Ff PER SPEK TIVE - Zeitenwende im Kopf - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
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⁄ PER SPEK TIVE Zeiten- wende im Kopf Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes Simon Weiss Christos Katsioulis 27. Februar 2023
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Über die Autor:Innen Alexandra Dienes ist wissen- Simon Weiss ist wissenschaft- Christos Katsioulis leitet das schaftliche Mitarbeiterin im FES licher Mitarbeiter im FES Re- FES Regionalbüro für Interna- Regionalbüro für Internationale gionalbüro für Internationale tionale Zusammenarbeit in Wien. Zusammenarbeit in Wien. In ihrer Zusammenarbeit in Wien. Von Zuvor gründete und leitete er das Arbeit konzentriert sie sich auf 2011-2015 lehrte er Interna- Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung die Bereiche politische Ökono- tionale Beziehungen und Rus- in Athen. Danach stand er dem mie und russische und postsow- sische Außenpolitik und war EU-Büro der Friedrich-Ebert- jetische Außenpolitik. Zuvor lehr- wissenschaftlicher Mitarbeiter Stiftung in Brüssel sowie dem te sie internationale Beziehungen am Institut für Politikwissen- Londoner Büro der FES vor. In und politische Ökonomie an schaft der Universität Heidelberg. deutschen und internationalen der Universität Amsterdam, von Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung Medien kommentiert er immer deren politikwissenschaftlicher beschäftigt er sich schwerpunkt- wieder europäische Themen. Zu- Abteilung sie ein Forschungssti- mäßig mit sicherheits- und ver- dem verfasst er in regelmäßigen pendium erhielt. Zuvor war sie teidigungspolitischen Aspekten Abständen Beiträge für die Zeit- für das Europäische Parlament in sowie mit Fragen der Rüstungs- schrift Internationale Politik und Brüssel tätig. kontrolle in Europa. Gesellschaft. Methodische Details Security Radar 2022 Security Radar 2023 Repräsentative Meinungsumfrage in 14 Ländern: Repräsentative Meinungsumfrage in 4 Ländern: Armenien, Deutschland, Frankreich, Italien, Lettland, Frankreich, Deutschland, Lettland und Polen Norwegen, Österreich, Polen, Russland, Serbien, Türkei, Ukraine, Vereinigtes Königreich und die Was? Vereinigten Staaten 27.500 Teilnehmende in 14 Ländern befragt 8.063 Teilnehmende in 4 Ländern befragt Repräsentative Stichproben in jedem Land Repräsentative Stichproben in jedem Land Wo? September-Oktober 2021 Oktober 2022 Wann? CATI (Computergestützte telefonische Befragung) CAWI (Computergestütztes Web-Interviewing) in Armenien durchgeführt von Ipsos im Aufrag der FES CAWI (Computergestütztes Web-Interviewing) in den 13 anderen Ländern Wie? durchgeführt von Ipsos im Aufrag der FES 2
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Einleitung Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa mit welche Wahrnehmungen haben sich verändert, wel- einer politischen Herausforderung konfrontiert, für che sind stabil geblieben? In einer Demokratie sind die es keine Blaupausen gibt, so Bundeskanzler Olaf diese Fragen zentral für die Nachhaltigkeit von poli- Scholz bei der Münchner Sicherheitskonferenz im tischen Entscheidungen, die inmitten fundamentaler Februar 2023. Seit mehr als einem Jahr führt eine Veränderungen des internationalen Umfeldes ge- Nuklearmacht Krieg auf dem europäischen Konti- troffen werden. Denn die öffentliche Meinung und nent und attackiert dabei nicht nur einen souveränen die Dynamik ihrer Veränderung im Laufe des Krieges Nachbarstaat, sondern auch eine Reihe grundlegen- signalisieren den Raum des politisch Möglichen und der Prinzipien der internationalen Ordnung. Akzeptablen und geben damit einen Rahmen für die weitere Entwicklung der Zeitenwende. Sie ist somit Seit Beginn dieses Krieges befindet sich Deutschland ein zentraler Pfeiler der öffentlichen Debatte um die in einem Prozess der Veränderung. Am Tag des An- Ausgestaltung dieser politischen Jahrhundertaufga- griffs befand sich die neu gewählte und SPD-geführte be. Regierung erst wenige Monate im Amt. Dennoch war sie durch den Angriff gezwungen, radikal neue Wege Die vorliegende Analyse basiert auf zwei Erhebungen zu beschreiten und tiefgreifende Entscheidungen zu der öffentlichen Meinung, Security Radar 2022 und treffen. Viele dieser Entscheidungen waren nicht nur Security Radar 2023, die wir in mehreren europäi- umstritten, sondern verhielten sich diametral zu den schen Ländern, darunter auch Deutschland, durchge- bislang eingeübten Pfaden deutscher Außen- und führt haben. Die Erhebungszeitpunkte waren jeweils Sicherheitspolitik. Dazu gehörten auch Tabubrüche, im Herbst der Jahre 2021 und 2022, also wenige Mo- wie die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet. All nate vor der russischen Invasion und einige Monate dies wurde erschwert durch den Umstand, dass zum danach. Daher werden wir bei der Beschreibung der ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte Datenlage in Deutschland auch punktuell europäi- eine Regierung aus drei Parteien geformt werden sche Vergleichszahlen einbringen, um die vorliegen- musste: SPD, Grüne und FDP. den Zahlen zu kontextualisieren. Die Rede von Olaf Scholz zur Zeitenwende am 27. Die Daten zeigen insgesamt grundlegende Verände- Februar 2022 markiert den Beginn einer umfassen- rungen der Wahrnehmung Russlands, der Einstellung den Transformation. Deutschland hat sich dadurch zu Verteidigungsausgaben und zu Waffenlieferungen. bereits verändert und dieser Prozess ist noch nicht Gleichzeitig stellen wir aber fest, dass die deutsche beendet. Die Russlandpolitik wurde radikal verän- Kultur der Zurückhaltung bemerkenswert stabil ist dert, die Abhängigkeit von russischer Energie massiv und daher bei einigen Fragen Kontinuität beobach- reduziert und die bis dahin vorherrschende Zurück- tet werden kann. Der Blick aufs Gesamtbild verdeckt haltung in vielen Fragen rund um militärische Gewalt dabei zuweilen interessante Differenzen zwischen und Waffen Schritt für Schritt abgelegt. Konkret be- unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Wenn deutete dies, dass die deutschen Lieferungen an die diese in den Blick genommen werden, zeigen sich Ukraine, die mit 5000 Helmen begannen, nun beim spannende Bruchstellen entlang von Parteipräferen- Leopard 2 Panzer angekommen sind. Berlin wur- zen oder Alter, sowie auch zwischen Ost- und West- de im Zuge dieses Prozesses häufig als zögerlicher deutschland. Zusammengefast kann gesagt werden: Bremser kritisiert, hat sich aber inzwischen zu einer die Zeitenwende hat in der Tat begonnen, es bleibt der wichtigsten auch militärischen Unterstützerna- aber unklar, wo sie hinführt. tionen der Ukraine gewandelt. Die deutsche Öffentlichkeit ist ebenfalls vom Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen politi- schen Entscheidungen betroffen. Wie hat sich die öffentliche Meinung in der Zeitenwende gewandelt, 3
