EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Care - wir haben einen Notstand - evangelische-zeitung
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C 21134 Juni 2021 | 6 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Care - wir haben einen Notstand Geld oder Leben Wie Sorgearbeit zum Erst das Klatschen, Care Diskurse Frauenberuf wurde dann die Klatsche
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, „Was bedeutet Gnade für Sie?“ So lautet eine Frage in dem Fragebo- gen „Eine evangelische Stimme“ (S. 48). Meine – freilich betriebsbe- dingte – Antwort darauf lautete (mich bittet der Chefredakteur ja nie um die Beantwortung): „Die Fülle der großartigen Artikel, die mich erreichen.“ Auch und gerade im vorliegenden Heft. Spätestens seit dem Frühjahr 2020 ist zwar jedem klargeworden, dass wir in unserer Gesellschaft einen Pflegenotstand haben, auch weil die Bemühun- gen um dessen Beseitigung eher halbherzig und wenig konzeptionell angegangen werden. Aber welche Bedingungen diesen Notstand herbeigeführt haben und welche Geschichte hinter dem „Frauenbe- ruf Pflege“ steht, habe ich erst bei der Lektüre der hier zusammenge- kommenen Artikel verstanden; und auch, wie es sich mit der gewerk- schaftlichen Vertretung bei den Pflegenden verhält und wie sich die Arbeitsbedingungen auf die Verweildauer in diesen Berufen auswirkt. FRIEDRICH Um das Thema Gnade noch einmal aufzugreifen: Dass diese Artikel BRANDI in der Redaktion gelandet sind, ist eben nicht das Verdienst des Re- dakteurs, sondern fast ausschließlich das des Frauenwerks in Gestalt von Waltraud Waidelich. Sie hat ihr Netzwerk bemüht und äußerst kompetente Autorinnen gewinnen können. Dass es ausschließlich Frauen sind, die zu diesem Thema schreiben, ist mir erst ganz zum Schluss aufgefallen. Und dagegen wäre auch gar nichts zu sagen, wenn nicht ausgerechnet bei diesem Komplex sich die Männer zu- rückhielten. Ich nehme das zur Kenntnis und halte es mit Wolfgang Neuß: „Heute mach‘ ich mir kein Abendbrot, heute mach‘ ich mir Gedanken.“ Bleibt mir nur noch zu wünschen, dass Sie als Leserinnen und Leser das Heft ebenso reich beschenkt lesen wie ich. Herzlich grüßt Ihr www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 3
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial Friedrich Brandi 6 6 Fürsorge – die Anfänge Annett Büttner 14 Geld oder Leben 50 Die Normalität ist Waltraud Waidelich das Problem FaDA – Feminisms and 19 Care in der Degrowth Alliance theologischen Ethik Christine Globig 52 Gute Pflege... Heike Rieman 27 Erst Klatschen, dann die Klatsche 55 Nicht nur böse Buben Monika Neht Ralf Schlenker 31 Raus aus dem 57 Akteur in der Krankenhaus Beratungsszene Gudrun Nolte Christoph von Stritzky 37 Sorge und Solidarität 61 Zu guter Letzt Gabriele Winker 62 Vorschau 42 SAGE: Aufbruch im Pflegeberuf Maike Hagemann-Schilling 48 Eine Evangelische Stimme Nora Steen Titelbild: Protest am Internationalen Tag der Pflege 2014 Foto: epd-bild/Rolf Zöllner EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 5
THEMA Geld oder Leben Care-Diskurse in Deutschland D ie Frage, welches „Care-Re- Unternehmen, Industrie und Ge- gime“ in Deutschland werbe, damit die Versorgung von herrschen soll, hat durch Menschen finanzierbar wird. Doch die Corona Krise noch weiter an es gibt neuere, andere Sichtweisen, geschlechterpolitischer Aktualität z. B. die des vorsorgenden Wirt- gewonnen, denn in der Zeit des schaftens und vieler Ökonomin- Lockdowns, waren es 90 Prozent nen und Ethikerinnen, die Sorge Frauen, die mit Homeschooling als die Basis und Voraussetzung des und Betreuung belastet waren. Wirtschaftens begreifen und nicht Die Wortkombination Care und etwa die Industrie. „Invest in care Waltraud Regime mutet widersprüchlich not in cars“ steht nahe am Reichs- Waidelich an. In soziologischen Texten ist die tag in Berlin groß an eine Wand ist Dipl. Sozialökonomin, Bezeichnung gebräuchlich. Sie be- gesprüht. Referentin für feministi- schreibt, dass Strukturen der Ver- Zu der Frage nach Alternativen sche Ethik und Konsu- sorgung von Menschen in unse- zu Gestaltung des herrschenden methik im Frauenwerk rer Gesellschaft politisch gestaltet gängigen Care-Regimes, gibt es der Nordkirche. sind. Versorgte und Sorgenden sind viele verschiedene Denkansätze innerhalb eines rechtlichen und von Wissenschaftler*innen. Eine strukturellen Rahmens tätig sind, davon ist die „Care-Revolution“ der im Fall von Sorgearbeit ihre Lebenssituati- Bewegung, wie sie Gabriele Winker hier im on, ihre Wertigkeit und ihr Einkommen stark Heft darstellt. Wichtige ethische Überlegungen bestimmt. Als Beispiele seien genannt: Kita-Öff- zur Funktion des Sorgens für die Bewahrung nungszeiten, die einer Erwerbsbeteiligung von der Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit entfaltet Sorgenden entgegenstehen; durch Transferzah- Christine Globig. lungen oder den Kinderfreibetrag u.a. werden Zur Einordnung und Beurteilung der mitt- geldliche und zeitliche Strukturen vorgegeben, lerweile vielen Ansätze eines neuen Care-Sys- die das Verhalten von Menschen nach kulturell tems helfen die Überlegungen der US-ame- bestimmten Vorstellungen des Geschlechterdu- rikanischen Theoretikerin Nancy Fraser. Sie alismus steuern. All dies und unsere ökonomi- unterscheidet im Hinblick auf den Umgang sche Kultur bewirken die Hierarchisierung von mit Care-Arbeit zwischen Anerkennung und bezahlter und unbezahlter Arbeit, Produktion Umverteilung. Anerkennung bedeutet, dass und Reproduktion. Der sogenannte Gender