EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe? - evangelische-zeitung

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe? - evangelische-zeitung
C 21134                                  Juli/August 2021 | 7/8

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                          ZEITFRAGEN
                                          UND KIRCHE IN
                                          NORDDEUTSCHLAND

Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe?
Der Suizid          „Etwas besseres als   Seelsorge bei
und die Freiheit?   den Tod findest du    assistiertem Suizid
                    überall.“
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            Die leitenden Verantwortlichen der Nordkirche ringen gegenwärtig
            um eine gemeinsame Position in Sachen „Assistierter Suizid“. Die
            Landesbischöfin hatte zu diesem Thema im zweiten Quartal des Jah-
            res eine Veranstaltung anberaumt, mit der ein Diskussionsprozess in
            unserer Kirchen angeregt wurde. Eine verbindliche Stellungnahme
            der Kirchenleitung steht allerdings noch aus.

            Befremdlich finde ich, dass gegenwärtig breit über Sterbehilfe in
            kirchlich-diakonischen Einrichtung diskutiert wird, aber es mit dem
            Emmaus-Hospiz (Hamburg-Blankenese) lediglich ein einziges Hospiz
            in der Nordkirche gibt, das sich mehrheitlich in einer kirchlichen Trä-
            gerschaft befindet und von der Diakonie Hamburg-West/Südholstein
            geleitet wird. Böse Zungen könnten meinen, der Kirche läge mehr
            an der Hilfe zum raschen Tod als an der fürsorgenden Begleitung im
            natürlichen Sterbeprozess.
FRIEDRICH
 BRANDI     Aber das ist natürlich zu einfach gedacht, und die Beiträge im vorlie-
            genden Heft argumentieren da auch sehr viel differenzierter. Nach
            der Lektüre der Artikel kann ich die Frage, ob ich nun für oder gegen
            die Sterbehilfe bin, nicht anders beantworten als: Das lässt sich eben
            nicht allgemeingültig beantworten. Der Einzelfall muss bedacht wer-
            den. Es ist deswegen wohl kein Zufall, dass die meisten Artikel – ob
            dafür oder dagegen – Fallbeispiele schildern. Und diese sind in der
            Regel überzeugend. So oder so. Ob also eine verbindliche Stellung-
            nahme unserer Landeskirche wirklich zielführend ist, wage ich zu be-
            zweifeln. Protestantische Vielfalt wäre sinnvoller und weiterführender.

            Bleibt zu hoffen, dass dieses Heft den innerkirchlichen Diskurs fördert
            und jede Leserin und jeder Leser vorbereitet ist, wenn sie in unmit-
            telbare Berührung mit dieser Frage kommen.

            www.evangelische-stimmen.de

                                                    EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   3
EVANGELISCHE
                       STIMMEN

                     INHALT

                     3         Editorial
                               Friedrich Brandi

                     6         Assistierter Suizid
                               Thomas Schaack
                                                                     44         Seelsorge bei
                     9         Ambivalenter Wunsch                              assistiertem Suizid
                               Reinhard Lindner                                 Florian-Sebastian Ehlert

                     14        „Ich bin mit meiner Kraft             48         Der sichere Ort für alle.
                               am Ende.“                                        Für alle!
                               Manfred Wilde, Martin 		                         Nils Christiansen
                               Mommsen von Geisau,
                               Dirk Outzen                           55         Begegnung mit dem
                                                                                Judentum
                     21        Kein Seufzen im                                  Joachim Liß-Walther
                               Elfenbeinturm
                               Michael Brems                         59         Literarischer Trost zur
                                                                                Seuchenzeit
                     26        Der Suizid und die                               Hans-Jürgen Benedict
                               Freiheit?
                               Michael Wunder                        63         Kirche der Zukunft
                                                                                Friedrich Brandi
                     32        „Etwas Besseres als den
                               Tod findest du überall“               65         Zu guter Letzt
                               Annegret Reitz-Dinse
                                                                     66         Vorschau
                     37        Selbstbestimmt sterben
                               Hella Lemke

                     42        Eine Ev. Stimme
                               Annette Klinkhardt

Titelbild: Themenfoto für eine Aktion von 10 Bundestagsabgeordeten zur Regelung von Sterbehilfe im
Jahr 2015                                                              Foto: epd-bild/Jürgen Blume