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Aspekte von Zeitenwende: neue Ängste und Sorgen Ängste und Unsicherheiten sind infolge des Krieges hen neue Wirtschaftskrisen auf sich zukommen und in Deutschland spürbar gestiegen. Kriege und Kon- sehen ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Zukunft flikte sind neu im Zentrum der Sorgen der Menschen, eher düster. sogar neue Kriege in Europa werden neuerdings für wahrscheinlich gehalten. Ganz grundsätzlich hat sich Der pessimistische Zukunftsblick ist ein zentraler das Niveau von Sorgen und Bedrohungen erhöht. Zu Aspekt der Zeitenwende und unterstreicht die fun- der Angst vor neuen Kriegen gesellen sich ökonomi- damentalen Veränderungen europäischer Sicher- sche Ängste vor allem verbunden mit Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten. Die Befragten se- heit, die weiterhin im Gang sind. Abbildung 1: Ängste und Sorgen »Inwiefern machen Sie sich über folgende Ereignisse Sorgen?« Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". Alle Angaben in %. Coronavirus Pandemie Inflation und die steigenden Klimawandel Lebenshaltungskosten* 2022 2021 91 48 74 Cyberangriffe Kriege und 86 Konflikte 58 Deutschland Rückgang des 58 Uneingeschränkte 71 gesellschaftlichen Migration Zusammenhalts 64 60 83 Internationaler Wirtschaftskrisen Terrorismus Uneinigkeit und Konflikte in der EU *Dieses Item wurde in 2022 aufgenommen und bietet keine Vergleichsdaten. 4
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Verteidigungsausgaben Abbildung 2: Verteidigungsausgaben »Deutschland soll die Eine der sichtbarsten politischen Maßnahmen der Militärausgaben erhöhen.« Zeitenwende war das Sondervermögen für die Bun- Alle Angaben in %. deswehr und die Ankündigung eines steigenden Ver- 68 teidigungsetats, um zumindest das NATO-Ziel von 64 2% des BIP pro Jahr zu erreichen. Das ist faktisch 2022 der größte Anstieg des Haushalts des BMVg in der 53 52 ø 54 '22 Geschichte der Bundesrepublik seit der Wiederbe- 48 52 46 45 waffnung. Jahrelang gab es einen breiten gesell- 42 43 40 40 schaftlichen und politischen Konsens darüber, dass 2021 37 ø '21 bei Verteidigungsausgaben Zurückhaltung ange- 31 38 29 bracht ist. Noch im Herbst 2021 zeigte unsere Um- 26 frage, dass lediglich eine knappe Mehrheit der der CDU nahestehenden Befragten für eine Steigerung dieser Ausgaben plädierten. Dieser tief eingeprägte gesellschaftliche Konsens passte zur Politik mehre- rer Bundesregierungen, die das selbst gesteckte Ziel SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD West Ost der NATO von 2% des BIP für Verteidigung regelmä- CSU ßig verfehlten. Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". Sieben Monate nach dem Beginn des russischen hängerInnen, gefolgt von denen der Grünen und der Krieges hat sich diese Haltung fundamental verän- FDP. Die Befragten mit CDU-Nähe zeigen mit 68% dert. Eine Mehrheit der Befragten befürwortet höhere weiterhin den stärksten Zuspruch zu erhöhten Ver- Verteidigungsausgaben. Ein genauerer Blick auf die teidigungsausgaben. Ein deutliches Gefälle ist auch Parteipräferenz zeigt, dass die Steigerung bei allen zwischen dem Zuspruch in den alten und neuen Bun- zu beobachten ist, am stärksten jedoch bei SPD-An- desländern sichtbar. Die erhöhten Ängste und Sorgen führen zu einer aktuell erhöhten Bereitschaft für höhere Verteidigungs- ausgaben. Allerdings kann sich die Rechtfertigungsgrundlage für diese Ausgaben verändern, wenn die Energiepreise und die Inflationsraten dauerhaft hoch bleiben, Reallöhne sinken und eine Rezession eintritt. Kurzfristig konnten diese negativen Effekte durch gut ausgestattete Rettungspakete („Doppelwumms“) abgefedert werden. Langfristig gesehen wird es jedoch fraglich sein, ob die deutschen BürgerInnen bereit sein werden, vor dem Hintergrund von tiefsitzenden wirtschaftlichen Sorgen den hohen Preis der Zeiten- wende zu bezahlen. Sobald spürbar negative Effekte auf den eigenen Lebensstandard eintreten, dürfte sich die öffentliche Meinung wieder verändern. Für die zukünftige Gestaltung der Zeitenwende wird es daher wichtig sein, die bestehenden Bedrohungen in ihrer Bedeutung einzuordnen, dies entsprechend öffentlich zu kommunizieren und eine kluge Balance zwischen den Ausgaben für Verteidigung und Soziales zu finden, ohne beides gegeneinander auszuspielen. Waffenlieferungen und die Unterstützung der Ukraine Mit der Zeitenwende wurde ein Tabu der deutschen land im Herbst 2021 Truppen rund um die Ukraine Politik gebrochen – die Lieferung von Waffen in aufmarschieren ließ, hatten andere Verbündete be- Kriegsgebiete. Dies war noch vor Ausbruch des Krie- reits mit der Lieferung von Waffen an Kiew begon- ges ein undenkbares Handeln und wurde damals nen. Doch vor dem Hintergrund der Schwere und vehement von der neu gewählten Außenministerin Brutalität des unprovozierten Angriff Russlands auf Annalena Baerbock abgelehnt. Denn während Russ- seinen Nachbarn änderte sich diese Haltung binnen 5
