FOOTBALL AMERICAN DIE SEATTLE SEAHAWKS

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FOOTBALL AMERICAN DIE SEATTLE SEAHAWKS
AMERICAN

FOOTBALL
DIE SEATTLE SEAHAWKS
 ★★ Eine Erfolgsstory der NFL ★★

         LÄNGE I DETTERBECK
FOOTBALL AMERICAN DIE SEATTLE SEAHAWKS
Inhalt

             INHALT

             Vorwort............................................................................................................................. 6
             Foreword.......................................................................................................................... 9
             Prolog.............................................................................................................................12
             I      Entstehungsjahre.................................................................................................14
             II     Kingdome..............................................................................................................36
             III Die Ära Knox.........................................................................................................46
             IV Die Nummer 12....................................................................................................77
             V      Umbruchjahre.......................................................................................................92
             VI Die Ära Holmgren..............................................................................................118
             VII Mosiula Mea‘alofa Tatupu............................................................................. 148
             VIII Lumen Field........................................................................................................ 158
             IX Die deutschen Seahawks................................................................................ 169
             X      Die Ära Carroll................................................................................................... 190
             XI Seattle und Seahawks-Football....................................................................277
             XII Aus dem Leben zweier 12s.............................................................................292
             We’re thankful...........................................................................................................304
             Anhang........................................................................................................................305
             1 Literaturverzeichnis..............................................................................................305
             2 Bildnachweis..........................................................................................................307

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★       III    ★

                                   DIE ÄRA KNOX

               „Das ist wie dein erster Kuss. Wenn du zum ersten Mal die AFC West
                             gewinnst, ist das schrecklich aufregend.“
                Steve Largent, Wide Receiver (1976-1989), über den ersten Divisionstitel

                                                         ***

              „Konservative Trainer haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind arbeitslos.“
                                    Chuck Knox, Head Coach (1983-1991)

                                                         ***

                  „Selbst wenn ich nicht weiß, was ich tue, ich werde mir das nicht
                                         anmerken lassen.“
                    Dave Krieg, Quarterback (1980-1991), über sein Quarterback-Spiel

                                                         ***

            ”Remember your six Ps – Perfect Practice Prevents Piss Poor Performance.“
                                    Chuck Knox, Head Coach (1983-1991)

                                                         ***

            „Wir werden für immer miteinander verbunden sein. Auch wenn wir eines
              Tages tot sein könnten – die ‚Die Hards’ werden weiterleben. Das ist
                                             sicher.“
                                   Jacob Green, Defensive End (1980-1991)

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Die Ära Knox

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                                                                  Chuck Knox wird neuer
                                                                  Cheftrainer
                1983: 9-7 (2. AFC West)
                       Wild-Card Round:
                 31:7 vs. Denver Broncos
                       Divisional Round:
                27:20 at Miami Dolphins
               AFC Championship Game:                             1984: 12-4 (2. AFC West)
            14:30 at Los Angeles Raiders                          Wild-Card Round:
                                                                  13:7 vs. Los Angeles Raiders
                                                                  Divisional Round:
                1985: 8-8 (3. AFC West)                           10:31 at Miami Dolphins

                                                                  Juni 1986:
                                                                  Die Seahawks ziehen um in ihr
                                                                  neues Hauptquartier auf dem
              1986: 10-6 (3. AFC West)                            Gelände der Northwest University
                                                                  im Süden Kirklands

                                                                  1987: 9-6* (2. AFC West)
                                                                  Wild-Card Round:
                                                                  20:23 (OT) at Houston Oilers
                            August 1988
           Die Nordstroms verkaufen das
                   Team an Ken Behring
                                                                  1988: 9-7 (1. AFC West)
                                                                  Divisional Round:
                                                                  13:21 at Cincinnati Bengals
                1989: 7-9 (4. AFC West)

                                                                  1990: 9-7 (3. AFC West)

                1991: 7-9 (4. AFC West)

                                                                  Dezember 1991
                                                                  Die Seahawks trennen sich von
                                                                  Head Coach Chuck Knox
                                                                  Knox‘ Bilanz: 9 Jahre, 143 Spiele,
                                                                  80 Siege, 63 Niederlagen

