Frühe Kommunikations-entwicklung - Psychosoziale Zuwendung oder therapeutisches Eingreifen? Physiotherapie bei Kindern mit DS - Ziele und Chancen
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Nr. 64 I Mai 2010
ISSN 1430-0427
Frühe Kommunikations-
entwicklung
Psychosoziale Zuwendung
oder therapeutisches
Down-Syndrom-Plus Eingreifen?
Autismusspektrumstörungen
bei Kindern mit DS Physiotherapie
bei Kindern mit DS
Erlernte – Ziele und Chancen
Hilflosigkeitg EDITORIAL
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
was tut sich in der europäischen DS-Szene? Das war der Titel meines Vortrags
auf einem skandinavischen DS-Kongress, zu dem ich im März eingeladen war.
Natürlich konnte ich Erfreuliches berichten, über gute internationale Zusam-
menarbeit, über Fortschritte bei der Integration und tolle Aufklärungskampa-
gnen gerade anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages.
All diese positiven Berichte sollten uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es noch viele negative Gefühle gegenüber Menschen mit Down-Syndrom
gibt, ja bisweilen sogar verbrecherisches Gedankengut öffentlich verbreitet
wird, wie die Facebook-Affäre uns wieder deutlich vor Augen führte. Da wur-
de – von einer italienischen Gruppierung propagiert – vorgeschlagen, Kinder
mit Down-Syndrom zu beseitigen, indem man sie als Zielscheiben in Schieß-
zentren verwendet. Diese über Facebook verbreitete, skandalöse Aktion hatte
bald sehr viele „Freunde“. Zum Glück wurden die Seiten nach wenigen Tagen
gelöscht, es bleibt aber ein bitterer Nachgeschmack. Und es zeigt uns, wie ver-
letzbar die Situation unserer Kinder noch ist.
So sind Aktionen, die weltweit zum 21. März stattfanden, um mehr Wissen zu
verbreiten und um um Verständnis zu werben, weiterhin nötig. Hoffentlich
kann der Welt-DS-Tag langfristig dazu beitragen, das Image von Down-Syn-
drom zu verbessern. Eine dieser Aktionen – eine tolle Fashionshow, die in Zü-
rich über die Bühne ging, wird in diesem Heft beschrieben.
Interessant und erfreulich ist es, dass wir immer mehr Berichte bekommen
über die Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen. Das ist ein Bereich, der
vermehrt in den Vordergrund treten wird und muss. Einige Beispiele finden
Sie in dieser Ausgabe. Lebenslanges Lernen ist Inhalt des EU-Bildungspro-
gramms Grundtvig und ist durchaus auch für Menschen mit Down-Syndrom
ein wichtiges Thema. Das DS InfoCenter beteiligt sich, gemeinsam mit Part-
nern aus fünf europäischen Ländern, am Projekt „Yes we can“, in dem die ma-
thematischen Bedürfnisse von Menschen mit DS im Mittelpunkt stehen.
Zwei Erfahrungsberichte über den anstrengenden Alltag – einmal mit Willi
und seiner Schwester, einmal mit Wolfgang. Obwohl beide Mütter oft der Er-
schöpfung und Verzweiflung nahe sind, liest man zwischen den Zeilen doch,
wie viel Spaß ihnen das Zusammenleben mit ihren Kindern bereitet und wie
bereichernd die Erfahrung ist. Das passt nun gar nicht zu der Besorgnis erre-
genden Situation in Dänemark, dort haben Babys mit Down-Syndrom heute
schon Seltenheitswert.
Und mein persönlicher Filmtipp: „Uwe geht zu Fuß“. Ergreifend schön.
Viel Lesefreude wünscht Ihnen
Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010 1g I N H A LT
Down-Syndrom
ein Gesicht geben
– Groß-Portraits in
Einkaufszentren
Seite 6
Neues aus dem DS-InfoCenter
4 Die neue Sonderausgabe ist da!
5 1000 Filme an Medienzentralen und Beratungsstellen
5 Neues Lieferprogramm
6 Welt-Down-Syndrom-Tag 2010: Fotoausstellung
7 Heute ist unser Tag! Ich bin dabei! Poster, Postkarten und Flyer
Aus dem Ausland
8 Das Leben ist bunt. Fashionshow in Zürich
10 Neues aus Skandinavien – Fortschrittliches und Bedenkliches
11 Down-Syndrom in Dänemark – Nicht gerade lustig!
Aus der Wissenschaft
12 Down-Syndrom-Plus
Autismusspektrumstörungen bei Kindern mit Down-Syndrom
Sprache
19 Studie: Guckst du? Online-Befragung über den GuK-Gebärdenwortschatz
20 Frühe Kommunikationsentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom
Psychologie
24 Kinder sehnen sich nach gemeinsamem Lernen
28 Erlernte Hilflosigkeit
31 Angst vor Treppen! Von der Treppenangst zum Treppendiplom
32 Psychosoziale Zuwendung oder therapeutisches Eingreifen?
Event in Zürich! Förderung
Fashionshow vom 39 Babys erfolgreich stillen
Feinsten 40 Physiotherapie bei Kindern mit Down-Syndrom – Ziele und Chancen
Titelbild:
Silas Beck
Foto: Martin Beck
2 Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010g I N H A LT
Zürich:
Da ging eine tolle Aktion
zum WDSD über die Bühne
Seite 8
Wie Lifestyle und DS
zusammenpassen,
zeigt uns das Magazin
„bunt“!
Bericht folgt in der
September-Ausgabe.
Weiterbildung
44 Internationales Projekt: Yes, we can!
Mathematik und Down-Syndrom
45 Geschichte mit PEp
48 Trauerkurs. Was passiert bei einer Beerdigung?
50 Der Weg entsteht im Gehen.
Jugendliche erschließen sich neue Welten
54 Pflege-Animator. Ein neues Berufsfeld?
Sport und Freizeit
55 Der Berliner Mauerweglauf – eine Aktion zum Welt-DS-Tag
56 Judo (der sanfte Weg) – Eine Sportart für alle
58 Integration beeinträchtigter Kinder in Fußballvereinen
Erfahrungsbericht
59 Trotz Down-Syndrom und Autismus – Wolfgang macht sich
62 Ein ganz normaler Tag
Publikationen
66 Neuvorstellung von Büchern/Filmen
Veranstaltungen
Ein ganz normaler 69 Termine, Tagungen, Kongresse, Seminare
Tag mit Willi
Vorschau / Impressum
71 Vorgesehene Themen im nächsten Heft
Uwe geht zu Fuß – ein
berührender Film über
einen erstaunlichen
Mann und sein Dorf
Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010 3down-syndrom
X
d e u t s c h e s
infocenter
Die neue Sonderausgabe
Diagnose Down-Syndrom, was nun?
Neues aus dem DS-InfoCenter ...
März 2010
ISSN 1430-0427
Zweitausend Exemplare der derung. Das Stillen und die Sauberkeitser-
vorigen Sonderausgabe ha- ziehung werden ebenfalls angesprochen.
ben wir innerhalb von vier Auch die wichtige Frage, was es für eine
Jahren verschickt. Die Familie – insbesondere für die Geschwis-
meisten Hefte gingen an terkinder – bedeutet, nun mit einem Kind
o n d er-
S gab e Familien, in denen gera- mit Down-Syndrom zusammenzuleben,
aus de ein Kind mit Down- wird in verschiedenen Artikeln behandelt.