Ca- alle unbezahlte Sorge und Pflege monetär im re-Gap zwischen Frauen und Männern wird mit hierarchischen Verhältnis zu Erwerbsarbeit 52 Prozent beziffert. D.h. Frauen leisten nach aufgewertet wird und dass bezahlte Sorgear- dem Gleichstellungsbericht 52 Prozent mehr beit besser entgolten wird. In der Umverteilung unbezahlte Sorgearbeit als Männer. wird Sorgearbeit gleichermaßen auf die Ge- In den herrschenden volkswirtschaftlichen schlechter verteilt. Das zentrale Kriterium für Erzählungen braucht es Erwerbsarbeit und Fraser ist Geschlechtergerechtigkeit. Diese kön- 14 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA ne durch den Egalitarismus von bezahlter und 1. Das Modell der allgemeinen unbezahlter Arbeit erreicht werden. Unter Ge- Erwerbstätigkeit. Vollzeit-Erwerb schlechtergerechtigkeit versteht sie mehr, und beider Partner*innen zwar mehr als die Chancengleichheit innerhalb Darin wird die Betreuung an Dritte delegiert, der Erwerbsarbeit, im Hinblick auf Karriere und die Arbeits- und Lebensmuster von Frauen und Bezahlung. Ihr geht es vor allem um die gleichen sich denen der Männer an. Es beruht Aufwertung und Gleichstellung der ggw. unbe- darauf, dass Erwerbsarbeit Anerkennung und zahlten Arbeit. finanzielle Absicherung im Alter schafft. Wer sich statt Vollerwerb auch nur in Teilzeit für die Nancy Fraser entwirft drei Modelle: Kinderbetreuung oder die Pflege der Eltern ent- • Das Modell allgemeinen Erwerbstätigkeit bei- scheidet, erfährt in diesem Modell Nachteile. der Geschlechter Dieses Modell der Vollzeiterwerbstätigkeit bei • Das Modell der Aufwertung der Sorgearbeit guter Fremdbetreuung wird in Skandinavien • Das Integrationsmodell – Verkürzung der Er- praktiziert. Beispielsweise ist in Dänemark die werbsarbeitszeit für beide Geschlechter Betreuung der Älteren und von Kindern in der Trägerschaft von Kommunen bei guter Bezah- Im Folgenden werden diese Modelle erläutert lung der Betreuungspersonen und vergleichs- und zur Einordnung von unterschiedlichen An- weise guten Personalschlüsseln ohne das Wett- sätzen realer oder utopischer Ansätze genutzt. bewerbsprinzip geregelt. Grafitto-Weisheit nahe der Tagungsstätte unserer Bunderegierung in Berlin. Bleibt noch die Forderung, die Sendung „Börse vor acht“ durch „Sorge vor acht“ zu ersetzen. Foto: Waltraud Waidelich EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 15
THEMA Die Finanzierung in Dänemark unterschei- ten vor. Die Wissenschaftlerinnen Friederike det sich beträchtlich von der der Deutschen. Habermann und Corinna Dengler schlagen vor, In dem skandinavischen Land wird die Sorge- dass Menschen angesichts des Klimawandels arbeit nämlich aus Steuern finanziert, und 2,8 und der Notwendigkeit einer Postwachstums- Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wer- wirtschaft sich in Lebens- und Arbeitsprojekten den für Sorgearbeit ausgegeben, während das in zusammenfinden und gemeinschaftlich eine Deutschland nur 0,2 Prozent des BIP sind und veränderte Praxis von Leben und Arbeiten und die Finanzierung privat oder ergänzend über Sorgearbeit einüben. So sollen parallel zu der die bekannten Pflegekassen u.a. erfolgt marktbasierten Geld- und Warenwirtschafts- weise Projekte entstehen, in denen Menschen Exkurs: gemeinschaftlich anders arbeiten und wirt- Im Gegensatz zu Skandinavien ist für Deutsch- schaften. Geld, der Markt und Profite sollen land derzeit noch die modernisierte Versor- weitgehend aus der einfachen Versorgung von ger-Ehe charakteristisch. Gemeint ist damit: in Menschen herausgehalten werden. Gleichwohl der Ehe dominiert der in Vollzeit erwerbstätige stehen diese Vertreter*innen auch für eine bes- Ehemann die Teilzeit arbeitende Frau. 47 Pro- sere Bezahlung von professioneller Pflege im zent der erwerbstätigen Frauen in Deutschland herrschenden System ein und unterstützen die sind in Teilzeit tätig. Da Rentenansprüche über- Sorge-Kämpfe der Gewerkschaften. Auch die wiegend auf Erwerbsarbeit basieren, entsteht im kirchlichen Bereich bekannte Politologin eine Rentenlücke bei Frauen, die zu Altersar- und Journalistin Antje Schrupp und die femi- mut führt. Eine Vollzeiterwerbstätigkeit von nistische Theologin Ina Praetorius vertreten Paaren, wie im ersten Modell von Fraser, ohne die Umkehrung der Wertigkeit von Sorge- und die korrespondierende ausreichende Infrastruk- Erwerbsarbeit mittels eines bedingungslosen tur mit Ganztagsschulen oder Ganztagskinder- Grundeinkommens. betreuung geht zu Lasten der Erwerbstätigkeit von Frauen. Wenn beide Partner in Paarzusam- 3. Das Integrationsmodell. menschlüssen Karriere machen wollen, wird die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit Betreuung oder Pflege oft in schlecht bezahlte für beide Geschlechter migrantische Hände gegeben. Dieses Phänomen In Frasers Integrationsmodell wird die Nor- wird von Wissenschaftlerinnen als „Care-Drain“, malerwerbsarbeitszeit für beide Geschlechter als Abfluss von Sorgearbeitskraft bezeichnet. verkürzt. Dieses Modell vermittelt Geschlech- Häufig sind es osteuropäische Pflegekräfte, die tergerechtigkeit am besten, da Paare sich die die Sorge-Krise in Deutschland abfedern. Sorgearbeit dann in der erwerbsarbeitsfreien Zeit besser aufteilen können. Grob in diese 2. Das Modell der Aufwertung Richtung weisen die Ansätze der feministischen der Sorgearbeit Psychologin Frigga Haug mit dem Vorschlag Das zweite Modell charakterisiert sich durch der Vier-in-einem-Perspektive. Haug schlägt die Aufwertung von Betreuungsarbeit gegen- darin vor, dass in nicht