Expertise - Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV - Der Paritätische
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Expertise Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV. DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND e. V. | www.paritaet.org
Impressum Herausgeber: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V. Paritätische Forschungsstelle Oranienburger Str. 13–14 10178 Berlin Inhaltlich verantwortlich gemäß Presserecht: Dr. Ulrich Schneider Autor: Dr. Andreas Aust Telefon: 030 24636-322 E-Mail: sozpol@paritaet.org Gestaltung: Christine Maier Titelbild: © diy13 - stock adobe Berlin, 1. September 2020
Inhalt 1. Einleitung ......................................................................................................................................................................................... 2 2. Hartz-IV-Beziehende sind von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt .................................... 5 3. Hartz-IV-Leistungen reichen nicht für eine empfohlene Ernährung .......................................................................... 9 4. Materielle Entbehrungen: Was fehlt Hartz-IV-Beziehenden? ...................................................................................... 13 5. Fazit .................................................................................................................................................................................................... 19 Literatur .................................................................................................................................................................................................... 21 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Tabelle 1: SGB-II-Leistungen und Armutschwelle (2010 und 2018) .................................................................................. 6 Tabelle 2: Geschätzte monatliche Einkünfte und „gerade ausreichendes Einkommen“ von SGB-II-Leistungen beziehenden Haushalten in Euro ..................................................................................................... 8 Abbildung 1: Warenkorb für Lebensmittel und Regelbedarf ............................................................................................... 11 Abbildung 2: Materielle Entbehrung I: Finanzielle Handlungsfähigkeit ........................................................................... 14 Abbildung 3: Materielle Entbehrung II: Soziale Teilhabe ....................................................................................................... 16 1
1. Einleitung Alle fünf Jahre, wenn die Einkommens- und Ver- Becker 2011 und 2016). Die Diskussion der angemes- brauchsstichprobe (EVS) neu erhoben und ausgewer- senen Verfahren ist wichtig. Es droht aber die Gefahr, tet ist, ist der Gesetzgeber gefordert, das menschen- dass diese Debatte – sofern sie überhaupt mit einer würdige Existenzminimum neu zu ermitteln. Aktuell nennenswerten Öffentlichkeit stattfindet – von der ist es wieder einmal soweit. Die Daten der EVS sind zentralen Frage ablenkt, nämlich: Wird mit den Regel- nach den Vorgaben des Bundesministeriums für Ar- leistungen eine Bedarfsdeckung erreicht? beit und Soziales ausgewertet worden. Die Ergeb- nisse liegen dem Ministerium seit dem Frühjahr vor. Der vorliegenden Expertise vorgelagert ist die Einsicht, Erste Ergebnisse sind zuerst der Presse exklusiv zuge- dass die Festlegung der Höhe des menschenwürdigen spielt worden, bevor der Entwurf selber publik wurde. Existenzminimums keine Frage ist, die sich „objektiv” Nach dem Referentenentwurf wird der Regelbedarf und „wissenschaftlich” beantworten ließe. Am Ende für eine erwachsene Leistungsberechtigte um sieben wird über die Höhe der existenzsichernden Leistungen Euro auf 439 Euro steigen. Bei den 14- bis 17-Jährigen politisch entschieden. Und das bedeutet schlicht steigt der Regelbedarf um 39 Euro auf 367 und bei formuliert: Wie viel Geld will die Regierung für die so- der jüngsten Altersgruppe der bis 6-Jährigen um 28 ziale Sicherung der Ärmsten in diesem Land aufwen- Euro auf 278 Euro. Der ermittelte Regelbedarf für die den? Die Bundesregierung ist für die Verteilung des Altersgruppe der 7- bis 13-Jährigen fällt geringer aus gesellschaftlichen Reichtums politisch verantwortlich als der Status quo. Dieser bleibt zunächst unverän- und sie kann und darf sich nicht durch den Verweis auf dert. Diese Zahlen sind vorläufige Rechengrößen für ein vermeintlich objektives Verfahren aus der Verant- das Jahr 2020 und umfassen ausweislich des Entwurfs wortung stehlen. noch nicht die Fortschreibung auf das Jahr 2021, weil hier die Daten des Statistischen Bundesamtes noch In der vorliegenden Expertise soll keine Methoden- nicht vorliegen. kritik vorgetragen werden. Hier werden nicht die ein- zelnen Schritte der vermeintlichen Bedarfsermittlung Die Ermittlung der Leistungen setzt offenkundig und diskutiert und kritisiert. Tatsächlich – so viel Metho- explizit auf Kontinuität. Die Anpassung der Leistungen denkritik muss dann doch sein – werden im Statistik- für die Erwachsenen kompensiert gerade einmal die modell überhaupt keine „Bedarfe” ermittelt, sondern Preisentwicklung. Seit 2014 steht die Aussage des Bun- es werden Verbrauchsausgaben einer politisch festge- desverfassungsgerichts im Raum, dass die Ermittlung legten Gruppe berechnet und nach einer fragwürdigen der Regelbedarfe die Grenzen des verfassungsrechtlich Einstufung einzelner Positionen als regelsatzrelevant noch Zulässigen erreicht habe (Bundesverfassungsge- und nicht regelsatzrelevant aus diesen Ausgaben ein richt 2014, Rn. 121). Gleichwohl hält die Bundesregie- Existenzminimum abgeleitet. Die Frage, was die be- rung an den derart ermittelten Regelbedarfen im Kern troffenen Menschen aber tatsächlich brauchen, wird fest und vermeidet, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Verfahren nicht gestellt. Wie dem auch sei: Die eine dringend notwendige deutliche Anpassung nach Diskussion von Methodenfragen soll hier nicht aufge- oben. rufen werden. In dieser Expertise wird stattdessen die Frage der Bedarfsdeckung in den Mittelpunkt gestellt: Absehbar ist, dass die Diskussion im Rahmen der Re- Ermöglichen die Leistungen der Grundsicherung sozi- gelbedarfsermittlung sich auf die eher technisch an- ale und kulturelle Teilhabe am Leben in der Gemein- mutende Frage fokussieren wird, wie die Bundesregie- schaft? rung hat rechnen lassen und an welchen Stellen sie mit welcher fadenscheinigen Begründung Eingriffe in das Als Maßstab für die Zielerreichung werden zunächst sogenannte Statistikmodell vorgenommen hat. Auch die normativen Setzungen des Bundesverfassungs- der Paritätische Gesamtverband wird sich in diese gerichts zugrunde gelegt. Dieses hat 2010 aus dem Debatte sachkundig einbringen (vgl. Paritätischer Ge- Zusammenspiel der verfassungsrechtlich verbürgten samtverband 2020a und zu dieser Kritik auch Becker- Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip das 2
Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschen- Zusammenhang ist das SDG 10 besonders interes- würdigen Existenzminimums abgeleitet. Dieses sant: Mit diesem Ziel verpflichten sich die unterzeich- Grundrecht umfasst nach dem ersten Leitsatz dieser nenden Länder zu einer Politik, in der die einkom- grundlegenden Entscheidung „diejenigen materiellen mensschwächsten 40 Prozent der Haushalte in der Voraussetzungen (...), die für seine physische Existenz Gesellschaft bis 2030 stärkere Einkommenszuwächse und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaft- haben als der Durchschnitt (Ziel 10.1). Die Haushalte lichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich” im Hartz-IV-Bezug zählen zweifelsohne zu den un- sind. Darüber hinaus fordert der zweite Leitsatz, dass teren 40 Prozent der Haushalte; sie bilden den unteren die Leistungen durch den Gesetzgeber konkretisiert Rand dieser Gruppe. Maßnahmen zur Reduzierung und stetig aktualisiert werden müssen. Die Konkreti- von sozialer Ungleichheit müssen daher auch oder so- sierung und Aktualisierung hat sich dabei an „dem je- gar insbesondere bei dieser Gruppe ansetzen. Hier soll weiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und daher u. a. analysiert werden, ob und ggf. inwieweit den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten” dieser Aspekt der globalen Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesverfassungsgericht 2010). Die Sicherstel- in Deutschland eingehalten wird, sprich: Wird mit der lung des Grundrechts auf die Gewährleistung eines Entwicklung der Grundsicherungsleistungen das Ziel menschenwürdigen Existenzminimums liegt in der einer Angleichung der Einkommensverhältnisse er- Verantwortung des Staates. Er kann diese Aufgabe reicht oder konterkariert? nicht an andere Akteure und Institutionen delegie- ren, auf die hilfebedürftige Menschen keinen Rechts- Der Aufbau der Expertise ist wie folgt: Zunächst wer- anspruch haben. Die Standards lauten daher: Sicher- den die Grundsicherungsleistungen in ihrer relativen stellung der physischen Existenz und der Möglichkeit Höhe analysiert. Gefragt wird: Reichen die durch- zur Teilhabe, wobei die Qualität der Standards sich an schnittlichen Leistungen aus, um Einkommensarmut dem jeweiligen Entwicklungsstand der Gemeinschaft der Leistungsberechtigten zu verhindern? In einem zu orientieren hat. Das Bundesverfassungsgericht weiteren Schritt wird der Abstand der Leistungen zur spricht sich demnach gegen ein restriktives Verständ- Armutsrisikoschwelle analysiert („Armutslücke”). Die- nis von Grundsicherung aus, nach dem lediglich für se Analyse wird für verschiedene Haushaltszusam- die existentiellen Grundbedürfnisse zum Überleben mensetzungen durchgeführt, um zu ermitteln welche gesorgt werden muss. Vielmehr formuliert das Haushalte ggf. nach diesem Indikator besonders pro- Bundesverfassungsgericht ein relatives Verständnis blematische Lebenslagen haben. Um die zeitliche Ent- der Grundsicherung: Wenn die Gesellschaft insgesamt wicklung abzubilden, werden zwei Zeitpunkte – 2010 reicher wird, so müssen die Grundsicherungsbezie- und 2018 als das Jahre der jüngsten EVS-Erhebung henden daran teilhaben können. Über die Konkreti- – betrachtet. Damit lässt sich die Frage beantworten, sierung dieser Norm muss dann (sozial-)politisch ge- ob die Entwicklung der Grundsicherungsleistungen stritten werden. einen Beitrag zu einer sozialen Angleichung leisten oder nicht. Jenseits der verfassungsrechtlich gesetzten Standards gibt es einen weiteren Maßstab im Sinne einer poli- In einem zweiten Kapitel wird folgende Frage analy- tischen Absichtserklärung und damit Selbstverpflich- siert: Inwieweit ist mit Hartz IV eine angemessene tung. Die Bundesregierung hat die UN-2030-Strategie Ernährung sichergestellt? Die Sicherstellung einer unterzeichnet. Damit werden zahlreiche Entwick- angemessenen Ernährung – die Vermeidung von Hun- lungs- und Nachhaltigkeitsziele für die eigene poli- ger und Unter- oder Fehlernährung – ist eine der vor- tische Tätigkeit anerkannt, die sog. SDG (Sustainable dringlichen Aufgaben der Grundsicherung, da sie die Development Goals). Für den Kontext der Regelbe- physische Existenz berührt. Zudem ist der Anteil für darfe relevant sind hier das Bekenntnis zu einer Politik Ernährung und Getränke mit etwa einem Drittel der der Bekämpfung von Armut (SDG 1) und der Reduk- größte Einzelposten bei dem Regelbedarf. Die Prüfung tion von sozialer Ungleichheit (SDG 10). Für unseren der Bedarfsdeckung in diesem Bereich ist daher von 3
herausragender Bedeutung. Hier werden zunächst Er- gebnisse einer eigenen Auswertung der SOEP- Daten präsentiert, nämlich ob Hartz-IV-beziehende Haus- halte sich alle zwei Tage eine warme Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel leisten können. Zusätzlich werden die Ergebnisse einer Studie referiert, die die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernäh- rung für eine gesunde Ernährung in einen Warenkorb übersetzt hat. Für die Bedarfsdeckung zentral ist: Kann dieser Warenkorb mit den Mitteln der Grundsicherung finanziert werden? In einem dritten Kapitel werden Hartz IV beziehende Haushalte in Bezug auf verschiedene Aspekte der sog. materiellen Entbehrung untersucht und mit Haushal- ten oberhalb der Hartz-IV-Schwelle verglichen. Die Leit- frage lautet: Was fehlt bei Hartz-IV-Leistungsberech- tigten? Bei welchen Aspekten des täglichen Lebens spüren Hartz-IV-Leistungsberechtigte besondere Defizite? Die Analyse der Ausstattung der Haushalte insgesamt gibt darüber hinaus einen Hinweis auf den „Entwicklungsstand eines Gemeinwesens”. Hier zeigt sich beispielsweise, dass der Besitz eines Autos unter den gegebenen Bedingungen von fehlenden Alterna- tiven zur Mobilitätssicherung gesellschaftlicher Stan- dard ist. Dieser Sachverhalt ist auch bei der Regelbe- darfsermittlung zu berücksichtigen. In einem abschließenden Kapitel werden die Ergeb- nisse zusammengefasst und kurz auf die zuneh- menden Probleme in der Corona-Pandemie verwiesen, auf die die regierende Koalition bislang nur unzurei- chend reagiert hat. Während insgesamt die Regierung mit enormen Mitteln gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie vorgeht, blei- ben die Interessen und Bedürfnisse der Ärmsten bis- lang unberücksichtigt. Dieser Befund wird durch die Vorlage des Referentenentwurfs für ein Regelbedarf- sermittlungsgesetz nachdrücklich bestätigt. 4