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Wochen. Deutschland begann schrittweise Waffen- politischen Lagern, mit Ausnahme der AfD-nahen systeme an die Ukraine zu liefern, bis hin zur Zusage BürgerInnen, ist ein klarer Anstieg erkennbar. Vor- der Leopard Panzer im Januar 2023. reiter sind dabei die AnhängerInnen der Grünen mit einer knappen Verdopplung ihrer Zustimmung von 32 Dennoch bleibt die Frage von Waffenlieferungen auf 62%. Der Blick über die Grenzen hinweg zeigt die umstritten und spaltet die deutsche Gesellschaft Unterschiede: In Polen und Lettland gibt es nun sta- – etwa 45% sind dafür, 43% dagegen. Diese Zahlen bile Mehrheiten für den Beitritt der Ukraine zur Union. haben sich im Laufe des Krieges laut anderen Um- Abbildung 3: Waffenlieferungen fragen leicht verändert, die Grundtendenz einer po- larisierten Gesellschaft ist aber konstant. Aufgrund »Deutschland soll mehr Waffen an das der Undenkbarkeit dieser Politik wurde diese Frage ukrainische Militär liefern.« im Vorfeld des Krieges nicht in unsere Befragung in- Alle Angaben in %. tegriert, doch es ist plausibel anzunehmen, dass es vor dem Angriff keine substantielle Befürwortung in Deutschland für Waffenlieferungen gegeben hätte. 45 43 Interessanterweise sind die Befragten, die der SPD Ja Nein nahestehen, mit 62% im Herbst 2022 die stärksten BefürworterInnen von Waffenlieferungen. Dahinter Antworten "stimme Antworten "stimme rangieren die AnhängerInnen der Grünen (60%). Die voll und ganz zu" sowie überhaupt nicht zu" sowie der CDU (53%) und FDP (43%) Nahestehenden sind “stimme eher zu". "stimme eher nicht zu" weniger eindeutig in ihrer Befürwortung. Die Unterstützung der deutschen Bundesregierung für die Ukraine ist im Februar 2023 unverbrüchlich. 62 60 Das umfasst Waffensysteme ebenso wie finanziel- 53 le Zusagen. Allerdings muss jede weitere Lieferung ø 46 von deutschen Waffen in den Krieg, vor allem wenn 43 '22 45 39 es sich um herausgehobene Systeme wie Kampfjets 33 oder Langstreckenwaffen handelt, sorgfältig erläutert werden, da eine Steigerung des öffentlichen Wider- 11 standes abzusehen ist. Ein weiterer Bruch mit der Politik der Vergangenheit ist die EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Ein sol- SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD West Ost CSU cher Schritt war vor dem Krieg nachgerade undenk- Abweichungen von 100% ergeben sich aus: bar, zumindest in der absehbaren Zukunft. Dies war "weiß nicht" und "keine Antwort". auch die Perspektive der deutschen Bevölkerung, wie unsere Umfrage 2021 zeigt: lediglich 26% unterstütz- Im Hinblick auf die NATO ist kein vergleichbarer Trend ten das. Ähnlich war die Perspektive anderer euro- in Deutschland erkennbar. Zwar hat die Zustimmung päischer Staaten. Von den 13 untersuchten euro- zu einem Beitritt der Ukraine hier ebenfalls zugenom- päischen Ländern befürwortete nur ein einziges den men, allerdings nur von 25 auf 36%. Gleichzeitig ist ukrainischen EU-Beitritt: die Ukraine selbst. Selbst in aber auch die Ablehnung von 38 auf 46% gestiegen. Polen oder Lettland überstieg die Zustimmung dafür Diese auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung ist damals nicht die 45%. erklärbar durch einen signifikanten Rückgang der Be- fragten, die 2021 mit „Weiß nicht“ geantwortet hatten. Ein Jahr später sieht das deutlich anders aus. In Deren Zahl ist von 32 auf 16% gesunken – nachvoll- Deutschland gibt es zwar weiterhin keine Mehrheit ziehbarerweise haben sich mehr Menschen im Laufe für den EU-Beitritt der Ukraine, aber die Zustimmung des Krieges eine Meinung zur Ukraine gebildet. Die dafür hat sich beinahe verdoppelt und liegt nun bei stärksten BefürworterInnen für den ukrainischen 44%, während 40% weiterhin dagegen sind. In allen NATO-Beitritt finden sich bei den AnhängerInnen der 6
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis SPD, mit 48% (2021 waren es noch 29%). Aber auch der Frage fest, ob die EU-Osterweiterung eine mög- hier zeigt der Blick über die Landesgrenzen deutli- liche Gefahr für die europäische Sicherheit darstellt. che Unterschiede zu Osteuropa, wo die Zustimmung Diese Einstellungen sind ein limitierender Faktor zur Ukraine in der NATO etwa 20% höher ist als in Deutschland. für einen möglichen Beitritt der Ukraine zu EU und NATO und machen deutlich, dass die deutsche Un- Die Aufnahme der Ukraine in EU und NATO dürfte ei- terstützung noch fragiler ist, als es die ohnehin eher nen komplizierten Entscheidungsfindungsprozess in verhaltenen Zustimmungswerte inmitten der Krise beiden Organisationen erfordern. Deutschland dürfte vermuten lassen. sich dabei in einer schwierigen Situation zwischen unterschiedlichen Positionen wiederfinden. Gleichzei- Bei diesen Fragen ergibt sich eine spannende Er- tig muss die verstärkte Aufmerksamkeit der eigenen kenntnis. Der Anteil der Befragten, die keine Gefähr- dung der Sicherheit durch die Erweiterung von NATO Öffentlichkeit berücksichtigt werden. und EU nach Osten sehen, hat sich mit 35% und 37% Wenn man die gestiegene Zustimmung zu einem seit 2021 nicht verändert. Die Dynamik ergibt sich ukrainischen NATO-Beitritt in Deutschland ins Ver- hier wiederum aus der gesunkenen Anzahl von Be- hältnis setzt zur Frage, ob die Erweiterung des Bünd- fragten, die mit „Weiß nicht“ antworteten. Dies kann nisses nach Osten eine mögliche Gefährdung der in einer Vielzahl von Fragen beobachtet werden und Sicherheit in Europa darstellt, ergibt sich ein differen- zeigt die gestiegene Bedeutung außenpolitischer To- zierteres Bild. Beinahe die Hälfte der Befragten (49%) poi und vor allem des Krieges in der Ukraine in der betrachtet das als mögliche Gefahr, eine Zahl die seit deutschen Öffentlichkeit. 2021 (37%) deutlich gestiegen ist. Ähnliche Zahlen und eine vergleichbare Dynamik stellen wir auch bei Abbildung 4: Potentielle Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und NATO Alle Angaben in %. »Ukraine soll Mitglied der EU werden.« »Ukraine soll Mitglied der NATO werden.« 62 56 51 2022 48 46 44 ø 43 40 '22 2022 ø 34 44 '22 32 32 33 36 27 27 ø 29 28 28 29 29 2021 26 '21 ø 2021 18 26 20 '21 12 12 25 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU CSU »Die Erweiterung der EU in Richtung »Die Erweiterung der NATO an die Osten stellt eine Bedrohung für die russische Grenze ist eine Bedrohung Sicherheit in Europa dar.« für die Sicherheit in Europa.« 40% 47% 49% 37% 2021 2022 2021 2022 Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". 7