                                                                *Saison durch Spielerstreik verkürzt

                                                                                                       47

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

           Die Cinderella-Story begann mit lockeren Sprüchen. ”Football players
           make football plays.“ Mit ein paar halbstarken Redewendungen eines
           Trainers, die im heutigen Social-Media-Zeitalter die Fans verunsichern
           würden. „Schaue zurück und du machst Rückschritte.“ Mit Klischees und
           Plattitüden, wie sie oftmals fehlende Expertise verstecken sollen. „Trai­
           ning ohne Verbesserung ist bedeutungslos.“
           Diese Cinderella-Story lebte von Floskeln. Sie erzählt von einem Team,
           das nach der Entlassung Jack Pateras 1982 unter Interimstrainer Mike
           McCormack immerhin noch vier von sieben Spielen gewann und realisier­
           te, dass das Gerüst für den Erfolg da war. Sie erzählt von einem Team,
           das in einem Jahr des Umbruchs zahlreiche Risiken einging, um auf lan­
           ge Sicht erfolgreich zu sein. Und sie erzählt von einem Team, dem ein
           Mann mit dem martialischen Namen Chuck Knox Leben einhauchte.
           Nicht nur, aber oft mit Floskeln, hinter denen mehr steckte, als der erste
           Eindruck vermuten ließ.

           1983. Ein neuer Impuls war dringend nötig, das sahen nicht nur die Be­
           sitzer der Seahawks. Richtig ernst nahm niemand diese Mannschaft hoch
           oben im Nordwesten der USA, weit weg vom Rest der NFL. Die Euphorie
           der Anfangsjahre war längst verflogen. Das Vertrauen bei den Fans nach
           dem Spielerstreik und drei Spielzeiten mit mehr Niederlagen als Siegen
           ebenfalls. Das ohne Zweifel vorhandene Talent der Spieler resultierte ein­
           fach nicht in der entsprechenden Anzahl an Siegen.

                                                Nun sollte es einer richten, der bereits auf
                                                eine erfolgreiche Karriere als NFL-Cheftrai­
                                                ner zurückblicken konnte. Ein kerniger Sprü­
                                                cheklopfer mit Sachverstand. Ein Players’
                                                Coach, dem die Spieler vertrauten, weil er
                                                die Dinge beim Namen nannte. Charles Ro­
                                                bert Knox brachte nicht nur vier seiner Leis­
                                                tungsträger aus Zeiten bei den Buffalo Bills
           Chuck Knox                           und Los Angeles Rams mit nach Seattle, um

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Die Ära Knox

             dem vorhandenen Kader „das Siegen beizubringen“, sondern auch die
             „Knoxisms“.

             Für Weggefährten, ob das nun seine Spieler, die Presse oder seine Kinder
             waren, hatte Knox stets eine Lektion parat. Der Klassiker: „What you do
             speaks so well, there’s no need to hear what you say.“ Grob übersetzt:
             Taten sprechen lassen, nicht Worte. So ging Knox seine Zeit bei den
             Seahawks an – mit mutigen Taten.

             Im NFL Draft 1983 gab er seinen Erst-, Zweit- und Dritt-Runden-Pick an
             die Houston Oilers ab, um an dritter Stelle Running Back Curt Warner
             von der Penn State University nach Seattle zu holen – schließlich wollte
             er seinem Spitznamen „Ground Chuck“ auch im Pacific Northwest alle
             Ehre machen und eine laufstarke Offensive aufs Spielfeld stellen.

             Ein derartiges Tauschgeschäft wie das von Knox für Warner wäre heute
             auf einer anderen Position als der des Quarterbacks nahezu unvorstell­
             bar. Damals aber passte es genau ins Bild, das der Trainer von erfolgrei­
             chem Football hatte. Er hatte einen Game Changer gesucht – und war
             überzeugt, ihn gefunden zu haben.

             Curt Warner, unbeeindruckt von den Erwar­
             tungen an einen so früh im Auswahlverfah­
             ren und so teuer verpflichteten Nachwuchs­
             spieler, bezahlte den Vertrauensvorschuss so­
             fort zurück. 1.449 Yards und 13 Touchdowns
             sollte er mit seinen 335 Läufen sammeln
             und damit die vielleicht beste Rookie-Saison
             der Teamgeschichte auf den Rasen zaubern.
                                                                Curt Warner
             Warner, ein 22 Jahre junger Mann mit lan­
             gen Beinen, raumgreifenden Schritten und schnellen, fließenden Seit­
             wärtsbewegungen, ließ Herzen höherschlagen, als er mit seinem ersten
             Lauf als Profisportler auswärts bei den Kansas City Chiefs im Arrowhead
             Stadium 60 Yards zurücklegte. Er zeigte direkt die Explosivität, die ihn in

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

           seiner ersten Saison ausmachte – und an die sich die Fans später sehn­
           süchtig zurückerinnern würden.