2. Hartz-IV-Beziehende sind von der allgemeinen Wohl- standsentwicklung abgekoppelt Wie hoch liegen die Leistungen der Grundsicherung? zogen. Als Armut wird hier ein Einkommen unterhalb Sind die Leistungen der Grundsicherung ausreichend, von 60 Prozent des äquivalenzgewichteten Medianein- um Armut der Leistungsberechtigten zu vermeiden? kommens bezeichnet. Während für die Schwelle viel- Als Maßstab für die Armut wird hier untersucht, ob und fach der Ausdruck Armutsrisikoschwelle benutzt wird, in welchem Umfang die durchschnittlichen Leistungen bezeichnet für den Paritätischen dieser Schwellenwert unterhalb der Armuts(risiko)schwelle liegen (Armuts- schlicht Armut. Die Gründe dafür sind in den regelmä- quote und Armutslücke). Darüber hinaus soll die Verän- ßigen Armutsberichten hinreichend ausgeführt. Für derung über die Zeit analysiert werden: Wie verändern einen Single-Haushalt lag nach diesem Verständnis die sich die Leistungen über die Zeit? Wie verändert sich die Armutsschwelle 2018 bei 1.035 Euro. Ein Anteil von 40 Armutslücke – also der Abstand der durchschnittlichen Prozent des äquivalenzgewichteten Medianeinkom- Leistungen zur haushaltsspezifischen Armutsschwelle mens gilt in der Literatur teilweise als “strenge Armut” – zwischen 2010 und 2018? Desweiteren wird anhand (vgl. etwa Hanesch u. a. 2000). Die “Armutslücke” be- von Auswertungen der SOEP Daten des DIW analysiert, zeichnet die Differenz der durchschnittlichen Leistun- was Leistungsberechtigte selber sagen, wie viel Einkom- gen zur Armutsschwelle.1 men sie brauchen, um gerade so auszukommen. Desweiteren werden in diesem und in den folgenden Kapiteln eigene Auswertungen des Sozioökono- Methodisches Vorgehen mischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) durch die Paritätische For- Um die genannten Fragen zu beantworten, werden drei schungsstelle vorgestellt. Die Berechnungen mit den Haushaltskonstellationen von Grundsicherungsbezie- SOEP-Daten wurden von Carolin Linckh aus der Paritä- henden (Single-Haushalt, Alleinerziehenden-Haushalt tischen Forschungsstelle erstellt. mit Kind bis 6 Jahre und Paarhaushalt mit Kind bis 6 Jahre) mit der jeweiligen Armutsschwelle kontrastiert. Unterschieden werden zwei Zeitpunkte – 2010 und Ergebnisse 2018 – um die jüngere zeitliche Entwicklung darzustel- len. Die durchschnittlichen Leistungen für 2010 sind ei- Offenkundig reichen 2018 in einer der untersuchten ner Studie des IAB entnommen (Tophoven u. a. 2015). Haushaltskonstellationen die Leistungen der Grundsi- Die Daten für 2018 sind in einer analogen Art und Wei- cherung aus, um Armut zu vermeiden. In jeder ande- se aus den Angaben der BA-Statistik ermittelt. Heran- ren der untersuchten Konstellationen liegt die Summe gezogen werden jeweils die Regelbedarfe, die Mehr- der Leistungen bei durchschnittlichen Kosten der Un- bedarfszuschläge bei Alleinerziehenden und die für terkunft und Heizung unterhalb der Armutsschwelle. den jeweiligen Haushaltstyp bundesweit durchschnitt- Die Armutsquote für Leistungsberechtigte, die aus- lichen Kosten der Unterkunft und Heizung. Die durch- schließlich auf die Leistungen der Grundsicherung an- schnittlichen Wohnkosten nach Bedarfsgemeinschaft gewiesen sind, liegt damit rechnerisch bei annähernd wurden der Fachstatistik Wohn- und Kostensituation 100 Prozent. Lediglich in den Haushalten, die deutlich für den Monat Juli 2018 entnommen. Einschlägig sind höhere Kosten der Unterkunft und Heizung von den für die Analyse der Leistungen der Grundsicherung die Jobcentern erstattet bekommen, kann die Leistung die anerkannten laufenden Kosten und nicht die tatsäch- Armuts(risiko)schwelle noch überschreiten. lichen Wohnkosten. Für das Jahr 2018 ergeben sich so für einen Single-Haushalt im Durchschnitt Leistungen 1 Einen methodisch anderen Weg geht Paul Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (2020). Schröder in Höhe von 770 Euro, für einen Alleinerziehenden- analysiert den Abstand der Regelbedarfsstufe 1 (Singlehaushalt) zur Haushalt mit einem Kind von 1.307 Euro und für das Armutsrisikoschwelle für den Zeitraum von 2006 bis 2016. Er zeigt mit Paar mit einem Kind unter 6 Jahren von 1.582 Euro. Als seinem Vorgehen auf anderen Weg – ohne Betrachtung der Wohnkosten und ohne Differenzierung nach Haushaltstypen –, dass die Lücke zwischen Datengrundlage für die Ermittlung der Armutsschwelle dem Regelbedarf für eine erwachsene Person (Regelbedarfsstufe 1) und werden die Angaben nach dem Mikrozensus herange- der Armutsschwelle wächst. 5
Tabelle 1: SGB-II-Leistungen und Armutschwelle (2010 und 2018) Jahr Regel- Mehr- Kosten der Summe Armuts- Armuts- bedarf bedarf Unterkunft + schwelle lücke Heizung 2018 416 € 0€ 354 € 770 € 1.035 € 265 € Einpersonenhaushalt 2010 359 € 0€ 275 € 634 € 826 € 192 € Alleinerziehende, 2018 656 € 150 € 501 € 1.307 € 1.345 € 38 € 1 Kind unter 6 J. 2010 574 € 129 € 358 € 1.061 € 1.074 € 13 € Alleinerziehende, 2018 952 € 150 € 598 € 1.700 € 1.656 € -44 € 2 Kinder 2010 825 € 129 € 409 € 1.363 € 1.322 € -41 € 2018 749 € 0€ 478 € 1.227 € 1.553 € 326 € Paar ohne Kind 2010 646 € 0€ 348 € 994 € 1.239 € 245 € 2018 989 € 0€ 593 € 1.582 € 1.863 € 281 € Paar, 1 Kind unter 6 J. 2010 861 € 0€ 456 € 1.317 € 1.487 € 170 € 2018 1.285 € 0€ 675 € 1.960 € 2.174 € 214 € Paar, 2 Kinder 2010 1.112 € 0€ 526 € 1.638 € 1.735 € 97 € Anm.: Alter der Kinder: 1 Kind - bis unter 6 Jahren, 2 Kinder: 1 Kind bis unter 6 Jahre, 1 Kind bis unter 14 Jahre; Daten für 2010: Tophoven u. a. 2015; Armutsrisikoschwellen des Mikrozensus nach der Amtlichen Sozialberichterstattung; eigene Berechnungen Am größten sind die Abstände zur Armutsschwelle könnte. Die Armutslücke beträgt bei den Alleinerzie- bei den Alleinstehenden-Haushalten. Bei den Single- henden mit einem Kind bis 6 Jahre im Ergebnis daher Haushalten liegt die Summe der durchschnittlichen im Vergleich zu den anderen Haushaltstypen „lediglich” Leistungen der Grundsicherung mit 770 Euro um ein 38 Euro. Viertel unter der Armutsschwelle von 1.035 Euro. Die Armutslücke beträgt hier 265 Euro. Selbst wenn man Wie entwickelten sich nun die Grundsicherungslei- der Rede von Armuts“risiko“ folgt, ist doch der Abstand stungen in dem untersuchten Zeitraum? Betrachten so groß, dass die Rede vom „Risiko“ nicht mehr ange- wir dazu exemplarisch den Single-Haushalt. Die Sum- messen ist. Eine Leistung von 770 Euro entspricht 2018 me der Leistungen stieg von durchschnittlichen 634 etwa 44,6 Prozent des Medianeinkommens und liegt Euro 2010 auf 770 Euro 2018. Nominell sind die Leis- damit nur wenig oberhalb des Niveaus der strengen tungen damit von einem sehr niedrigen Niveau um Armut. Bei Paaren mit einem Kind unter 6 Jahren la- 136 Euro angestiegen. Dieser Anstieg ging allerdings gen die durchschnittlichen Leistungen 2018 bei 1.582 zu einem großen Anteil auf die steigenden Wohnko- Euro und die Armutsschwelle bei 1.863 Euro. Die Lü- sten zurück. Für die Leistungsberechtigten ist dieser cke zwischen Leistungen und Armutsschwelle liegt bei Posten ein durchlaufender Posten, da damit Miete diesem Haushaltstyp bei etwa 280 Euro. Bei den Allein- und Nebenkosten finanziert werden. Ein erhöhter Le- erziehenden-Haushalten sieht das Verhältnis spürbar bensstandard für die Leistungsberechtigten geht da- besser aus. Hier schlägt sich insbesondere der Mehrbe- mit in der Regel nicht einher. Der Regelbedarf stieg in darf in Höhe von 150 Euro nieder. Bei der Äquivalenz- dem Zeitraum von 8 Jahren von 359 Euro auf 416 Euro. gewichtung der Armutsschwelle fehlt methodisch eine Die Fortschreibung der Leistungen und die zwischen- entsprechende Komponente mit der die besondere zeitliche Neuermittlung der Regelbedarfe 2010 und Lebenslage von Alleinerziehenden abgebildet werden 2016 haben zu einer kontinuierlichen, aber beschei- 6