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Einstellungen zu Russland am misstrauischsten gegenüberstehen (87%). Der und China vielleicht größte Meinungsumschwung fand bei den AnhängerInnen der Linken statt, die vor dem Krieg die Eine weitere Schlüsselkomponente der Zeitenwen- russlandfreundlichste Gruppe waren. Ein Jahr später de ist die Abkehr von dem, was oft als „besondere hat sich ihre Bedrohungswahrnehmung fast verdop- Beziehung“ zwischen Deutschland und Russland be- pelt. Die gleiche Entwicklung betrifft auch Befragte schrieben wurde, und das Ende der Abhängigkeit von in Ostdeutschland; der Abstand zu Westdeutschland russischer Energie. hat sich verringert. Die öffentliche Wahrnehmung Russlands hat sich Gleichzeitig ist eine Mehrheit von 60% der Ansicht, grundlegend geändert: Vor Kriegsbeginn sah die dass die Interessen der EU und Russlands im Wider- Hälfte der Bevölkerung Russland als Bedrohung an, spruch zueinander stehen (vor dem Krieg lag dieser sieben Monate später sind es drei Viertel. Die Bedro- Wert bei 46%). Dieser Anstieg ist bei AnhängerInnen hungswahrnehmung nahm über alle Parteien hinweg aller Parteien zu beobachten, am stärksten bei den- zu, wobei die AnhängerInnen der Grünen Russland jenigen der FDP (ein Anstieg von 38 auf 67%). Abbildung 5: Bedrohliche Akteure »Die USA sind eine Bedrohung für »Russland ist eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden in Europa.« Sicherheit und Frieden in Europa.« 85 87 ø 82 '22 77 78 2022 76 69 69 61 62 62 58 52 54 2021 ø 40 41 '21 39 36 39 37 ø 39 36 '22 51 28 26 28 23 25 27 22 24 24 18 20 20 ø 2022 2021 '21 24 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD West Ost SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD West Ost CSU CSU +4 +25 80 28% 76% % 60 % 40 % USA 20 Russland % Zahlen in Pfeilen zeigen Veränderungen gegenüber 2021 an. Alle Angaben in %. 48% +5 China »China ist eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden in Europa.« 59 ø 54 56 50 '22 51 49 2022 45 43 47 48 45 42 39 38 36 ø 34 2021 31 '22 43 Antworten "stimme voll und ganz zu" SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD West Ost sowie "stimme eher zu". CSU 8
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Insgesamt scheint der brutale Krieg Russlands ge- Abbildung 6: Sanktionen gen die Ukraine als Katalysator für die Konvergenz »Die Sanktionen gegen Russland der Bedrohungswahrnehmungen in verschiedenen sollten ausgeweitet werden.« Teilen der deutschen Gesellschaft gewirkt zu haben. Alle Angaben in % 81 Dieses neue Russlandbild stellt mithin eine Grundla- 75 ge für die Formulierung einer neuen Russlandpolitik 2022 63 ø dar. 53 '22 52 60 Die Unterstützung von Sanktionen ist beeindruckend 48 46 47 2021 hoch und unterstreicht das Ausmaß der Veränderung ø 32 '21 der Wahrnehmung Russlands (innerhalb eines Jah- 31 37 24 res stieg die Unterstützung von 37 auf 60%). Anhän- 21 gerInnen aller Parteien außer der AfD unterstützen mit großen Mehrheiten die Ausweitung der Sanktio- nen gegen Russland, vor allem die UnterstützerInnen SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD der Grünen (Anstieg von 46 auf satte 81%). Dies un- CSU Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". terstreicht die grundsätzlich wertegeleitete Haltung, die die Wählerinnen und Wähler der Grünen in der Umfrage zu vielen Themen an den Tag legen. Diese eher indifferente Haltung sollte Entschei- dungsträgerInnen als Mahnung dienen: Während der Im Gegensatz zum Russlandbild scheint es in Bezug Krieg in der Ukraine derzeit die Tagesordnung domi- auf China keine derart vollumfängliche Zeitenwende niert und Wahrnehmungen massiv verändert, könn- gegeben zu haben. Die Bedrohungswahrnehmung te der Systemwettbewerb mit China längerfristig in hat insgesamt nur leicht zugenommen (von 43 auf den Mittelpunkt rücken. Allerdings ist der Preis dafür 48%), wobei die Veränderung bei den SPD-Anhänge- rInnen am stärksten ist (Sprung von 42 auf 59%). Die der Öffentlichkeit noch nicht klar. liberalen ParteigängerInnen sehen sogar eine etwas Die USA werden nicht mehrheitlich als Bedrohung geringere Bedrohung durch China. angesehen, dennoch gibt es weiterhin eine tief ver- wurzelte US-Skepsis bei einem stabilen Anteil der Be- Ein ähnliches Muster ergibt sich bei der Frage nach fragten in Deutschland. Etwa ein Viertel hält die USA den Interessen der EU und Chinas: Wie vor dem Krieg für eine Bedrohung und möchte trotz aller Widrig- sind rund 48% der deutschen Befragten der Meinung, keiten mehr mit Russland zusammenarbeiten. Viele dass sie sich widersprechen. Die liberalen Anhänge- dieser Menschen wählen die AfD oder leben im Osten rInnen stechen mit einem Anstieg der Zustimmung Deutschlands, wo die Bedrohungswahrnehmung der um 12% hervor. USA innerhalb eines Jahres von 27% auf 39% gestie- gen ist. Abbildung 7: Gegensätzliche Interessen Alle Angaben in %. »Die Interessen der EU und die Interessen »Die Interessen der EU und die Russlands stehen grundsätzlich in Interessen Chinas stehen grundsätzlich Widerspruch zueinander.« in Widerspruch zueinander.« 68 69 67 ø 66 '22 2022 56 60 56 56 ø 54 54 54 54 52 52 54 53 '22 48 50 50 47 2022 45 48 2021 2021 38 ø 40 ø 35 '21 '21 46 31 47 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU CSU Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". 9
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Dieser US-Skeptizismus ist vor dem Hintergrund der erneuerten transatlantischen Bindung und der west- lichen Einigkeit als Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine alarmierend. Entflechtung in Maßen Die AnhängerInnen der Grünen zeichnen sich hier er- wartungsgemäß durch eine besonders klare Haltung Ein weiteres entscheidendes Element der deutschen aus, gefolgt von SPD und CDU. Die UnterstützerInnen Zeitenwende ist die Neuausrichtung der Wirtschafts- von FDP und Linkspartei sind nicht für ein Verbot rus- beziehungen. Der Umfang der Sanktionen gegen sischer Energieressourcen. AfD-AnhängerInnen leh- Russland und das Ausmaß der Abkopplung vom rus- nen die Entflechtung ab, erkennen aber wirtschaft- sischen Markt und seinen Energieressourcen sind liche Interdependenzen nicht im gleichen Maße an. beispiellos und werden die deutsche Wirtschaft über Dies passt zu der isolationistischen Haltung, die sie Jahrzehnte prägen. Der vielleicht symbolträchtigste in der gesamten Umfrage vertreten. Schritt war die Beendigung der Nord Stream 2-Pipe- line, die jahrelang von deutschen Bundesregierungen Die öffentliche Unterstützung für die Neuausrichtung gegen die Kritik von Verbündeten verteidigt wurde. der Wirtschaft ist bemerkenswert, wenn man be- Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieses Politik- denkt, wie weit verbreitet gleichzeitig die wirtschaft- wechsels waren für eine exportorientierte Industrie- lichen Sorgen der Menschen sind. Die Nachhaltigkeit nation wie Deutschland unerwartet. der Unterstützung für die Entkopplung könnte jedoch in Frage gestellt werden, vor allem, wenn sie in ähn- Die deutsche Öffentlichkeit unterstützt diese Neu- lichem Umfang auf China ausgedehnt wird. Zwar ist