                                                                               EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   5
THEMA

Ambivalenter Wunsch
Assistenz beim Suizid. Perspektiven der Suizidprävention

Suizid und Suizidalität                                                organisation WHO geht jedoch da-
Suizidhandlungen und ihre Fol-                                         von aus, dass auf jeden vollendeten
gen sind ein kulturelles, soziales,                                    Suizid etwa zehn bis 20 Suizidver-
gesundheitliches und nicht zuletzt                                     suche kommen.
auch theologisches Problem, das                                            Suizidalität wird verstanden als
oft unterschätzt wird. Jährlich neh-                                   „Ausdruck einer Zuspitzung einer see-
men sich rund 9.000 Menschen                                           lischen Entwicklung, in der die Men-
in Deutschland das Leben. Schaut                                       schen hoffnungslos und verzweifelt
man genauer hin, so trägt der Su-                                      über sich selbst, das eigene Leben und
izid die Handschrift des Alters.                                       seine Perspektiven sind und ihre Si-
                                           Prof. Dr. Reinhard
Häufig ist es ein stiller Tod, der von                                 tuation als ausweglos erleben. Selbst­
                                                  Lindner
anderen kaum wahrgenommen                                              entwertung, Verachtung und Impulse
                                        Facharzt für Neurologie,
wird. Hinter der Absicht, sich zu                                      der Rache können sich steigern und in
                                         Psychiatrie, Psychothe-
töten und dem Entschluss zu einer                                      Wut und Hass umschlagen (Lindner
                                         rapie, für Psychosoma-
Suizidhandlung verbirgt sich oft                                       2006, S. 42f).
                                        tische Medizin und Psy-
eine verengte, ausweglos erschei-                                          Im Jahr 2019 suizidierten sich in
                                         chotherapie, Professor
nende Lebenssituation. Schwere                                         Deutschland 9041 Menschen. Dar-
                                       für „Theorie, Empirie und
Einbußen an Lebensqualität, sei es                                     unter waren knapp 7000 Männer.
                                        Methoden der Sozialen
durch physische oder psychische                                        Die durchschnittliche Suizidrate
                                       Therapie“ an der Univer-
Erkrankungen, Verlusterfahrun-                                         betrug 10,9 Suizide pro 100.000
                                                sität Kassel
gen und soziale Isolation können                                       Einwohner. Das durchschnittliche
sich zu einer schweren Krise ver-                                      Sterbealter durch einen Suizid lag
dichten. Bei alten Menschen wird                                       bei 58,5 Jahren, im Jahr 1998 lag
als Folge eines oft negativen gesellschaftlichen         die Zahl noch bei 53,2 Jahren. Insbesondere bei
Altersbildes eine Suizidhandlung eher gebilligt          Männern steigt die Suizidrate mit dem Alter er-
als bei jungen Menschen. Trotz des erhöhten              heblich. So lag die Suizidrate im Jahr 2019 bei
Suizidrisikos werden immer noch zu wenige                Männern zwischen 65 und 70 Jahren bei 21,3
Anstrengungen unternommen, den Ursachen                  und bei Männern zwischen 85 und 90 Jahren
vorzubeugen und Hilfsangebote für Menschen               bei 72,7.
in suizidalen Krisen vorzuhalten. Suizidale                  Als Risikofaktoren für Suizid gelten psychi-
Tendenzen zu erkennen, ernst zu nehmen und               sche Störungen, psychosoziale Krisen, Verluste,
bei Bedarf weitere Hilfen einzuleiten, ist eine          Trennungen und psychosoziale Folgen körper-
wichtige Aufgabe im Gesundheitswesen, im                 licher Erkrankungen. In internationalen empi-
psychosozialen Bereich und auch in der Arbeit            rischen Studien konnte nachgewiesen werden,
der Kirchen.                                             dass ca. 90% aller Suizide im Zustand einer psy-
   In Deutschland sterben jährlich etwa 10.000           chischen Störung begangen werden.
Menschen durch Suizid. Suizidversuche werden
nicht systematisch erfasst. Die Weltgesundheits-

                                                                           EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   9
THEMA

Suizidalität im Alter                               Suizidalität verstehen
Insbesondere im hohen Lebensalter muss bei          Um Suizidalität zu verstehen bedarf es einiger
der Erfassung von Suiziden von einer erhebli-       grundsätzlicher Kenntnisse ihrer psychischen
chen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die           Funktion und Bedeutung. Suizidalität ist ein
amtlichen Statistiken beinhalten keine indirek-     individuell unbeständiges psychisches Gesche-
ten suizidalen Handlungen, wie beispielsweise       hen. Sie verändert sich, abhängig von inneren
riskantes Verhalten im Straßenverkehr, Nicht-       und äußeren Aspekten und kann durch medizi-
befolgung ärztlicher Maßnahmen (falsche Do-         nische und psychosoziale Behandlungen beein-
sierung von Medikation) oder auch das Einstel-      flusst werden. Es gibt eine Reihe von empirisch
len von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mit        belegten Faktoren, die vor Suizidalität schützen
der Intention zu sterben. Auch verhält es sich      können. Hierzu zählen innere und soziale Fle-
so, dass in der Todesursachenstatistik häufig die   xibilität, Einstellung zu Religion und Spiritua-
vorangegangene somatische Erkrankung und            lität, eigene Altersbilder wie auch die kreative
nicht das suizidale Handeln oder die körper-        und selbstbewusste Auseinandersetzung mit
lichen Krankheiten, die in Folge eines Suizid-      Endlichkeit und Autonomieeinbußen. Hinzu
versuches auftreten, erfasst werden. Sicher aber    kommen soziale Faktoren, wie lebendige und
ist, dass Ältere deutlich häufiger einen Suizid     stabile familiäre und soziale Beziehungen, Un-
begehen, d.h. sie sterben häufiger an einer su-     terstützung, Mobilität, gutes Wohnen, ausrei-
izidalen Handlung als Jüngere. Durch den de-        chender Lebensstandard und verantwortungs-
mographischen Wandel ist mit einer weiteren         volle mediale Berichterstattung über Suizide.
Zunahme hochaltriger Menschen mit ihrer be-         Grundlagen der Hilfen bei Suizidalität, welche
sonderen Suizidgefährdung zu rechnen.               auch für die Seelsorge gelten, sind ein ernstneh-
                                                    mendes, akzeptierendes und Selbstbestimmung
Auslöser und Ursachen der Suizidalität              förderndes (professionelles) Beziehungsange-
Betrachtet man allgemein, welche Auslöser für       bot. Suizidalität ist psychotherapeutisch und
suizidales Handeln bekannt sind, so sind dies       psychiatrisch behandelbar, wobei die Psycho-
Verluste, Trennungen, interpersonelle Konflik-      therapie u.a. ermöglicht, innere und äußere Ab-
te, wie auch Ängste und Befürchtungen vor           hängigkeiten zu erkennen, zu verändern und
unerträglicher Abhängigkeit. Diese Probleme         neu zu bewerten, als Voraussetzung für eigen-
aber sind ubiquitär, nicht jeder, der sie erlebt    verantwortliche Entscheidungen.
wird dabei suizidal. Es bedarf also weiterer Fak-
toren, die Menschen zu dieser Art des Erlebens      Empirie des assistierten Suizids
und Handelns bringen. Aus einer psychoanaly-        Über den Wunsch nach assistiertem Suizid gibt
tischen Perspektive sind dies oftmals lebenslang    es einige, wiewohl noch nicht ausreichende em-
erworbene Muster der Beziehungsgestaltung,          pirische Kenntnisse: In der Schweiz nimmt der
die Menschen in bestimmten (Verlust-)Situati-       assistierte Suizid seit Jahren stetig zu. In Län-
onen in derart unerträgliche Zustände bringen,      dern mit freiem Zugang zu assistiertem Suizid
dass eine „radikale“ Vorstellung der Lösung         und Tötung auf Verlangen, wie in den Nieder-
sich im Sinne eines zunehmenden Handlungs-          landen und in einigen Staaten der USA nimmt
drucks in den Vordergrund drängt. Zudem er-         letzteres, außerhalb Deutschlands oftmals
möglicht die psychiatrische Perspektive, aus        „Euthanasie“ genannt, über die Jahre deutlich
der Diagnose einer psychischen Störung, wie         zu. Zugleich sinken die Suizidraten nicht. Das
z.B. einer Depression heraus, therapeutische        heißt, es gibt Hinweise darauf, dass es sich bei
Handlungsoptionen zu finden, wie die einer          Personen, die assistiert Suizid begehen, nicht
Psychotherapie, deren Wirksamkeit ebenfalls         um Personen handelt, die sich andernfalls, wäre
empirisch erwiesen ist.                             ihnen dies nicht möglich, mittels einer anderen