denen Anhebung der Leistungen in diesem Zeitraum Der dramatische Anstieg der Armutslücke zwischen geführt. In demselben Zeitraum ist der allgemeine 2010 und 2018 bedeutet, dass die Leistungsberech- Verbraucherindex um fast 11,4 Prozent angestiegen. tigten in der Grundsicherung an dem Wachstum des Die Anpassungen der Regelbedarfe zwischen 2010 gesellschaftlichen Reichtums seit 2010 nicht partizi- und 2018 haben damit im Wesentlichen die Preisent- piert haben. Im Gegenteil: Sie wurden von der wirt- wicklung ausgeglichen. Unter dem Strich verbleibt schaftlichen Entwicklung abgehängt. eine geringe reale Erhöhung der Regelleistungen für den kompletten Zeitraum. Diese Aussage trifft auf alle Haushaltskonstellationen zu. Selbsteinschätzungen: Wie viel Geld wird mindestens benötigt? Wie haben sich nun die Leistungen im Verhältnis zur wirtschaftlichen Situation entwickelt? Die vergan- Schließlich soll die Frage angedeutet werden, ob mit genen Jahre vor der Corona-Pandemie waren eine diesen Leistungen ein Auskommen möglich ist. In den Phase der guten Konjunktur mit stabilen Wachs- weiteren Kapiteln wird auf die Defizite bei der Ernäh- tumsraten und sinkenden Arbeitslosenquoten. Von rung und der sozialen Teilhabe noch genauer einge- dieser Prosperität haben in der Gesamtbetrachtung gangen. Für einen ersten Überblick analysieren wir zuletzt auch die Arbeitnehmer-Haushalte profi- hier Aussagen von SGB-II-Leistungen beziehenden tiert (dazu: Grabka / Goebel 2020). Die Entwicklung Haushalten auf der Grundlage des SOEP. Hier gibt es schlägt sich auch bei dem für die Berechnung der die Möglichkeit, zwei Fragen zu kombinieren, um eine Armutsschwelle relevanten Haushalt in der Mitte der Einschätzung der betroffenen Leistungsberechtigten Einkommensverteilung nieder. Insofern schlägt sich abzubilden. In dem SOEP Fragebogen bezieht sich in dem Anstieg der Armutsschwelle vermittelt auch eine Frage auf das geschätzte Gesamteinkommen die positive Einkommensentwicklung nieder. des Haushaltes (Frage 61 des Haushaltsfragebogens). Eine zweite Frage (Frage 66) bittet die Interviewten u. Im Ergebnis ist die Armutsschwelle in dem analysier- a. anzugeben, welches Einkommen als „gerade ausrei- ten Zeitraum zwischen 2010 und 2018 deutlich stär- chend“ bewertet wird. Die Fragen wurden ausgewer- ker gestiegen als die Leistungen der Grundsicherung. tet für Haushalte in den mindestens ein Haushaltsmit- Im Ergebnis sind die Armutslücken 2018 sehr viel hö- glied aktuell SGB-Leistungen bezieht. Unterschieden her als noch 2010. Bei einem Single-Haushalt stieg die wurden drei Haushaltstypen: Einpersonenhaushalte, Armutslücke von 192 Euro auf 265 Euro. Alleinerziehende und Paare mit Kind(ern). In der fol- genden Tabelle werden sowohl der Median als auch Die relative Position der Grundsicherungsbezie- der arithmetische Durchschnitt ausgewiesen. henden verschlechtert sich mit dieser Entwicklung. Um dies an dem Beispiel des Single-Haushalts zu illus- trieren: 2010 entsprachen 623 Euro an durchschnitt- licher Leistung noch ungefähr 46 Prozent des Medi- aneinkommens. 2018 ist dieser Anteil auf etwa 44,6 Prozent gesunken. In den anderen beiden Haushalts- konstellationen zeigt sich eine analoge Entwicklung: Die Armutslücke zwischen Leistungen und Armuts- schwelle wächst deutlich an. Bei den Alleinerziehen- den-Haushalten mit einem Kind führt die Entwicklung dazu, dass die Leistungen in 2010 bei durchschnitt- lichen Wohnkosten aufgrund des Alleinerziehenden- Mehrbedarfs noch annähernd armutsfest waren, in 2018 aber nicht mehr. 7
Tabelle 2: Geschätzte monatliche Einkünfte und „gerade ausreichendes Einkommen“ von SGB-II-Leistungen beziehenden Haushalten in Euro „Monatliche Einkünfte „Gerade ausreichendes Differenz (geschätzt)“ Einkommen“ Median Durchschnitt Median Durchschnitt Median Durchschnitt Single-Haushalt 800 € 847 € 1.000 € 1.045 € 200 € 198 € Alleinerziehenden- 1.394 € 1.470 € 1.500 € 1.576 € 106 € 106 € Haushalt Paar mit Kind(ern) 2.000 € 2.135 € 2.300 € 2.400 € 300 € 265 € Quelle: SOEP, eigene Auswertung Die geschätzten monatlichen Gesamteinkünfte liegen dem Niveau, der von den SGB-II-Leistungen bezie- bei einem Einpersonenhaushalt im Mittel bei etwa henden Haushalten als „gerade ausreichend“ bewertet. 800 Euro (Median). Bei Zugrundelegung des arithme- Die Einkommen sind demnach im Urteil der Haushalte tischen Durchschnitts erhöht sich die Summe auf 847 nicht ausreichend. Es zeigt sich bei allen Haushaltskon- Euro. Wie zu erwarten, liegen die geschätzten Einkünf- stellationen eine erhebliche Diskrepanz. Bei den al- te leicht oberhalb der Leistungen der Grundsicherung, lein lebenden Grundsicherungsbeziehenden liegt die da bei einem Teil der Leistungsberechtigten Erwerbs- Diskrepanz in einer Größenordnung von 200 Euro. Im einkommen hinzukommen. Bei den Alleinstehenden subjektiven Bewusstsein der Betroffenen stellt sich die macht dies einen erheblichen Unterschied, wie ergän- Armutslücke damit annähernd so hoch dar wie in der zende Analysen deutlich machen: Unter den Haus- zuvor dargelegten Analyse. Für die Paar-Haushalte mit halten mit Erwerbseinkommen steigt das geschätzte Kind(ern) liegen die Diskrepanzen zwischen geschätz- Haushaltseinkommen im Median auf 850 Euro (arith- ten und als notwendig erachteten Einkommen mit 300 metisches Mittel: 924 Euro), während bei den Haushal- Euro (Median) in der Summe noch einmal höher als bei ten ohne Erwerbseinkommen lediglich 785 Euro an- den Single-Haushalten. Wiederum sind es die Haus- gegeben werden (arithmetisches Mittel: 778 Euro). Bei halte der Alleinerziehenden bei denen die Ergebnisse den Haushalten mit Kindern ist ein direkter Abgleich etwas günstiger ausfallen – aber auch hier gibt es eine mit den typisierten Leistungen der Grundsicherung Diskrepanz von 100 Euro, die dem Alleinerziehenden- nicht möglich, da nicht nach der Anzahl und dem Alter Haushalten im Mittel fehlen, um ein gerade als ausrei- der Kinder differenziert werden konnte. chend angesehenes Einkommen zu erreichen. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang der Ab- gleich mit der Einschätzung, welches Einkommen bei den jeweiligen Haushalten als „gerade ausreichend“ bewertet wird. Von den allein im Haushalt Lebenden wird eine Summe von 1.000 Euro (Median) als gera- de ausreichend angegeben. Interessanterweise ent- spricht diese Summe bei den Einpersonenhaushalten annähernd der Armutsschwelle für diesen Haushalts- typ. Bei den Alleinerziehenden liegt der analoge Wert bei 1.500 Euro (Median) und bei den Paaren mit Kind(ern) bei 2.300 Euro (Median). Die geschätzten Haushaltseinkommen liegen allesamt deutlich unter 8