Syndrom geboren wurde. Die Themen erstrecken sich von der Präna-
Das bedeutet, dass wir, talen Diagnostik bis zu der Frage nach dem
ausgehend von achthun- Kindergarten. Auskünfte zu Rechtsfragen
dert Neugeborenen mit und Tipps für weiterführende Literatur er-
Down-Syndrom jähr- gänzen die übrigen Informationen.
lich, immerhin mehr Es wurden nicht nur Fachartikel gesam-
als die Hälfte dieser melt. Erfahrungsberichte zu Themen, die
neu betroffenen Fa- Eltern am Anfang beschäftigen, und die
milien erreichen. Das vielen schönen Fotos machen dieses Heft
ist erfreulich, aber es zu etwas Lebendigem, die Geschichten sind
muss noch besser wer- „aus dem Leben gegriffen“. Denn man ist
den. Alle Eltern sollen nicht allein mit seinem Kind. Die betroffe-
umfassende, aktuelle nen Eltern werden bald feststellen, dass es
Informationen mög- auch in ihrer Nähe andere Familien gibt, in
n-Synd ro m ,
Diagnose Dow
lichst schnell nach denen ein Kind mit Down-Syndrom lebt
der Geburt ihres Ba- und die ihr Leben gut meistern. Der Kon-
wa s n u n ? bys bekommen. Dies takt zu einer Selbsthilfegruppe oder zu an-
ist eine wichtige Vo- deren Eltern kann deshalb eine große Hil-
raussetzung für ei- fe sein.
nen guten Start in Diagnose Down-Syndrom, was nun?
das Leben mit diesem be- kann sicherlich einige der Fragen, die auf-
sonderen Baby. Deshalb ist dieses Heft auch tauchen nach der Geburt eines Kindes mit
In dieser komplett neu zusam-
Bestandteil der Erstinfomappe, die von vie- Down-Syndrom, beantworten und soll au-
mengestellten Sonderausgabe der len Geburtskliniken regelmäßig bei uns an- ßerdem Mut und Zuversicht vermitteln.
Zeitschrift Leben mit Down-Syndrom gefordert wird.
sind für alle, die am Anfang des ge- In diesem Heft Diagnose Down-Syn-
meinsamen Lebensweges mit einem Kind drom, was nun? können die Themen
mit Down-Syndrom stehen, wieder nur kurz angesprochen werden, sie sol-
len Eltern erste Anhaltspunkte bieten.
viele interessante und Mut machende
Ärzte und Therapeuten werden Famili-
Artikel aufgenommen. en weiter bei der Förderung ihres Kindes
unterstützen. Außer einigen Beiträgen zu
gesundheitlichen Besonderheiten, die bei
Babys und Kleinkindern mit Down-Syn-
drom öfter vorkommen können, gibt es ei-
nen ausführlichen Bericht über die moto-
rische Entwicklung, verschiedene Beiträge
zur pädagogischen und sprachlichen För-
4 Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 20101000 Filme „Down-Syndrom in Bewegung“
an Medienzentralen und Beratungsstellen!
Der besondere Film zum Welt-Down-Syndrom-Tag 2010
Wir haben uns bei dieser Aktion für zwei Der Film „Down-Syndrom in Bewegung“
Zielgruppen entschieden. Einmal wollten vermittelt ein Bild der heutigen Lebenssi-
wir Schüler erreichen, die sich z.B. im Bi- tuation von Menschen mit der Trisomie 21
ologie-, im Ethikunterricht oder in Sozial- und kann bei der Beratung eine Hilfe sein.
kunde mit dem Thema Down-Syndrom be-
fassen, dabei aber hauptsächlich über Zellen Viel Versandarbeit für Justine
und Chromosomen unterrichtet werden. Es war hauptsächlich der Job unserer Assis-
Mit diesem Film können sie sich auch ein tentin Justine, die fast 400 Filme einpackte
Bild von dem Menschen mit Down-Syn- für die ProFamilia-Beratungsstellen und
drom machen. Deshalb haben wir 630 Filme für die 70 Hebammenschulen. Eine ganz
bundesweit an die Land-, Kreis- und Stadt- schöne Arbeit. Aber Justine liebt solche Ak-
bildstellen geschickt, die Medien an Schu- tionen und war enorm stolz, als die Filme
len und andere Einrichtungen ausleihen. nach zwei Tagen alle schön verpackt zur
Die zweite Zielgruppe sind die Schwan- Post getragen werden konnten.
gerenberatungsstellen – sie spielen eine Glück hatten wir bei den Medienzentra-
wichtige Rolle, wenn angehende Eltern len. Wir konnten ihren zentralen Verteiler
nach der Diagnose Down-Syndrom sich in- nutzen und so die etwas mehr als 600 Filme
formieren möchten oder auch schon wenn an die Kreis-, Landes- und städtischen Bild-
Im Rahmen einer einmaligen Aktion im Vorfeld über pränatale Untersuchungen stellen schicken.
anlässlich des Welt-Down-Syndrom- gesprochen wird – und die Hebammen- Dass das Geschenk gut ankam, zeigten
schulen, weil Hebammen sowohl vor wie die vielen Dankmails und Telefonate. Nun
Tages hat das Deutsche DS-InfoCenter in
auch direkt nach der Geburt wichtige An- hoffen wir, dass der Film tatsächlich einge-
diesem Jahr 1000 Exemplare des neuen
sprechpartner für die Eltern sind. setzt wird.
Informationsfilms „Down-Syndrom
in Bewegung“ verschenkt.
Gleichzeitig mit dieser Ausgabe von Leben mit Down-Syndrom
erhalten Sie das neue Lieferprogramm für 2010/2011.
Sie finden dort eine Übersicht aller Publikationen und Materialien,
die Sie beim Deutschen Down-Syndrom InfoCenter bestellen können.
Das Bestellformular können Sie uns per Post oder Fax
(Fax: 09123 98 21 22) zuschicken.
Natürlich nehmen wir Ihre Bestellung auch telefonisch auf
(Tel.: 09123 98 21 21) und Sie haben die Möglichkeit, über unseren
Webshop zu bestellen (www.ds-infocenter.de).
Auf dem Titelbild lacht uns der dreijährige Silas entgegen.
Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010 5down-syndrom
infocenter
X
d e u t s c h e s
Welt-Down-Syndrom-Tag 2010
Fotoausstellung in Einkaufszentren
Unsere Fotoausstellung „Heute ist unser Tag“ wur-
de speziell zum Welt-Down-Syndrom-Tag konzi-
piert. Schon im letzten Jahr konnten Mitglieder des
Vereins sich für ein Fotoshooting mit der bekannten
Stuttgarter Fotografin Conny Wenk anmelden, das
an einem wunderschönen Tag im Nürnberger Tier-
garten durchgeführt wurde. Nicht nur entstanden
so für die Familien eine Reihe schöner Bilder ihrer
Kinder, wir hatten gleichzeitig wieder einen „Fun-
dus“ mit Fotos für unsere Publikationen und für die
geplante Ausstellung.
Gleich in zwei großen Einkaufszentren in Nürn-
berg – City Point und Frankenzentrum – und im
Brückencenter in Ansbach wurden in der Woche
zwischen 15. und 22. März großformatige Bilder aus-
gestellt, die Menschen mit Down-Syndrom zeigten.
Mit dieser Fotoausstellung wollten wir dem Welt-
Down-Syndrom-Tag ein Gesicht geben. Deshalb
zeigten wir große Portraitaufnahmen von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen mit Down-Syn-
drom.
Die Ausstellung hatte zum Ziel, neue Bilder von
Menschen mit Down-Syndrom zu vermitteln und
dadurch auch neue Sichtweisen zu eröffnen. Diese
außergewöhnlichen Bilder zeigen die Individualität,
die Unterschiedlichkeit und die Lebensfreude dieser
Menschen.
Viele Besucher schauten sich die Fotos an und la-
sen die Informationstafeln, es gab gute, positive Ge-
spräche am Rande, aber auch einige erschreckend
negative Erfahrungen, die zeigen, wie notwendig
weiterhin Aufklärung ist.
Auf einer großen Texttafel war bei der Ausstellung zusam
mengefasst, wozu der Welt-DS-Tag da ist. Außerdem wurden
Flyer, Postkarten und die Pins verteilt.
6 Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010Heute ist unser Tag! Ich bin dabei!
Poster, Postkarten und Flyer
Alle Jahre wieder ... Und auch in die- Ein wenig Stress bereitet die Aktion hier
sem Jahr bekamen wir hunderte von Fotos schon, vor allem Judith, unserer Posterma-
zugeschickt, die dann als Poster, versehen cherin. Sie muss Fotos oft x-mal zurücksen-
mit Logo und Slogan, das InfoCenter ver- den, weil diese einfach nicht entsprechend
ließen, um irgendwo in Deutschland ausge- vorbereitet sind, oder wenn jemand sogar
druckt, aufgehängt, verschenkt, verschickt, noch am 20. März Fotos einschickt (obwohl
gezeigt zu werden. Es bleibt einfach eine su- der Schlusstermin eigentlich 18. März war),
per Idee, auf diese Art möglichst viele Men- mit der Bitte, diese doch noch schnell über
schen zu motivieren, bei einer Aktion wie Nacht zu bearbeiten, damit man sie am
dem Welt-DS-Tag mitzumachen. Andere nächsten Tag noch einsetzen kann ...!
haben inzwischen die Idee auch aufgegrif- Außerdem haben wir oft Angst um un-
fen, so stellen verschiedene DS-Selbsthilfe- seren PC, dass der bei den Mengen an Bil-
gruppen ihre eigenen Poster und Postkarten dern, die reinkommen und verschickt wer-
her. Ob wir im nächsten Jahr die Kampagne den müssen, den Geist aufgibt.
wieder aufgreifen, ist noch nicht bekannt, Es ist zu schade, nicht zu zeigen, welch
vielleicht fällt uns etwas anderes ein. schöne Poster bei der Kampagne so zusam-
menkommen. Deshalb gibt es in dem vor-
liegenden Heft wieder einige Kostproben.