10   EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA

Methode suizidieren würden. Es gibt viele em-       tentiellen Krisen, den Wunsch haben, mit Hilfe
pirische Belege dafür, dass der Wechsel der Su-     anderer Personen sich selbst zu töten. In einem
izidmethode selten erfolgt und wenige Belege        solchen Wunsch kann sich der Wunsch nach ei-
für die These, der assistierte Suizid verhindere    ner Begleitung verbergen, die sowohl das Leben
„grausame“ andere Suizidmethoden. Zudem             als auch das Sterben umfasst. Häufig ist er mit
zeigt sich in vielen Ländern, dass überpropor-      der Vorstellung verbunden, im Beisein, oder
tional viele Frauen den assistierten Suizid wäh-    zumindest mit Zustimmung wichtiger anderer
len: Wird der Suizid in den nördlichen Ländern      Menschen zu sterben. Dies ist eng verbunden
der Welt meist deutlich häufiger von Männern        mit der Vorstellung, dieses Sterben „in der ei-
begangen ist das Geschlechterverhältnis beim        genen Hand“ zu haben und damit nicht nur re-
assistierten Suizid nahezu ausgeglichen. Wa-        ales Leiden, sondern auch befürchtetes Leiden
rum Frauen diese Suizidmethode häufiger             selbst beenden zu können und den Verlust der
wählen, ist empirisch nicht geklärt. Es könnte      (Selbst-)Kontrolle im Akt des „Gestorben-Wer-
eventuell eine Geschlechtsstereotypie dahinter-     dens“ zu vermeiden. Einflüsse auf diese Wün-
stecken, nach der Frauen häufiger existentielle     sche stammen aus der Erfahrung und der Angst
Entscheidungen altruistisch, in Absprache und       vor körperlichem Verfall und seinen psychoso-
mit Zustimmung naher Menschen treffen. Au-          zialen Folgen, wie Immobilität und Kontaktver-
ßerdem scheint der Wunsch nach assistiertem         lust. Häufig haben Menschen mit dem Wunsch
Suizid gesellschaftlich-soziale Aspekte zu ha-      nach assistiertem Suizid auch schon früh in
ben: Je höher das Alter, der Bildungsgrad und       ihrem Leben Erfahrungen von unpersönlichen
der sozioökonomische Status, umso häufiger ist      und verlassenden Beziehungen machen müs-
der Wunsch nach assistiertem Suizid. Erwiesen       sen und diese nicht bewältigen können. Hinzu
ist auch, dass depressive, ängstliche und sorgen-   kommen die psychischen Prozesse, die mit dem
volle alte Menschen sich häufiger assistierten      Sterben ohnehin häufig verbunden sind, die
Suizid wünschen, als psychisch gesunde alte         mit einem großen Wunsch nach Halt, wie auch
Menschen, in diesem Wunsch aber auch inkon-         nach intensivem, emotionalen Kontakt einher-
stanter, wechselhafter sind. Weniger eindeutig      gehen (de M’Uzan 1977).
sind weitere Einflüsse auf den Wunsch nach as-
sistiertem Suizid: Das Vorliegen von Ageismen       Seelsorge bei Wunsch nach assistier-
und Gerontophobie in Gesellschaften oder            tem Suizid
gesellschaftlichen Gruppen, der Zugang zu           Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
medizinisch-psychosozialen Hilfen, aber auch        Februar 2020 hat das Verbot der geschäftsmä-
das Vorhandensein eines leicht verfügbaren          ßigen Assistenz beim Suizid aufgehoben. Es
Angebots zum assistierten Suizid, die Qualität      hat festgestellt, dass das allgemeine Persönlich-
der Altenpflege und auch die Medienberichter-       keitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes
stattung über diese Form des Suizids scheinen       Sterben umfasst und die Freiheit einschließt,
einen Einfluss die zu haben (Castelli Dransart      sich das Leben zu nehmen und hierbei auch auf
et al. 2019).                                       die Hilfe Dritter zurückzugreifen, unabhängig
                                                    vom Lebensalter und vom Gesundheitszustand.
Psychodynamische Erkenntnisse zum                   Damit ist der assistierte Suizid sehr weitgehend
assistierten Suizid                                 frei, lediglich begrenzt durch Einschränkungen
Aus psychodynamisch-psychotherapeutischen           der Freiverantwortlichkeit, wie sie bei manchen
Behandlungen von Personen mit einem Wunsch          schweren psychischen Erkrankungen vorliegt.
nach Assistenz beim Suizid können einige Hy-        Was dieses Urteil und mögliche gesetzliche
pothesen über die innere Dynamik gewonnen           Neuregelungen der Assistenz beim Suizid für
werden, die Menschen erfasst, die, meist in exis-   die Seelsorge und andere psychosoziale Hilfen