3. Hartz-IV-Leistungen reichen nicht für eine empfohlene Ernährung Einem alleinstehenden ALG-II-Beziehenden stehen Alle zwei Tage warme Mahlzeit mit Fleisch, 2020 rechnerisch 150,60 Euro pro Monat für die Er- Fisch oder Geflügel nährung zur Verfügung. Dies entspricht etwa fünf Euro pro Tag für Essen und Trinken. Wohnen zwei Erwach- Der Fragebogen des Sozio-ökonomischen Panels sene zusammen, so reduziert sich die Summe pro Per- (SOEP) des DIW beinhaltet eine Frage zu verschie- son um 10 Prozent. Kinder und Jugendliche erhalten denen Aspekten einer materiellen Unterversorgung. noch weniger, nämlich je nach Alter zwischen 87 und Als Indikator für Mangel bei der Ernährung findet sich 154 Euro. Pfeiffer (2014) argumentiert, dass es auch in die Aussage, dass „mindestens alle zwei Tage eine Deutschland Ernährungsarmut gibt und begründet warme Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel ge- dies u. a. mit den unzureichenden Regelbedarfen in gessen” wird. Die Frage richtet sich nach dem Wortlaut der Grundsicherung. auf das tatsächliche Verhalten. Ergänzt wird die Frage durch die Nachfrage, ob finanzielle Gründe für das Kann mit den Leistungen der Grundsicherung der Be- Verhalten ausschlaggebend sind. Die Antworten ha- darf für die Ernährung gedeckt werden? ben wir differenziert ausgewertet nach verschiedenen Um diese Frage zu beantworten, stellen wir hier drei Haushaltstypen (Single-Haushalte, Paare mit Kind(ern) zentrale Befunde vor: und Alleinerziehende mit Kind(ern). In einem weiteren Schritt haben wir uns auf die Teilgruppe der jeweiligen 1. eine eigene Auswertung der SOEP-Daten des DIW Haushalte fokussiert, die keiner Erwerbsarbeit nach- zu der Frage, ob Haushalte im Arbeitslosengeld-II- geht. Diese Gruppe wird besonders betrachtet, weil sie Bezug alle zwei Tage Fleisch, Fisch oder Geflügel ausschließlich mit den Regelleistungen auskommen auf dem Speiseteller haben, muss. 2. die Ergebnisse der Expertise von Preuße und Bür- Was ist das Ergebnis? Betrachten wir zunächst die kin, die im Rahmen eines von der EU-Kommission Haushalte mit Hartz-IV-Leistungen. Bei den Alleiner- geförderten Forschungsprojektes untersucht ha- ziehenden-Haushalten verneinen etwa sechs Prozent ben, wie viel Geld eine Ernährung nach den Emp- jeden zweiten Tag eine entsprechende Mahlzeit einzu- fehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernäh- nehmen. Bei den Singles und den Paaren mit Kind(ern) rung kostet, ist der Mangel spürbar ausgeprägter: Bei den Singles geben fünfzehn Prozent an, dass es nicht jeden zwei- und ten Tag eine warme Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Ge- 3. die Ergebnisse einer aktuellen Meinungsumfrage flügel gibt und bei den Paaren mit Kind(ern) sind es fast von Forsa im Auftrag des Paritätischen Gesamtver- neun Prozent. Die Aussagen der Haushalte, die nicht im bandes. Hartz-IV-Bezug leben, unterscheiden sich in dieser Hin- sicht nicht dramatisch von den Hartz-IV-Beziehenden (Single: 17 Prozent; Alleinerziehenden-Haushalte: 12 Prozent; Paar mit Kind(ern): 5 Prozent). Der grundle- gende Unterschied zeigt sich, wenn nach den Gründen gefragt wird: Bei den Haushalten mit Arbeitslosengeld II dominieren die finanziellen Gründe. Bei den anderen Haushalten ist es dagegen ein Ausdruck des Lebens- stils, eine bewusste Entscheidung weniger an Fleisch, Fisch und Geflügel zu konsumieren; finanzielle Erwä- gungen spielen hier kaum eine Rolle. 9
Entscheidend für die Frage, ob die Hartz-IV-Leistungen Kosten einer gesunden Ernährung ausreichend sind, ist die Analyse der Teilgruppe, die nach den Standards der DGE keine weiteren Erwerbseinkommen hat, und daher im Wesentlichen von den Leistungen des SGB II leben Im Rahmen eines von der EU finanzierten Pilotprojekts muss. Ergebnisse gibt es zu den Paaren mit Kind(ern) wurden in den Jahren 2014/15 in verschiedenen Ländern und den Single-Haushalten. Die Anzahl der Allein- der EU Warenkörbe für verschiedene Bedarfsarten auf- erziehenden-Haushalte reicht nicht aus, um weitere gestellt. In Deutschland haben Birgit Bürkin und Heide Differenzierungen vorzunehmen. Bei den Paaren mit Preuße in diesem Zusammenhang einen Warenkorb für Kind(ern) bestätigen nunmehr mehr als 18 Prozent den den Bedarf Ernährung ausgearbeitet (vgl. Preuße 2018). Mangel, bei den Single-Haushalten fast 17 Prozent. Dieses Verhalten geht maßgeblich auf die soziale Lage Dieser Warenkorb basiert auf Empfehlungen der Deut- zurück und ist nur zum kleinen Teil auf ein bewusstes schen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Diese Emp- Ernährungsverhalten zurückzuführen. Etwa 70 Prozent fehlungen wurden in einem methodisch reflektierten geben an, dass der Verzicht durch einen Mangel an Prozess in einen möglichen Warenkorb übersetzt, der Geld bedingt ist. Deutlich mehr als ein Zehntel dieser eine gesunde Ernährung kostenminimal ermöglicht. Haushalte gibt im Ergebnis an, dass aus finanziellen Entsprechende Warenkörbe wurden für sechs verschie- Gründen nicht an jedem zweiten Tag eine warme Mahl- dene Haushaltskonstellationen aufgestellt. Unterstellt zeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel bereitet wird (Paar wurde, dass alle Mahlzeiten selbstständig zubereitet mit Kind(ern): 11,7 Prozent; Singles – Fallzahl zu gering). und zu Hause eingenommen wurden. In der konkreten Zusammensetzung der Warenkörbe sind angesichts der Vielfalt der möglichen DGE-kom- Die Auswertung gibt einen deutlichen Hinweis da- patiblen Ernährungsweisen und -präferenzen verschie- rauf, dass Leistungsberechtigte in der Grundsicherung dene Entscheidungen unvermeidlich. Gleichwohl gibt deutlich häufiger Defizite bei der Ernährung haben. es hier eine Expertise, die erstmals seit den mittlerweile Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass historisch zu nennenden Warenkörben des Deutschen das tatsächliche Problem deutlich ausgeprägter ist, Vereins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen weil in der Abfrage nicht berücksichtigt ist, wie die kostenminimalen Warenkorb für eine offiziell empfohle- Ernährung organisiert wird. Viele einkommensarme ne Ernährung skizziert. Der ermittelte Warenkorb wurde Haushalte haben genügend zu essen, weil sie etwa die schließlich mit Preisen versehen, um die Kosten zu be- Angebote der Tafeln nutzen. Nach Angaben des Tafel- stimmen. Die Preise wurden in Berlin ermittelt – eine Bundesverbandes nutzen etwa 1,6 Mio. Menschen die deutschlandweite Preisermittlung fand nicht statt. Angebote. Der Großteil nutzt dabei die Tafeln über eine lange Zeit. Diese Menschen kompensieren un- zureichende Leistungen der Grundsicherung über die Angebote der Tafeln und decken damit einen erheb- lichen Teil ihres Ernährungsbedarfs (vgl. Hartig 2018). Die Aussage, dass es alle zwei Tage Fleisch, Fisch oder Geflügel gibt, sagt zudem nichts aus über die Qualität der Lebensmittel und die Standards ihrer Herstellung. 10