rigider Weise etwa ein über der Erwerbsarbeit. Die Wertigkeit von Viertel der täglichen Zeit für Erwerbsarbeit, ein Sorgearbeit wird über die der Erwerbsarbeit weiteres Viertel für Bildung, ein drittes Vier- gestellt. Vertreter*innen, die diesen Ansatz tel für Haus- und Sorgearbeit und ein viertes verfolgen, fordern meist ein bedingungsloses Viertel für politisches Engagement verwendet Grundeinkommen, und einige von Ihnen wol- werden sollte. Gewerkschaftliche Bestrebun- len Sorgearbeit als gemeinschaftliche Aufgabe gen, die Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren wei- (Commons), organisieren. So schlägt Gabriele sen in diese Richtung. Haugs Ansatz fand vor Winker u.a. die Einrichtung von lokale Care-Rä- einigen Jahren viel Beachtung, allerdings wurde 16 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA der Vorschlag als zu rigide in der Zeiteintei- und Pflege zugewiesen wird, weil es aufgrund lung wahrgenommen, was von Haug nicht so der meist höheren Männereinkommen nicht gemeint war. Eine „kurze Vollzeit“ mit einer lohnt, erwerbstätig zu sein. Durch die Verän- Reduzierung des Normalarbeitsverhältnisses derung es Unterhaltsrechts, sind sie nach einer von 40 Wochenstunden auf 30 Stunden/Woche Scheidung auf sich gestellt. bei vollem Lohnausgleich und entsprechender Die in Deutschland diskutierten Alternati- Anpassung der Rentenformel wurde in diesem ven wollen einerseits unbezahlte Sorgearbeit Jahr bei einer Veranstaltung des Frauenwerks aufwerten und über Transferleistungen wie bei- der Nordkirche von Margareta Steinrücke von spielweise ein Grundeinkommen finanzieren. ATTAC gefordert. Tarifverträge mit Verkürzun- Überraschend an den neueren feministischen gen der Arbeitszeit gibt es bislang im Bereich Ansätzen ist, dass sie Sorgearbeit entmonetari- der IG-Metall. Sie waren in den 90er-Jahren im sieren und damit auch entmarktlichen wollen. Gespräch und sind seit der Agenda 2010 immer Möglichst viel Arbeit soll aus der Geldsphäre he- mehr aus dem politischen Blickfeld geraten. rausgenommen werden, besonders die Arbeit, Eine Mischform zwischen Arbeitszeitver- die lebensdienlich ist. Die lokale Commonisie- kürzung und Vollzeit für beide Partner*innen rung von Sorgearbeit in kleinen Einheiten birgt propagiert die Direktorin des Wissenschafts- aus meiner Sicht die Gefahr, dass diese dann an zentrums Berlin, Jutta Allmendinger. Sie fokus- Frauen hängen bleibt und damit nicht zur Ge- siert in ihren Veröffentlichungen auf Erwerbs- schlechtergerechtigkeit beiträgt, in der Frauen arbeitszeitverkürzung für jüngere Paare, die und Männer in beiden Arbeitssphären gleicher- in der „Rush-Hour“ ihres Lebens auf familien- maßen eingebunden wären. Doch Befürworte- freundliche Rahmenbedingungen in Unterneh- rinnen dieses Ansatzes sehen den Vorteil vor men stoßen sollten, so dass die Vereinbarkeit allem darin, dass er den Wachstumszwang als von Familie und Beruf ebenso ermöglicht wird Verursacher des Klimawandels bremst. Corinna wie die bessere Bezahlung von Sorgearbeit. Dengler und Miriam Lang sagen, dass das Kli- maproblem ohne die Veränderung des Care-Re- Sorgearbeit weg vom Markt gimes nicht gelöst werden könne. Aus den vorhergehenden Darstellungen ergibt Die gleichstellungsfeministische Position sich, dass das reale deutsche Care-Regime in das dagegen wandelt die unbezahlte Sorgearbeit Schema von Nancy Fraser nicht eindeutig ein- zunehmend in professionalisierte Erwerbsar- geordnet werden kann. In dem Gleichstellungs- beit um. Emanzipation ist an die Teilhabe an berichten, die in den letzten Jahren vorgelegt Erwerbsarbeit geknüpft. Hierbei gibt es zwei wurden, wird die Inkohärenz des deutschen entscheidende Varianten hinsichtlich der Trä- Care-Regimes kritisiert: Frauen sollen zwar eine gerschaft: die professionelle Erwerbs-Sorgear- Vollzeiterwerbstätigkeit anstreben, um sich ge- beit geschieht in gemeinwohlorientierter oder gen Altersarmut oder durch Teilzeitbeschäfti- in privater, profitorientierter Trägerschaft. Ein gung bedingte Niedriglöhne zu schützen. Aber Pflegeheim kann in Deutschland von einem wie Kinder und Pflegebedürftigen von ihren kirchlichen Träger oder einem Wohlfahrtsver- Angehörigen versorgt werden, müssen diese band betrieben werden. Diese Träger müssen selbst organisieren. Eine unterstützende staat- keine Rendite erwirtschaften und speisen Über- liche Care-Infrastruktur finden sie nicht vor. schüsse wieder in den Betrieb ein. Sie stehen im Großeltern und osteuropäische Frauen müssen Wettbewerb zu privaten Pflegeanbietern, die die Sorgelücken füllen. Andererseits gibt der Profite erwirtschaften. Durch die Fallpauscha- Staat Anreize durch Betreuungsgeld, Ehegatten- len werden auch die gemeinwohlorientierten splitting und Minijobs, so dass besonders Frau- Einrichtungen in einen Quasi-Markt gezwun- en die Zuständigkeit für die Kinderbetreuung gen. Das führt dazu, dass deutsche Pflegeein- EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 17