                                                                     EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   11
THEMA

        Akteure aus den Bereichen Suizidprävention und Seelische Gesundheit machen vor allem am Welttag
        der Suizidprävention (10. September) auf das Thema aufmerksam.        Foto: epd-bild/Jürgen Blume

bedeutet, ist noch nicht gänzlich abzusehen.                   Die Wünsche nach Hilfe zum schnelleren
Seelsorge mit Menschen, die einen Wunsch                    Sterben sind auch bei todkranken Menschen
nach assistiertem Suizid haben, findet häufig               meist ambivalent. Sie können der Rettung aus
in existentiellen Situationen am Lebensende                 unerträglichen innerseelischen Gefühlszustän-
statt. Für die seelsorgerliche Haltung erscheint            den oder der scheinbaren Lösung von zwischen-
es hier zentral, den Beziehungsaspekt derartiger            menschlichen Konflikten dienen. Oft geht es um
Wünsche zu erkennen und ihn zu adressieren.                 Fragen der Kontrolle und um die Angst vor Ab-
Dies erfordert eine Haltung der Anerkennung                 hängigkeit, die mit dem drohenden Verlust von
und des einfühlsamen Verstehens. Dieses Ver-                geliebten Menschen, von Funktionsfähigkeiten
stehen kann dazu führen, das Gespräch über die              oder wichtigen Eigenschaften verbunden ist.
zugrundeliegenden inneren Konfliktthemen zu                 Der todkranke Mensch könnte sagen: „So kann
suchen. Ungelöste Erfahrungen aus der Vergan-               ich nicht leben. Ich muss die Kontrolle über
genheit, insbesondere schmerzliche Verlust­                 meinen Körper haben. Ich möchte mir das Le-
erlebnisse, können zu einem sehr akuten, auf                ben nehmen können, wenn ich den Zeitpunkt
das „Jetzt und Hier“ gerichteten Druck führen,              dafür für richtig halte“, was die unterschwellige
dem Wunsch nach einem beschleunigten Tod                    Angst wiederspiegelt: „Niemand wird mir hel-
nachzukommen.                                               fen, wenn die Krankheit unerträglich wird. Ich

12   EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA

                                                    Q Literatur
werde alleingelassen werden und ohne Fürsorge
                                                    Castelli Dransart DA et al. (2019). A systematic review of
bleiben“. So ist hier ein Wunsch nach Kontakt
                                                    older adults‘ request for or attitude toward euthanasia
enthalten, der Seelsorgerinnen und Seelsorgern
                                                    or assisted suicide. Aging Ment Health. Dec 10:1-11. doi:
gut bekannt ist. Die Beziehung zu jemandem,
                                                    10.1080/13607863.2019.1697201
der sich in dieser fremden und bedrohlichen
                                                    De M’Uzan M (2013). The work of dying. In: Ders. Death
Situation auskennt, fördert das Erleben des Ver-
                                                    and identity. Being and the psycho-sexual drama. Lon-
bundenseins, welches hilft, die katastrophale Er-
                                                    don: Karnac, S. 33-46.
fahrung des Verlustes in einer Zeit der größten
Verletzlichkeit zu überwinden. Die Verbindung
                                                    Lindner R (2006). Suizidale Männer in der psychoana-
entsteht durch eine seelsorgerlich wirksame Be-
                                                    lytisch orientierten Psychotherapie. Eine systematische
ziehung, die auf empathischer Aufmerksamkeit
                                                    qualitative Studie. Psychosozial-Verlag, Gießen.
für die Anliegend des Betroffenen basiert und
seine Bedürfnisse, Ängste und Wünsche berück-
                                                    Lindner, R, Goldblatt, M, Briggs, S, Teising, M. (2021).
sichtigt. Die Erfahrung lehrt, dass Personen,
                                                    Häufig ambivalent. Todeswünsche am Ende des Lebens.
die Beweg- und Hintergründe für den Wunsch
                                                    Deutsches Ärzteblatt 118 (21): A1050-1052.
nach assistiertem Suizid klären, sich oft von der
unmittelbaren Notwendigkeit todbringender
Handlungen befreit fühlen. Dies kann dazu
beitragen, dass diese Menschen in Kenntnis der
Sachlage entscheiden, welchen Problemen sie
sich stellen und welche sie vermeiden, wenn
das Ende des Lebens vorweggenommen würde.
Seelsorge kann hier auch angesichts des unver-
meidlichen Sterbens die Lösung von inneren
Konflikten erleichtern, Beziehungen stärken
und dadurch zu einer Verbesserung der Lebens-
qualität beitragen (Lindner et al. 2021).

Weitere Informationen:
Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ des Nationalen
Suizidpräventionsprogramms für Deutschland
(2015). Wenn alte Menschen nicht mehr leben
wollen. Situation in Perspektiven der Suizid-
prävention im Alter https://www.naspro.de/dl/
memorandum2015.pdf
Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ des Nationa-
len Suizidpräventionsprogramms für Deutsch-
land (2015). Wenn das Altwerden zur Last wird.
Suizidprävention im Alter. https://www.bmfsfj.
de/blob/95512/03e414bd01deff4bf704d6e9e5ce-
4dab/wenn-das-altwerden-zur-last-wird-data.pdf