ausrichtung, scheint aber nicht alle Brücken abbre- die Zustimmung zu einer Entkopplung von China chen zu wollen. Es ergibt sich ein paradoxes Bild. ähnlich hoch wie von Russland (64% Zustimmung). Einerseits erkennen Mehrheiten die Vorteile der (ge- Aber die Auswirkungen und langfristigen Kosten sind genseitigen) Abhängigkeit an und sehen, dass der den Befragten möglicherweise noch nicht klar. Wohlstand Deutschlands vom Wohlergehen anderer Länder abhängt. Andererseits sind große Mehrheiten Dies stellt die Politik vor eine schwierige Aufgabe: bereit, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland sie muss einerseits die Vorteile der Interdependenz zu verringern und sogar auf russische Energieres- sorgfältig gegen die damit verbundenen Risiken ab- sourcen zu verzichten, selbst wenn dies steigende wägen und andererseits die sozialen Kosten für die Energiepreise bedeutet. Bevölkerung im Auge behalten. Abbildung 8: Wohlstand versus Entkopplung »Deutschland sollte seine »Deutschland sollte Öl- und »Der Wohlstand meines Abhängigkeit von Russland ver- Gasimporte aus Russland verbieten, Landes ist in vielerlei Hinsicht ringern, auch wenn dies negative selbst wenn dies zu weiteren verknüpft mit dem Wohlergehen Auswirkungen auf den Lebens- Preiserhöhungen führt.« und der positiven Entwicklung Antworten „stimme voll und ganz zu“ sowie „stimme eher zu“. standard der Bevölkerung hat.« anderer Länder.« 85 Alle Angaben in %. 80 75 ø 69 ø 70 70 71 71 67 67 '22 '22 63 64 68 60 54 ø ø 45 '22 47 '21 39 49 58 33 16 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU CSU CSU Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". 10
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Interessen gehen vor Werte Die Zeitenwende stellt trotz einiger Anzeichen und durchschnitt). Die starke Betonung von Werten bei einer Reihe wertegeleiteter Entscheidungen im ver- dieser Gruppe zieht sich wie ein roter Faden durch gangenen Jahr keine Hinwendung zu einer werte- die Umfrage: dies ist erkennbar bei Fragen zu Sank- orientierten Außenpolitik dar. Genau wie vor dem tionen (Grüne sind die größten Befürworter), der Par- Krieg bevorzugen mehr Menschen in Deutschland teinahme in Konflikten im Ausland (Grüne steigerten eine interessenbasierte Außenpolitik im Vergleich zur ihre Zustimmung innerhalb eines Jahres von 54 auf wertegeleiteten, mit einem Vorsprung von etwa 12%. 68%) oder der Zusammenarbeit mit nicht-gleichge- sinnten Staaten zur Förderung des Friedens (Grüne Die UnterstützerInnen der Grünen sind die einzige verringerten ihre Zustimmung von 60 auf 48%). Gruppe, die eindeutig eine werteorientierte Außen- politik befürwortet (66%, gegenüber 50% im Bundes- Abbildung 9: Interessen versus Werte Alle Angaben in %. »Die Außenpolitik in Deutschland sollte die »Außenpolitik sollte Werte durchsetzen, eigenen Interessen uneingeschränkt vertreten.« auch wenn das Nachteile mit sich bringt.« 85 75 70 71 69 ø 66 65 '22 66 63 62 59 ø 57 57 57 2022 2021 54 ø 52 53 51 '22 50 49 50 2022 '21 46 47 2021 43 61 43 ø 34 '21 47 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU CSU Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". Die Kultur der Zurückhaltung lebt Deutschland hat grundlegende Veränderungen nichts geändert, denn in allen gesellschaftlichen durchlaufen. Dennoch stellt die Zeitenwende keinen Gruppen gibt es weiterhin solide Mehrheiten gegen vollen Bruch mit der Vergangenheit dar. Nicht jeder militärische Interventionen in Konflikten, nur die Grundsatz deutscher Außenpolitik wird in Frage ge- CDU-AnhängerInnen sind in dieser Frage gespalten. stellt. Insbesondere die deutsche Kultur der Zurück- Im Laufe des Krieges ist die Ablehnung militärischer haltung ist bemerkenswert beharrlich und weist in Eingriff insgesamt sogar noch gestiegen, von 51 auf unseren Umfragen eine hohe Kontinuität auf. In die- 56%. Am stärksten ist die Ablehnung bei Linke- und sem Sinne war Außenministerin Annalena Baerbock AfD-UnterstützerInnen. Militärische Mittel der Außen- etwas voreilig, als sie im Februar 2022 das „Ende der politik werden weder als effektiv noch als legitim an- Kultur der Zurückhaltung“ verkündete. gesehen, die Diplomatie wird durchweg favorisiert. Der Krieg hat an der tief verwurzelten deutschen Skepsis gegenüber militärischen Interventionen 11
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Abbildung 10: Militärinterventionen »Deutschland sollte, wenn es notwendig ist, auch militärisch in Konflikte eingreifen.« Alle Angaben in %. Stimme voll und ganz zu 44 45 ø 38 40 39 '21 & stimme eher zu 36 35 37 33 35 33 2022 2021 30 2021 ø 28 2022 23 24 25 '22 16 32 West Ost & stimme eher nicht zu Stimme überhaupt nicht zu ø '21 45 51 48 47 52 53 53 ø 56 58 57 '22 65 56 69 76 SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU Abbildung 11: Effektivität versus Legitimität von Instrumenten der Außenpolitik Alle Angaben in %. Glauben Sie, dass folgende Mittel Glauben Sie, dass folgende Mittel wirksam sind, um außenpolitische legitim sind, um außenpolitische Krisen zu lösen? Krisen zu lösen? 31 2022 2022 22 29 2021 Militärische 2021 24 Eingriffe 69 83 67 Diplomatische 81 Verhandlungen 51 $ 66 52 Wirtschaftliche 66 Sanktionen 80% 60% 40% 20% 0% 0% 20% 40% 60% 80% Stimme eher zu Stimme voll und ganz zu 12
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Abbildung 12: Frieden versus Gerechtigkeit Alle Angaben in %. Es ist zentral, den Krieg so bald wie möglich zu beenden, auch wenn es bedeuten könnte, Es ist zentral, Russland für seine Aggression zu bestrafen, auch wenn es bedeuten dass die Ukraine Kontrolle über einige könnte, dass mehr Ukrainer getötet und Territorien an Russland verliert. weder noch vertrieben werden. 41 24 19 Abweichungen von 100% ergeben sich aus: "weiß nicht" und "keine Antwort". Dazu kommt, dass weiterhin eine überwältigende zur Alternative: einer Bestrafung Russlands für seine Mehrheit der Ansicht ist, dass Frieden in Deutschland Aggression, selbst wenn dies mit weiteren Toten und eine politische Priorität sein sollte. Bei der diffizileren Zerstörungen verbunden ist). Zusammen mit der kla- Frage, wie der Krieg beendet werden kann, geben die ren deutschen Ablehnung der Entsendung von Trup- deutschen Befragten eindeutig dem Frieden den Vor- pen in die Ukraine (75% sind dagegen und nur 13% zug vor Gerechtigkeit (41% gegenüber 19%). Sie spre- dafür, ein parteiübergreifender Konsens) deutet dies chen sich für eine möglichst rasche Beendigung des darauf hin, dass es ein Bewusstsein für die Gefahren Krieges aus, selbst wenn dies mit territorialen Ver- von Eskalation gibt und einen starken Widerwillen da- lusten für die Ukraine verbunden ist (im Gegensatz gegen, in den Krieg hineingezogen zu werden. Abbildung 13: Frieden als Priorität Die deutsche Politik muss daher bei der weiteren »Frieden in Europa sollte eine Priorität Unterstützung der Ukraine das Fortbestehen der der Politik in Deutschland sein.