FVEE-Themen Forschung für den European Green Deal - Beiträge zur FVEE-Jahrestagung 2020 - ForschungsVerbund Erneuerbare Energien
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FVEE • Themen 2020 Forschung für den European Green Deal Jahrestagung 2020 des ForschungsVerbunds Erneuerbare Energien 02. bis 04. November 2020 Online-Veranstaltung Wissenschaftliche Leitung Prof. Dr. Rolf Brendel • ISFH Prof. Dr. Ernst Huenges • GFZ Programmkomitee DBFZ • Dr. Nora Szarka, • Dr. Sven Schaller DLR • Dr. Sarina Keller • Prof. Dr. Robert Pitz-Paal Fraunhofer IEE • Prof. Dr. Kurt Rohrig • Dr. Reinhard Mackensen Fraunhofer ISE • Dr. Georg Krugel Fraunhofer IWES • Prof. Dr. Jan Wenske GFZ • Prof. Dr. Ernst Huenges HZB • Dr. Klaus Jäger • Prof. Dr. Rutger Schlatmann ISFH • Prof. Dr. Rolf Brendel • Dr. Raphael Niepelt IZES gGmbH • Eva Hauser FZ Jülich • Dr. Stefan Haas KIT • Prof. Dr. Joachim Knebel • Karsten Rexroth UFZ • Jun.-Prof. Dr. Paul Lehmann • Prof. Dr. Daniela Thrän Wuppertal Institut • Prof. Dr. Manfred Fischedick • Dr. Peter Viebahn ZAE Bayern • Dr. Hans-Peter Ebert ZSW • Maike Schmidt Veranstalter Diese Publikation wurde durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert (FKZ 22012518).
FVEE • Themen 2020 Inhalt Einführung 5 Forschung für den European Green Deal Prof. Dr. Rolf Brendel • ISFH Prof. Dr. Ernst Huenges • GFZ Session 1 6 Die Energieunion als Säule für die Umsetzung des European Green Deals Jun.-Prof. Paul Lehmann • UFZ 10 Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie für die europäische Energiewende Maike Schmidt • ZSW Session 2 15 Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie – Herausforderungen und Strategien Dr. Anna Leipprand • Wuppertal Institut 21 Erneuerbare Energie – Chancen einer industriellen Wertschöpfung in Europa Prof. Dr. Andreas W. Bett • Fraunhofer ISE 26 ie Klimaschutzwirkung der Flottenverbrauchsnorm in Deutschland D Möglichkeiten zur Erhöhung der Ambition und flankierende Politikinstrumente Dr. Frederic Rudolph • Wuppertal Institut Session 3 31 Wasserstoff als Fundament der Energiewende für den Brückenschlag zwischen den Sektoren Nadine Jacobs • DLR Dr. Alexander Dyck • DLR 37 Synthetische Kraftstoffe – Ökonomie, Gesellschaft, Nachhaltigkeit Dr. Patrick Matschoss • IZES 43 Synthetische Kraftstoffe – Technologien, Prozessketten, Kohlenstoffquellen und Produkte Prof. Dr. Jörg Sauer • KIT 48 Bioenergie in der europäischen Zeitenwende: Ein intelligenter Baustein für ein nachhaltiges E nergie- und Kreislaufwirtschaftssystem als Beitrag zum European Green Deal Dr. Peter Kornatz • DBFZ 53 Hydrogen: Water Splitting from atomic scale understanding to design of advanced electrocatalyst materials for real a pplication Dr. Olga Kasian • HZB 2
Inhalt FVEE • Themen 2020 Session 4 57 Die Rolle konzentrierender Solarsysteme für die Strom-, Wärme- und Brennstoffversorgung in Europa Dr. Martina Neises von Puttkamer • DLR 61 Photovoltaik für den Straßenverkehr im Energiesystem der Zukunft Dr. Kaining Ding • FZ Jülich 66 Hocheffiziente Solarzellen durch selektive Kontakte Dr. Anamaria Moldovan • Fraunhofer ISE 71 Solar- und Umweltenergie für effiziente Wärme- und Kälteerzeugung Dr. Federico Giovannetti • ISFH Session 5 78 Energieeffizienz – Europäische Erfolgsmodelle Dr. Jochen Manara • ZAE Bayern 83 Nutzung geothermischer Fluide als umweltfreundliche Lieferanten von Energie und wertvollen Rohstoffen Dr. Simona Regenspurg • GFZ 88 Windenergie als Motor der europäischen E nergiewende Prof. Dr. Kurt Rohrig • Fraunhofer IEE 93 Resiliente und kosteneffiziente Stromnetze für die europäische Energieversorgung Prof. Dr. Martin Braun • Fraunhofer IEE 3
Einführung • Jahrestagung 2020 FVEE • Themen 2020 Einführung Forschung für den European Green Deal Mit dem Green Deal will Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Für die Transforma- tion zu einem nachhaltigen Energie- und Wirtschafts- system müssen die europäischen Partner gemeinsam neue Lösungen entwickeln. Dabei spielen grüne Technologien, nachhaltige Geschäftsmodelle, politi sche Rahmenbedingungen und das umweltbewusste Verhalten der Menschen zentrale Rollen. Auch die Energieforschung muss ihren Blick über die nationalen Grenzen weiten. Der FVEE zeigte auf seiner Prof. Dr. Rolf Brendel Jahrestagung 2020 wie die gemeinsame, europäische Wissenschaftliche Tagungsleitung ISFH Energiewende