  Reinhard.Lindner@uni-kassel.de

                                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021    13
THEMA

 Kein Seufzen im Elfenbeinturm
 Wenn ein Happy End beim besten Willen nicht kommt

I
     ch will nur noch sterben, end-                                    beginnt. Von Anfang an ist ihre ab-
     lich sterben. Ich bin doch ein                                    grundtiefe Verzweiflung spürbar.
„ lebendiger Leichnam. – Mein                                          Sprechen kann sie – aber nur im
 Zustand ist für mich die Hölle. Es                                    Rhythmus des Beatmungsgerätes.
 ist, als würde ich den ganzen Tag                                     Dieses zwingt ihr nach einigen Se-
 vergewaltigt werden. – Jeder Tag ist                                  kunden Redens immer wieder eine
 grauenvoll. – Alles, was mir Sinn                                     kurze Pause auf. Vierzehn Monate
 gegeben hat, ist nicht mehr.“                                         (!) wird sie bei diesem ersten Auf-
     Es ist ein banaler Sturz, der das                                 enthalt im Querschnittgelähmten-
 Leben von Betina Koch und ih-                                         zentrum bleiben. (Hier duzen sich
                                                 Michael
 rer Familie dramatisch verändert.                                     quasi alle, und so bietet sie auch
                                                  Brems
 Nach dem Einkaufen mit ihrem                                          mir bald das Du an.) Eine Zeit vie-
                                         koordiniert die Kranken-
 Mann steigt sie aus dem Auto,                                         ler Gespräche und vieler Tränen
                                        hausseelsorge und ist im
 in den Armen trägt sie ein gro-                                       – ich wische sie ihr ab und putze
                                         Vorstand der Konferenz
 ßes Bündel Gemüse. Sie stolpert.                                      ihre Nase, weil sie selbst es ja nicht
                                          Krankenhausseelsorge
 Warum sie sich nicht reflexhaft                                       kann. Die ständige Abhängigkeit –
                                                 der EKD
 abstützt, sondern das Bündel fest-                                    beim Essen, Waschen, Abführen –
 hält, wird man nie verstehen. Sie                                     ist für sie kaum zu ertragen. Nichts
 schlägt mit dem Kinn auf eine klei-                                   kann sie selbst. Die Suche nach
 ne Steinmauer und bricht sich das Genick. Da-           Kräften der Seele ist mühsam. Wenn ihr Mann
 ran stirbt ein Mensch normalerweise. Doch ihr           sagt: „Ich brauche dich doch“, antwortet sie:
 Mann bemerkt den Unfall und rettet ihr Leben            „Wer braucht schon einen Krüppel wie mich!“
 durch Mund-zu-Mund-Beatmung. Eine Nach-                 In der Zeit dieses ersten Krankenhausaufenthal-
 barin ruft den Notarztwagen. Sie kommt ins              tes errichtet ihr Mann mit Hilfe von Brüdern
 örtliche Krankenhaus. Dort wird sie versorgt.           und Freun-den einen Anbau an ihr verwinkel-
 Ihr Körper ist vom Hals ab gelähmt. Sie kann            tes Fachwerkhaus, in dem sie nach ihrer Entlas-
 nur noch ihren Kopf bewegen. Keine Beine, kei-          sung wohnen wird. Mit einem Zimmer für die
 ne Arme, keine Hände. Nichts. Nur den Kopf.             Pflege, denn es muss ständig eine ausgebildete
 Durch eine Trachealkanüle wird sie künstlich            Pflegekraft bei ihr sein. Ein Privatleben, eine In-
 beatmet. Sie hat zwar eine minimale Eigenat-            timsphäre gibt es für sie nicht mehr.
 mung, aber der Versuch, sie in den kommenden               Betina Koch schafft es nicht, in ihr so klein
 Monaten von der Beatmung zu entwöhnen,                  gewordenes, und für sie qualvolles Leben hin-
 wird leider scheitern.                                  einzuwachsen, sondern verzweifelt über die
     Ich lerne Betina Koch etwa sechs Wochen             Monate mehr und mehr, hat nur noch ein
 nach ihrem Sturz kennen, als sie auf die Stati-         Ziel und beharrt mit aller Kraft darauf. Als sie
 on für hochgelähmte Beatmungspatienten im               fünf Monate nach ihrer Entlassung wegen ei-
 Querschnittgelähmtenzentrum verlegt worden              nes Druckgeschwürs erneut ins Querschnittge-
 ist. Eine intensive, fast dreijährige Begleitung        lähmtenzentrum kommt, sagt sie: „Ich will so