Die Expertise unterscheidet verschiedene Ausgabe- Standards der DGE ist mit Hartz IV nicht möglich. Das arten für den Bedarf Ernährung: Lebensmittel, soziale Ausmaß der Unterdeckung unterscheidet sich je nach Funktionen der Ernährung sowie Küchenausstattung. Geschlecht und Haushaltsgröße. Bei einer Frau be- Erst die Kombination der Bedarfsarten deckt nach den trägt die Differenz etwa 14 Euro pro Monat, bei einem Wertungen des Projektes vollumfänglich das Existenz- Mann beläuft sich die Unterdeckung bereits auf 45 minimum für den Bereich Ernährung. Hier sollen in Euro pro Monat. Je größer der Haushalt wird, desto einem sehr restriktiven Zugang – und aus Gründen der größer wird die Diskrepanz zwischen im Regelbedarf besseren Vergleichbarkeit mit den Ermittlungsverfah- vorgesehenen Mitteln und den für die empfohlene ren für die SGB-II-Regelbedarfe – lediglich die ermit- Ernährungsweise notwendigen Ausgaben. Bei einem telten notwendigen Ausgaben für die Lebensmittel Paar mit zwei Kindern steigt die Diskrepanz bereits auf dargestellt und mit den Anteilen für Ernährung im Re- gewaltige 123 Euro pro Monat. Bei Kindern und Ju- gelbedarf kontrastiert werden. gendlichen in Ganztagseinrichtungen mit Mittagsver- pflegung kann sich die Unterdeckung durch das über Im Ergebnis zeigt sich, dass über alle sechs Haushalts- das Bildungs- und Teilhabepaket finanzierte und be- konstellationen der Anteil im Regelbedarf für Ernäh- reitgestellte Mittagessen spürbar reduzieren – sofern rung nicht ausreicht, um den aufgestellten Warenkorb es entsprechende Angebote gibt. zu finanzieren. Eine Ernährung nach den empfohlenen Abbildung 1: Kosten für Warenkorb Lebensmittel und Regelbedarf Kosten für Warenkorb Lebensmittel und Regelbedarf 800 € Kosten für Warenkorb Lebensmittel 646 € Differenz Anteil Lebensmittel im SGB II-Regelbedarf 600 € zu DGE-Warenkorb Euro pro Monat 491 € 462 € 400 € 358 € © Der Paritätische Gesamtverband 195 € 200 € 164 € 0€ -14 € -45 € -59 € -88 € -88 € -123 € 200 - € Frau Mann Paar Frau + 2 Kinder Mann + 2 Kinder Paar + 2 Kinder Quelle: Preuße 2018 11
Kosten einer gesunden und ausgewogenen Das jüngst veröffentlichte Gutachten „Für eine nach- Ernährung haltige Ernährung. Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestal- Im Kontext der Aufklärungskampagne Hartz-Facts ten“ des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, (https://www.hartzfacts.de/), die der Paritätische Ge- Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz samtverband und sanktionsfrei.de im Juli 2020 gestar- beim Bundesministerium für Ernährung und Land- tet haben, hat der Paritätische Gesamtverband eine wirtschaft hat in seinen Analysen darauf hingewiesen, repräsentative Meinungsumfrage an forsa vergeben dass die Einkommenssituation für die Ernährungswei- (Paritätischer Gesamtverband 2020b). Hier wurden se wichtig ist. In der Analyse zeigt der Beirat, dass eine die Befragten gebeten anzugeben, wie viel Geld ein gesundheitsfördernde Ernährung teuer ist. In Bezug Erwachsener im Monat benötigt, um sich gesund und auf die Grundsicherungsleistungen kommt der Beirat ausgewogen ernähren zu können. Es wurde dabei zu folgender Schlussfolgerung: „Armut erhöht die Ge- nicht nach minimalen Kosten gefragt, sondern es wur- fahr einer nicht bedarfsgerechten Ernährung und führt den normale Standards unterstellt. Die Antworten der zu Einschränkungen im Bereich der soziokulturellen Befragten liegen daher noch einmal deutlich oberhalb Teilhabe bis hin zur sozialen Isolation. Die derzeitige der Ergebnisse von Bürkin und Preuße, die die benö- Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungs- tigten minimalen Aufwendungen zur Umsetzung der ressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche DGE-Empfehlungen analysiert haben. Im Durchschnitt Ernährung zu realisieren. Folgerichtig sind im Sinne haben die Befragten der forsa-Untersuchung eine einer den Nachhaltigkeitszielen verschriebenen Po- Summe von 300 Euro pro Monat angegeben, die ein litik die Berechnungsgrundlagen und –methoden Erwachsener bräuchte, um sich gesund und ausgewo- der Regelbedarfsermittlung zu überprüfen.“ (Wissen- gen zu ernähren. Die Diskrepanz zwischen dem, was schaftlicher Beirat 2020, S. 114f.; 214). In seinen Emp- gesellschaftlich als normal angesehen wird und dem fehlungen rät der Beirat „der Bundesregierung daher, zugestandenen Standard in der Grundsicherung ist die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung gewaltig. Die Angaben der Befragten, was gebraucht so anzupassen, dass die Grundsicherungsleistungen wird für eine gesunde und ausgewogene Ernährung, eine gesundheitsfördernde Ernährung ermöglichen“ liegen fast doppelt so hoch wie der entsprechende Re- (S. 666). gelbedarf für Ernährung im Regelsatz. Die Antworten unterscheiden sich zwar nach den jeweiligen persönlichen Hintergründen und Erfah- rungen – so geben etwa ältere Menschen deutlich höhere Ausgaben an als junge Erwachsene. Auch die eigene Einkommenssituation ist für die Antworten re- levant: Je mehr Geld die Haushalte zur Verfügung ha- ben, desto höhere Ausgaben für die Ernährung halten sie für notwendig für eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Aber gleichwohl gilt: Alle Altersgruppe und alle Einkommensklassen geben deutlich höhere benö- tigte Ausgaben an als für Grundsicherungsbeziehende vorgesehen sind. Lediglich ein Drittel der Befragten (31 Prozent) hält eine Summe von unter 250 Euro für aus- reichend. Es kann damit geschlossen werden: Hartz IV reicht nach den Einschätzungen der Bevölkerung nicht für eine ausgewogene und gesunde Ernährung aus. 12
4. Materielle Entbehrungen: Was fehlt Hartz-IV-Beziehenden? Mit dem Konzept der „materiellen Entbehrung“ oder In der europäischen Statistik werden einzelne Indika- „materiellen Deprivation“ wird ein Ansatz bezeich- toren zu einem Index zusammengefasst, die es erlau- net, mit dem die Versorgungslage von Haushalten ben sollen “materielle Entbehrung” und “erhebliche mit Gütern und Leistungen abgebildet werden. Statt materiellen Entbehrung” zu erkennen. Fokussiert wer- die Einkommen eines Haushalts und die damit mög- den damit die Haushalte, die mehrere Defizite auf- lichen Ausgaben zu analysieren, wird hier gefragt, ob weisen. Ein derartiges Vorgehen der Aggregation von bestimmte Güter oder Leistungen im Haushalt verfüg- Mangellagen hat sicherlich seine Berechtigung, um bar sind. Ein derartiger Ansatz wird beispielsweise in Komplexität zu reduzieren und ländervergleichende der EU-Statistik oder aber auch beim IAB verfolgt (vgl. Aussagen zu erleichtern. Gleichwohl ist diese Methode insbesondere Christoph 2008; Beste u. a. 2014 sowie auch kritisch zu bewerten: Zum einen werden Sachver- Müller u. a. 2017). halte, die für die Betroffenen unterschiedlich relevant sind, umstandslos gleich gewichtet. Wichtiger scheint Im Folgenden berichten wir eigene Auswertungen aber, dass durch dieses Vorgehen von der konkreten der jüngsten verfügbaren Daten des SOEP. Mit der Fra- Mangellage abstrahiert wird. Aus einer anschaulichen ge 67 des Haushaltsbogens werden zwölf Güter und und allgemein nachvollziehbaren Antwort - etwa: „wir Leistungen aufgeführt, deren Fehlen als Indikatoren können uns keinen Urlaub leisten“ – wird ein abstrak- für eine materielle Entbehrung zu verstehen sind. Die ter Index der materiellen Entbehrung, der keine kon- übergeordnete Frage lautet: „Welche der folgende krete Vorstellung mehr erlaubt. Aus diesen Gründen Punkte treffen für Ihren Haushalt zu?