Auch werden wir das eine oder andere ein-
geschickte Foto – wenn es gerade zu einem
bestimmten Thema passt – gern in unseren
Publikationen verwenden. In einem sol-
chen Fall werden wir uns mit Ihnen in Ver-
bindung setzen und noch einmal um Er-
laubnis bitten.
Auf eine Galerie auf der Website verzich-
ten wir, da doch etliche Einsender ihr Pos-
ter dort nicht gezeigt haben wollen.
Postkarten
Auch unsere vier Postkarten fanden viele
Abnehmer. Da wir noch welche übrig ha-
ben und diese mit einem „Verfallsdatum“
versehen sind – wir sie also im nächsten
Jahr nicht mehr verwenden können –, liegt
einem Teil der Zeitschrift eine Karte bei, für
unsere Leser als Andenken!
Flyer
Aus dem hier abgebildeten Flyer finden Sie
in dieser Ausgabe von Leben mit Down-Syn-
drom einige Motive, denn nicht alle Leser
kennen dieses Faltblatt. Wir haben die Er-
fahrung gemacht, dass die wenigen, kurzen,
aber aussagestarken Texte in diesem Flyer
bei Außenstehenden sehr gut ankommen
und oft ein „Aha-Erlebnis“ auslösen.
Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010 7g AUSLAND
Das Leben ist bunt …
Eine Fashionshow der Superlative
Welt-DS-Tag in Zürich
Ein kunterbuntes
Frühlingsbouquet
T e x t : B ritta R ath
Insieme21, Insieme-Zürich und
Art21 haben sich zu diesem
Anlass etwas ganz Spezielles ein-
fallen lassen – eine Fashionshow
unter dem Motto „Das Leben ist
bunt“: Dreißig Jugendliche mit
Down-Syndrom und 15 Schwei-
zer Prominente – und alles hoch-
professionell organisiert!
„Catwalk“-Probe
Bereits vier Wochen vor dem Anlass wur-
de zu einer ersten „Catwalk“-Probe eingela-
den. Drei Stunden lang übten alle DS-Mo-
dels hoch konzentriert das richtige Posing
unter Anleitung der quirligen Grazia Covre,
die ansonsten Großveranstaltungen wie die
Miss-Schweiz-Wahlen choreografiert.
Dann der 21.3.2010, 10 Uhr, Regen
Location: Der renommierte Züricher Sze-
neclub „Kaufleuten“. Die Kids hatten ein
straff durchorganisiertes Probenprogramm:
Stolzieren auf dem Laufsteg à la Bruce Dar-
nell, Top-Styling vom Team des Star-Coif-
feurs Valentino inklusive professionellem
Schminken, Dress-Fitting und „Walk on the
Wild Side“ mit den Promis. Allein das war
schon ein Event für sich.
15 Uhr – Start zum Final Countdown
Begleitet von fetziger Musik defilierten un-
sere kleinen „Starletts“ – eingekleidet mit
farbig-flippiger Frühjahrsmode vom Mo-
dehaus Jelmoli – mit großen Stars, wie der
Eiskunstläuferin Denise Biellmann, dem
Model Julia Saner, dem Dreispringer Ale-
xander Martinez, der Kunstturnerin Ariel-
la Kaeslin oder DJ Tatana über den Laufsteg
und liefen zu echter Hochform auf.
8 Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010g AUSLAND
Spontane Sondereinlagen zeugten von
geradezu enthusiastischem Engagement
der „Nachwuchsmodels“, sei es in Form ge-
konnter Rap-Movements, eines Überra-
schungsspagats auf der Bühne oder einer
Extra-Promenade über den Catwalk als Zu-
gabe. Das heizte die ausgelassene Stimmung
noch zusätzlich an, sodass dieser Event in
einem Überschwang der Gefühle gipfelte.
Musikalisch untermalt wurde dieses Fest
der Emotionen durch eine warmherzige
Ballade von Nubya und das bewegende Lied
„En couleur“ des ehemaligen Musikstar-Fi-
nalisten Mario Pacchioli, das sich bei nicht
wenigen Zuhörern auch noch Tage nach
der Veranstaltung als Ohrwurm eingenistet
hat ... die CD bekamen alle Zuschauer ge-
schenkt.
15.45 Uhr – Ein Feuerwerk an ‚Highlights’
Die Stiftung „Wunderlampe“, die sich kran-
ker, behinderter oder benachteiligter Kinder
annimmt, hatte versprochen, einen vorab
eingereichten Herzenswunsch auszulosen
und zu verwirklichen. Dann die Überra-
schung: Jeder einzelne „kleine Traum“ un-
serer dreißig Models soll erfüllt werden!
Zum abschließenden Disco-Ausklang
stürmten unsere Stars den Laufsteg und
tanzten, was die Bühnenbretter hielten. Zu-
rück in der Umkleide erwartete uns noch
Jelmoli mit einem großzügigen Abschieds-
geschenk: Alle Jungmodels durften als Sou-
venir die Kleider mit nach Hause nehmen
und bekamen zusätzlich einen Einkaufsgut-
schein über 50 Schweizer Franken. Kom-
mentar meiner Tochter beim Öffnen der Ge-
schenkkarte: „Schau Mami, 50 Rappen“ ...
26.3.2010 – Die Tage danach,
die Sonne lacht
Was ist geblieben, neben Fernsehbeiträgen
und Zeitungsartikeln? Kann es sein, dass
dieser „Selbstbewusstseinskick“ unserer
Tochter Viviane einen zusätzlichen Moti-
vationsschub gegeben hat? Warum steht
sie plötzlich morgens von alleine auf, sucht
sich selber die Kleidung zusammen und ist
megagut gelaunt, wenn sie aus der Schule
kommt? Wie dem auch sei, es war ein un-
vergesslicher Frühlingsanfang. Dieses spe-
zielle Event mit dieser einmaligen Stim-
mung wird uns allen sicher noch lange in
schöner Erinnerung bleiben.
Allen Organisatoren und Beteiligten ein
herzliches Dankeschön für diesen gelun-
genen Tag! <
Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010 9g AUSLAND
Neues aus Skandinavien –
Fortschrittliches und Bedenkliches T EX T: CO R A H A L D E R
Studieren an der Uni Reykjavik Die Teddy-Methode basiert auf dem Glau-
in Island ben, dass alle Kinder lernen wollen, wenn
das Lernen Spaß macht und vom Erfolg ge-
In der Regel meinen wir, dass die Gudrun Stefansdòttir ist Pädagogin an der krönt ist. In einem Film zeigt Julie, wie auch
Situation behinderter Menschen Universität in Island und Initatorin einer Kinder mit Down-Syndrom mit viel Freude
in den skandinavischen Ländern regulären Berufsausbilung zum/r Kinder- erfolgreich Englisch lernen. Die Teddy-Me-
pfleger/-in, die in Reykjavik an der Uni an- thode und die dazugehörenden Materialien
besser ist als in Deutschland. Viel
gesiedelt ist. Dort bietet man seit 2007 eine können so wie sie sind überall eingesetzt
Geld ist verfügbar für diese Ziel- zweijährige Ausbildung zum/r Kinderpfle- werden – nur das Anleitungsheft müsste
gruppe. Gibt es da nicht durch- ger/-in für Menschen mit Lernschwierig- aus dem Norwegischen übersetzt werden.
gehend schulische Integration? keiten an. Das Besondere dabei ist, dass sie Eine schön gestaltete, übersichtliche Web-
Bekommen z.B. in Norwegen gemeinsam mit nicht beeinträchtigten Stu- site informiert ausführlich über Teddy, mit
nicht alle diese Menschen ab ih- denten den Kurs absolvieren und nicht wie der übrigens auch alle jüngeren Kinder
an anderen Unis, wie z.B. in Dublin oder Englisch lernen können. Auch die Materi-
rem 18. Lebensjahr eine großzü-
an verschiedenen Orten in Australien oder albox kann in Norwegen bestellt werden.
gige Rente vom Staat? Und stellt in den USA, in speziellen Klassen zusam- Informationen: www.teddylanguage.no
die zuständige Kommune nicht mengefasst sind. Gelernt wird im „Tandem-
eine Wohnung zur Verfügung? system“. Die ersten Schüler und Schüle-
Vieles stimmt tatsächlich, vieles rinnen haben ihre Ausbildung 2009 erfolg- Ein gemeinsames Jahr in der
ist gut organisiert, manchmal reich abgeschlossen, darunter auch acht
Personen mit Down-Syndrom. Ein nächs-
Peder-Morset-Schule
sogar ein wenig zu gut.
ter Kurs läuft bereits.
