizid verhindere ner Begleitung verbergen, die sowohl das Leben „grausame“ andere Suizidmethoden. Zudem als auch das Sterben umfasst. Häufig ist er mit zeigt sich in vielen Ländern, dass überpropor- der Vorstellung verbunden, im Beisein, oder tional viele Frauen den assistierten Suizid wäh- zumindest mit Zustimmung wichtiger anderer len: Wird der Suizid in den nördlichen Ländern Menschen zu sterben. Dies ist eng verbunden der Welt meist deutlich häufiger von Männern mit der Vorstellung, dieses Sterben „in der ei- begangen ist das Geschlechterverhältnis beim genen Hand“ zu haben und damit nicht nur re- assistierten Suizid nahezu ausgeglichen. Wa- ales Leiden, sondern auch befürchtetes Leiden rum Frauen diese Suizidmethode häufiger selbst beenden zu können und den Verlust der wählen, ist empirisch nicht geklärt. Es könnte (Selbst-)Kontrolle im Akt des „Gestorben-Wer- eventuell eine Geschlechtsstereotypie dahinter- dens“ zu vermeiden. Einflüsse auf diese Wün- stecken, nach der Frauen häufiger existentielle sche stammen aus der Erfahrung und der Angst Entscheidungen altruistisch, in Absprache und vor körperlichem Verfall und seinen psychoso- mit Zustimmung naher Menschen treffen. Au- zialen Folgen, wie Immobilität und Kontaktver- ßerdem scheint der Wunsch nach assistiertem lust. Häufig haben Menschen mit dem Wunsch Suizid gesellschaftlich-soziale Aspekte zu ha- nach assistiertem Suizid auch schon früh in ben: Je höher das Alter, der Bildungsgrad und ihrem Leben Erfahrungen von unpersönlichen der sozioökonomische Status, umso häufiger ist und verlassenden Beziehungen machen müs- der Wunsch nach assistiertem Suizid. Erwiesen sen und diese nicht bewältigen können. Hinzu ist auch, dass depressive, ängstliche und sorgen- kommen die psychischen Prozesse, die mit dem volle alte Menschen sich häufiger assistierten Sterben ohnehin häufig verbunden sind, die Suizid wünschen, als psychisch gesunde alte mit einem großen Wunsch nach Halt, wie auch Menschen, in diesem Wunsch aber auch inkon- nach intensivem, emotionalen Kontakt einher- stanter, wechselhafter sind. Weniger eindeutig gehen (de M’Uzan 1977). sind weitere Einflüsse auf den Wunsch nach as- sistiertem Suizid: Das Vorliegen von Ageismen Seelsorge bei Wunsch nach assistier- und Gerontophobie in Gesellschaften oder tem Suizid gesellschaftlichen Gruppen, der Zugang zu Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom medizinisch-psychosozialen Hilfen, aber auch Februar 2020 hat das Verbot der geschäftsmä- das Vorhandensein eines leicht verfügbaren ßigen Assistenz beim Suizid aufgehoben. Es Angebots zum assistierten Suizid, die Qualität hat festgestellt, dass das allgemeine Persönlich- der Altenpflege und auch die Medienberichter- keitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes stattung über diese Form des Suizids scheinen Sterben umfasst und die Freiheit einschließt, einen Einfluss die zu haben (Castelli Dransart sich das Leben zu nehmen und hierbei auch auf et al. 2019). die Hilfe Dritter zurückzugreifen, unabhängig vom Lebensalter und vom Gesundheitszustand. Psychodynamische Erkenntnisse zum Damit ist der assistierte Suizid sehr weitgehend assistierten Suizid frei, lediglich begrenzt durch Einschränkungen Aus psychodynamisch-psychotherapeutischen der Freiverantwortlichkeit, wie sie bei manchen Behandlungen von Personen mit einem Wunsch schweren psychischen Erkrankungen vorliegt. nach Assistenz beim Suizid können einige Hy- Was dieses Urteil und mögliche gesetzliche pothesen über die innere Dynamik gewonnen Neuregelungen der Assistenz beim Suizid für werden, die Menschen erfasst, die, meist in exis- die Seelsorge und andere psychosoziale Hilfen EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 11