           Als Warner ein Jahr später, am ersten Spieltag der Saison 1984, zu einem
           seiner tausendfach geübten, berüchtigten Richtungswechsel ansetzte,
           gab sein Knie nach – und die versammelten Anhänger im Kingdome die
           Hoffnung auf. Wie sollte das Team ohne seinen Star weiterhin Spiele ge­
           winnen? Der Running Back fiel mit einem Kreuzbandriss lange Zeit aus,
           fehlte dem Team besonders in den wider Erwarten souverän erreichten
           Play-offs und war nach seinem Comeback trotz einiger ordentlicher Sai­
           sons nie mehr der Spieler aus seinem Premierenjahr bei den Seahawks.

           In den Ring of Honor der Franchise und in die Geschichtsbücher lief er
           sich dennoch, bevor er 2018 gemeinsam mit seiner Frau und Dave Boling
           von der Seattle Times ein Buch veröffentlichte. Darin schrieb er von einer
           Herausforderung, die die Rückkehr von einer schweren Knieverletzung
           zur Kleinigkeit verkommen ließ: vom Leben mit zwei von Autismus betrof­
           fenen Zwillingssöhnen.

           Während die Seahawks auf dem Boden 1983 von Beginn an gut ins Lau­
           fen kamen, stockte das Passspiel weiterhin gewaltig. Chuck Knox hatte
           seinem Team, das in Großteilen noch aus dem Kader Jack Pateras be­
           stand, durch einen jungen Playmaker auf der Running-Back-Position und
           mehrere erfahrene Veteranen zwar wieder einen Siegeswillen eingeimpft,
           doch durch die Luft fehlte es nach wie vor an Impulsen.

           Die Pass-Offensive bestand für gewöhnlich aus einem im Backfield her­
           umirrenden und aus der Laufbewegung feuernden Quarterback Jim Zorn
           und einem zwischen mehreren Verteidigern hindurch sprintenden Recei­
           ver Steve Largent, der selbst die unmöglichsten Pässe verwertete.

           Dieses Schema hatte den Seahawks immerhin zu vier Siegen in sieben
           Spielen verholfen. Doch am achten Spieltag, als ein Pass von Zorn drei
           Meter vor Curt Warner zu Boden segelte, hatte Knox genug gesehen.
           Nach der Pause – die Seahawks lagen bei den Pittsburgh Steelers bereits
           mit 0:24 zurück – bekam Backup-Quarterback Dave Krieg seine Chance.

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★ VIII ★

                                    LUMEN FIELD

                                   „Und noch ein False Start der Giants.“
                           Dick Stockton, FOX-Sports-Kommentator (1994-2021)

                                                         ***

             „Ich war überrascht, die Erschütterung auf dem Seismometer zu sehen,
             denn das waren bloß Leute, die schrien und herumsprangen. Die haben
                        normalerweise nicht die Power eines Erdbebens.“
              John Vidale, Direktor Pacific Northwest Seismic Network (2006-2017), über
                                              Beastquake

                                                         ***

            „Ich weiß nicht, wie das möglich war. Es wirkte, als hätten die Leute Spaß
             und realisierten, was sie mit ihrem Lärm bewirkten. Deshalb wurden sie
           immer lauter. Ich weiß nicht, wie ihnen das gelang, aber es gelang ihnen.“
                  Mike Holmgren, Head Coach (1999-2008), über die Lautstärke der 12s

                                                         ***

                  „Das war der einzige Job, für den ich Football aufgeben würde.“
           Steve Raible, Seahawks-Radiokommentator (1982-heute), über sein Karriereende

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Lumen Field

               ”2nd and 10 at the 33. Matthew under center. Obomanu goes in
               motion right to left. Turn and hand to Lynch left side. Finds a little
               bit of a hole. Keeps his legs moving. He’s across the 40 … midfield …
               he’s on the run, Lynch. 40 … pushes a man … 35, look at him go. He’s
               down to the 20, 15 … he could go. He is gonna go. Touchdooown
               Seahawks!“

             Voller Inbrunst brüllte Steve Raible diese berühmten Worte in sein Mikro­
             fon, während um ihn herum Menschen schrien, auf ihren Plätzen hüpften,
             sich in den Armen lagen. Und mit ihrem Jubel ein Erdbeben auslösten.