                                                                            EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   21
THEMA

nicht leben! Man könnte doch mein Hirn ge-          ren offenen Augen an und sagt: „Ich freue mich
nauso gut in eine Nierenschale legen. Versteht      auf Samstag!“ Und dann feiern wir Abendmahl
das doch endlich! Für mich ist das die Hölle        – das Abschiedsmahl eines Menschen, der auch
– jeden Tag! Ihr könnt euch das nicht vorstel-      um seinen bevorstehenden Tod wusste. Wir, das
len. Ich will nur noch sterben, endlich sterben     sind sie, ihr Mann, ihre 23-jäh-rige Tochter und
können!“ Wäre es nur nach ihr gegangen, hätte       ihre 80-jährige Mutter. Brot des Lebens, Kelch
sie sich nicht wegen des Druckgeschwürs be-         des Heils. Zwei Tage später wird sie tot sein. Und
handeln lassen – in der Hoffnung, vielleicht an     erlöst. Sie weiß es und ist ruhig. „Ich wünsch dir
einer Sepsis zu sterben. Nur auf Betreiben ihres    einen sanften Tod“, sage ich beim Abschied.
Mannes ist sie gekommen.                                Als ich am Sonntag mit ihrem Mann telefo-
   Lange Zeit versuchen der behandelnde Psy-        niere, erzählt er mir ihre letzten Worte. Sie lau-
chologe und ich, mit Betina Koch und ihrem          ten: „Sagt allen, dass ich aufrecht gegangen bin.“
Mann Wege zu finden, wie sie ihr Leben doch             Immer wieder, gerade auch im kirchlichen
noch leben kann. Auf meine Frage, was für sie       Bereich, werden die aktuellen Diskussionen
für das Weiterleben spreche, antwortet sie spon-    zum assistierten Suizid eher theoretisch und
tan: „Mein Mann und meine Tochter.“ Doch            abgehoben geführt. Über steile Treppen steigen
dann fängt sie verzweifelt an zu weinen und         die Diskutanten in Elfenbeintürme und bewe-
sagt mit tränenerstickter Stimme: „Aber das         gen sich auf einem hohen Abstraktionsniveau.
reicht nicht, das reicht nicht!“                        Gewiss: Ohne Theorie geht es nicht, ohne
   Während dieses zweiten Krankenhausaufent-        einen Schritt zurück, ohne einen weiten Blick,
haltes wird deutlich, dass sie keinen Weg heraus    ohne das „quidquid agis, prudenter agas et res-
aus ihrer Verzweiflung finden kann und nur          pice finem“ (was immer du tust, tue es klug und
noch leidet. Theoretisch könnte sie noch viele      bedenke das Ende) sollte man sich komplexen
Jahre so leben. Doch das will sie nicht. Das kann   Themen nicht stellen. Doch das darf nicht dazu
sie nicht. So fangen wir schließlich an, sie und    führen, dass das Seufzen und das ängstliche Har-
ihre Familie mit vielen Gesprächen nicht mehr       ren der Kreatur (Röm 8,19) nicht mehr zu hö-
auf dem Weg zu einem doch noch sinnvollen           ren sind. Denn es geht um konkrete Menschen,
Leben, sondern auf dem Weg in einen selbstbe-       die nicht theoretisch über Selbstbestimmung,
stimmten Tod zu begleiten.                          ihre Würde oder den Wert des Lebens re-flek-
   Betina Koch wird wieder entlassen. Die Idee,     tieren, sondern die ihr Leben und ihr Leiden
durch den Verzicht auf Nahrung und Flüssig-         schlicht nicht mehr ertragen. Wie Betina Koch.
keit zu sterben, ist im Raum; aber ihr Mann             Solche Elfenbeinturmdiskussionen sind eine
sagt, diese Vorstellung sei für ihn unerträglich:   Weise, Not und Verzweiflung von Menschen
dass seine Frau über Wochen langsam dahinsie-       nicht ernst zu nehmen. Eine andere Gestalt ist
che. Über mehrere Umwege baut die Familie           die Verharmlosung von Verzweiflung: Bei man-
einen Kontakt zu Dignitas auf, und schließlich,     chen Beiträgen von Kirchenleuten komme ich
nach einigen Monaten steht der Termin fest, an      mir vor wie in einem Puppentheater. Am Ende
dem sie nach Zürich fahren wird, um dort zu         siegt immer das Gute, und keine Gefahr ist grö-
sterben. Zwei Tage vor dieser ihrer letzten Reise   ßer als das böse Krokodil, das Kasper mit dem
besuche ich sie noch einmal zu Hause. Wir re-       Stock in die Flucht schlägt. Oder ich komme
den, lachen, weinen zusammen. „Ich weiß nicht,      mir vor wie in einer Vorabendserie, in der zwar
ob ich mutig oder ob ich feige bin. Ich weiß nur,   Bedrohungen auftauchen, und ich als Zuschau-
dass ich einfach nicht mehr kann.“ Ich sage zu      er sorge mich mit – aber dann trennen sich die
ihr: „Du weißt, dass Du selbst am Samstag in        Eltern doch nicht, der Tumor an der Wirbelsäu-
Zürich noch alles abbrechen und wieder nach         le entpuppt sich als gutartig, die fiese Nachbarin
Hause fahren kannst.“ Sie lächelt mich mit ih-      ist nur einsam und freut sich über das gemein-

22   EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA

same Kaffeetrinken, immer kommen die Retter          die Jahr um Jahr in Ägypten Frondienst ohne
rechtzeitig, und am Ende lächeln alle zu schö-       Erbarmen (Ex 1,14) leisten müssen, was mit ih-
ner Musik in die Kamera.                             ren neugeborenen Söhnen, die im Nil ertränkt
   Ach, wenn das Leben doch so wäre! Wenn es         werden (Ex 1,22)? Diese Liste ließe sich schier
doch einen Gott gebe, der schon aufpasst, dass       endlos fortsetzen bis in die Gegenwart.
mir nicht wirklich Schlimmes passiert – so dass         Muss eine „Theologie nach Auschwitz“ nicht
der Beinbruch heilt, sich nach der schmerzhaf-       die Offenheit der Gottesfrage aushalten und
ten Trennung eine noch größere Liebe findet          aushalten, dass Gott nicht Herr über Leben und
und dass, wenn der Krebs kommt, die Therapi-         Tod ist – jedenfalls nicht in dem Sinn eines han-
en anschlagen und ich nach einer, wenn auch          delnden, eingreifenden Gottes?
mühsamen, Zeit wieder im Leben stehe.                   Christian Morgenstern schreibt: „Wer einmal
   Aber so ist es nicht. Jedenfalls nicht für alle   allzutief ins Aug dem Leben schaut, dem wan-
und auch nicht überall auf der Welt.                 delt sich die Harmonie der Sphären zu einem
   Das Leben ist kostbar und einmalig.               einzigen Fluch und Schmerzensschrei, vor dem,
   Es kann wunderschön sein.                         wenn ihn ein Gott im Himmel hörte, schon lan-
   Es ist nicht ohne Dunkelheit und Schmerz          ge dieser Gott geflohen wäre, durch alle Ewig-
zu haben.                                            keit gehetzt, gepeitscht von diesem Schrei.“
   Manchmal nimmt das Leiden am Leben ein
unerträgliches Maß an.                               Zurück zum Thema
                                                     Die Bibel erzählt je nach Zählung von bis zu
Fragen                                               zehn Suiziden. Und auch Elia oder Jona wol-
Sind die teilweise hohe Abstraktionsebene            len sterben, ohne dass dieser Wunsch verurteilt
der Diskussion, der permanente Verweis auf           würde. „Es gibt keinen biblischen Text, der das
die palliative und hospizliche Versorgung als        Phänomen des Suizids an sich grundsätzlich
Ausweg aus dem Leiden – so dass ein assistier-       reflektiert und in bestimmten Situationen den
ter Suizid „doch gar nicht nötig ist“ – und der      Suizid als beste oder schlechteste mögliche
Glaube an einen Gott, der keine Last zu schwer       Wahl vorschreibt. Es gibt lediglich Fallbeschrei-
werden lässt und der auch durch dunkle Zeiten        bungen von Ausnahmesituationen, in denen
hindurchträgt, sind diese Verweise nicht auch        der Suizid gewählt wird. Es sind durchweg in-
Ausdruck einer Abwehr?                               dividuelle Entscheidungen. … Dominierend ist
   Darf unerträgliches Leiden nicht wahrge-          bei der Bewertung in allen Fällen der stille und
habt werden?                                         einfühlsame Respekt vor dem Suizid als einem
   Dass wir alle sterblich sind und unser Leben      letzten ehrenvollen Ausweg in alternativloser
begrenzt ist, darf nicht gefühlt werden?             Konfrontation. Wo die Zumutbarkeit an sicht-
   Darf der „Deus absconditus“, der dunkle und       bare menschliche Grenzen stößt, erfordert die
verborgende Gott, nicht in den Blick kommen?         Achtung menschlicher Tragik die Aufhebung
   Darf nicht gesehen werden, dass es ungerech-      des moralischen Urteils. Insofern lehren die bi-
tes und abgründiges Leiden gibt, ohne dass Gott      blischen Darstellungen, dass Suizid ein mensch-
die Qual lindert?                                    licher Grenzfall ist, der sich allen einseitigen Be-
   Was ist mit Johannes dem Täufer, der sinn-        wertungen widersetzt.“
los enthauptet wird (Mk 6,27), was ist mit den          „Als seine jüdische Frau und ihre jüngere
achtzehn, die nicht schuldiger waren als andere      Tochter in ein KZ abtransportiert werden sol-
und auf die der Turm von Siloah fiel und sie         len, nimmt sich Jochen Klepper im Advent
erschlug (Lk 13,4), was ist mit den Kindern Hi-      1942 gemeinsam mit ihnen das Leben. Vor
obs, die aufgrund einer Wette Gottes erschla-        dem gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau
gen werden (Hi 1,18f), was ist den Israeliten,       Hanni und deren Tochter Renate schreibt er in