THEMA Akteure aus den Bereichen Suizidprävention und Seelische Gesundheit machen vor allem am Welttag der Suizidprävention (10. September) auf das Thema aufmerksam. Foto: epd-bild/Jürgen Blume bedeutet, ist noch nicht gänzlich abzusehen. Die Wünsche nach Hilfe zum schnelleren Seelsorge mit Menschen, die einen Wunsch Sterben sind auch bei todkranken Menschen nach assistiertem Suizid haben, findet häufig meist ambivalent. Sie können der Rettung aus in existentiellen Situationen am Lebensende unerträglichen innerseelischen Gefühlszustän- statt. Für die seelsorgerliche Haltung erscheint den oder der scheinbaren Lösung von zwischen- es hier zentral, den Beziehungsaspekt derartiger menschlichen Konflikten dienen. Oft geht es um Wünsche zu erkennen und ihn zu adressieren. Fragen der Kontrolle und um die Angst vor Ab- Dies erfordert eine Haltung der Anerkennung hängigkeit, die mit dem drohenden Verlust von und des einfühlsamen Verstehens. Dieses Ver- geliebten Menschen, von Funktionsfähigkeiten stehen kann dazu führen, das Gespräch über die oder wichtigen Eigenschaften verbunden ist. zugrundeliegenden inneren Konfliktthemen zu Der todkranke Mensch könnte sagen: „So kann suchen. Ungelöste Erfahrungen aus der Vergan- ich nicht leben. Ich muss die Kontrolle über genheit, insbesondere schmerzliche Verlust meinen Körper haben. Ich möchte mir das Le- erlebnisse, können zu einem sehr akuten, auf ben nehmen können, wenn ich den Zeitpunkt das „Jetzt und Hier“ gerichteten Druck führen, dafür für richtig halte“, was die unterschwellige dem Wunsch nach einem beschleunigten Tod Angst wiederspiegelt: „Niemand wird mir hel- nachzukommen. fen, wenn die Krankheit unerträglich wird. Ich 12 EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA Q Literatur werde alleingelassen werden und ohne Fürsorge Castelli Dransart DA et al. (2019). A systematic review of bleiben“. So ist hier ein Wunsch nach Kontakt older adults‘ request for or attitude toward euthanasia enthalten, der Seelsorgerinnen und Seelsorgern or assisted suicide. Aging Ment Health. Dec 10:1-11. doi: gut bekannt ist. Die Beziehung zu jemandem, 10.1080/13607863.2019.1697201 der sich in dieser fremden und bedrohlichen De M’Uzan M (2013). The work of dying. In: Ders. Death Situation auskennt, fördert das Erleben des Ver- and identity. Being and the psycho-sexual drama. Lon- bundenseins, welches hilft, die katastrophale Er- don: Karnac, S. 33-46. fahrung des Verlustes in einer Zeit der größten Verletzlichkeit zu überwinden. Die Verbindung Lindner R (2006). Suizidale Männer in der psychoana- entsteht durch eine seelsorgerlich wirksame Be- lytisch orientierten Psychotherapie. Eine systematische ziehung, die auf empathischer Aufmerksamkeit qualitative Studie. Psychosozial-Verlag, Gießen. für die Anliegend des Betroffenen basiert und seine Bedürfnisse, Ängste und Wünsche berück- Lindner, R, Goldblatt, M, Briggs, S, Teising, M. (2021). sichtigt. Die Erfahrung lehrt, dass Personen, Häufig ambivalent. Todeswünsche am Ende des Lebens. die Beweg- und Hintergründe für den Wunsch Deutsches Ärzteblatt 118 (21): A1050-1052. nach assistiertem Suizid klären, sich oft von der