             Vielleicht muss man froh sein, dass Marshawn Lynch mit seinem Beast­
             quake-Lauf im Januar 2011 nicht den Kingdome zum Wackeln – und
             möglicherweise Einsturz – brachte, sondern erst viele Jahre später das
             erdbebensichere Qwest Field, das jetzt dort stand, wo einst die graue
             Lady Seahawks-Fans beherbergt hatte.

             Um Schäden am Stadion zu vermeiden, hatten die Architekten eine Vor­
             richtung eingeplant, die der Dachkonstruktion im Falle eines Erdbebens
             den nötigen Bewegungsspielraum geben würde, um Schäden an Fun­
             dament und Stützen zu reduzieren. Nun also hatte die Erde tatsächlich
             gewackelt und dieser Baukunst des 21. Jahrhunderts so ihren ersten
             Testlauf – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Realbedingungen ver­
             schafft?

             Das zu behaupten, wäre übertrieben. In der Legende zum Beastquake-
             Lauf aber findet das Erdbeben bis heute regelmäßig Erwähnung, weil
             menschengemachte seismische Aktivität einfach besser klingt als unter
             der Last tausender Fans schwankender Stadionbeton.

             Einer, der sich in Seattle seit 2006 mit Erdstößen beschäftigt, ist John
             Vidale. Der Seismologe vom Pacific Northwest Seismic Network (PNSN)
             war es, der die kleinen Ausschläge des Seismografen einen Block vom

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

           Stadion entfernt feststellte. Mit seinen Kollegen verifizierte er das Signal
           und leitete es an die lokale Presse weiter.

           Die Seattle Times veröffentlichte daraufhin eine Grafik, in der sie die ein­
           zelnen Ausschläge den spektakulären Aktionen aus Lynchs 15-sekündi­
           gem Wunderlauf zuordnete. Auf einmal interessierte sich die ganze Welt
           für ein Erdbeben in Seattle, das eigentlich gar keines war. Oder zumin­
           dest nur eines, das sich mit der Magnitude 1 oder 2 auf der Richter-Skala
           kaum verlässlich einordnen ließ.

           Die Folge waren viel medialer Rummel um Vidales kleines Institut an der
           University of Washington – und der Beginn einer Forschungsreihe, die
           dem Zwecke der frühzeitigen Erdbebenerkennung dienen soll. Das Beste
           daran: Seahawks-Fans konnten aktiv daran mitwirken. In den Folgejah­
           ren installierten Vidale und seine Studierenden im Stadion Seismografen,
           um die Erschütterungen während Play-off-Partien in Echtzeit mit ihrer
           „QuickShake“-Technologie zu messen.

           Auf diese Weise konnten 12s, die nicht vor Ort beim Spiel waren, über
           eine Internetseite die Vorboten eines Touchdowns vom Bildschirm ab­
           lesen – wenn der schwache Server des Instituts nicht zusammenbrach.
           Die sonst von Fans so gefürchteten Spoiler waren in diesem Fall sogar
           erwünscht, denn je früher das Warnsystem anschlägt, desto eher können
           Menschen digital vor echten Erdbeben gewarnt werden.

           Marshawn Lynch gefiel, was er mit seinem legendären Lauf ausgelöst
           hatte. So sehr, dass er ehrenamtlich dabei helfen wollte, das Bewusst­
           sein für Erdbeben im Pacific Northwest zu stärken. Lynchs Agent rief
           damals bei Vidale an und offerierte dem PNSN die Dienste seines Kli­
           enten als Werbefilmdarsteller. Vidale musste ablehnen, weil sein Team
           nicht genug Erfahrung mit Werbung hatte. „Wir bereuten das jahre­
           lang“, so der Direktor.