Auf der DS-Landeskonferenz, Viele Jugendliche in Norwegen besuchen
die im März in Bergen stattfand, nach ihrem Schulabschluss und bevor sie
Englisch lernen mit Teddy
konnte ich mich über einige mit einem Studium oder einer Berufsaus-
in Norwegen bildung anfangen, ein Jahr lang eine „Volks-
beispielhafte Projekte informie-
ren, u.a. über das gemeinsame hochschule“. In Norwegen versteht man
Auch Kinder mit Lernproblemen oder lang- darunter ein Fortbildungsjahr in einem In-
Studieren an der Uni Reykjavik,
sam lernende Kinder sollen und können eine ternat, wo sportliche, künstlerische und so-
über eine Methode, mit der Fremdsprache ziale Fähigkeiten gefördert werden. Für die
langsam lernende Kinder Eng- lernen und da- meisten bedeutet es, zum ersten Mal über
lisch lernen, oder über ein Jahr mit kann schon eine längere Zeit von zu Hause weg zu sein,
in einem Fortbildungsinstitut, früh begonnen mit anderen Jugendlichen zusammenzu-
wo Jugendliche vor allem in der werden. wohnen, gemeinsam Verantwortung für
Eine erfolg- den Alltag zu übernehmen. Ausländische
Entwicklung ihrer Selbstständig-
reiche Methode, Studenten leisten hier oft ein soziales Jahr
keit unterstützt werden, selbst- die in Norwe- und gestalten gemeinsam mit den Lehrern
verständlich alles integrativ. gen mittlerwei- das Programm. In den meisten FHS sind
le sehr verbrei- selbstverständlich auch junge Menschen
Aber es gibt auch überraschend
tet ist und nun mit Behinderungen dabei.
Negatives. In Dänemark z.B. gibt auch in den an- Bei der Konferenz wurde die Peder-
es kaum schulische Integration, deren skandi- Morset-Schule im Norden des Landes vor-
weniger noch als in Deutsch- navischen Län- gestellt, die mit dem Konzept der umge-
land. Überhaupt ist Dänemark, dern auf Interesse stößt, ist das Konzept drehten Integration arbeitet – hier leben
nicht gerade Down-Syndrom- „Learning english with Teddy“. Es ist ein su- und lernen 40 Schüler mit einer Lernein-
per einfaches Lernpaket, entwickelt von Ju- schränkung gemeinsam mit 20 nicht behin-
freundlich. Lesen Sie dazu auf
lie Monsen, die in ihrer Tätigkeit als Lehre- derten Schülern ein Jahr zusammen. Viele
der nächsten Seite die Glosse rin geeignetes Material vermisste, um auch Jugendliche mit Down-Syndrom waren
aus einer norwegischen Zeitung. Kindern mit Lernproblemen Englisch bei- schon hier und haben Kontakte geknüpft,
zubringen. Julie ist Engländerin, lebt seit die oft ein Leben lang halten, und Wichtiges
vielen Jahren in Norwegen, ist Sprachlehre- gelernt, vor allem an Selbstständigkeit.
rin und Sonderpädagogin.
10 Le b e n m i t D o w n - S y n d ro m N r. 6 4 I Mai 2010g AUSLAND
Down-Syndrom in Dänemark –
Nicht gerade lustig!
T e x t : A rnt O lav K lippenberg Ü b e rs e tzung : Cora H alder
Arndt Olav Klippenberg ist Journalist und lebt in Stavanger, Süd-Norwegen. Er schreibt
schon seit mehr als zehn Jahren jeden Samstag eine Glosse im Stavanger Aftenblad. Sel-
ten bekam Klippenberg so viele Reaktionen auf einen Artikel wie auf den Text „Ikke deilig
å ha Downs i Danmark“, den Sie hier in der deutschen Übersetzung lesen können.
D as nächste Mal wenn du in Dänemark
bist, schau dich gut um. Irgendet-
was im Straßenbild ist anders. Die größten
Seele verloren. Alle, die sich in den letzten
Jahren mit Dänemark beschäftigt haben,
stellen fest, dass ein kälterer Wind als zu-
laden. Wir können sie mitnehmen auf den
Pausenhof. Vielleicht fragen sie sich dann,
was das für ein süßes Mädchen ist, das uns
Charmeure der Welt findest du nicht mehr: vor über das Land bläst, das soziale Klima so entwaffnend charmant anlächelt, oder
die süßen Kinder mit Down-Syndrom. Sie ist rauer geworden. vielleicht wundern sie sich über den klei-
sind weg. Dänemark hat es geschafft, ein In diesem Zusammenhang weiß ich, wo- nen, rundlichen Jungen, der uns entgegen-
ganzes Volk auszurotten (beseitigen), ohne von ich rede. Ich kenne viele Menschen mit gerannt kommt, um dem fremden Gast
dass wir das gemerkt haben. einer psychischen Lerneinschränkung. Ei- die herzlichste Umarmung der Welt zu ge-
Stolze Ärzte erzählen, dass kein einziges nige von ihnen haben über die Zustände ben. Dann können wir den Dänen erzählen,
Land diese Aufgabe besser erledigt hat als in Dänemark und ihr System gehört. Viel- dass sie gerade Vertretern der norwegischen
Dänemark. Letztes Jahr wurden nur noch leicht wird die jährliche Urlaubsreise zum Downs-Bevölkerungsgruppe begegnet sind.
21 dänische Kinder mit Down-Syndrom bei Legoland in diesem Jahr nicht mehr ganz so Quelle:
unserem Brudervolk geboren. Sie sind die lustig. Stavanger Aftenblad, 2. Mai 2009,
Besten weltweit. Die Dänen haben mich auf einen Marihøna, Bladet om Downs syndrom,
„Ja, das ist ein Erfolg, es gibt kein an- schrecklichen Gedanken gebracht. Was November 2009
deres Land, das ein so gutes System hat wie wäre geschehen, wenn wir in Dänemark ge-
wir hier in Dänemark“, sagt Ann Tabor, wohnt hätten, damals, als meine Frau un-
Oberärztin im Rikshospital. seren Sohn erwartete. Er ist ein super Junge, Erschreckende Zahlen
Das System, wovon sie spricht, ist das mit einer geistigen Behinderung. Ich gehe aus Dänemark
Angebot an pränatalen Diagnoseverfahren davon aus, dass wir wie die dänischen Fami-
für alle. Anschließend haben die Eltern das lien gewählt hätten. Das ist ja ein schreck- Geborene und nicht geborene Babys mit
Wort. Sie brauchen nur noch zu wählen. licher Gedanke, aber gleichzeitig zeigt es, Down-Syndrom in Dänemark.
Laut dänischer DS-Website: www.down.dk
Ine, mine mu, raus bist du! wo die Schuld liegt: beim Staat. Man sollte
Dass wir nie so werden wie die Dänen! uns nicht vor eine solche Wahl stellen dür-
Geboren: Abortus:
Dass wir nie alle Schwangeren vor eine sol- fen. Der Staat darf uns nicht zwingen zu
2004: 61 2004: 96
che teuflische Wahl stellen. wählen. Die Natur soll ihren Gang gehen.