unmittelbaren Notwendigkeit todbringender Handlungen befreit fühlen. Dies kann dazu beitragen, dass diese Menschen in Kenntnis der Sachlage entscheiden, welchen Problemen sie sich stellen und welche sie vermeiden, wenn das Ende des Lebens vorweggenommen würde. Seelsorge kann hier auch angesichts des unver- meidlichen Sterbens die Lösung von inneren Konflikten erleichtern, Beziehungen stärken und dadurch zu einer Verbesserung der Lebens- qualität beitragen (Lindner et al. 2021). Weitere Informationen: Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (2015). Wenn alte Menschen nicht mehr leben wollen. Situation in Perspektiven der Suizid- prävention im Alter https://www.naspro.de/dl/ memorandum2015.pdf Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ des Nationa- len Suizidpräventionsprogramms für Deutsch- land (2015). Wenn das Altwerden zur Last wird. Suizidprävention im Alter. https://www.bmfsfj. de/blob/95512/03e414bd01deff4bf704d6e9e5ce- 4dab/wenn-das-altwerden-zur-last-wird-data.pdf Reinhard.Lindner@uni-kassel.de EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 13
THEMA Kein Seufzen im Elfenbeinturm Wenn ein Happy End beim besten Willen nicht kommt I ch will nur noch sterben, end- beginnt. Von Anfang an ist ihre ab- lich sterben. Ich bin doch ein grundtiefe Verzweiflung spürbar. „ lebendiger Leichnam. – Mein Sprechen kann sie – aber nur im Zustand ist für mich die Hölle. Es Rhythmus des Beatmungsgerätes. ist, als würde ich den ganzen Tag Dieses zwingt ihr nach einigen Se- vergewaltigt werden. – Jeder Tag ist kunden Redens immer wieder eine grauenvoll. – Alles, was mir Sinn kurze Pause auf. Vierzehn Monate gegeben hat, ist nicht mehr.“ (!) wird sie bei diesem ersten Auf- Es ist ein banaler Sturz, der das enthalt im Querschnittgelähmten- Leben von Betina Koch und ih- zentrum bleiben. (Hier duzen sich Michael rer Familie dramatisch verändert. quasi alle, und so bietet sie auch Brems Nach dem Einkaufen mit ihrem mir bald das Du an.) Eine Zeit vie- koordiniert die Kranken- Mann steigt sie aus dem Auto, ler Gespräche und vieler Tränen hausseelsorge und ist im in den Armen trägt sie ein gro- – ich wische sie ihr ab und putze Vorstand der Konferenz ßes Bündel Gemüse. Sie stolpert. ihre Nase, weil sie selbst es ja nicht Krankenhausseelsorge Warum sie sich nicht reflexhaft kann. Die ständige Abhängigkeit – der EKD abstützt, sondern das Bündel fest- beim Essen, Waschen, Abführen – hält, wird man nie verstehen. Sie ist für sie kaum zu ertragen. Nichts schlägt mit dem Kinn auf eine klei- kann sie selbst. Die Suche nach ne Steinmauer und bricht sich das Genick. Da- Kräften der Seele ist mühsam. Wenn ihr Mann ran stirbt ein Mensch normalerweise. Doch ihr sagt: „Ich brauche dich doch“, antwortet sie: Mann bemerkt den Unfall und rettet ihr Leben „Wer braucht schon einen Krüppel wie mich!“ durch Mund-zu-Mund-Beatmung. Eine Nach- In der Zeit dieses ersten Krankenhausaufenthal- barin ruft den Notarztwagen. Sie kommt ins tes errichtet ihr Mann mit Hilfe von Brüdern örtliche Krankenhaus. Dort wird sie versorgt. und Freun-den einen Anbau an ihr verwinkel- Ihr Körper ist vom Hals ab gelähmt. Sie kann tes Fachwerkhaus, in dem sie nach ihrer Entlas- nur noch ihren Kopf bewegen. Keine Beine, kei- sung wohnen wird. Mit einem Zimmer für die ne Arme, keine Hände. Nichts. Nur den Kopf. Pflege, denn es muss ständig eine ausgebildete Durch eine Trachealkanüle wird sie künstlich Pflegekraft bei ihr