           Bleibt festzuhalten: Ja, der Boden wackelte am 8. Januar 2011 und ja,
           die Seahawks-Fans nahmen das wahr. Aber die Ausschläge waren für

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             den menschlichen Körper dann wohl doch nur im und rund ums Stadion
             in Form von leichter Vibration zu spüren, wenn überhaupt.

             Dass Paul Allen Seattles neue Spielstätte, welche er mit seiner First &
             Goal Inc. im Namen des Bundesstaates Washington in Auftrag gab, den­
             noch betont erschütterungsfest bauen ließ, könnte neben dem tatsächli­
             chen Schutz vor Naturkatastrophen zwei Gründe haben. Möglicherweise
             wollte Allen mit dem Prädikat „erdbebensicher“ seinem Vorgänger Ken
             Behring eins auswischen, der die Seahawks einst unter der lächerlichen
             Begründung von Erdbebengefahr ins nicht weniger gefährdete Los An­
             geles verlagern wollte. Es wäre eine etwas zu teure Machtdemonstration
             Allens, die eigentlich auch nicht zum besonnenen Auftreten des Besitzers
             passte. Möglicherweise wollte Allen aber auch einfach nur vorsorgen, weil
             er den Enthusiasmus der 12s in Seattle kannte. Mit ihrem Lärm konnten
             die Fans der Seahawks Berge versetzen – und so eben auch Stadionwän­
             de zum Wackeln bringen. Was auch immer am Ende der Grund sein moch­
             te – mehr Sicherheit für ein Stadion ist wohl niemals eine schlechte Idee,
             besonders nicht nach 27 Jahren in einem maroden Betonpalast.

             Das Lumen Field: Heimat der Seattle Seahawks seit 2002

             Als Allen die Pläne fürs neue Stadion und das daran angeschlossene
             Veranstaltungszentrum anfertigen ließ, war ihm nicht nur die Stabilität
             und Sicherheit des Bauwerks ein Anliegen. Der Erzählung nach bat der

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

           Seahawks-Besitzer den Architekten Jon Niemuth, die neue Spielstätte sei­
           nes Teams nach Vorbild des Husky Stadiums zu entwerfen. Das Stadion
           der University of Washington liegt im Norden Seattles direkt am Wasser
           und ist bekannt für seine U-Form. Die fast tribünenlose Ostseite lässt an
           klaren Tagen einen traumhaften Blick über die Union Bay zu.

           Aus der Vision vom offenen Stadion mit berauschender Collegeatmo­
           sphäre wurde am anderen Ende der Stadt ein Entwurf, der die begrenz­
           ten Platzmöglichkeiten des Grundstücks berücksichtigte: eine kompakt
           gebaute Wettkampfstätte mit Sitzschalen ganz nah am Spielfeld und of­
           fener, turmförmig konstruierter Nordseite, die den Blick auf Seattles Sky­
           line zulässt. Unter 12s ist dieses Alleinstellungsmerkmal von einer Tribü­
           ne bekannt als das Hawks Nest, als die vermeintlich billigen Plätze.
           Mit ihren vom Rest des Stadions getrennten Aluminiumbänken ohne Rü­
           ckenlehnen haben sie nicht nur einen außergewöhnlichen, provisorischen
           Look, sondern produzieren auch einen ohrenbetäubenden Lärm, wenn
           Fans auf ihren Plätzen auf- und abspringen. Das, so Niemuth, sei Teil des
           Plans gewesen. Was der Architekt und sein Büro aber eigenen Angaben
           zufolge nicht eingeplant hatten, war, dass die gewölbte Dachkonstruk­
           tion, die eigentlich vor Regen schützen sollte, den Lärm um ein Vielfa­
           ches verstärkte. Einen „glücklichen Zufall“ nennt Niemuth das, was Lu­
           men Field bis heute zu einer der gefürchtetsten Adressen in der National
           Football League macht. Man ist sich nicht so ganz sicher, ob man dieser
           Aussage Glauben schenken mag.