                                                                       EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   23
THEMA

        Die Giordano-Bruno-Stiftung wirbt für ein selbstbestimmtes Lebensende. Gerne vor Kirchen. Aber lässt
        sich auf dieses komplexe Thema so ambivalenzbefreit reagieren?            Foto: epd-Bild/Rolf Zöllner

sein Tagebuch: ‚Wir sterben nun – ach, auch das                  Wir halten es für eine vordringliche Aufgabe
steht bei Gott – wir gehen heute Nacht gemein-                der Kirchen und jede*r Einzelnen in der Gesell-
sam in den Tod. Über uns steht in den letzten                 schaft, alles zu tun, um Suizide zu vermeiden:
Stunden das Bild des Segnenden Christus, der                     - Grundlegend ist die Haltung, dass auch das
um uns ringt. In dessen Anblick endet unser                         beschädigte Leben seine Würde hat. Alter,
Leben.‘“                                                            Krankheit, Behinderung oder angewiesen
   Wer will, wer kann, urteilen?                                    zu sein auf Andere nehmen dem*der Ein-
   Gott ist barmherzig. Barmherzigkeit aber tri-                    zelnen nichts von seiner Gottesebenbild-
umphiert über das Gericht. (Jak 2,13)                               lichkeit.
   „Noch manche Nacht wird fallen auf Men-                       - Schwerkranke brauchen verlässlich einen
schenleid und -schuld. Doch wandert nun mit                         Platz z.B. auf einer Palliativstation, in der
allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von                        ambulanten palliativen Versorgung, in ei-
seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von                      nem Hospiz.
Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“                     - Das medizinische, pflegerische, psychosozi-
   Wir vom Vorstand der Konferenz für Kran-                         ale, seelsorgliche und spirituelle Angebot
kenhausseelsorge in der EKD haben Im Februar                        muss ausgebaut werden.
2021 zum assistierten Suizid formuliert:                         - Alte, Kranke, Schwache und Hilfsbedürftige