sein. Ein Privatleben, eine In- beatmet. Sie hat zwar eine minimale Eigenat- timsphäre gibt es für sie nicht mehr. mung, aber der Versuch, sie in den kommenden Betina Koch schafft es nicht, in ihr so klein Monaten von der Beatmung zu entwöhnen, gewordenes, und für sie qualvolles Leben hin- wird leider scheitern. einzuwachsen, sondern verzweifelt über die Ich lerne Betina Koch etwa sechs Wochen Monate mehr und mehr, hat nur noch ein nach ihrem Sturz kennen, als sie auf die Stati- Ziel und beharrt mit aller Kraft darauf. Als sie on für hochgelähmte Beatmungspatienten im fünf Monate nach ihrer Entlassung wegen ei- Querschnittgelähmtenzentrum verlegt worden nes Druckgeschwürs erneut ins Querschnittge- ist. Eine intensive, fast dreijährige Begleitung lähmtenzentrum kommt, sagt sie: „Ich will so EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 21
THEMA nicht leben! Man könnte doch mein Hirn ge- ren offenen Augen an und sagt: „Ich freue mich nauso gut in eine Nierenschale legen. Versteht auf Samstag!“ Und dann feiern wir Abendmahl das doch endlich! Für mich ist das die Hölle – das Abschiedsmahl eines Menschen, der auch – jeden Tag! Ihr könnt euch das nicht vorstel- um seinen bevorstehenden Tod wusste. Wir, das len. Ich will nur noch sterben, endlich sterben sind sie, ihr Mann, ihre 23-jäh-rige Tochter und können!“ Wäre es nur nach ihr gegangen, hätte ihre 80-jährige Mutter. Brot des Lebens, Kelch sie sich nicht wegen des Druckgeschwürs be- des Heils. Zwei Tage später wird sie tot sein. Und handeln lassen – in der Hoffnung, vielleicht an erlöst. Sie weiß es und ist ruhig. „Ich wünsch dir einer Sepsis zu sterben. Nur auf Betreiben ihres einen sanften Tod“, sage ich beim Abschied. Mannes ist sie gekommen. Als ich am Sonntag mit ihrem Mann telefo- Lange Zeit versuchen der behandelnde Psy- niere, erzählt er mir ihre letzten Worte. Sie lau- chologe und ich, mit Betina Koch und ihrem ten: „Sagt allen, dass ich aufrecht gegangen bin.“ Mann Wege zu finden, wie sie ihr Leben doch Immer wieder, gerade auch im kirchlichen noch leben kann. Auf meine Frage, was für sie Bereich, werden die aktuellen Diskussionen für das Weiterleben spreche, antwortet sie spon- zum assistierten Suizid eher theoretisch und tan: „Mein Mann und meine Tochter.“ Doch abgehoben geführt. Über steile Treppen steigen dann fängt sie verzweifelt an zu weinen und die Diskutanten in Elfenbeintürme und bewe- sagt mit tränenerstickter Stimme: „Aber das gen sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. reicht nicht, das reicht nicht!“ Gewiss: Ohne Theorie geht es nicht, ohne Während dieses zweiten Krankenhausaufent- einen Schritt zurück, ohne einen weiten Blick, haltes wird deutlich, dass sie keinen Weg heraus ohne das „quidquid agis, prudenter agas et res- aus ihrer Verzweiflung finden kann und nur pice finem“ (was immer du tust, tue es klug und noch leidet. Theoretisch könnte sie noch viele bedenke das Ende) sollte man sich komplexen Jahre so leben. Doch das will sie nicht. Das kann Themen nicht stellen. Doch das darf nicht dazu sie nicht. So fangen wir schließlich an, sie und führen, dass das Seufzen und das ängstliche Har- ihre Familie mit vielen Gesprächen nicht mehr ren der Kreatur (Röm 8,19) nicht mehr zu hö- auf dem Weg zu einem doch noch sinnvollen ren sind. Denn es geht um konkrete Menschen, Leben, sondern auf dem Weg in einen selbstbe- die nicht theoretisch über Selbstbestimmung, stimmten Tod zu begleiten. ihre