           Wissenschaftler erläuterten im Zusammenhang mit Seattles NFL-Stadion
           mehrfach, dass die überhängenden Strukturen – in diesem Fall gegeben
           durch das Dach und zusätzlich durch einen den Unterrang überdachen­
           den Oberrang – der Akustik zugutekommen. Diese Konstruktionen wer­
           fen den nach oben steigenden Lärm zurück in Richtung Spielfeld. Das
           parabelförmige Design der Dachkonstruktion verstärkt dieses Klanger­
           lebnis. Und die im Dach und den Tribünen hauptsächlich verarbeiteten
           reflektierenden Materialien Metall und Beton steigern den Geräuschpe­
           gel ins fast Unermessliche.

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★ IX ★

                                 DIE DEUTSCHEN
                                   SEAHAWKS

             „Sammy, du siehst jünger aus als früher“, sagt Christian Mohr, als er auf
             dem Bildschirm des Videocalls erscheint. „Ich bin ja auch 50 Kilo leich­
             ter“, antwortet Samuel Gutekunst und grinst in die Kamera. Es ist Früh­
             jahr 2021 und wir haben uns virtuell zusammengefunden, um über die
             Seattle Seahawks zu sprechen – oder besser gesagt: über die Karriere der
             beiden einzigen deutschen NFL-Spieler, die jemals beim Team im Pacific
             Northwest unter Vertrag standen.

             Obwohl ihr letztes Treffen knapp zehn Jahre zurückliegt und sie nie zu­
             sammen gespielt haben, unterhalten sich Gutekunst und Mohr, als täten
             sie das jeden Tag. Intensive Trainingslager mit der Konkurrenz und hei­
             ße Duelle in der NFL Europe, dem europäischen NFL-Ableger, schweißen
             zusammen. Aus den angesetzten eineinhalb Stunden Interview wird an
             diesem Abend eine knapp dreistündige Zeitreise mit zwei Footballlegio­
             nären und -pionieren.

                        NFL-Laufbahn
                        Europa:
                        2004-2006 Berlin Thunder
                        2007 Rhein Fire
                        USA:
                        2004-2005 Seattle Seahawks
                        2006 Philadelphia Eagles
                        2008 Cleveland Browns

                                                                 Christian Mohr

                                                                                         169

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

           Fragt man Mohr, 40, und Gutekunst, 36, nach den Anfängen ihrer Lauf­
           bahnen, so landet man zunächst in der Provinz und dann schnell auf der
           großen internationalen Bühne.

           Mohr schnürte seine Footballschuhe als Teenager nach einem Schüler­
           austausch in Ohio zunächst für die Aachen Demons. Er merkte, dass er
           ein Ventil benötigte, um nicht auf dumme Gedanken („Raufereien, auf
           Autos surfen, aus Fenstern springen“) zu kommen.

           Dieses fand er ab 2001 bei den Düsseldorf Panthern, mit denen er von
           der Regionalliga bis in die höchste deutsche Spielklasse, die German
           Football League, durchmarschierte. Dort warteten die Scouts der NFL
           Europe. Head Coach Rick Lantz holte Mohr zu den Berlin Thunder. In­
           nerhalb kürzester Zeit war aus dem Sportstudenten ein Profifootballer
           geworden.

           Gutekunst wuchs auf in einem musischen Haushalt, spielte Klavier, seit
           er sechs war. Mit Football begann er als Jugendlicher in Germersheim,
           nachdem er eine Anzeige der dortigen Gladiators in der Zeitung entdeckt
           hatte. Das Team ging nie in den Spielbetrieb, weshalb er mit 18 Jahren
           zu den Heiligenstein Crusaders ins Nachbardorf wechselte. Von da an
           ging’s bergauf.

           In der Nachwuchsmannschaft der Saarland Hurricanes entwickelte er
           sich zum Leistungsträger, auf den die Scouts der NFL Europe sowie Jörn
           Maier von Rhein Fire und Patrick Esume von der Frankfurt Galaxy auf­

                                                   NFL-Laufbahn
                                                   Europa:
                                                   2005-2006 Frankfurt Galaxy
                                                   2007 Berlin Thunder
                                                   USA:
                                                   2006 Baltimore Ravens
                                                   2007 Jacksonville Jaguars
                                                   2008 Seattle Seahawks
           Samuel Gutekunst

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Die deutschen Seahawks

             merksam wurden. Bis sich Gutekunst 2005 für den Profisport entschied,
             verging aber noch ein Jahr. Er wollte zunächst seine Ausbildung zum
             KFZ-Mechaniker abschließen.