2005: 30 2005: 131
In den letzten Jahren wurden immerhin Wir Menschen sind dazu aufgefordert, sie 2006: 29
noch rund 60 Kinder mit Down-Syndrom zu schützen. Deswegen ist das System der 2007: 26
jährlich in Dänemark geboren. Jetzt stre- dänischen Ärzte so grausam. 2008: 21
ben die Ärzte die Zahl 10 an. Deshalb stel- Es ist traurig zu sehen, wie unser liebes
len sie das System zur Verfügung. Ich be- Brudervolk sich mit der Bereinigung der
komme eine Gänsehaut, wenn ich das Wort Bevölkerung abfindet. Die Dänen betreiben
„System“ höre. Wir kennen alle Regimes, mit ihrem System in den Krankenhäusern
die sich gut auf Systeme verstanden und keine ethnische Reinigung, aber eine Chro-
es fertig brachten, diejenigen herauszusor- mosomenreinigung. Für mich ist das ge-
tieren, die nicht reinpassten. Ich kann ein- nauso schlimm.
fach nicht verstehen, dass so etwas in Däne- In Oslo werden jährlich üblicherwei-
mark passiert. Seit eh und je ist Dänemark se zwischen elf und 13 Kinder mit Down-
mein Lieblingsland. Dänen sind einfach tol- Syndrom geboren. Im letzten Jahr stieg die
le Menschen. Wie kann das sein, dass aus- Zahl auf über 20. Hurra! Die Spezies Down-
gerechnet die Dänen dafür kämpfen, Men- Syndrom ist in Norwegen noch nicht vom
schen mit Down-Syndrom zu beseitigen? Aussterben bedroht. Darauf bin ich stolz.
Ich weiß nicht recht, aber eine Nation, für In einigen Jahren können wir die Dänen
die Vielfältigkeit keinen Wert hat, hat seine zu einer Studienfahrt nach Norwegen ein-
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Down-Syndrom-Plus T e x t: B arbara J eltsch - S chudel
Autismusspektrumsstörungen bei Kindern mit Down-Syndrom
Zum Begriff „Down-Syndrom-Plus“ finden sich mittlerweile viele Links im Internet; es wird jedoch schnell
klar, dass es sich um einen unpräzisen Sammelbegriff handelt. Unter Plus werden verschiedene
Störungen und Krankheiten erwähnt, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Down-Syn-
drom (DS) auftreten können. Was genau die unterschiedlichen „Plus“ für den Einzelnen bedeuten und
welche Einflüsse sie auf sein Leben und seine Entwicklung haben, bleibt dabei offen.
Im Folgenden zeichne ich unsere Beschäftigung mit dem Thema nach, die vorwiegend in der Schweiz
stattfand und vor allem im Rahmen von Projektarbeiten Studierender an der Abteilung Klinische Heil-
pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Freiburg/Schweiz. Die Darstellung unseres Erkenntnis
prozesses zeigt, wie die Fragestellungen sich mit den Ergebnissen der einzelnen Projektbausteine verän-
derten. Dies trägt hoffentlich zum Verständnis der Komplexität des DS-Plus bei.
1. Einführung zuvor von ihrem Sohn Fabio und von den te, anhand von Fabios Verhalten, ‚abhaken‘ .
Sorgen erzählt, die sie und ihre Familie sich – Für uns war das Rätsel gelöst“, schreibt sie
B egonnen hatte meine Auseinanderset-
zung mit dem Thema mit einem ersten
Überblicksartikel in „Leben mit Down-
seinetwegen machten. Fabio war 1991 mit
dem Down-Syndrom geboren worden. An-
drea Kühnes genaue Beschreibungen seines
weiter, „Fabio hat ein Down-Syndrom und
autistische Störungen und es ist der Autis-
mus, der zu diesem Entwicklungsstillstand
Syndrom“ (September 2003), überschrie- Verhaltens und seiner Entwicklung beein- führte, es sind die autistischen Störungen,
ben mit „Doppeldiagnose: Down-Syndrom druckten mich, stimmten mich nachdenk- die Fabio in seiner Entwicklung behindern“
und Autismus“. Diesem war ein Aufruf an lich und ein wenig ratlos, wie andere Fach- (Jeltsch; Kühne 2003).
betroffene Eltern angefügt. Die Elternbe- personen auch, die mit Fabio und seiner Die Doppeldiagnose „Down-Syndrom
richte führten zu ersten Eindrücken der Familie zu tun hatten. Seine körperliche und Autismus“ war im deutschen Sprach-
Doppeldiagnose, gaben aber auch Informa- Entwicklung sei sehr langsam verlaufen; raum bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend
tionen über andere zusätzliche Störungen mit drei Jahren habe er seine ersten freien unbekannt. Lediglich in der Zeitschrift „Le-
als solche aus dem Autismus-Spektrum. Di- Schritte gemacht, erzählte Andrea Kühne. ben mit Down-Syndrom“ war 2000 ein von
ese Feststellung, dass die Thematik komple- „Während dieser Zeit sprach er ein paar Cora Halder übersetzter Text von Capone
xer war als zunächst angenommen, wurde Worte, einen einzigen Dreiwort-Satz, be- erschienen.
in der Diskussion mit Eltern von Kindern nutzte einfache Gebärden, lernte mit dem In der Diskussion mit Andrea Kühne
mit DS in der Schweiz noch verstärkt. Da- Löffel essen und aus der Tasse und dem und anderen Müttern der Elternvereini-
her verwendete ich fortan den gemeinsam Glas trinken. Er hatte große Mühe mit der gung wurde dann eben der Begriff, „Down-
gefundenen Begriff Down-Syndrom-Plus Feinmotorik. (...) Auch musste man ihn im- Syndrom-Plus“ kreiert und Fragen danach
(z.B. im Mai-Heft 2004). mer wieder zu einem Blickkontakt zwingen. aufgeworfen, was diese Doppeldiagnose für
Am Anfang der Beschäftigung mit die- Nach den ersten vier Jahren ist uns klar ge- die Situation der betroffenen Familien und
sem schwierigen Thema standen also die worden, dass sich Fabio sehr langsam entwi- für die Entwicklung der Kinder bedeutet
Nöte und Leiden von Eltern, die feststell- ckelt. Was ich auch immer wieder feststellte und welche Förderangebote diesbezüglich
ten, dass ihre Kinder sich nicht in der Wei- und was mich verunsicherte, waren gewisse sinnvoll sein könnten.
se entwickelten wie andere Kinder mit DS. stereotype Bewegungen, er setzte sich im-
Dass die Bandbreite der Entwicklung von mer öfter auf den Boden und schaukelte hin
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und her und machte dazu eigenartige Ge- 2. Was heißt Down-Syndrom
mit DS groß ist, d.h., dass sie sich sehr un- räusche. Ich suchte Rat bei den Fachleuten:
terschiedlich entwickeln, auch was die ein- Die einen meinten, er mache das, wenn er
und autistische Störungen?
zelnen Entwicklungsbereiche anbelangt, ist müde sei, andere sagten, er mache dies, um
eigentlich schon lange bekannt. Nur war die sich wahrzunehmen“ (Jeltsch; Kühne 2003). Die erste Frage, die beantwortet werden
(wissenschaftliche) Beschäftigung mit je- Nicht nur die Langsamkeit der Entwicklung sollte, war, was denn eigentlich unter DS
ner Gruppe von Menschen mit DS, die als bereitete Sorgen, sondern viel mehr noch, und autistischen Störungen überhaupt zu
schwerbehindert bezeichnet werden kön- dass Fabio gewisse erlernte Fähigkeiten verstehen sei. Anfänglich ging es darum zu
nen, geringer und begann später als die Er- wieder aufgab. begreifen, dass die Doppeldiagnose keine
forschung derer, die sich gut entwickeln, Auf die Hilflosigkeit der Fachpersonen Addition von Trisomie 21 und Autismus ist
eine gewisse Selbstständigkeit erreichen reagierte Andrea Kühne nicht mit Resigna- (Annen und Kollegen, 2004). Trisomie 21
oder mit besonderen Leistungen von sich tion, sondern sie machte sich auf die Su- ist ja eine genetische Störung mit syndrom-
reden machen. che nach Hilfe – im Internet. Dort wurde spezifischen Merkmalen und einer gro-
Für meine etwa 2002 beginnende Be- sie 2001 im angelsächsischen Sprachraum ßen, nicht normal verteilten Entwicklungs-
schäftigung mit dem DS-Plus war die Be- fündig: „Da habe ich mein Kind ‚wiederge- bandbreite, während sich Autismus als ein
gegnung mit Andrea Kühne ausschlag- funden‘ – außer dem möglichen aggressiven durch ein Klassifikationssystem (wie z.B.