Würde oder den Wert des Lebens re-flek- Betina Koch wird wieder entlassen. Die Idee, tieren, sondern die ihr Leben und ihr Leiden durch den Verzicht auf Nahrung und Flüssig- schlicht nicht mehr ertragen. Wie Betina Koch. keit zu sterben, ist im Raum; aber ihr Mann Solche Elfenbeinturmdiskussionen sind eine sagt, diese Vorstellung sei für ihn unerträglich: Weise, Not und Verzweiflung von Menschen dass seine Frau über Wochen langsam dahinsie- nicht ernst zu nehmen. Eine andere Gestalt ist che. Über mehrere Umwege baut die Familie die Verharmlosung von Verzweiflung: Bei man- einen Kontakt zu Dignitas auf, und schließlich, chen Beiträgen von Kirchenleuten komme ich nach einigen Monaten steht der Termin fest, an mir vor wie in einem Puppentheater. Am Ende dem sie nach Zürich fahren wird, um dort zu siegt immer das Gute, und keine Gefahr ist grö- sterben. Zwei Tage vor dieser ihrer letzten Reise ßer als das böse Krokodil, das Kasper mit dem besuche ich sie noch einmal zu Hause. Wir re- Stock in die Flucht schlägt. Oder ich komme den, lachen, weinen zusammen. „Ich weiß nicht, mir vor wie in einer Vorabendserie, in der zwar ob ich mutig oder ob ich feige bin. Ich weiß nur, Bedrohungen auftauchen, und ich als Zuschau- dass ich einfach nicht mehr kann.“ Ich sage zu er sorge mich mit – aber dann trennen sich die ihr: „Du weißt, dass Du selbst am Samstag in Eltern doch nicht, der Tumor an der Wirbelsäu- Zürich noch alles abbrechen und wieder nach le entpuppt sich als gutartig, die fiese Nachbarin Hause fahren kannst.“ Sie lächelt mich mit ih- ist nur einsam und freut sich über das gemein- 22 EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA same Kaffeetrinken, immer kommen die Retter die Jahr um Jahr in Ägypten Frondienst ohne rechtzeitig, und am Ende lächeln alle zu schö- Erbarmen (Ex 1,14) leisten müssen, was mit ih- ner Musik in die Kamera. ren neugeborenen Söhnen, die im Nil ertränkt Ach, wenn das Leben doch so wäre! Wenn es werden (Ex 1,22)? Diese Liste ließe sich schier doch einen Gott gebe, der schon aufpasst, dass endlos fortsetzen bis in die Gegenwart. mir nicht wirklich Schlimmes passiert – so dass Muss eine „Theologie nach Auschwitz“ nicht der Beinbruch heilt, sich nach der schmerzhaf- die Offenheit der Gottesfrage aushalten und ten Trennung eine noch größere Liebe findet aushalten, dass Gott nicht Herr über Leben und und dass, wenn der Krebs kommt, die Therapi- Tod ist – jedenfalls nicht in dem Sinn eines han- en anschlagen und ich nach einer, wenn auch delnden, eingreifenden Gottes? mühsamen, Zeit wieder im Leben stehe. Christian Morgenstern schreibt: „Wer einmal Aber so ist es nicht. Jedenfalls nicht für alle allzutief ins Aug dem Leben schaut, dem wan- und auch nicht überall auf der Welt. delt sich die Harmonie der Sphären zu einem Das Leben ist kostbar und einmalig. einzigen Fluch und Schmerzensschrei, vor dem, Es kann wunderschön sein. wenn ihn ein Gott im Himmel hörte, schon lan- Es ist nicht ohne Dunkelheit und Schmerz ge dieser Gott geflohen wäre, durch alle Ewig- zu haben. keit gehetzt, gepeitscht von diesem Schrei.