             Auf dem Feld hatten Mohr und Gutekunst nicht viel gemeinsam, spiel­
             ten unterschiedliche Positionen. Unter zahlreichen deutschen Football­
             spielern einten sie aber umso mehr die Attribute Talent und Fleiß, die
             ihnen in den 2000er-Jahren die Aufmerksamkeit der größtenteils ameri­
             kanischen Coaches einbrachten – und ihnen im Rahmen des damals von
             der National Football League organisierten International Practice Squad
             Program den Schritt über den großen Teich ermöglichten. Der Practice
             Squad eines NFL-Teams gehören die Spieler an, die zwar permanent mit
             der Mannschaft trainieren, aber am Gameday nicht eingesetzt werden.

             Im Spielbetrieb der NFL Europe trafen die beiden Deutschen zwischen
             2005 und 2007 mehrfach aufeinander – der Defensive End Mohr wollte
             auf der Jagd nach dem Quarterback vorbei am Offensive Tackle Gute­
             kunst. Wer die direkten Duelle dominierte, meinen beide noch ganz ge­
             nau und exklusiv zu wissen. Auch ihre prägende Zeit in Seattle haben sie
             nach über zehn Jahren noch detailreich in Erinnerung.

                Chris, Sam, der Moment, als euch mitgeteilt wurde: Jetzt geht’s
                zu den Seattle Seahawks – wie war der?

                Chris: Wir standen mit den Berlin Thunder im World Bowl, als
                Mike Chan (Director of Football Operations, NFL Europe) auf
                mich zukam und sagte: Du bist einer derjenigen, die für das Inter­
                national Practice Squad Program ausgewählt wurden. Kurz nach
                unserem Sieg gegen Frankfurt Galaxy wusste ich dann auch, dass
                es zu den Seattle Seahawks gehen sollte. Da wurde mir dann klar:
                Das wird jetzt real.

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

               Mit den unscheinbaren Seahawks aus dem Pacific Northwest
               konntest du damals aber noch nichts anfangen?

               Chris: Mein Bruder hat direkt geschaut, wie deren Logo und Trikot
               aussehen. Der wollte sofort ein Jersey haben. Bei mir war nach der
               ersten Überraschung dann schon auch die Vorfreude da, aber so
               richtig bereit war ich nicht, denn das war gerade nach meiner ers­
               ten NFL-Europe-Saison. Ich dachte, dass der Schritt zu früh kommt,
               denn es hieß damals immer wieder: Christian, du bist viel zu dünn,
               du bist viel zu schmal, du musst Gewicht machen. Daher wäre eine
               Offseason ganz cool gewesen, um meine Physis weiter aufzubauen.
               Dann ging alles ganz schnell.

               Viel Zeit zum Nachdenken blieb dir nicht. Der World Bowl war
               im Juni und im Juli ging es rüber in die USA.

               Chris: Dort stand ich erst mal ohne Koffer am Flughafen, meine
               Sachen waren verloren gegangen. Einen Tag nach meiner Ankunft
               sollte ich dann einen Konditionstest machen. Jetlag, keine eigenen
               Anziehsachen, das ging richtig gut los. Zum Glück hat mich Mike
               Holmgren sehr freundlich empfangen. Ich weiß noch, wie er mich
               vor Ort zur Seite nahm und sagte: „Junge, halte mal die Füße still
               und kaufe dir nicht sofort ein Auto!“ Fand ich echt cool, dass der
               Cheftrainer sich Zeit nahm. Das war auch nicht selbstverständlich.
               Holmgren hinterließ direkt einen sympathischen Eindruck bei mir.

               Sam, bei dir lief es vier Jahre später alles ein bisschen anders.
               2008 war die NFL Europe bereits Geschichte – und du quasi
               Free Agent, richtig?

               Sam: Ja. Da stand ich vor meinem dritten und damit letzten Jahr in
               diesem Förderprogramm für internationale Spieler. Ich kam aus ei­
               ner Saison bei den Jacksonville Jaguars, hatte dort so gut trainiert,
               dass sie mich eigentlich aktivieren wollten, was aber im Rahmen
               des Programms nicht möglich war. Weil die NFL Europe dann aufge­

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Die deutschen Seahawks

                löst wurde, musste ich mich über ein Trainingslager in Spanien neu
                bewerben. Mir machte eine Knieentzündung aus der Zeit in Florida
                zu schaffen, aber ich konnte mich im Camp behaupten. So war es
                dann Tony Allen (heute Leiter der NFL Academy in London), der an­
                rief und sagte: „Die Seahawks würden dich gerne verpflichten.“

                Wie war deine Reaktion?