gebend. Sie hatte mir bereits einige Jahre Verhalten konnte ich die Verhaltenschecklis- die DSM-IV oder die ICD-10) festgelegtes
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Syndrom aus verschiedenen, definierten ner immer größer werdenden Diskrepanz, 2.2 Zu den Autismusspektrums-
Verhaltenssymptomen zusammensetzt, die einem Schereneffekt, der allgemein bei störungen
aber keine eindeutigen oder einheitlichen Kindern mit geistiger Behinderung zu be- Bislang gibt es kein zuverlässiges biolo-
biologischen Ursachen aufweisen. Es zeigte obachten ist. In den ersten fünf Lebensjah- gisch-medizinisches Prüfverfahren, das die
sich, dass die Doppeldiagnose sich nicht aus ren erfolgt die Entwickung von Kindern mit Diagnose Autismus sichert. Die Diagno-
den syndromspezifischen Merkmalen des DS etwa im halben Tempo wie bei nichtbe- se muss aus Symptomen erschlossen wer-
Down-Syndroms und den definierten Ver- hinderten Kindern. den. Autismus wird aufgrund eines Klas-
haltenssymptomen des Autismus zusam- Sprachentwicklungsstörungen: Diese sifikationssystems (DSM-IV oder ICD-10)
mensetzt und daher auch nicht den Ele- werden durch die Sprechwerkzeuge einer- diagnostiziert, das auf der Beschreibung
menten entsprechend diagnostizieren lässt, seits bedingt, denn zum klinischen Bild ge- bestimmter Verhaltensweisen beruht. Bei
sondern diese vielmehr zusammenzuwir- hören ja eine kleine Nase, ein hoher Gau- aller Verschiedenheit stimmen die Klassifi-
ken. men, eine relativ große und raue Zunge, ein kationssysteme in Bezug auf den Autismus
Um dies zu verdeutlichen, werden erst enger Mundraum und eine schlaffe Mund- weitgehend überein, allerdings sind ihre Be-
einige Verhaltensmerkmale dargestellt, die muskulatur. Dies führt zu Sprechschwierig- grifflichkeiten nicht genau gleich. So findet
das DS einerseits und den Autismus ande- keiten. Andererseits spielen die auditiven man in der ICD-10 den Ausdruck „früh-
rerseits charakterisieren. Danach werden Wahrnehmungsschwierigkeiten sowie die kindlicher Autismus“ und in der DSM-IV
diese in den Zusammenhang einer Doppel- verzögerte kognitive Entwicklung eine Rol- die Bezeichnung „autistische Störung“. Bei-
diagnose gestellt. le. Dies wirkt sich auf Sprachproduktion de Klassifikationssysteme ordnen das Spek-
und Sprachverständnis aus. Menschen mit trum Autismus der Gruppe der tief greifen-
2.1 Zum Down-Syndrom DS zeigen also erhebliche Sprachentwick- den Entwicklungsstörungen zu, zu denen
In der medizinischen Fachliteratur finden lungsstörungen, wobei das Sprachverständ- noch weitere Störungen gezählt werden.
sich eine Reihe von Merkmalen des kli- nis deutlich besser ist als die Sprachproduk- Im Wesentlichen werden autistische Stö-
nischen Bildes, die beispielsweise äußerliche tion. Von den im Mundbereich liegenden rungen in drei Diagnosekategorien aufge-
Ähnlichkeiten wie die charakteristische Au- Schwierigkeiten sind auch die Atmung so- teilt, denen wiederum verschiedene Sym-
genstellung oder die Muskelhypotonie be- wie die Möglichkeiten der Nahrungsauf- ptome zugeordnet sind. Die Diagnose wird
treffen. Wie diese sich auf das Leben des Be- nahme betroffen. Kinder mit DS lassen sich dann gestellt, wenn pro Diagnosekategorie
troffenen auswirken, wird kaum erwähnt. oft Zeit damit, feste Kost zu essen. eine Mindestanzahl von Symptomen vor-
Die Ausprägung der Merkmale hat jedoch Hypotonie: Die relativ schlaffe Muskulatur liegt. k
keinen direkten Zusammenhang zur Ent- wirkt sich auf die gesamte motorische Ent-
wicklung. Damit ist gemeint, dass z.B. von wicklung aus. Betroffen davon ist die Fort-
der Körpergröße nicht auf das kognitive bewegung, indem Kinder mit DS oft erst
Entwicklungspotenzial geschlossen werden spät gehen lernen und ihr Weg dazu nicht Bereiche der Autismusspektrums-
kann. immer über das Krabbeln führt, sondern störungen
Von Interesse für unsere Fragestellung über andere Fortbewegungen (z.B. rutschen
sind jedoch syndromspezifische Charakte- auf dem Po). Bereits bei Säuglingen ist die Qualitative Auffälligkeiten der gegen-
ristika, die in entwicklungspsychologischen Reaktivität schwächer und langsamer, was seitigen sozialen Interaktion
und sonderpädagogischen Forschungsar- sich auf den Sozialkontakt auswirken kann.
z.B. Besonderheiten in Blickkontakt, Mimik
beiten zu finden sind: Kinder mit DS brauchen mehr Zeit, um auf
und Gestik. Wenig Interesse an anderen
Die Entwicklungsbereiche sind unter- Reize zu reagieren. Kindern oder ungeschickte Formen der
schiedlich: Kinder mit DS können sich in Hohe soziale Anpassungsfähigkeit: Die Kontaktaufnahme, Mangel, spontan mit
einzelnen Bereichen unterschiedlich ent- soziale Anpassungsfähigkeit bzw. die Sozi- anderen Interessen oder Tätigkeiten zu teilen
wickeln. Die geistige Entwicklung verläuft alkompetenz ist bei Menschen mit DS hoch
beispielsweise anfänglich schneller als die im Vergleich etwa zur Kognition. Qualitative Auffälligkeiten der
motorische; die visuelle Wahrnehmungsfä- Neugierdeverhalten eher auf Ge- Kommunikation
higkeit ist meist besser als die auditive; si- wohntes bezogen: Kinder mit DS zei-
multane Reize können besser verarbeitet gen ein besonderes Neugierdeverhalten; z.B. verspätete oder fehlende
werden als sequenzielle. Diese Diskrepanzen sie reagieren bereits auf geringste Anforde- Sprachentwicklung oder Verlust von
vorhandener Sprache, häufiges Wiederholen
können dazu führen, dass die einzelnen Be- rungen höchst empfindlich. Sie entwickeln von Wörtern oder Sätzen, Mangel an Als-ob-
reiche nicht aufeinander abgestimmt sind. ein Vermeidungsverhalten bei sie überfor- Spielen
Ein Kind hat beispielsweise seinen Sehplan dernden Aufgaben. Sie verharren auf Ge-
so weit entwickelt, dass es zur Auge-Hand- wohntem und wehren Veränderungen als
Begrenzte, repetitive und stereotype
Koordination fähig wäre, aber seine Moto- Selbstschutz vor Misserfolg und Frustrati-
Verhaltensmuster, Interessen und
rik ist noch nicht weit genug entwickelt. onen ab. Aktivitäten
Verlangsamtes Entwicklungstempo: Es Diese Befunde beruhen auf verschie-
ist nicht linear, sondern verlangsamt sich denen Untersuchungen von Entwicklungs- z.B. Drehen an Rädern von Spielzeugautos,
allmählich. Dies ist auch bei sich normal verläufen von Kindern mit DS, die nicht Aufreihen von Gegenständen, auffällige
Hand- oder Körperbewegungen, Angst vor
entwickelnden Kindern der Fall, aber auf ausgelesen wurden, weshalb das ganze Ent-
Neuem, Unsicherheit bei Veränderungen,
Dauer verlangsamt sich das Entwicklungs- wicklungsspektrum, die ganze Bandbrei- ausgeprägte Spezialinteressen
tempo der Kinder mit DS stärker und da- te gespiegelt wird. Damit ist auch klar, dass
mit nimmt der Unterschied zur durch- nicht alle beschriebenen Charakteristika
schnittlichen Entwicklungsgeschwindigkeit auf jedes Kind zutreffen.
von Kindern ohne DS zu. Dies führt zu ei-
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Insbesondere im englischsprachigen Raum Verhaltensweisen von Kindern mit von sehr unterschiedlichen Menschen be-
ist man zunehmend der Ansicht, dass es Down-Syndrom und Autismus züglich Alter und Lebenssituation, sodass
einen fließenden Übergang zwischen den nicht wirklich verglichen werden kann.