“ Für diejenigen, wird hier auf eine Aggregation der einzelnen Elemente die das jeweilige Gut nicht in / für ihren Haushalt ver- verzichtet und die einzelnen Antworten für sich bzw. in fügbar haben, wird in einem zweiten Schritt gefragt, sachgerechten Gruppen zusammengeführt diskutiert. was dafür der Grund ist. Mit dieser Nachfrage wird aus- geschlossen, dass mit der Frage nicht Mangel, sondern Die vorgenommenen statistischen Auswertungen be- lediglich unterschiedliche individuelle Präferenzen ab- inhalten eine weitere Differenzierung in Bezug auf die gebildet werden. So ist beispielsweise die – bereits dis- Haushaltskonstellationen. So werden die Aussagen kutierte – Frage nach „Alle zwei Tage wird eine warme von Single-Haushalten, Alleinerziehenden-Haushalten Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel gegessen“ für sowie Paaren mit Kind(ern) unterschieden. Auf diese eine/n Vegetarier*in ohne Aussagekraft in Bezug auf Art und Weise lässt sich auf die spezielle Betroffenheit eine mögliche materielle Entbehrung, da der Verzicht von Familien abbilden. anders motiviert ist. Der hier entscheidende Indikator ist daher die Abwesenheit eines Gutes aus finanziellen Gründen. Im SOEP werden insgesamt 12 Güter abgefragt. Auf die Frage „nach der warmen Mahlzeit“ ist bereits ein- gegangen worden. Aus der weiteren Darstellung aus- genommen wird zudem die Frage, ob zwei Paar Stra- ßenschuhe vorhanden sind. Hier gibt es lediglich sehr wenige Haushalte, die hier einen Mangel angeben. Es verbleiben damit 10 Fragen, die hier in zwei Gruppen sortiert werden sollen: (1) finanzielle Lage und (Ersatz von) Ausstattung sowie (2) soziale Teilhabe. Die einzel- nen Aspekte werden in der Auswertung vorgestellt. 13
Materielle Entbehrung I: zent der SGB-II-Haushalte geben an, nicht über finan- Reduzierte finanzielle Handlungsfähigkeit zielle Rücklagen zu verfügen. Die unterschiedlichen Haushaltskonstellationen spielen bei dieser Frage Bereits im ersten Kapitel wurde ausgeführt, dass die keine nennenswerte Rolle: Alleinlebende Grundsi- Hartz-IV-Haushalte in äußerst prekären finanziellen La- cherungsbeziehende haben ebenso selten Rücklagen gen zumeist unterhalb der Armutsschwelle leben. Für wie Familien in SGB-II-Bezug. Im Gegensatz dazu sind die Haushalte im Grundsicherungsbezug ist es daher Notfallrücklagen bei den Haushalten, die keine SGB- eher normal, dass sie Schulden haben statt finanzieller II-Leistungen beziehen, eher die Normalität: 60 bis 80 Rücklagen (vgl. u. a. Beste u. a. 2014; Pfeiffer u. a. 2016). Prozent dieser Haushalte verfügen über eine finanzielle Dies spiegelt sich auch in verschiedenen Aspekten der Reserve. Auffällig ist hier allerdings der Unterschied materiellen Unterversorgung wider, die die finanzielle zwischen den verschiedenen Familientypen: Während Handlungsfähigkeit der SGB-II-beziehenden Haushalte etwa 17 Prozent der Paare mit Kind(ern) angeben aus abbilden. finanziellen Gründen keine Rücklage für einen Notfall zu haben, liegt der entsprechende Anteil bei den Al- Am deutlichsten zeigt sich die finanzielle Knappheit leinerziehenden mit etwas über 35 Prozent doppelt so an dem Fehlen einer Notfallrücklage. Etwa 80 Pro- hoch. Abbildung 2: Materielle Entbehrung I: Finanzielle Handlungsfähigkeit Materielle Entbehrung I: Finanzielle Handlungsfähigkeit Notfallrücklag Ersetzen alter Ersetzen alter kleiner Betrag Wohnung Paar mit Kind(ern) 5,6 % beheizt Alleinerziehend 3,9 % 7,8 % Single 3,8 % für sich Paar mit Kind(ern) 30,6 % Alleinerziehend 8,7 % 23,5 % Single 4,2 % 26,4 % Kleidung Paar mit Kind(ern) 3,1 % 17,0 % Alleinerziehend 7,4 % 21,7 % Single 7,0 % 37,3 % Paar mit Kind(ern) 14,4 % Möbel 56,0 % Alleinerziehend 34,3 % 65,8 Single 21,9 & 73,5 % Paar mit Kind(ern) 17,3 % 77,1 % en Alleinerziehend 35,8 % 78,0 % Single 26,7 % 80,8 % 0% 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % kein SGB II Bezug SGB II Bezug © Der Paritätische Gesamtverband 14
Die Möglichkeit, alte Einrichtungsgegenstände und den Haushalten oberhalb der Grundsicherung können Kleider zu ersetzen, fällt Haushalten im Grundsi- Wohnungen fast durchgängig beheizt werden. cherungsbezug ebenfalls deutlich schwerer als ande- ren Haushalten. Nachvollziehbar ist, dass die Probleme Die äußerst prekäre finanzielle Lage der Hartz-IV-Haus- umso größer ausfallen, je kostspieliger die Gegenstän- halte spiegelt sich deutlich in diesen Angaben: Finan- de sind. Der Ersatz von Möbeln fällt deutlich schwerer zielle Rücklagen sind in der Regel nicht vorhanden. als der Ersatz alter Kleidung. Zwischen 70 und 87 Pro- Demzufolge führt etwa die Notwendigkeit alte Möbel zent der Haushalte im Grundsicherungsbezug geben oder Kleidung zu ersetzen, regelmäßig bereits zu Pro- an, alte Möbel, wenn sie noch funktionsfähig sind, nicht blemen. Der im Gesetz für diese Fälle vorgesehene Ver- durch neue Möbel zu ersetzen. Bei 80 Prozent dieser weis auf ein mögliches Darlehen hilft den betroffenen Haushalte ist diese Entscheidung finanziell begründet. Personen nicht weiter, da diese Darlehen im Anschluss Im Ergebnis ersetzen Single-Haushalte zu fast 75 Pro- in Form von reduzierten Leistungsansprüchen zurück- zent alte nicht durch neue Möbel. Bei den Alleinerzie- gezahlt werden müssen. Das Problem wird damit nicht henden-Haushalten beträgt der Anteil 65 Prozent und gelöst, sondern lediglich zeitlich gestreckt. Bei mehr bei den Paarhaushalten mit Kind(ern) 56 Prozent. Im als jedem vierten Haushalt im Hartz-IV-Bezug stehen Gegensatz dazu steht die Situation bei den Haushalten nicht einmal geringe Beträge zur persönlichen Verfü- ohne SGB-II-Bezug. Hier ist das Ersetzen alter Möbel gung. Auffällig ist, dass bei den Alleinerziehenden die wiederum die Normalität. Sofern die Frage nach dem Entbehrungen auch oberhalb der Hartz-IV-Schwelle Ersetzen verneint wird, spielen bei den Haushalten weiter verbreitet sind als bei anderen Haushaltskon- oberhalb der Grundsicherungsschwelle andere Motive stellationen. als zu wenig Geld die entscheidende Rolle. Schwieriger ist die Situation wiederum bei den Alleinerziehenden: Hier wird von jedem zweiten Alleinerziehenden-Haus- halt zu wenig Geld als Grund angegeben. Im Ergebnis Materielle Entbehrung II: sagen 15 Prozent der Paare mit Kind(ern), dass sie sich soziale Teilhabe aus finanziellen Gründen keine neuen Möbel kaufen, etwas mehr als 20 Prozent der Singles und ein Drittel Seinen deutlichsten Ausdruck findet die prekäre Lage aller Alleinerziehenden-Haushalte. der Leistungsberechtigten bei den Aspekten der mate- riellen Entbehrung, die der sozialen Teilhabe zugeord- Auf einen „kleinen Betrag für sich“ müssen zwischen 23 net werden können. Hier zeigen sich im Vergleich zu und 30 Prozent der Haushalte im SGB II verzichten, wo- den Personen, die nicht auf Hartz-IV-Leistungen ange- hingegen die entsprechende Antwort bei den Nicht- wiesen sind, massive Unterschiede. Unter dem Strich Leistungsbeziehenden unter 10 Prozent liegt. Das zeigt sich: Mit den Leistungen des SGB II ist soziale Teil- generelle Muster bestätigt sich auch bei dieser Frage: habe nicht finanzierbar. Leistungsberechtigte müssen sich deutlich stärker be- scheiden. Ebenfalls in das bereits beschriebene Muster Einmal im Jahr für eine Woche in Urlaub zu fahren, ist passt, dass die Diskrepanz bei den Alleinerziehenden- kein Luxus. Für Menschen im SGB-II-Bezug ist bereits Haushalten am geringsten ausfällt. Bei den Alleiner- institutionell die Abwesenheit von der Heimatadresse ziehenden sind auch die Nicht-Leistungsberechtigten auf drei Wochen im Jahr beschränkt - bei darüber hi- häufig mit Entbehrungen konfrontiert. naus reichender, nicht bewilligter Abwesenheit entfällt der Leistungsanspruch. Ein Urlaub ist damit in einge- Die Wohnung beheizen zu können, scheint insgesamt schränkten Umfang theoretisch möglich. Faktisch gilt ein begrenztes Problem zu sein. Trotzdem bestätigen aber, dass auch ein bescheidener Urlaub für die über- etwa 5 Prozent der Paar-Haushalte mit Kind(ern) sowie wältigende Mehrheit nicht zu finanzieren ist. Etwa vier über 7 Prozent der Alleinerziehenden-Haushalte bei von fünf Haushalte im Grundsicherungsbezug machen der Frage einen Mangel aus finanziellen Gründen. Bei nicht eine einwöchige Reise im Jahr. Bei den Alleiner- 15