“ Manchmal nimmt das Leiden am Leben ein unerträgliches Maß an. Zurück zum Thema Die Bibel erzählt je nach Zählung von bis zu Fragen zehn Suiziden. Und auch Elia oder Jona wol- Sind die teilweise hohe Abstraktionsebene len sterben, ohne dass dieser Wunsch verurteilt der Diskussion, der permanente Verweis auf würde. „Es gibt keinen biblischen Text, der das die palliative und hospizliche Versorgung als Phänomen des Suizids an sich grundsätzlich Ausweg aus dem Leiden – so dass ein assistier- reflektiert und in bestimmten Situationen den ter Suizid „doch gar nicht nötig ist“ – und der Suizid als beste oder schlechteste mögliche Glaube an einen Gott, der keine Last zu schwer Wahl vorschreibt. Es gibt lediglich Fallbeschrei- werden lässt und der auch durch dunkle Zeiten bungen von Ausnahmesituationen, in denen hindurchträgt, sind diese Verweise nicht auch der Suizid gewählt wird. Es sind durchweg in- Ausdruck einer Abwehr? dividuelle Entscheidungen. … Dominierend ist Darf unerträgliches Leiden nicht wahrge- bei der Bewertung in allen Fällen der stille und habt werden? einfühlsame Respekt vor dem Suizid als einem Dass wir alle sterblich sind und unser Leben letzten ehrenvollen Ausweg in alternativloser begrenzt ist, darf nicht gefühlt werden? Konfrontation. Wo die Zumutbarkeit an sicht- Darf der „Deus absconditus“, der dunkle und bare menschliche Grenzen stößt, erfordert die verborgende Gott, nicht in den Blick kommen? Achtung menschlicher Tragik die Aufhebung Darf nicht gesehen werden, dass es ungerech- des moralischen Urteils. Insofern lehren die bi- tes und abgründiges Leiden gibt, ohne dass Gott blischen Darstellungen, dass Suizid ein mensch- die Qual lindert? licher Grenzfall ist, der sich allen einseitigen Be- Was ist mit Johannes dem Täufer, der sinn- wertungen widersetzt.“ los enthauptet wird (Mk 6,27), was ist mit den „Als seine jüdische Frau und ihre jüngere achtzehn, die nicht schuldiger waren als andere Tochter in ein KZ abtransportiert werden sol- und auf die der Turm von Siloah fiel und sie len, nimmt sich Jochen Klepper im Advent erschlug (Lk 13,4), was ist mit den Kindern Hi- 1942 gemeinsam mit ihnen das Leben. Vor obs, die aufgrund einer Wette Gottes erschla- dem gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau gen werden (Hi 1,18f), was ist den Israeliten, Hanni und deren Tochter Renate schreibt er in EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 23
THEMA Die Giordano-Bruno-Stiftung wirbt für ein selbstbestimmtes Lebensende. Gerne vor Kirchen. Aber lässt sich auf dieses komplexe Thema so ambivalenzbefreit reagieren? Foto: epd-Bild/Rolf Zöllner sein Tagebuch: ‚Wir sterben nun – ach, auch das Wir halten es für eine vordringliche Aufgabe steht bei Gott – wir gehen heute Nacht gemein- der Kirchen und jede*r Einzelnen in der Gesell- sam in den Tod. Über uns steht in den letzten schaft, alles zu tun, um Suizide zu vermeiden: Stunden das Bild des Segnenden Christus, der - Grundlegend ist die Haltung, dass auch das um uns ringt. In dessen Anblick endet unser beschädigte Leben seine Würde hat. Alter, Leben.‘“ Krankheit, Behinderung oder angewiesen Wer will, wer kann, urteilen? zu sein auf Andere nehmen dem*der Ein- Gott ist barmherzig. Barmherzigkeit aber tri- zelnen nichts von seiner Gottesebenbild- umphiert über das Gericht. (Jak 2,13) lichkeit. „Noch manche Nacht wird fallen auf Men- - Schwerkranke brauchen verlässlich einen schenleid und -schuld. Doch wandert nun mit Platz z.B. auf einer Palliativstation, in der allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von ambulanten palliativen Versorgung, in ei- seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von nem Hospiz. Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ - Das medizinische, pflegerische, psychosozi- Wir vom Vorstand der Konferenz für Kran- ale, seelsorgliche und spirituelle Angebot kenhausseelsorge in der EKD haben Im Februar muss ausgebaut werden. 2021 zum assistierten Suizid formuliert: - Alte, Kranke, Schwache und Hilfsbedürftige 24 EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA müssen vor jedem, auch subtilem Druck, Sabbats willen (Markus 2,27). Gesetze, Ordnun- ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen, gen und Regeln sollen dem Menschen dienen, geschützt werden. nicht umgekehrt. - Psychische Erkrankungen (z.B. Depressio- Die berechtigten Bedenken gegen eine Libe- nen) müssen im Rahmen einer qualitativ ralisierung der Regelungen zum assistierten Su- hochwertigen Versorgung behandelt wer- izid dürfen nicht dazu führen, dass Menschen den. allein gelassen werden, die – oft nach einem - Die Bevölkerung muss informiert werden langen Weg des Leidens und Ringens und nach über all diese Möglichkeiten. gründlicher Prüfung aller Alternativen – selbst- - Eine Versorgung, die diesen Ansprüchen bestimmt und für sie würdevoll in den Tod ge- gerecht wird, ist aus unserer Erfahrung als hen wollen. Für solche Menschen braucht es Krankenhausseelsorger*innen noch längst gut ausgebildete Ärzt*innen, die im Einzelfall, nicht flächendeckend vorhanden! nach Prüfung aller Möglichkeiten als Gewissen- sentscheidung einem Sterbewilligen ggf. auch Auch wenn wir ein kategorisches Nein zur Su- durch Suizidbeihilfe zur Seite stehen. Sie und izidbeihilfe ablehnen, weisen wir ausdrücklich alle Beteiligten sollten, wenn sie es wünschen, auf den Regelungsbedarf zum Urteil des Bun- auf ihrem Weg von Seelsorger*innen begleitet desverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020 hin. Es werden. wird kritisch zu prüfen sein, wie auf der Grund- Dieser Schritt, beim Sterben zu helfen, sollte lage des Respekts vor der Selbstbestimmung immer schwer bleiben. Er bleibt ein Tabubruch. des*der Einzelnen gleichwohl verhindert wer- den kann, dass sich die Freiheit des Einzelnen Zuletzt: als Erwartung, das eigene Leben vorzeitig zu Menschen sind als Teil der Schöpfung sterblich: beenden, gegen Alte, Kranke, Schwache, Pflege- Sie werden geboren, leben und sterben eines bedürftige wendet! Tages. Wenn die Möglichkeit eines assistierten Ster- Die Offenbarung malt ein Bild: Gott wird ab- bens immer mit im Raum ist, kann dies – auch wischen alle Tränen von ihren Augen, und der unter-halb der Wahrnehmungsschwelle – zu Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Ge- einer sich langsam verändernden inneren Hal- schrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das tung führen, z.B. bei beruflich oder privat Pfle- Erste ist vergangen. (Offb 21,4) genden, so dass sie denken: „Das ist doch kein Mit dem Tod ist das Leben auf Erden zu Leben mehr.“ Der Tod darf nicht der schnelle Ende. Ja. Aber das ist nicht alles. Ich hoffe, dass Ausweg sein, wenn es darum geht, Alte, Kran- ich selbst dereinst in meine Endlichkeit einwil- ke und Schwache zu pflegen oder des Lebens ligen und mich fallen lassen kann in eine größe- müde Menschen zu begleiten. re Hand – die barmherzig ist und versteht. Doch selbst bei einer bestmöglichen Versor- gung und Begleitung wird es im Einzelfall Men- schen geben, die unerträglich leiden. Michael.Brems@seelsorge.nordkirche.de Ein kategorisches kirchliches Nein zum assis- tierten Suizid wird ihnen und der Komplexität des Themas und der Situationen nicht gerecht. Der Schmerz und das Leiden dieser Menschen müssen gesehen und ernstgenommen und ihr Wunsch zu sterben muss gewürdigt und respek- tiert werden. Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 25