verschiedenen Formen von Autismus gibt: Zum verlangsamten Entwicklungs-
das sogenannte Autismusspektrum. Da- l Entwicklungsrückschritte, inklusive Ver- tempo: Es scheint, dass bei DS-ASS – ähn-
mit ist gemeint, dass es sich um ein Spek- lust von Sprache und sozialen Fähigkeiten lich wie bei Autismusspektrumsstörungen
trum von Störungen handelt, die in unter- l Wenig Kommunikationsfähigkeiten (viele (ohne DS) – das Entwicklungstempo sich
schiedlicher Ausprägung in einer Vielzahl Kinder hatten keine sinnvolle Sprache, nicht nur allmählich, sondern ab einem ge-
von Kombinationen vorkommen und sich benutzen auch keinerlei Gebärden)* wissen Alter (in der frühen Kindheit) ab-
im Laufe der Entwicklung auch verändern l Selbstverletzendes oder zerstörerisches rupt verlangsamt und nahezu zu Entwick-
können. Es kann also nicht von einem ein- Verhalten (wie Hautpflücken, beißen, sich lungsstillständen oder gar Rückschritten
heitlichen klinischen Bild gesprochen wer- auf den Kopf hauen, den Kopf anschla- führt.
gen)
den. Deshalb wird im folgenden Autismus- Sprachentwicklungsstörungen kom-
spektrumsstörungen (ASS) verwendet. l Repetitive motorische Manierismen men bei DS und bei DS-ASS vor. Sie un-
(Zähneknirschen, schnelle Bewegungen
terscheiden sich aber insofern, als Kin-
2.3 Zur Doppeldiagnose Down-Syndrom von Händen, Schaukeln mit dem Körper)*
der mit DS kommunikativ sind und statt
und Autismus l Ungewöhnliche Laute (Brummen, Sum- Sprache auch Gebärden lernen und einset-
men oder heisere Laute)*
Diese kurzen Bemerkungen zeigen, dass zen können (dies gilt übrigens wahrschein-
es bei DS und Autismus um zwei verschie- l Ungewöhnliche Sensibilität (Starren auf lich auch für Kinder mit DS und Hörbehin-
dene Betrachtungsweisen geht: Für das DS, Lichter, Empfindlichkeit bei bestimmten derungen). Kinder mit DS-ASS verfügen
Geräuschen)
dessen Diagnose aufgrund der Chromoso- über wenig kommunikative Möglichkeiten
menveränderung gestellt wird, lassen sich – l Probleme bei der Nahrungsaufnahme sprachlicher und nonverbaler Art.
wenn auch in einer großen Bandbreite – ei- (Verweigerung oder eine starke Vorliebe Zur Hypotonie fehlen ebenfalls noch Un-
für bestimmte Speisen)
nige syndromspezifische Ähnlichkeiten in tersuchungsdaten.
der Entwicklung feststellen, während die l Übertriebene Angstzustände oder auch Die hohe soziale Anpassungsfähigkeit
Autismusspektrumsstörungen als Syndrom fehlende Angst vor realen Gefahren, Reiz- ist in einem engen Zusammenhang mit dem
barkeit, großes Unbehagen gegenüber
im Sinne eines Bündels verschiedener Sym- Kommunikations- und Interaktionsverhal-
Änderungen in der alltäglichen Umge-
ptome verstanden wird. Diese Unterschied- bung, Hyperaktivität, Schlafstörungen* ten zu sehen, das bei Kindern mit DS-ASS
lichkeit der Betrachtungsweisen erschwert als geringer einzuschätzen ist.
u.a. die Doppeldiagnose Down-Syndrom Das eher auf Gewohntes bezogene Neu-
und autistische Störungen. gierdeverhalten wird bei Kindern mit DS
Die vorwiegend englischsprachige Fach- oft als gewisse Sturheit erlebt. Bei Kindern
literatur zur Doppeldiagnose zeigt, dass mit DS-ASS dagegen handelt es sich weni-
diese relativ häufig ist. Auch wenn die An- ger um ein Festhalten an Gewohntem, son-
gaben etwas variieren, so findet man zu- dern ein sogar zu Angstzuständen oder Pa-
meist einen Wert von 5 bis 7 %, d.h. dass Die von mir mit * bezeichneten Verhaltens- nikanfällen führendes Verhalten.
5 bis 7 von 100 Kindern, Jugendlichen und weisen sind gelegentlich auch bei Kindern Auch wenn sich Differenzen formulie-
Erwachsenen mit DS auch autistische Stö- mit Down-Syndrom ohne autistische Ver- ren lassen, so lässt sich nicht genau unter-
rungen haben. haltensweisen zu beobachten. Diese Liste scheiden, was gewissermaßen auf das DS,
Zum Vergleich: In der Literatur wird das gibt Anhaltspunkte, mehr nicht, und sie ist was auf die tiefgreifenden Entwicklungs-
Vorkommen von autistischen Störungen auf die Auffälligkeiten bzw. Abweichungen störungen zurückzuführen wäre. Dies weist
bezogen auf die Normalbevölkerung mit bezogen. Sie spiegelt den damaligen de- darauf hin, dass es sich nicht um eine bloße
0,5 bis 2 pro Tausend angegeben. Bei Men- skriptiven Stand der Forschung; es sind un- Addition handeln kann.
schen mit geistiger Behinderung liegen bei ter den ohnehin wenigen Publikationen vor Zudem führt diese Betrachtungsweise
etwa 20 % autistische Störungen vor – je allem Beschreibungen zu finden und kaum jedoch, so scheint es, nicht unbedingt wei-
schwerer die geistige Behinderung, desto Versuche, Zusammenhänge aufzudecken ter. Zwar lassen sich mit verfeinerten Instru-
häufiger sind autistische Störungen. oder mehrdimensionale Bedingungsgefü- menten genauere Zuordnungen und damit
Das Vorkommen autistischer Störungen ge zu finden oder theoretische Modelle zu präzisere Benennungen von Doppeldia-
bei Menschen mit DS liegt also höher als in entwerfen (wie etwa, allerdings auf Down- gnosen vornehmen, der Nutzen für die Be-
der Normalbevölkerung und niedriger als Syndrom insgesamt bezogen, von Cebula et troffenen und deren Angehörigen hält sich
bei Menschen mit geistiger Behinderung. al. 2010 vorgeschlagen wird). jedoch in Grenzen. Denn eine nur individu-
In den 70er Jahren des letzten Jahrhun- Im Vergleich mit den vorher genann- alisierende Betrachtung einer Schädigung
derts wurde in den USA und England da- ten syndromspezifischen Merkmalen des ist nicht mehr zeitgemäß. Damit ist ein Be-
mit begonnen, auch schwerer und kom- DS werden nun die in der Fachliteratur ge- hinderungsverständnis angesprochen, dem
plexer behinderte Menschen mit DS zu nannten Unterschiedlichkeiten zu DS und der Gedanke zugrunde liegt, dass Behinde-
untersuchen. Verschiedene Fachpersonen Autismusspektrumsstörungen (DS-ASS) rung ein interaktives Geschehen zwischen
führten klinische Studien durch. Bekannt aufgezeigt: Individuen und ihrem (sozialen) Kontext
und oft zitiert sind die von Capone (2000) Zur Unterschiedlichkeit der Entwick- ist. Dies spiegelt sich ein Stück weit in der
aufgeführten „variablen Charakteristika“, lungsbereiche: Es liegen zu wenig Un- Internationalen Klassifikation von Funk-
die Kinder mit Down-Syndrom und Autis- tersuchungsdaten vor, um sie beurteilen zu tionsfähigkeit, Behinderung und Gesund-
mus öfter zeigen: können. Auch betreffen die klinischen Fall- heit (ICF) wider. Daher kann Behinderung
beispiele der Fachliteratur Beschreibungen nicht statisch verstanden werden, sondern
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vielmehr als Prozess, als etwas, das sich ent- schwierigen Reaktionen aus der Umgebung selbstständig an- und ausziehen konnten,
wickelt. Analog dazu ist Entwicklung eben- auseinandersetzen. Auf dem Hintergrund auch gewisse Gefahren erkennen konnten,
falls interaktiv zu fassen, als ein Zusam- solcher verschiedenartiger Schwierigkeiten sich ausdrücken konnten, wenn nicht ver-
menspiel von Anlage und Umwelt. Dieses ist der Aufbau einer gelingenden Interakti- bal, dann mithilfe von Gebärden. Unser Fa-
Entwicklungsverständnis wird nun kurz er- on erschwert, die eine gedeihliche Entwick- bio konnte nichts von all dem. Die Erkennt-
läutert. lung erst ermöglicht. Behinderte Kinder nis, dass Fabio in seiner Entwicklung stehen
und Eltern sind gefährdet, in einen Teufels- geblieben ist und mir niemand erklären
2.4 Aspekte menschlicher Entwicklung kreis zu gelangen, in dem sie sich gegensei- konnte warum, stürzte mich in eine tiefe
Ein interaktives Verständnis impliziert, tig missverstehen und aufreiben. Krise“ (Kühne-Francescon 2002).