« Alle Angaben in %. Kultur der Zurückhaltung und die klare rote Linie, 93 93 95 96 92 93 94 93 ø '22 keine Truppen zu entsenden, berücksichtigen. Die 89 91 90 Abwägung von Eskalationsrisiken ist ein zentraler 2021 2022 82 82 ø '21 88 Aspekt für die weiterhin zurückhaltend denkende Be- völkerung. Der Wechsel von „Frieden schaffen ohne Waffen“ zum „Frieden schaffen mit Waffen“, wie es zuweilen in der öffentlichen Diskussion heißt, hat in der Bevölkerung noch nicht stattgefunden. Das be- deutet, dass es weiterhin von Bedeutung für die Bür- gerinnen und Bürger ist, dass die Politik an überzeu- genden Strategien für die Beendigung des Krieges SPD Grüne FDP CDU/ Linke AfD CSU arbeitet. Antworten "stimme voll und ganz zu" sowie "stimme eher zu". 13
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Abbildung 14: Truppenentsendung »Deutschland soll Truppen in die Deutschland in der EU Ukraine schicken.« Alle Angaben in %. 13 Die Europäische Union bewegt sich in den letzten Abweichungen von 100% ergeben sich aus: „weiß nicht“ und „keine Antwort“. Ja Jahren von Krise zu Krise. Der Krieg ist sicherlich eine der schwierigsten Herausforderungen und die 75 bisher größte Bewährungsprobe für die europäische Nein Einigung und vor allem ihre Ansätze einer Sicher- heitspolitik. Daher findet die deutsche Zeitenwen- Antworten "stimme Antworten "stimme de nicht im luftleeren Raum statt und hat massive voll und ganz zu" sowie überhaupt nicht zu" sowie Auswirkungen auf die EU selbst, aber auch auf die “stimme eher zu". "stimme eher nicht zu" europäischen Nachbarstaaten Deutschlands. Unse- re Umfragen zeigen, dass die Wahrnehmungsverän- CDU/ SPD Grüne FDP CSU Linke AfD derungen durch den Krieg die deutsche Bevölkerung den Wahrnehmungen ihrer östlichen Nachbarn, in unserem Untersuchungsfall Polen und Lettland, nä- her gebracht hat. Diese Annäherung lässt sich an den Sorgen, der Bedrohungswahrnehmung und den Re- ø aktionen auf die russische Aggression ablesen. Sie 76 73 69 73 '22 75 erstreckt sich von der Unterstützung der Sanktionen, 82 92 über die polarisierte Wahrnehmung von Waffenliefe- rungen, bis hin zur Ablehnung der Entsendung von dachten Führungskonstellation der EU, des „Weima- Abweichungen von 100% ergeben sich aus: "weiß nicht" und "keine Antwort". Truppen. Hinter dieser neuen Gemeinsamkeit ver- rer Dreiecks“ aus Deutschland, Frankreich und Polen, bergen sich jedoch weiterhin große Unterschiede. wird dies besonders deutlich. Dazu kommt, dass die Sie betreffen strategische Fragen des Umgangs mit Führungsübernahme durch Deutschland auch im China, Pfade zur Beendigung des Krieges sowie die eigenen Land nicht eindeutig gesehen wird. Viele der künftige Organisation der Sicherheit in Europa. Ein Befragten in Deutschland meinen, dass ihr eigenes Beispiel dafür ist die Frage nach der möglichen Mit- Land lediglich die Entscheidungen anderer EU-Mit- gliedschaft der Ukraine in der EU und der NATO: in gliedstaaten nachverfolgt (38%), anstatt selbst eine Lettland und Polen finden wir starke Unterstützung, führende Rolle in der gemeinsamen Sicherheitspoli- während die Sicht darauf in Deutschland und Frank- tik zu übernehmen (28%). Das mangelnde Vertrauen reich deutlich skeptischer ist. zwischen den Partnern und die fragile Beurteilung der eigenen Führung könnten sich als Fußangeln für die Diese Unterschiede werden durch das mangelnde Stärkung der EU zu einer Akteurin gestalten, die in der gegenseitige Vertrauen zwischen den Ländern noch Lage ist, ihre Nachbarschaft zu gestalten und dort für verstärkt. Bei der Betrachtung der ursprünglich ange- Sicherheit zu sorgen. Abbildung 15: Rolle von Staaten in der EU Sicherheitspolitik Es zieht lediglich Es übernimmt eine »Welche Rolle glauben Es blockiert die mit mit den aktive Rolle bei der Sie hat Deutschland in der gemeinsame Entscheidungen gemeinsamen EU Sicherheitspolitik?« EU Sicherheitspolitik anderer Mitgliedstaaten EU Sicherheitspolitik Weiß nicht Deutschland 8 38 28 24 Frankreich 10 21 31 36 Lettland 14 13 38 23 Polen 28 15 25 28 Abweichungen zu 100% ergeben sich aus: "keine Angabe". Alle Angaben in %. 14
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Fazit Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wirkt als Beschleuniger für politische Entwicklungen in Europa und Deutschland. Er hat grundlegende transformative Prozesse bei der Landesverteidigung, Bündniszusammen- arbeit, Energiepolitik und EU-Erweiterung ausgelöst. Ein Jahr nach der wegweisenden Rede von Bundeskanzler Scholz im Bundestag, in der er eine Zäsur in der europäischen Sicherheits- und deutschen Außenpolitik ausrief, hat die Zeitenwende zweifellos nicht nur in der Politik, sondern auch in den Köpfen der Deutschen begonnen. Wie nachhaltig ist die öffentliche Unterstützung? Der Blick zurück zeigt dabei, dass man das Aus- flechtung - ist durch den Krieg schwer erschüttert maß und die Geschwindigkeit der Veränderungen in worden. Sie ist aber in der deutschen Öffentlichkeit Deutschland angesichts der deutschen Geschichte noch immer präsent. nicht hoch genug einschätzen kann. Die Kultur der Zurückhaltung ist in den deutschen Institutionen, in Vor diesem Hintergrund ist die zu beobachtende der Politik und in der Wahrnehmung der Menschen Unterstützung der Bevölkerung für die aktuell statt- weiterhin tief verwurzelt. Das bedeutet eine prinzi- findende Entkopplung nicht zu unterschätzen. Aller- pielle Skepsis gegenüber dem Einsatz militärischer dings stehen wir noch am Anfang des Prozesses, Mittel ebenso wie Zurückhaltung bei der Übernahme und die langfristigen Kosten und Folgen sind noch einer Führungsrolle, ohne zuvor einen Konsens unter nicht absehbar - weder für die Politik noch die brei- den Verbündeten herzustellen. Grundlegende Prin- te Öffentlichkeit. Die Energiepreise werden wohl auf zipien