THEMA richtungen nach den Effizienzkriterien von Fa- frastruktur, die dann die Kinderversorgung über- briken arbeiten müssen. Die Frage, in welcher nimmt. So ist eine Sorge-Krise vorprogrammiert, Art von Trägerschaft Sorgearbeit erbracht wird, und Sorgende werden mit Doppelbotschaften hat Folgen für die Höhe der Bezahlung und konfrontiert: einerseits für die Kinder und Alten auch für die Menschlichkeit in Einrichtungen. zu sorgen und gleichzeitig etwas für ihre Rente In Deutschland erfolgt die Leistungserbrin- durch eigene Erwerbstätigkeit zu tun. gung in der Betreuung und Pflege überwiegend Parallel zu diesen Strömungen entwickelt durch Familienangehörige oder zunehmend sich eine Commons-Bewegung in der Men- durch privat-gewerbliche Dienstleister*innen. schen neue Lebens- und Arbeitsformen aus- Und Pflegedienste oder Pflegeheime in privater probieren. Diese Wohn-Lebens-Arbeitsprojekte Trägerschaft wollen nun mal Gewinne erwirt- wollen die Gesellschaft durch anderes Handeln schaften. Thomas Klie, Experte in Pflegepolitik, von unten her verändern. Kleine Gesellschafts- nennt Gewinnmargen von zwei bis fünf Prozent verträge sollen schließlich in einen großen neu- Umsatzrendite in Pflegeheimen. Private Equi- en Gesellschaftsvertrag münden. Sie wollen die ty-Betreiber von Pflegeeinrichtungen fordern Arbeit von unten her verändern. Ob nun mit sogar Umsatzrenditen von bis zu 18 Prozent. Aufwertung von Sorgearbeit, mit dem Integra- Dem Beitrag von Annett Büttner in diesem tionsmodell oder aber mit der Vollzeiterwerbs- Heft können wir entnehmen, dass das deutsche tätigkeit und der Delegation von Care an Dritte Sorgesystem sich aus der christlichen ehrenamt- die kulturelle und gesellschaftliche Umwertung lichen Sozialarbeit heraus hin zu immer mehr von Arbeit erreicht wird – es wäre schon viel Erwerbsarbeit entwickelt hat. Das Erbe dieser erreicht, wenn die Sendung „Börse vor Acht“ in kulturellen Prägung lastet auf dieser Arbeit und „Sorge vor Acht“ verwandelt wird und wir dann mindert ihre Anerkennung und Bezahlung in täglich darüber informiert werden, wie es Kin- Deutschland – im Unterschied zu den angelsäch- dern, Jugendlichen, Alten, Kranken in der Ge- sischen Ländern – bis in unsere heutige Zeit. sellschaft ergeht – also über das, was dem Leben Im Integrationsmodell, das die Erwerbsar- statt dem Geld dient. beitszeit so verkürzen will, dass nach 30 oder 20 Std. ausreichend Zeit für Sorgearbeit zur Verfü- gung steht, bleibt allerdings offen, wie diese Sor- Waltraud.Waidelich@frauenwerk.nordkirche.de> gearbeit dann zwischen Geschlechtern geteilt wird. Ohne Drittbetreuung kommt dieses Mo- Q Literatur: dell sicher auch nicht aus. Sein Charme ist aber, (1) Allmendinger Jutta, Es geht nur gemeinsam!, Berlin 2021 (2) Biesecker u.a. (Hrsg.) Vorsorgendes Wirtschaften, Auf dem dass das Leben vermutlich entspannter würde. Weg zu einer Wirtschaft des Guten Lebens, Bielefeld 2002 (3) Heinzte, Cornelia, Care-Dienste von der Wiege bis zur Fazit Bahre, Das skandinavische System im Vergleich in: Waide- Beurteilen wir die Ideen zur Organisation von lich, Waltraud/ Baumgarten Margit, Um-Care zum Leben, Hamburg, 2018 Sorge in der Gesellschaft nach ihrer politischen (4) Klie, Thomas, Wen kümmern die Alten, München 2014 Anschlussfähigkeit, so finden sich bei den So- (5) Knobloch, Ulrike (Hrsg.), Ökonomie des Versorgens, Beltz, zialdemokraten und Grünen Bestrebungen in 2019 Richtung des Ausbaus der Sorgeinfrastruktur (6) www. Gleichstellungsbericht.de, Zugriff am 15.5.2021 (7) Haug Frigga, Die Vier-in-Einem-Perspektive, Hamburg und eines Anreizes zur Vollerwerbstätigkeit für 2012 alle Geschlechter z.B. durch die Abschaffung des (8) Fraser, Nancy, Die halbierte Gerechtigkeit Gender Studies, Ehegattensplittings. Aber die Veränderungen im Baden-Baden, 2001 (9) Habermann, Friederike, Eommony, UmCARE zum Mitein- Unterhaltsrecht in den letzten Jahren zielen in ander, Sulzbach, 2014 Deutschland politisch auf eine Vollerwerbstätig- (10) Blaschke, Ronald, Praetorius, Ina, Schrupp, Antje, (Hg), keit von Müttern ohne die Bereitstellung der In- Das Bedingungslose Grundeinkommen, Sulzbach, 2016 18 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA SAGE: Aufbruch im Pflegeberuf Zwischen Lohnerhöhung, Imagekampagne und neuer Solidarität S ozial- und Pflegeberufe er- starken Widerspruch und Empö- leben durch die Pandemie- rung, an die sich eine rege Diskus- krise eine neue Aufmerk- sion anschloss. Am Ende setzte sich samkeit. Die von allen anerkannte in der Runde eine Meinung durch: Systemrelevanz führt uns auch die „Nein, nicht die Berufswahl muss Fragilität und die Versäumnisse sich ändern, wenn sie denn dem der letzten Jahre in diesen Berufs- Wunschberuf entspricht, sondern feldern vor Augen. Schmerzlich eine Aufwertung der SAGE-Berufe wird uns bewusst, wie abhängig ist wichtig!“ wir vom Funktionieren dieser be- Maike ruflichen Systeme sind. In dieser Was SAGE bedeutet Hagemann-Schilling Erfahrung liegen auch die Chance Der Satz sprach mir und einigen ist Referentin, und die Hoffnung auf eine nach- anderen Teilnehmer*innen aus Regionsverantwortliche haltige Wertschätzung und An- dem Herzen. Ich kenne so viele Dithmarschen erkennung der in diesen Berufen Kranken-und Altenpfleger*innen, Kirchlicher Dienst in Beschäftigten. Sozialarbeiter*innen und Erzie- der Arbeitswelt. Neulich in einer Online-Diskus- her*innen, die für ihren Beruf sion zum Thema „Corona-Pande- brennen und ihn lieben, dafür so- mie und ihre Auswirkungen auf gar bereit sind, einen hohen Preis die Arbeitsmarktsituation von Frauen“, die zu zahlen. Aber was verbirgt sich hinter dem für mich die Initialzündung zu diesem Beitrag Begriff SAGE? Ich muss gestehen, dass dieser war: Eine der eingeladenen Diskutantinnen, Begriff mir selbst als Pädagogin nicht bekannt sie ist Beauftragte für Chancengleichheit am war. Bei der Diskussion im Kreis von Kolleg*in- Arbeitsmarkt, kam nach einer Analyse zu dem nen und Bekannten stellte ich fest, dass ich mit einfachen Schluss, dass die Benachteiligung von dieser Wissenslücke nicht alleine war. „Ich ken- Frauen im Beruf wesentlich an der falschen Be- ne MINT, aber was bedeutet SAGE?