dass nicht nur das sich entwickelnde Kind, Vor allem am Anfang, für den Aufbau ih- In diesem eindrücklichen Text wird die
sondern auch sein Entwicklungskontext be- rer Interaktion, benötigen Eltern und Kind Hilflosigkeit aller deutlich. Diese kumuliert
trachtet werden. Es ist daher sinnvoll, von einen Spielraum, in dem sie sich gegensei- gewissermaßen in der Aussage: „... und mir
Kindern, die unter der Bedingung eines tig unbelastet kennenlernen und aufeinan- niemand erklären konnte warum ...“ Dass
DS aufwachsen, zu sprechen. Diese For- der einspielen können. Das ganzheitliche die Eltern keine Erklärung finden, ist un-
mulierung verweist darauf, dass Entwick- Wahrnehmen des Kindes und die Fähigkeit mittelbar verständlich. Aber wenn selbst
lung nur in einem Bedingungsgefüge über- der Mutter (oder der Eltern), Äußerungen Fachpersonen verschiedener Disziplinen
haupt möglich ist. Dieses kann bei Kindern des Kindes wahrzunehmen und auf sie zu keine Gründe finden, wird es besonders für
mit DS im individuellen Potenzial und den reagieren, müssen zu einem Zusammen- die Familie kritisch. Sie gerät in eine Situa-
syndromspezifischen Beeinträchtigungen spiel kommen. tion, in der sie keine Zukunftsvorstellungen
sowie den Bedingungen des sozialen Um- Dieser notwendige Spielraum wird durch mehr haben kann. Denn wenn Erklärungen
feldes gesehen werde. vielerlei beschnitten. Die Kenntnis von syn- fehlen, kann man keine Voraussagen über
Entwicklung setzt dreierlei voraus: die dromspezifischen Merkmalen und Verhal- die künftige Entwicklung machen. Die Fa-
Aktivität des sich entwickelnden Subjektes; tensweisen kann bei den Eltern wie auch milie verliert ihre Handlungsfähigkeit, weil
eine Umgebung, die das Subjekt mit den bei den mit ihnen zusammenarbeitenden das, was sie tut, nichts bringt und somit
ihm zur Verfügung stehenden Aktivitäts- Fachpersonen eine Hilfe für die Entwick- sinnentleert wird. Die Suche nach Erklä-
möglichkeiten wahrnehmen kann und ein lungsförderung des Kindes sein. Sie kann rungen wird zu einer Suche nach Versäum-
Umfeld, das dem Subjekt Gelegenheit gibt, aber auch die Wahrnehmung des Kindes nissen (z.B. in der Förderung) und damit zu
sich mit ihm auseinanderzusetzen, d.h. und seiner Verhaltensweisen verengen und Fragen nach Verantwortung und Schuld.
durch eigenes Handeln in ihm etwas zu be- die Sicht auf anderes verstellen, indem alle Dass von dieser äußerst schwierigen,
wirken. Äußerungen des Kindes auf das DS bezo- ausweglos scheinenden Situation alle Betei-
Zur genaueren Erläuterung dieser drei gen werden. Zudem stehen alle unter dem ligten betroffen sind, ist klar. Allerdings ist
miteinander zusammenhängenden Merk- Druck, mit ihren Fördermaßnahmen Ent- die Betroffenheit der Eltern eine viel stär-
male menschlicher Entwicklung setze ich wicklungsfortschritte zu erzielen. kere, da sie existenziell ist. Ihre Elternrolle
einen Schwerpunkt, indem ich die Inter- und damit die Ver-Bindung zu ihrem Kind
aktion zwischen den Eltern als den wich- 2.5 Erkennung einer zweiten Diagnose und die Verantwortlichkeit für es können
tigsten Bezugspersonen in der Familie und Was aber, wenn alle Bemühungen nur sehr sie nicht aufgeben.
einem sehr kleinen Kind mit einer Behin- wenig fruchten? Was, wenn das Kind kaum Die Erkennung einer zweiten Diagno-
derung beschreibe. Die Familie wird dabei Fortschritte oder gar Rückschritte macht? se, in diesem Fall autistischer Störungen,
als Entwicklungsumgebung des Kindes ver- Die Zusammenarbeit mit den Eltern kann kann in dieser Situation zu einer Entlastung
standen. Die gelingende Interaktion ist für dadurch belastet werden. Die Fachperson führen. Die Schuld liegt nicht bei jemandes
die Entwicklung des Kindes bzw. für die mag sich fragen, wie viel Förderungsarbeit Versäumnis, sondern sie liegt in einer wei-
Aufgaben, die es in seiner Entwicklung zu die Eltern denn zu leisten bereit sind, wie teren, bislang unbekannten Behinderung
lösen hat, ebenso wichtig wie für die Ent- kooperativ sie die Anregungen aufnehmen. des Kindes. Ihre Erkennung führt dazu,
wicklung der Mutter (d.h. der primären Be- Die Eltern mögen sich fragen, ob die Fach- dass Zukunftsmöglichkeiten – wenn auch
zugspersonen) bzw. für die mütterlichen person genügend kompetent ist, warum sie veränderte – wieder möglich werden.
Aufgaben, die sich stellen. Entwicklungs- nicht bessere oder mehr Fördermöglich- „Einerseits war ich erleichtert, dass ich
schritte können nur geschehen, wenn eine keiten anbietet. endlich eine Antwort auf unsere vielen Fra-
Passung zwischen dem sich entwickelnden Diese Unsicherheitsphase ist sehr be- gen gefunden habe, auch fühlte ich mich
Kind und seiner sozialen Umwelt zustan- lastend für alle Beteiligten, weil sich alle in entlastet, dass ich Fabios Verhalten einen
de kommt und die Kompetenzen aufgebaut Frage gestellt, verunsichert und inkompe- Namen geben konnte und nicht mehr nur
werden können, die für die Bewältigung der tent fühlen. Andrea Kühne schreibt dazu: dastand mit einem Kind mit Down-Syn-
sich stellenden Entwicklungsaufgaben er- „Als sich in keinem Bereich Fortschritte drom, das bestimmt falsch oder zu wenig
forderlich sind. abzeichneten, merkte ich, dass Fabio sich gefördert wurde. Andererseits traf mich
Familien, die erfahren, dass ihr Kind be- nicht einfach langsamer als andere Kin- natürlich auch die Erkenntnis, dass diese
hindert ist, sind meist zuerst in einer Kri- der mit Down-Syndrom entwickelt, son- schwerwiegende Behinderung nicht einfach
se. Sie müssen sich mit der Tatsache der dern dass er sich nicht wie die meisten Kin- wegtherapiert werden kann, sondern dass
Behinderung auseinandersetzen, werden der mit DS entwickelt. Die Ärzte meinten, die Zukunft für Fabio und unsere Familie
von vielen, verschiedenen Gefühlen über- er sei einfach schwerer behindert, dasselbe ganz anders sein wird, als ursprünglich an-
schwemmt und stellen sich Fragen nach sagten Lehrer/-innen in der Schule. Rund- genommen“ (Kühne-Francescon 2002).
dem Warum, nach dem Wie-Weiter. Sie herum sah ich nur Kinder mit DS, die lang- Die eindrückliche Schilderung des
werden durch die Pflege des Kindes gefor- sam, aber sicher etwas selbstständiger wur- Weges, den die Familie Kühne machen
dert und müssen sich zugleich mit teilweise den, die Buchstaben und Zahlen übten, sich musste, bis die zweite Diagnose gestellt wur-
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