                Sam: Ich ging mit gemischten Gefühlen an die Sache ran. Zum ei­
                nen war ich froh, wieder eine Chance zu bekommen. Das war meine
                Erwartungshaltung, denn ich wollte mich in meiner letztmöglichen
                Saison in der International Practice Squad erneut um einen festen
                Kaderplatz bewerben. Andererseits fühlte ich mich nicht zu 100 Pro­
                zent fit und hatte Respekt vor dem Medizincheck. Am Ende ging al­
                les gut. Beim Konditionstest merkte ich: Das wird schon okay laufen.
                Natürlich wollte ich Teil von etwas Großem sein in Seattle.

                Erinnert ihr euch an die ersten Tage bei den Seahawks?

                Chris: Das war im Trainingslager in der Nähe von Spokane in Ost-
                Washington. Ich weiß noch, dass ich als einziger Spieler eine ande­
                re Hose anhatte, das war komisch. Aber da blieb nicht viel Zeit zum
                Nachdenken, das war einfach das Training Camp, da musste man
                sein Ding machen und relativ schnell funktionieren – auch als Rookie.

                Hast du funktioniert?

                Chris: Man muss sich mal vorstellen: Ich war ein gutes halbes Jahr
                zuvor noch in der Bundesliga aktiv, wechselte dann für eine Saison
                in die NFL Europe und stand nun auf einem NFL-Trainingsplatz. Die­
                ser Sprung war riesig. Ich wusste erst mal nicht, was Sache ist und
                kam überhaupt nicht mit. Mein Defensive Coordinator nuschelte und
                fluchte die ganze Zeit. Deshalb kämpfte ich mich über die Special
                Teams rein, da musste ich nur laufen. Zum Glück hatte ich Mitspieler
                wie Grant Wistrom und Chike Okafor, die mich integrierten.

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AMERICAN FOOTBALL: DIE SEATTLE SEAHAWKS

               Mit Rookie-Ritualen?

               Chris: Ich musste zum Glück nichts machen. Defensive Tackle Rashad
               Moore, genannt „Booger“, war in seinem zweiten Jahr in Seattle
               und sagte immer: „Der muss gar nix machen, der kommt aus der
               Practice Squad.“ Da war ich froh drüber, denn ich hatte als Rookie
               genügend Kopfschmerzen.

               Sam: In Baltimore musste ich tatsächlich singen und tanzen. Ich
               habe von Heinz Erhardt „Immer wenn ich traurig bin, trinke ich ei­
               nen Korn“ dargeboten. Die Nummer hätte ich in Seattle noch ein­
               mal abgezogen. (Lacht.) Aber dort verlangte das damals niemand.
               Lag zu meiner Zeit vielleicht auch an Walter Jones, der über unsere
               Offensive Line seine schützende Hand hielt. Er war wie ein Löwe,
               der auf seine Jungen aufpasst. Klar, er hätte mich auch totgebis­
               sen, wenn er gemusst hätte. Aber ich war keine Konkurrenz für ei­
               nen All-Pro.

               Sam, du kamst im Vergleich zu Chris nach zwei vorherigen NFL-
               Stationen fast schon als alter Hase nach Seattle. 2008 fand das
               Trainingslager im Osten der Metropole, in Kirkland auf dem re-
               gulären Teamgelände, statt. Hast du noch die Bilder von deinem
               Anflug auf die Stadt im Kopf?

               Sam: Von Seattle sah ich leider nichts, denn ich kam von der an­
               deren Seite. Das war aber nicht weniger beeindruckend, weil ich
               so über die Berge flog. Als großer Kanadafan gefallen mir diese
               Landschaften. Sie waren ganz anders als zuvor Florida, erinnerten
               mich an Europa und das bayrische Umland, wo ich herkomme. Der
               Pacific Northwest ist eine der schönsten Gegenden der USA. Nach
               meiner Ankunft im Hilton in Bellevue hatte ich noch ein paar Tage
               Zeit, die Gegend zu erkunden.

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