“, war eine rufswahl liege. Frauen müssten also darin un- häufige Frage. terstützt werden, nicht in die für sie klassischen Bereits seit 2009 steht die Abkürzung SAGE Berufe zu gehen. Viele bekannte Probleme von für die Fächer „Soziale Arbeit, Gesundheit und Frauen im Beruf – wie prekäre Beschäftigung Pflege sowie Erziehung und Bildung“ an eini- mit geringem Einkommen und Teilzeit-Tätig- gen Hochschulen und in vielen Fachbereichen keit (fast jede zweite Frau) sowie darüber hinaus Deutschlands. SAGE wurde vom Sozialwissen- private Care-Situationen (Betreuung von Kin- schaftler Ulrich Mergner als Pendant zu den be- dern und Familienangehörigen) – würden von kannten MINT-Fächern (Mathematik, Informa- den Frauen selbst verstärkt, weil sie viel häufi- tik, Naturwissenschaft und Technik) geprägt.1 ger als Männer Berufe wählen, die den klassi- Das Label ist der Versuch, den Berufen, die schen weiblichen Rollenbildern entsprechen. durch personenbezogene und soziale Dienst- Daraufhin gab es von einigen Teilnehmerinnen leistungen gekennzeichnet sind, die ihnen zu- 42 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA stehende Wertschätzung und Anerkennung zu- unter Corona der Hochschule für Angewandte kommen zu lassen. Wissenschaften (Hamburg)3 zeigt noch deutli- Leider bisher nur bedingt erfolgreich. Wäh- cher, wie dramatisch die Situation in den Klini- rend die Bezeichnung MINT einen großen ken ist. Für die Studie wurden 1.000 Pflegende Bekanntheitsgrad hat und die Vertreter*in- von Ende Oktober 2020 bis Anfang Januar 2021 nen an den Hochschulen in ihrem Bemühen, befragt. 88 % der Befragten gaben an, dass sie dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, von durch die Pandemie eine deutliche berufliche Politik und Wirtschaft großzügig unterstützt Mehrbelastung haben und Pflegebedürftige werden – denn hier geht es um Wirtschafts- nicht mehr angemessen versorgen könnten. kraft und Wettbewerbsfähigkeit –, ist SAGE in 70 % der Befragten gaben an, dass sie sich Fachkreisen zwar zunehmend bekannt, in der durch ihre Tätigkeit in einem moralischen Öffentlichkeit jedoch kaum. Konflikt zwischen ihrer beruflichen Aufgabe Dabei ist eine Stärkung dieser Berufsgrup- und der Angst, sich selbst anzustecken, befin- pen dringender denn je. Gerade die Corona-Kri- den würden. Ein Großteil der Befragten zeigte se zeigt, wie sehr die SAGE-Berufe unter einem sich äußerst verärgert darüber, dass ihre Hilfe- schon lang bestehenden und kontinuierlich rufe weder vor noch während der Pandemie zunehmenden Fachkräftemangel leiden, dessen oder zwischen den beiden ersten Wellen gehört Konsequenzen wir jetzt alle schmerzlich spüren. wurden. Außerdem würden viele Kolleg*innen Die dramatische Entwicklung in einigen Be- kündigen, weil sie die Belastungen nicht mehr rufszweigen, wie z. B. bei Erzieher*innen oder aushielten. in der Intensivpflege, ist keineswegs neu, nur Diese Frustration zeigt sich auch in ande- wirkt Corona hier wie ein Brennglas, das uns ren Zahlen. Etwa jeder sechsten Pflegeperson, die Missstände und den chronischen Mangel in in der Befragung 17%, ist die Motivation für diesen Bereichen besonders deutlich zeigt. ihren Beruf verlorengegangen. Diese 17% sind laut Studienleiterin Uta Gaidys stark gefährdet, Das Beispiel Intensivpflege komplett aus dem Beruf auszusteigen: „Wenn Nicht nur in der Pandemie sind Intensivstatio- wir noch weitere Kolleginnen und Kollegen ver- nen die buchstäblich letzte Rettung. Inzwischen lieren, die in der Pflege arbeiten, dann glaube erfahren wir täglich durch die Medien, wie an- ich, dass die gesundheitliche Versorgung, so wie gespannt die Situation – auch jenseits von Coro- wir sie jetzt kennen, nicht mehr sichergestellt na – in den Intensivstationen ist. ist.“ 4 Dieser schon länger bestehenden, aber un- Diese Entwicklung ist nicht schicksalhaft, ter Corona massiv zunehmenden Berufsflucht sondern das Ergebnis einer jahrelangen Ent- steht die Zahl der unbesetzten Stellen auf den wicklung in den Kliniken, die zu stark an Pro- Intensivstationen gegenüber – aktuell 3.000 bis fiten orientiert waren, was heute zu einem 3.500 bundesweit. 5 dramatischen Mangel an Pflegekräften führt. Die aufgezeigte Entwicklung aus der Inten- Auch Warnungen von verschiedensten Fach- sivpflege lässt sich auf nahezu alle Berufsgrup- gesellschaften, die schon vor Corona auf diesen pen der SAGE-Disziplinen mehr oder weniger Mangel hingewiesen hatten, konnten keine Än- übertragen. Ergo- und Physiotherapeut*innen, derung herbeiführen. Altenpfleger*innen, Erzieher*innen und Sozial- Die reinen Zahlen verdeutlichen die Situa- arbeiter*innen vereint, dass sie systemrelevant tion: wie nie zuvor sind und dass in nahezu allen Laut dem „Krankenhausbarometer 2019“ Bereichen ein erheblicher Fachkräftemangel können 97 % aller größeren Kliniken offene Stel- besteht, viele Stellen vakant sind und oft über len in der Intensivpflege nicht besetzen.2 Eine Monate nicht besetzt werden können. aktuelle Studie zur Belastung von Pflegekräften EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 43