ziehenden sind es sogar fast 90 Prozent. In jeweils 90 was mehr als zwanzig Prozent, dass sie aus finanziellen Prozent der Fälle werden hierfür finanzielle Gründe Gründen keine einwöchige Reise unternehmen und angegeben. Über die Qualität der Urlaubsreise wird bei den Paaren mit Kind(ern) sind es etwa 15 Prozent. dabei keinerlei Aussage gemacht. Eine einwöchige Ur- Bei den Alleinerziehenden stellt sich die Lage wiede- laubsreise kann bspw. auch den verlängerten Besuch rum schwieriger dar: Hier geben 37 Prozent an, aus fi- eines Familienfestes bedeuten, bei denen Verwandte nanziellen Gründen nicht in dem abgefragten Umfang Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. zu verreisen. Dieser Anteil ist wiederum deutlich höher Im Gegensatz dazu ist Urlaub bei der Gegengruppe die als bei den anderen Haushalten. weit überwiegende Realität. Bei den Singles sagen et- Abbildung 3: Materielle Entbehrung II: Soziale Teilhabe Materielle Entbehrung II: Soziale Teilhabe Paar mit Kind(ern) 6,4 % 39,6 % Einladung Freunde Alleinerziehend 17,9 % 51,0 % Single 11,1 % 49,0 % Paar mit Kind(ern) 7,2 % Freizeit 45,9 % Alleinerziehend 18,0 % 55,4 % Single 9,1 % 58,4 % Paar mit Kind(ern) 15,2 % Urlaub 69,3 % Alleinerziehend 37,0 % 85,7 % Single 22,0 % 78,0 % Internet Paar mit Kind(ern) Alleinerziehend Single 2,7 % 26,3 % Paar mit Kind(ern) 2,3 % 32,2 % Auto Alleinerziehend 11,7 % 51,3 % Single 15,4 % 63,3 % 0% 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % kein SGB II Bezug SGB II Bezug © Der Paritätische Gesamtverband 16
Inwieweit die Mobilität gewährleistet ist, ist im SOEP Autos gehören demnach aktuell zur üblichen Ausstat- über den Besitz eines PKWs thematisiert. Unabhängig tung eines Haushaltes. Autos sind insbesondere im von der Bewertung von individualisiertem Autover- ländlichen Raum z. T. unentbehrliche Voraussetzung kehr aus ökologischer Perspektive ist zunächst einmal für die Erwerbstätigkeit und die Organisation des so- schlicht festzustellen, dass der Besitz eines PKWs den zialen Lebens vom Einkauf bis hin zu Behörden- und gesellschaftlichen Normalfall darstellt. Schauen wir Arztbesuchen. In dem Maße, in dem es an praktikablen diesbezüglich zuerst auf die Haushalte oberhalb der und preiswerten Alternativen zum individuellen Au- Hartz-IV-Schwelle, so zeigt sich: 95 Prozent der Paare toverkehr fehlt, sind Grundsicherungsbeziehende in mit Kind(ern) haben ein PKW. Bei den Alleinerziehen- einem erheblichen Umfang bei der Mobilität einge- den liegt der Anteil bei 80 Prozent und auch bei den schränkt und insbesondere im ländlichen Raum vom Singles verfügen mit 64 Prozent noch zwei von drei sozialen Leben partiell ausgeschlossen. Haushalten über ein Auto. Nur ein geringer Anteil der Haushalte oberhalb der Hartz-IV-Schwelle muss nach Zu der sozialen Teilhabe in einem engeren Sinne ge- eigenen Ausgaben aus finanziellen Gründen auf einen hören die Möglichkeiten einmal auszugehen oder PKW verzichten (Paar mit Kind(ern): 2 Prozent, Alleiner- sich mit Freunden zu verabreden. Diese Pflege von ziehende: 11 Prozent und Singles: 15 Prozent). sozialen Beziehungen wird im SOEP durch die beiden Punkte „Freunde einmal im Monat zum Essen einla- Bei den Haushalten im SGB-II-Bezug zeigt sich dage- den“ und „einmal im Monat ins Kino, Theater, Sport- gen ein anderes Bild. Grundsätzlich schließt Hartz-IV- veranstaltung oder ähnliches“ gehen zu können, ab- Bezug den Besitz eines „angemessenen“ Autos nicht gebildet. Wieder zeigt sich das mittlerweile vertraute aus. Sofern aber ein Auto einen Verkaufswert von Bild: Haushalte im Grundsicherungsbezug geben sehr 7.500 Euro überschreitet, gilt es als anzurechnendes viel häufiger an, dass sie es sich nicht leisten können, Vermögen. Sofern weiteres Vermögen vorhanden diesen sozialen Aktivitäten nachzugehen. Zwischen ist, ist der PKW zunächst zu verwerten, bevor über- vierzig und sechzig Prozent bei den verschiedenen haupt Ansprüche gegenüber dem Jobcenter geltend Haushaltskonstellationen bestätigen diese Einschrän- gemacht werden können. Es ist daher bereits aus in- kung – wobei die Anteile beim Ausgehen etwas hö- stitutionellen Gründen davon auszugehen, dass die her ausfallen als bei den Einladungen an Freunde. Autos von Grundsicherungsberechtigten generell Bemerkenswert ist, dass unter den Haushalten Paare nicht hochwertig sind. Der Besitz von Autos ist aber mit Kind(ern) am ehesten aktiv sein können. Allein- auch unter Grundsicherungsbeziehenden anzutref- erziehende und Singles – bei denen das Bedürfnis fen. Diese Aussage gilt insbesondere bei Haushalten nach Austausch und sozialen Kontakten mutmaßlich mit Kind(ern). Unter den Paaren mit Kind(ern) besitzt noch stärker ausgeprägt sein sollte als bei Paaren mit mit etwa 58 Prozent sogar die Mehrheit der Haushalte Kind(ern) - können sich demgegenüber die genann- ein PKW. Bei den Alleinerziehenden-Haushalten redu- ten Aktivitäten deutlich seltener leisten. Die Gefahr ziert sich der Anteil auf ein Drittel. Deutlich seltener von Einsamkeit und sozialer Isolierung ist bei Singles besitzen Single-Haushalte einen PKW. Hier verfügt am ausgeprägtesten. Im Gegenzug dazu sagen weni- gerade mal noch ein Fünftel der Gruppe über ein ger als 10 Prozent der Haushalte ohne Hartz-IV-Bezug, Auto. Von denjenigen Haushalten, die nicht über ein dass diese Aktivitäten aus finanziellen Gründen nicht Auto verfügen, benennen jeweils drei Viertel finanzi- möglich sind. Wie schon bei anderen Bereichen, sind elle Gründe als ausschlaggebend. Insofern sind es bei es auch hier wieder die Alleinerziehenden, die deut- den Single-Haushalten fast zwei von drei Haushalte, lich stärker finanziell bedingte Defizite bei diesen Ak- die aus finanziellen Gründen kein Auto besitzen, bei tivitäten angeben. Mit 18 Prozent gibt fast ein Fünftel den Paar-Haushalten mit Kind(ern) liegt der Anteil bei der Alleinerziehenden auch jenseits des Hartz-IV-Be- einem Drittel und bei den Alleinerziehenden bei der zugs an, aus finanziellen Gründen keine Freunde ein- Hälfte der entsprechenden Gruppe. zuladen oder auszugehen. 17
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