DIE LETZTE SEITE Zu guter Letzt AN CHRISTIAN LUDWIG NEUFFER IM MÄRZ 1794 Noch kehrt in mich der süße Frühling wieder, Noch altert nicht mein kindisch fröhlich Herz Noch rinnt vom Auge mir der Tau der Liebe nieder, Noch lebt in mir der Hoffnung Lust und Schmerz. Noch tröstet mich mit süßer Augenweide Der blaue Himmel und die grüne Flur, Mir reicht die Göttliche den Taumelkelch der Freude, Die jugendliche freundliche Natur. Getrost! Es ist der Schmerzen wert, dies Leben, FRIEDRICH So lang uns Armen Gottes Sonne scheint, HÖLDERLIN Und Bilder bessrer Zeiten um unsre Seele schweben, Und ach! Mit uns ein freundlich Auge weint. Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021 65
VORSCHAU & IMPRESSUM Vorschau Wer hat die Macht? Der Allmächtige oder der Mensch? Während Gottes Macht fraglich ist, expandiert die Macht des Men- schen. Wird Gott also ohnmächtig? Im Ratzeburger Unikolleg wurde diesen Fragen nachgegangen. Bringen auch Sie Ihre Gedanken ein! Beiträge bitte bis zum 15. August Diakonie und Pädagogik in der Gemeinde Diakonie und Bildung als Aspekte der Verkündigung bleiben in der Öffentlichkeit wie auch in der Kirche viel zu oft unberücksichtigt. Welche Rolle nehmen Mitarbeiter:innen in den Kirchen ein? Beiträge bitte bis zum 15. September Konfessionalität im Religionsunterricht Der Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Gesellschaft wirft die Frage auf: Macht der Unterschied von Konfessionen überhaupt noch Sinn? Wie kommen die verschiedenen Traditionen und kulturellen Prägungen zusammen – nicht nur, aber vor allem in der Schule? Beiträge bitte bis zum 15. Oktober Schreiben Sie! Zu Themenschwerpunkten, die für die nächsten Ausgaben geplant sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden. redaktion@evangelische-stimmen.de IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Druck: Evangelischer Presseverband Dr. Friedrich Brandi (ViSdP) Hugo Hamann Norddeutschland GmbH, Offsetdruckerei, Kiel Gartenstr. 20, 24103 Kiel Layout: Evangelischer Presseverband Die Evangelischen Stimmen erscheinen Verlag: Norddeutschland GmbH monatlich. Das Jahresabonnement kostet Evangelischer Presseverlag Nord GmbH, Tel. (040) 709 75 - 277 48,00 € inkl. Versandkosten innerhalb Gartenstr. 20, 24103 Kiel, Deutschlands. Die Kündigungsfrist beträgt Postfach 34 66, 24033 Kiel, Anzeigen: 6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die Tel. (0431) 55 77 99 Kristina Heesch Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen Fax (0431) 55 779 - 292 Tel. (0431) 55 77 9 - 206 oder Initialen gekennzeichnete Beiträge Geschäftsführer: Bodo Elsner Fax (0431) 55 77 9 - 292 geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte Redaktionsanschrift: Vertrieb und Abonnementverwaltung: Beiträge und Bücher werden nicht zurück- Evangelischer Presseverband Stefanie Elsner & Inge Limburg geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind Norddeutschland GmbH, Tel. (0431) 55 77 9 - 271 urheberrechtlich geschützt. Schillerstraße 44a, 22767 Hamburg E-Mail: vertrieb@evangelische-stimmen.de ISSN 0938-3697 Tel. (040) 70 975 - 200 Fax (040) 70 975 - 249 E-Mail: redaktion@evangelische-stimmen.de 66 EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
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