THEMA Was tun Politik und Wirtschaft? „vertane Chance“, kritisiert Nolte. Die KDA-Lei- Von der Gesundheits- und Bildungspolitik, von terin bekräftigt: „Als kirchlicher Fachdienst be- Wirtschaftsvertreter*innen und Fachforschung dauern wir diese Entwicklung sehr und stellen wird diese Systemrelevanz zwar betont, häufig uns an die Seite der Altenpflegekräfte sowie der bleibt es aber außer einer Bonuszahlung – und Gewerkschaften und Verbände, die sich für den die noch nicht einmal für alle SAGE-Beschäftig- Tarifvertrag stark gemacht haben. Der Einsatz ten – bei Lippenbekenntnissen. Eine Anhebung für eine menschenwürdige Pflege ist eine gesell- der Löhne in den unterbezahlten Sozial-, Ge- schaftliche Aufgabe, die menschenwürdige Ar- sundheits-, Pflege- und Bildungsberufen könn- beitsbedingungen braucht und uns alle früher te zu einer Attraktivitätssteigerung beitragen oder später angeht.“ (vgl. auch die Beiträge von und damit dem eklatanten Fachkräftemangel M. Neht und G. Nolte) und der Berufsflucht entgegenwirken. Das Ar- Weitere Informationen auf www.kda-nordkirche.de. gument der leeren Kassen verhindert das schon seit Jahren. Aktuell ist ein flächendeckender Lohntarif Auch eine Männerquote für SAGE-Berufe se- für die Altenpflege ausgerechnet an der Ableh- hen einige Vertreter*innen als Instrument zur nung der Caritas gescheitert und damit wieder Verbesserung der Situation. Schließlich können einmal eine Chance auf nachhaltige Verände- die MINT-Berufe mit der Kampagne zur Frau- rung vertan (siehe Kasten). „Ein Schlag ins Ge- enquote einige Erfolge verzeichnen. sicht der Pflegekräfte“, sagt Stefan Sell, Arbeits- Aber Maßnahmen dieser Art sind nicht in markt- und Sozialforscher an der Hochschule Sicht. Stattdessen versuchen die Verantwort- Koblenz. 6 lichen, den Mangel an Fachkräften mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aus- Tarifvertrag Pflege: Chance vertan zugleichen, doch auch das führte bisher nicht Mit Unverständnis und Fassungslosigkeit hat zur Lösung des Problems. Der Anteil der hin- der KDA auf das Scheitern des Tarifvertrags für zugewonnenen ausländischen Fachkräfte ist die Altenpflege reagiert. „Ein flächendeckender verschwindend gering. Tarifvertrag wäre ein wichtiger Baustein zur Die groß angelegte gemeinsame Kampagne Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der von Familien- und Gesundheitsministerium Pflege gewesen“, erklärt die Leiterin des KDA „Mach Karriere als Mensch“, mit der junge in der Nordkirche, Gudrun Nolte. „Er hätte zu Menschen für die Pflegeausbildung gewonnen einer Aufwertung des Pflegeberufes beitragen werden sollen, trägt ebenfalls nicht nachhaltig können, auch um dem Fachkräftemangel entge- zur Aufwertung und Würdigung der Pflegebe- genzuwirken.“ Die Arbeitsrechtliche Kommissi- rufe bei. Teil der Kampagne ist die Webserie on (ARK) der Caritas habe dies nun verhindert. „Ehrenpflegas“, die auf YouTube läuft. Junge Die Caritas-Kommission hatte Ende Februar Menschen sollen mit einem Slang aus der Ju- 2021 ihr Veto eingelegt gegen einen Tarifver- gendkultur und einem Werbeformat im Stil trag, den die Gewerkschaft ver.di und die Bun- einer vorabendlichen Seifenoper zur Ausbil- desvereinigung der Arbeitgeber in der Pflege- dung in der Pflege motiviert werden. 7 Was gut branche (BVAP) ausgehandelt hatten. Damit ist gemeint war, löst bei vielen Pflegekräften Em- nach jahrelanger Vorbereitung eine bundesweit pörung und Befremden aus, sie sehen ihren Be- einheitliche Vereinbarung vorerst gescheitert. ruf in keiner Weise repräsentiert. Im Gegenteil, In der Folge verzichtete die ARK der Diako- der Pflegeberuf werde durch die Darstellung nie auf eine eigene Abstimmung, obwohl sich eher abgewertet und ins Lächerliche gezogen. die Mitarbeiterseite eine Positionierung für den In einer Petition fordern daher Pflegekräfte die Tarifvertrag gewünscht hatte. Auch das sei eine Bundesfamilienministerin und den Bundesge- 44 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA Wer kümmert sich um die Voraussetzungen für eine gelingende Operation? Wer mach die unsichtbare Arbeit, wer säubert und desinfiziert? Und vor allem: Zu welchen Bedingungen? Foto: pixabay sundheitsminister auf, die beleidigende „Ehren- und partizipativ. Das heißt, sie beteiligen Men- pflegas“-Kampagne sofort zu stoppen. 8 schen in ihren vielfältigen Lebenswelten an den sie betreffenden Entscheidungen und arbeiten Eine gemeinsame Strategie fehlt vorwiegend gemeinwohlorientiert. Dies gesche- Woran liegt es, dass SAGE-Berufe diese Art der he allerdings mit jeweils spezifischen Perspekti- Darstellung immer wieder erfahren, obwohl der ven und Zielen, in der Pflege anders als in der für unsere Gesellschaft hohe Wert unumstritten Ergotherapie, in der Sozialen Arbeit anders als ist? Warum ist es so schwer, eine (gemeinsame) in der Lehre. „Diese große Diversifikation der Strategie wie bei den MINT-Berufen9 zu schaf- SAGE-Berufe macht eine übergeordnete Strate- fen? Azize Kasberg, wissenschaftliche Mitarbei- gie für alle gemeinsam schwierig“, so Kasbergs terin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Erfahrung. 11 äußert gegenüber der Website berufsreport. Neben der Diversifikation scheint auch die com 10 verschiedene Erklärungen für dieses Phä- nicht abgeschlossene Akademisierung des Be- nomen. „Im Gegensatz zu den MINT-Berufen, rufsbereiches hemmend auf die Entwicklung die mehrheitsdemokratisch und hierarchisch einer gemeinsamen Strategie zu wirken: Viele organisiert sind“, so Kasberg, arbeiten die Fach- Studienangebote der SAGE-Berufe seien noch kräfte in den SAGE-Berufen konsensorientiert im Modellstatus. Besonders problematisch ist EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 45