24   EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
THEMA

     müssen vor jedem, auch subtilem Druck,         Sabbats willen (Markus 2,27). Gesetze, Ordnun-
     ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen,      gen und Regeln sollen dem Menschen dienen,
     geschützt werden.                              nicht umgekehrt.
  - Psychische Erkrankungen (z.B. Depressio-          Die berechtigten Bedenken gegen eine Libe-
     nen) müssen im Rahmen einer qualitativ         ralisierung der Regelungen zum assistierten Su-
     hochwertigen Versorgung behandelt wer-         izid dürfen nicht dazu führen, dass Menschen
     den.                                           allein gelassen werden, die – oft nach einem
  - Die Bevölkerung muss informiert werden         langen Weg des Leidens und Ringens und nach
     über all diese Möglichkeiten.                  gründlicher Prüfung aller Alternativen – selbst-
  - Eine Versorgung, die diesen Ansprüchen         bestimmt und für sie würdevoll in den Tod ge-
     gerecht wird, ist aus unserer Erfahrung als    hen wollen. Für solche Menschen braucht es
     Krankenhausseelsorger*innen noch längst        gut ausgebildete Ärzt*innen, die im Einzelfall,
     nicht flächendeckend vorhanden!                nach Prüfung aller Möglichkeiten als Gewissen-
                                                    sentscheidung einem Sterbewilligen ggf. auch
Auch wenn wir ein kategorisches Nein zur Su-        durch Suizidbeihilfe zur Seite stehen. Sie und
izidbeihilfe ablehnen, weisen wir ausdrücklich      alle Beteiligten sollten, wenn sie es wünschen,
auf den Regelungsbedarf zum Urteil des Bun-         auf ihrem Weg von Seelsorger*innen begleitet
desverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020 hin. Es      werden.
wird kritisch zu prüfen sein, wie auf der Grund-       Dieser Schritt, beim Sterben zu helfen, sollte
lage des Respekts vor der Selbstbestimmung          immer schwer bleiben. Er bleibt ein Tabubruch.
des*der Einzelnen gleichwohl verhindert wer-
den kann, dass sich die Freiheit des Einzelnen      Zuletzt:
als Erwartung, das eigene Leben vorzeitig zu        Menschen sind als Teil der Schöpfung sterblich:
beenden, gegen Alte, Kranke, Schwache, Pflege-      Sie werden geboren, leben und sterben eines
bedürftige wendet!                                  Tages.
   Wenn die Möglichkeit eines assistierten Ster-       Die Offenbarung malt ein Bild: Gott wird ab-
bens immer mit im Raum ist, kann dies – auch        wischen alle Tränen von ihren Augen, und der
unter-halb der Wahrnehmungsschwelle – zu            Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Ge-
einer sich langsam verändernden inneren Hal-        schrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das
tung führen, z.B. bei beruflich oder privat Pfle-   Erste ist vergangen. (Offb 21,4)
genden, so dass sie denken: „Das ist doch kein         Mit dem Tod ist das Leben auf Erden zu
Leben mehr.“ Der Tod darf nicht der schnelle        Ende. Ja. Aber das ist nicht alles. Ich hoffe, dass
Ausweg sein, wenn es darum geht, Alte, Kran-        ich selbst dereinst in meine Endlichkeit einwil-
ke und Schwache zu pflegen oder des Lebens          ligen und mich fallen lassen kann in eine größe-
müde Menschen zu begleiten.                         re Hand – die barmherzig ist und versteht.
   Doch selbst bei einer bestmöglichen Versor-
gung und Begleitung wird es im Einzelfall Men-
schen geben, die unerträglich leiden.                  Michael.Brems@seelsorge.nordkirche.de
   Ein kategorisches kirchliches Nein zum assis-
tierten Suizid wird ihnen und der Komplexität
des Themas und der Situationen nicht gerecht.
Der Schmerz und das Leiden dieser Menschen
müssen gesehen und ernstgenommen und ihr
Wunsch zu sterben muss gewürdigt und respek-
tiert werden. Der Sabbat ist um des Menschen
willen gemacht und nicht der Mensch um des

                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021   25
DIE LETZTE SEITE

            Zu guter Letzt

            AN CHRISTIAN LUDWIG NEUFFER IM MÄRZ 1794

            Noch kehrt in mich der süße Frühling wieder,
            Noch altert nicht mein kindisch fröhlich Herz
            Noch rinnt vom Auge mir der Tau der Liebe nieder,
            Noch lebt in mir der Hoffnung Lust und Schmerz.

            Noch tröstet mich mit süßer Augenweide
            Der blaue Himmel und die grüne Flur,
            Mir reicht die Göttliche den Taumelkelch der Freude,
            Die jugendliche freundliche Natur.

            Getrost! Es ist der Schmerzen wert, dies Leben,
FRIEDRICH   So lang uns Armen Gottes Sonne scheint,
HÖLDERLIN   Und Bilder bessrer Zeiten um unsre Seele schweben,
            Und ach! Mit uns ein freundlich Auge weint.

            Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)

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VORSCHAU & IMPRESSUM

Vorschau

Wer hat die Macht? Der Allmächtige oder der Mensch?
Während Gottes Macht fraglich ist, expandiert die Macht des Men-
schen. Wird Gott also ohnmächtig? Im Ratzeburger Unikolleg wurde
diesen Fragen nachgegangen. Bringen auch Sie Ihre Gedanken ein!
Beiträge bitte bis zum 15. August

Diakonie und Pädagogik in der Gemeinde
Diakonie und Bildung als Aspekte der Verkündigung bleiben in der
Öffentlichkeit wie auch in der Kirche viel zu oft unberücksichtigt.
Welche Rolle nehmen Mitarbeiter:innen in den Kirchen ein?
Beiträge bitte bis zum 15. September

Konfessionalität im Religionsunterricht
Der Bedeutungsverlust der Kirche in unserer Gesellschaft wirft die
Frage auf: Macht der Unterschied von Konfessionen überhaupt noch
Sinn? Wie kommen die verschiedenen Traditionen und kulturellen
Prägungen zusammen – nicht nur, aber vor allem in der Schule?
Beiträge bitte bis zum 15. Oktober

Schreiben Sie!
Zu Themenschwerpunkten, die für die nächs­ten Ausgaben geplant
sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie
gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden.
redaktion@evangelische-stimmen.de

IMPRESSUM
Herausgeber:                                Redaktion:                                 Druck:
Evangelischer Presseverband                 Dr. Friedrich Brandi (ViSdP)               Hugo Hamann
Norddeutschland GmbH,                                                                  Offsetdruckerei, Kiel
Gartenstr. 20, 24103 Kiel                   Layout:
                                            Evangelischer Presseverband                Die Evangelischen Stimmen erscheinen
Verlag:                                     Norddeutschland GmbH                       monatlich. Das Jahresabonnement kostet
Evangelischer Presseverlag Nord GmbH,       Tel. (040) 709 75 - 277                    48,00 € inkl. Versandkosten innerhalb
Gartenstr. 20, 24103 Kiel,                                                             Deutschlands. Die Kündigungsfrist beträgt
Postfach 34 66, 24033 Kiel,                 Anzeigen:                                  6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die
Tel. (0431) 55 77 99                        Kristina Heesch                            Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen
Fax (0431) 55 779 - 292                     Tel. (0431) 55 77 9 - 206                  oder Initialen gekennzeichnete Beiträge
Geschäftsführer: Bodo Elsner                Fax (0431) 55 77 9 - 292                   geben nicht unbedingt die Meinung der
                                                                                       Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte
Redaktionsanschrift:                        Vertrieb und Abonnementverwaltung:         Beiträge und Bücher werden nicht zurück-
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66    EVANGELISCHE STIMMEN 7/8 | 2021
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