wie „nie wieder Krieg“, „nie wieder Auschwitz“ absehbare Zeit hoch bleiben und könnten die Wett- und „immer eingebettet in Bündnisse“ sind weiterhin bewerbsfähigkeit Deutschlands langfristig belasten präsent und handlungsleitend. Dies steht allerdings und damit viele Arbeitsplätze gefährden. Und wäh- auf den ersten Blick im Widerspruch zu politischen rend die Abkopplung von Russland bewältigbar er- Entscheidungen, die das Potential haben, Deutsch- scheint, dürfte eine Verringerung der Abhängigkeit land zur größten Militärmacht in Europa zu machen. von China – Deutschlands wichtigstem Handels- Es birgt auch das Potential, Widerstand in den Part- partner und zunehmendem Konkurrenten – deut- nerländern hervorzurufen, wenn in einem zu harten lich schwieriger und mit mehr Kosten für die Pros- Bruch mit der Vergangenheit ein deutscher Füh- perität der Bevölkerung verbunden sein. Auch dieser rungsanspruch ohne entsprechende Einbeziehung Prozess muss daher abgewogen und inkrementell der Partner artikuliert wird. Die Zeitenwende muss erfolgen, vor allem, weil er nicht mit einem so direkt daher die weiterhin präsente Kultur der Zurückhal- erkennbaren Schock wie dem russischen Angriff auf tung mit den neuen Anforderungen durch das verän- die Ukraine verbunden ist. derte Umfeld verbinden. Insgesamt könnten sich die mit der Zeitenwende Die deutsche Nachkriegszeit hat ebenso wie die Wie- verbundenen wirtschaftlichen Veränderungen als dervereinigung nicht nur zu einer starken pro-euro- größte Herausforderung für Deutschland erweisen. päischen Haltung in Deutschland geführt, sondern Das Land hat eine energieintensive industrielle Basis auch den Glauben an „Frieden durch Interdependenz“ und ist weitgehend von fossilen Brennstoffen sowie gefestigt. Damit ist gemeint, dass Krieg als unwahr- globalen Wertschöpfungsketten abhängig. Die deut- scheinlicher gilt, wenn Staaten miteinander Handel schen Bürgerinnen und Bürger können sich der enor- treiben und voneinander abhängig sind. Dieser Ge- men anstehenden Kosten noch nicht bewusst sein danke liegt auch der europäischen Integration zu- und dürften möglicherweise weniger bereit, diese zu grunde. Diese für die deutsche Wirtschafts- und tragen, als es die Stimmung im Herbst 2022 vermu- Handelspolitik lange handlungsleitende Prämisse ten lässt. Dies dürfte umso mehr gelten, wenn künftig - friedliche Beziehungen durch wirtschaftliche Ver- die hohen (und weiter steigenden?) Militärausgaben 15
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis zunehmend in Konkurrenz zu Sozialausgaben und gen nachvollziehbar und verständlich. Im Angesicht anderen staatlichen Investitionen treten. des russischen Angriffs mussten schwerwiegende politische Entscheidungen getroffen werden, dar- Bislang findet die Politik der Zeitenwende breite unter eine Änderung des Grundgesetzes, ohne dass Unterstützung in der Bevölkerung. Vor dem Hinter- ihnen eine angemessene öffentliche Debatte voraus- grund der anstehenden Herausforderungen ist das gehen konnte. eine wichtige Komponente für die Weiterführung der begonnen Transformation. Aber die Zeitenwende ist Aber auch die folgende öffentliche Debatte konzen- noch nicht vollendet, und in der Zukunft stehen Ge- trierte sich weniger auf die langfristigen Auswirkun- sellschaft und Politik schwere Entscheidungen bevor. gen der Zeitenwende, sondern fokussierte eher auf Diese hängen teilweise vom Ausgang des Krieges ab, die an die Ukraine gelieferten Waffensysteme. Dieser auch wenn sich im Moment ein langer Verlauf die- Fokus wurde ermöglicht durch die entschlossene ser Auseinandersetzung abzeichnet. Damit scheinen und großzügige wirtschaftliche Abfederung der un- sowohl die Bevölkerungen in Europa, als auch die mittelbaren Kriegsfolgen durch die Regierung. Al- beiden Kriegsparteien zu rechnen. Denn in den ver- lerdings könnte sich die Möglichkeit, weiterhin die gangenen Monaten ist keine entscheidende Wende Folgen des Krieges abzufedern, bald ändern, da der auf dem Schlachtfeld erreicht worden, und eine diplo- liberale Finanzminister auf der Einhaltung der Schul- matische Lösung ist nicht in Sicht. Russland scheint denbremse in den nächsten Jahren beharrt. Dadurch nicht einlenken zu wollen und erhöht stattdessen den könnte es zu dem politischen Dilemma kommen, Einsatz. dass Investitionen in Verteidigung Sozialausgaben gegenüberstehen. In einem internationalen Kontext, Damit ist sowohl ein Eskalationsszenario als auch in dem die Sicherheitslage weiterhin unbeständig ist die Möglichkeit eines länger andauernden Konflikts und die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen nicht auszuschließen. Die Herausforderung für die unklar sind, dürfte sich das auf die Stimmung der Be- Politik ist mithin gewaltig: eine Lösung zu finden, die völkerung auswirken. Die Bereitschaft, die Regierung von der Ukraine akzeptiert wird, die Reste der auf Re- auch in einem solchen Fall weiter zu unterstützen, geln basierenden Ordnung bewahrt und das Risiko dürfte schwinden, da es zweifelhaft ist, dass die Bür- eines Wiederaufflammens der Feindseligkeiten oder gerinnen und Bürger bereit sind, einen solch hohen eines erneuten russischen Angriffs verringert. Preis für die Zeitenwenden zu zahlen. Damit würde es der Bundesregierung erschwert werden, ihre Un- Aus unseren Umfragen lässt sich die vorsichtige terstützung für die Ukraine - militärisch und finanziell Schlussfolgerung ziehen, dass die öffentliche Mei- – in gleichem Umfang fortzusetzen, da diese aus der nung in Deutschland den stattfindenden massiven Perspektive der Wählerinnen und Wähler in Wettbe- politischen Veränderungen eher hinterherläuft. Das werb zum eigenen Wohlstand und der Prosperität in ist angesichts der Geschwindigkeit der Entwicklun- Deutschland treten würde. 16