THEMA laut Kasberg aber die von der Politik präferier- Ruf nach neuer Solidarität te Teil-Akademisierung, das parallele Angebot Gerade die Corona-Krise zeigt die Wunden von von akademischen wie nicht-akademischen Menschen in den SAGE-Berufen und die Ver- Ausbildungsgängen wie in Ergotherapie, Phy- letzbarkeit der ganzen Branche – ein jahrelang siotherapie oder Krankenpflege. Das führe zur vernachlässigter Bereich mit gleichzeitig unum- Zersplitterung und Entsolidarisierung sowie zu strittener Systemrelevanz. Fachkräften erster und zweiter Klasse unter den Die Rufe nach Veränderung und einer neu- SAGE-Berufstätigen. 12 en Solidarität werden lauter. Wir stellen fest, Hinzu kommt ferner, so der Beitrag im „Be- dass die altbewährten Konzepte nicht mehr tau- rufsreport“, dass über allen SAGE-Berufen das gen und unbedingt erneuert werden müssen. Erbe der altruistisch orientierten, schlecht be- Die SAGE-Berufe geraten mehr und mehr in zahlten und klassischen Frauenberufe schwebe. den Fokus der Aufmerksamkeit, erfahren aktu- SAGE-Beschäftige seien vor allem intrinsisch ell eine Medienpräsenz wie nie zuvor. Beiträge motiviert. Im Gesundheitsbereich durch die und Berichte über die Arbeit der Pflegekräfte, unmittelbare Arbeit mit den Patient*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen und vie- in den Kitas und Schulen durch die Arbeit mit ler weiterer im Krisenmodus sind an der Ta- den Kindern und Schüler*innen. Dabei schau- gesordnung. Spätestens seit der Corona-Krise en sie nicht so auf die (Stech-)Uhr wie die Ver- lassen sich die Mängel und Versäumnisse in treter*innen der MINT-Berufe, weil es schlicht einer ganzen – systemrelevanten! – Branche nicht möglich ist. nicht mehr leugnen. Soziolog*innen, Gewerk- Dass sie dabei oft über ihre eigenen Grenzen schaften, Interessenvertretungen und sogar die und Kräfte gehen, sehen wir gerade beispielhaft Politik erkennen, dass es einen Wandel braucht in der Kranken- und Intensivpflege. Aber auch und fordern diesen ein. in anderen SAGE-Berufen ist zu beobachten, Auch SAGE-Wissenschaftler*innen und -Or- dass die eigenen Interessen häufig hintenange- ganisationen positionieren sich in einer Stel- stellt werden. Wenn beispielsweise ein medizi- lungnahme zur Corona-Pandemie und ihren nischer Notfall eintritt oder eine akute Kindes- Folgen. 14 Die Initiator*innen sind an der Alice wohlgefährdung besteht, muss sofort gehandelt Salomon Hochschule Berlin tätig. 15 Sie formu- werden, oft über die vorgesehene Arbeitszeit lieren aus der Krise heraus den Anspruch von hinaus und nicht erst am nächsten Arbeitstag. mehr gesellschaftspolitischer Verantwortung Diese geradezu vorbildliche Haltung der Ar- für die SAGE-Berufe. Präzise werden die durch beitnehmer*innen hat ihren Preis. Der „Berufs- den Handlungsdruck entstandenen gesellschaft- report“ spricht von Selbstausbeutung, die dau- lichen Zielkonflikte benannt und Handlungs- erhaft keine Strukturprobleme löse. 13 ansätze entwickelt. Denn, so der Wortlaut der Leider führt dies nicht dazu, dass Arbeit- Stellungnahme: „Die Corona-Pandemie droht, geber*innen ihren Teil zur Verbesserung der gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zu Arbeitsbedingungen beitragen. Argumentiert verstärken und soziale Spaltungen zu vergrö- wird dabei meist mit fehlenden Finanzen und/ ßern.“ 16 Dabei sehen sich die Verfasser*innen oder dem Personalmangel. Ergebnis ist ein im- in ihrem Engagement ganz klar an der Seite mer kürzerer Verbleib der Fachkräfte im ehe- von Nutzer*innen des Hilfesystems sowie von maligen Traumberuf. Eine Krankenpflegerin Beschäftigten und Trägern des Sozial-, Gesund- sagte etwa bei einer Podiumsdiskussion des heits- und Bildungswesens. Selbstbewusst for- KDA: „Ich liebe meinen Beruf und ich möchte dern sie ein stärkeres Zusammenwirken von ihn nicht verlassen, dennoch sehe ich, dass es Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft und immer schwieriger wird zu bleiben.“ Ein Alarm- die konsequente Berücksichtigung der SA- signal für uns als Gesellschaft. GE-Perspektiven. 46 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
THEMA Q Quellenangaben: Die Wissenschaftler*innen rufen dazu auf, (1) U. Mergner (2009): SAGEnhafte Fächer! Soziale Arbeit, die Chance des durch die Corona-Krise for- Gesundheit und Erziehung in einer gemeinsamen cierten gesellschaftspolitischen Umbruches zu Interessenlage? Oder: SAGE – Wir sind MINTestens so nutzen und sich nachhaltig für Verbesserungen systemrelevant! Referat für den Fachbereichstag Soziale Arbeit in Mainz. einzusetzen, indem der gesellschaftlich hohe (2) Deutsches Krankenhaus Institut: Krankenhausbarometer Wert der SAGE-Fächer anerkannt und ange- 2019, https://www.dki.de/barometer/krankenhaus-baro- messene Arbeitsbedingungen geschaffen wer- meter/, Abruf 12.03.2021. den, die fachliche Errungenschaften erhalten (3) https://www.haw-hamburg.de/detail/news/news/show/ pflegekraefte-am-limit/, Abruf 12.03.2021. und weiterentwickeln. (4) https://www.bibliomed-pflege.de/news/jede-sechste-pfle- Daneben setzen sich die SAGE-Vertreter*in- gefachperson-denkt-ans-aufhoeren/, Abruf 12.03.2021. nen sehr konkret mit den Herausforderungen (5) Deutsches Krankenhaus Institut (2017), Personalsituation der aktuellen Krise auseinander und zeigen in der Intensivpflege und Intensivmedizin, https://www. dki.de/sites/default/files/2019-05/Personalsituation%20 Handlungsperspektiven auf, z. B. zur Ausbeu- in%20der%20Intensivpflege.pdf, Abruf 12.03.2021. tung in der Care-Arbeit, zur strukturellen Be- (6) https://www.deutschlandfunk.de/pflegetarifver- nachteiligung von Frauen, zum verkannten trag-das-veto-der-caritas-und-seine-folgen.886. gesellschaftlichen Stellenwert von Gesundheits- de.html?dram:article_id=493844/, Abruf 12.03.2021. Hintergrundinformationen auf der KDA-Website: https:// berufen und Sozialer Arbeit. Sollte hier doch so kda-nordkirche.de/beitrag/195, https://kda-nordkirche. etwas wie eine übergreifende Strategie für SA- de/beitrag/193, https://kda-nordkirche.de/beitrag/194, GE-Berufe entstanden sein? Abruf 12.03.2021. Die Zeit für Veränderung ist jetzt! Ja, wir (7) https://www.youtube.com/watch?v=H9YCs8Usj78, Abruf 12.03.2021. sind in einer Krise. Aber diese Situation ist auch (8) Zur Kampagne auf change.org: https://bit.ly/38KNXks; ein Motor für Veränderung – wenn wir ihn im Netz selbst wurde die Kampagne sachlich kritisiert: nutzen. So macht der Soziologe Heinz Bude https://www.youtube.com/watch?v=ohvgAXHlTpo, Abruf jeweils 12.03.2021. aktuell einen neuen Solidaritätsbegriff stark. (9) https://www.bmbf.de/files/MINT-Aktionsplan%20(2).pdf/, Er beschreibt, wie unsere Gesellschaft durch Abruf 12.03.2021. die Pandemie die Erfahrung einer allgemeinen (10) https://bit.ly/2NnuaQt, Abruf 12.03.2021. Verwundbarkeit macht, in der jede und jeder (11) A.a.O. (12) A.a.O. Einzelne feststellt, dass er/sie – auch wenn noch (13) A.a.O. so gebildet, noch so reich – sich nicht alleine (14) Vgl. https://bit.ly/38LyfFE, Abruf 12.03.2021 retten kann. Diese Erfahrung der Verwund- (15) Die ASH ist die größte SAGE-Hochschule Deutschlands. barkeit sieht Bude als die Grundlage für eine Mit der Evangelischen Hochschule Berlin und der Katho- lischen Hochschule für Sozialwesen Berlin gründete die neue Solidarität. 17 Er unterscheidet sie von der ASH 2019 einen SAGE-Verbund für Berlin. Die Stellung- Kampfsolidarität der Arbeiterbewegung oder nahme von Mai 2020 unterzeichneten Einzelpersonen der Solidarität unter Nationen. Für ihn ist sie und Organisationen bundesweit. eine wechselseitige Hilfe auf Augenhöhe. (16) A.a.O. (17) Vgl. https://www.tagesspiegel.de/kultur/soziologe-bu- Das macht Hoffnung auf grundlegende Ver- de-ueber-corona-folgen-fuer-die-gesellschaft-verwund- änderungen und die Verschiebung von Werten barkeit-macht-solidarisch/25757924.html/ sowie Heinz und Wertigkeiten in unserer Gesellschaft – und Bude: Zeitenwende?! Wie Corona die Gesellschaft damit auf eine größere Bedeutung der SAGE-Be- verändert: https://youtu.be/pyNmZTR7Hc0, Abruf jeweils 12.03.2021. rufe. Sie muss mit angemessenen Tarifen, ver- besserten Arbeitsbedingungen sowie der Anhe- bung von Personalschlüsseln einhergehen. Maike.Hagemann-Schilling@kda.nordkirche.de EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 47
DIE LETZTE SEITE Zu guter Letzt mutter unser mutter unser die du heißest gerechtigkeit führe im sohn die sache der armen zum sieg Foto: epd-bild/Dharmendra Parmar mutter unser die du willst frieden hilf uns die götzen stürzen krieg und profit KURT mutter unser MARTI die du kommst aus den himmeln und bist die schöne stadt gottes Kurt Marti (1921–2017) EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021 61
VORSCHAU & IMPRESSUM Vorschau Selbstbestimmt sterben. Mit Hilfe? (Doppelheft Juli/August) Das Leben ist ein Geschenk Gottes, unverfügbar für den Menschen. So wird gepredigt. Aber: die Autonomie prägt das irdische Leben. Warum sollte sie nicht auch beim Sterben gültig sein? Beiträge bitte bis zum 15. Juni Wer hat die Macht? Der Allmächtige oder der Mensch? Während Gottes Macht fraglich ist, expandiert die Macht des Men- schen. Wird Gott also ohnmächtig? Im Ratzeburger Unikolleg wurde diesen Fragen nachgegangen. Bringen auch Sie Ihre Gedanken ein! Beiträge bitte bis zum 15. August Diakonie und Pädagogik in der Gemeinde Kirchengemeinden haben einen Bildungsauftrag und betreiben Dia- konie. Diese Aspekte der Verkündigung bleiben in der Öffentlichkeit wie auch in der Kirche selbst viel zu oft unberücksichtigt. Welche Rolle nehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche ein? Beiträge bitte bis zum 15. September Schreiben Sie! Zu Themenschwerpunkten, die für die nächsten Ausgaben geplant sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden. redaktion@evangelische-stimmen.de IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Druck: Evangelischer Presseverband Dr. Friedrich Brandi (ViSdP) Hugo Hamann Norddeutschland GmbH, Offsetdruckerei, Kiel Gartenstr. 20, 24103 Kiel Layout: Evangelischer Presseverband Die Evangelischen Stimmen erscheinen Verlag: Norddeutschland GmbH monatlich. Das Jahresabonnement kostet Evangelischer Presseverlag Nord GmbH, Tel. (040) 709 75 - 277 48,00 € inkl. Versandkosten innerhalb Gartenstr. 20, 24103 Kiel, Deutschlands. Die Kündigungsfrist beträgt Postfach 34 66, 24033 Kiel, Anzeigen: 6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die Tel. (0431) 55 77 99 Kristina Heesch Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen Fax (0431) 55 779 - 292 Tel. (0431) 55 77 9 - 206 oder Initialen gekennzeichnete Beiträge Geschäftsführer: Bodo Elsner Fax (0431) 55 77 9 - 292 geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte Redaktionsanschrift: Vertrieb und Abonnementverwaltung: Beiträge und Bücher werden nicht zurück- Evangelischer Presseverband Stefanie Elsner & Inge Limburg geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind Norddeutschland GmbH, Tel. (0431) 55 77 9 - 271 urheberrechtlich geschützt. Schillerstraße 44a, 22767 Hamburg E-Mail: vertrieb@evangelische-stimmen.de ISSN 0938-3697 Tel. (040) 70 975 - 200 Fax (040) 70 975 - 249 E-Mail: redaktion@evangelische-stimmen.de 62 EVANGELISCHE STIMMEN 6 | 2021
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