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Junge Menschen Jungen Menschen in Deutschland (18-29 Jahre) für die europäische Sicherheit, verglichen mit dem zeigen ein leicht unterschiedliches Antwortverhal- Durchschnitt von 28%. ten im Vergleich zu den älteren Generationen (ins- besondere die Generationen 40+). Der beunruhigendste Trend ist die geringere Ausprä- gung der Kultur der Zurückhaltung unter den jungen Die jungen Befragten sind die einzige Altersgruppe, Befragten. Die Befürwortung militärischer Interven- die sich nicht mehrheitlich für eine Erhöhung der tionen (41%) ist deutlich höher als bei der Genera- Militärausgaben ausspricht (41% dafür, gegenüber tion 50+ (25%). Junge Menschen halten militärische 52% im Durchschnitt). Im Vergleich zur Umfrage von Instrumente der Außenpolitik für effektiver und legi- 2021 hat sich die Meinung der jungen Menschen timer als ältere Befragte, wie auch schon 2021. Als kaum verändert, während die anderen Altersgrup- Reaktion auf den Krieg in der Ukraine ist die Bereit- pen ihre Meinung von mehrheitlicher Ablehnung zu schaft zur Entsendung von Truppen daher unter den mehrheitlicher Unterstützung verändert haben. jungen Menschen auf niedrigem Niveau doppelt so hoch wie im Durchschnitt (26% gegenüber 13%). Junge Befragte sehen eher eine gemeinsame Zu- kunft mit Russland und China als ältere. Dies zeigt Hingegen sind junge Menschen eine der stärksten sich in einer stärkeren Befürwortung der Zusam- pro-europäischen Altersgruppen. Dazu gehört auch menarbeit mit diesen Ländern und einer geringeren die starke Unterstützung für die Mitgliedschaft der Wahrnehmung von gegensätzlichen Interessen. Ukraine in der EU. Eine absolute Mehrheit befürwor- Während eine überwältigende Mehrheit der jungen tet einen solchen Schritt, anders als in anderen Al- Menschen Russland als Bedrohung sieht, ist der tersgruppen (52% gegenüber 44% im Durchschnitt). Anteil vergleichsweise geringer als bei den älteren Eine viel stärkere Befürwortung der ukrainischen und insbesondere den ältesten Befragten. Dagegen EU-Mitgliedschaft wurde unter jungen Menschen waren vor dem Krieg die Meinungen in allen Alters- bereits im Jahr 2021 beobachtet, als die Unterstüt- gruppen fast identisch. zung insgesamt noch gering war. Auch die wirtschaftliche Abkopplung von Russland Die Kombination aus der starken pro-europäischen und China sehen junge Befragte etwas kritischer Haltung und der geringeren Skepsis gegenüber mi- (möglicherweise, weil sie sich der negativen wirt- litärischen Instrumenten schlägt sich jedoch nicht schaftlichen Folgen stärker bewusst sind). Eben- in einer entsprechenden Unterstützung für eine so sind junge Menschen weniger geneigt, im Falle europäische Armee nieder. Die Unterstützung jun- eines Konflikts im Ausland Partei zu ergreifen (39%, ger Menschen hat im Laufe des Krieges leicht zuge- gegenüber 55% im Durchschnitt). nommen (von 46% auf 49%), erreicht aber nicht die absolute Mehrheit und liegt auch unter dem Durch- Besorgniserregend ist, dass multilaterale interna- schnitt von 2022 (53%). tionale Organisationen wie die UNO und die OSZE bei den jungen Befragten weniger Unterstützung Nicht zuletzt vertrauen die jungen Befragten mehr als finden als bei den älteren. Derselbe Trend war im andere Altersgruppen der deutschen Führung in der Jahr 2021 erkennbar. Auch die Skepsis gegenüber EU Sicherheitspolitik (36% gegenüber 26% im Durch- den Vereinigten Staaten ist unter jungen Befragten schnitt). verbreiteter: 36% sehen in den USA eine Bedrohung 17
Zeitenwende im Kopf: Kontinuität und Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung Alexandra Dienes · Simon Weiss · Christos Katsioulis Ostdeutschland Fünfunddreißig Jahre nach der Wiedervereini- sind der Meinung, dass kein Drittland in den gung Deutschlands sind die Unterschiede in Krieg eingreifen sollte, im Gegensatz zu nur der öffentlichen Meinung zwischen Ost und 35% in Westdeutschland. West nach wie vor signifikant. Die Befragten in Ostdeutschland lehnen höhere Militäraus- Die Einstellung der Ostdeutschen zu Russland gaben und weitere Waffenlieferungen an die war vor dem Krieg systematisch freundlicher Ukraine eher ab, zeigen eine tiefer sitzende als die der Westdeutschen. Dies hat sich inner- Skepsis gegenüber den USA und der NATO halb eines Jahres geändert, und das Ausmaß und sind starke Befürworter einer pragma- des Umdenkens in Bezug Russland ist bei Ost- tischen Außenpolitik (Zusammenarbeit mit deutschen oft stärker ausgeprägt, wodurch nicht gleichgesinnten Staaten). Die Kultur der sich der Unterschied zu Westdeutschen ver- Zurückhaltung ist bei den Befragten aus Ost- ringert. Die Wahrnehmungsunterschiede blei- deutschland stärker ausgeprägt. Außerdem ben jedoch in nun geringerem Maße bestehen. möchten die meisten Ostdeutschen sich aus dem Krieg in der Ukraine heraushalten: 53% Politische Parteien In Deutschland fallen starke Meinungsunterschiede entlang der Parteigrenzen auf. Ein Vergleich der Antwortmuster in unseren Umfragen ergibt folgende Beobachtungen. Sozialdemokratische UnterstützerInnen scheinen die politischen Veränderungen, die von der SPD-geführten Regierung eingeleitet wurden, insgesamt zu unterstützen. Ihr Meinungsum- schwung in Bezug auf Russland und China ist der stärkste über alle Parteien hinweg. Auch hin- sichtlich der Aufstockung des Verteidigungsbudgets haben sie ihre Meinung stärker geändert als andere. Gleichzeitig sind SPD-AnhängerInnen die stärksten Befürworter der OSZE. Die den Grünen zugeneigten Befragten folgen ähnlichen Mustern wie die SozialdemokratInnen und zeigen aber die stärkste wertebasierte Einstellung zu außenpolitischen Fragen. Sie sind je- doch eher skeptisch gegenüber militärischen Interventionen und zeigen die stärkste pro-EU- und pro-Ukraine-Haltung. Die AnhängerInnen der Konservativen (CDU/CSU) haben ihre Meinung ebenfalls verändert, al- lerdings nicht in demselben Maße wie die Wähler im linken Teil des politischen Spektrums. Sie sind die stärksten Befürworter einer interessenbasierten Außenpolitik und zeigen die geringste Zurückhaltung in Bezug auf militärische Instrumente, Interventionen und Militärausgaben. FDP AnhängerInnen scheinen sich neben den Konservativen stärker auf die negativen wirt- schaftlichen Auswirkungen einer Politik der Abkopplung zu konzentrieren und sind weniger be- reit, sich von Russland und China abzukoppeln. Ihre Ansichten decken sich nur selten mit denen der UnterstützerInnen der beiden anderen Koalitionsparteien, Grüne und SPD. Die Befragten, die sich der Linken zuordnen, haben ihre Haltung gegenüber Russland deutlich geändert, scheinen aber eine friedensorientierte Haltung nicht aufgegeben zu haben. Die Hal- tung gegenüber der NATO und den USA ist eher skeptisch. AfD AnhängerInnen zeigen eine deutlich isolationistische Haltung und sind die einzige Gruppe, die ihre Meinung zu Russland nicht geändert haben. 18
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