gelingen kann. Die Wissenschaftlerinnen rolf.brendel@isfh.de und Wissenschaftler präsentierten aktuelle internatio nale Forschungsprojekte und gingen der Frage nach, was die einzelnen Technologien jeweils für die Energie wende in Europa beitragen können. Darüber hinaus untersuchten die Forschenden auch die politischen, ökonomischen und rechtlichen Herausforderungen. Sie stellten die Chancen für eine klimaneutrale europäische Industrie vor und zeigten Szenarien für die Markt- und Kostenentwicklung nachhaltiger Energietechnologien. Dank Prof. Dr. Ernst Huenges Wissenschaftliche Tagungsleitung Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre GFZ Beiträge und dem Bundesministerium für Ernährung ernst.huenges@gfz-potsdam.de und Landwirtschaft für die Förderung der Tagung. 5
FVEE • Themen 2020 Session 1 • Die Energieunion Die Energieunion als Säule für die Umsetzung des European Green Deals European Green Deal Zudem hat die EU durch Energieeffizienz-Richtlinien und europäische Energiewende Einfluss auf den Energieverbrauch z. B. von Haus- haltsgeräten genommen. Für die Umsetzung des European Green Deal setzt Insbesondere die Entscheidung über den Energie die Europäische Union maßgeblich auch auf eine trägermix verbleibt aber laut Artikel 194 des Vertrags europäische Energiewende. So verfolgt die Euro von Lissabon bei den Mitgliedsstaaten. Zwar versuchte päische Kommission unter Leitung von Ursula von die EU-Kommission auch hier Einfluss zu nehmen – der Leyen mit dem European Green Deal explizit die etwa durch die beihilferechtliche Prüfung und Geneh Ziele, die Energieversorgung sauberer, erschwing- migung nationaler Fördersysteme für erneuerbare licher und sicherer zu machen, energie- und ressour- Energien –, vermochte dies aber nur indirekt [1]. UFZ censchonendes Bauen und Renovieren zu fördern Nicht überraschend ist es daher, dass sich die Ambi- Jun.-Prof. Paul Lehmann und einen schnellen Umstieg auf nachhaltige und tion und die Instrumente der Mitgliedsstaaten stark paul.lehmann@ufz.de intelligente Mobilität zu ermöglichen. unterscheiden: Prof. Dr. Erik Gawel Auch für den Energiebereich sollen Forschung • So setzen die Mitgliedsstaaten für die Förderung erik.gawel@ufz.de mobilisiert und Innovation gefördert werden. Das der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien Dr. Sebastian Strunz Gelingen der Energiewende ist daher entscheidend auf unterschiedlichste Ansätze – von Einspeise sebastian.strunz@ufz.de dafür, dass auch der Europäische Green Deal gelingt. vergütungen mit oder ohne Ausschreibungen Vor diesem Hintergrund hat die Frage weiter an bis hin zu Quotensystemen [3]. DLR Dr. Michael Kreuz Bedeutung gewonnen, wie die Energiepolitik der • Auch die mitgliedsstaatlichen Pläne für einen michael.kreuz@dlr.de Europäischen Union weiterentwickelt und stärker Kohleausstieg unterscheiden sich stark [4]. integriert werden könnte. Die entsprechenden Über- Während Deutschland bis zum Jahr 2038 aus IZES Benjamin Zeck legungen und Diskussionen werden unter dem der Kohle aussteigen soll, wollen Länder wie zeck@izes.de Schlagwort „Energieunion“ zusammengefasst. Frankreich, Italien oder Großbritannien dieses Ziel bereits Mitte der 2020er Jahre erreichen. Viele osteuropäische L änder hingegen hegen Europäische Energiewende (noch) keine derartigen Ambitionen. als „Flickenteppich“ • Ähnlich divers sind auch die politischen Vorgaben im Bereich der Verkehrswende [5]. Länder wie Bislang ist die Festlegung von Zielen das wichtigste Norwegen, Frankreich oder Großbritannien Mittel der europäischen Klima- und Energiepolitik verfolgen mittlerweile das explizite Ziel, die ( Tabelle 1). Nutzung von Fahrzeugen mit fossil betriebenen Instrumente zur Erreichung dieser Ziele hat die EU Verbrennungsmotoren in den nächsten 20 Jahren bislang nur bedingt zur Hand. zu beenden. Andere Länder, darunter Deutschland, Die stärksten Kompetenzen hat sie im Bereich der verzichten bislang auf eine derartige Regelung. Klimapolitik. Zentrales Instrument hierfür ist der EU- Entsprechend unterscheiden sich auch die Emissionshandel, der 2005 für die Sektoren der Verkehrsstrategien der EU-Mitgliedsstaaten Stromerzeugung und der energieintensiven Industrie hinsichtlich der zukünftig bedeutsamen eingeführt wurde. Energieträger ( Tabelle 2). Reduktion Anteil Erhöhung Stromverbund- Reduktion Treibhausgas- erneuerbarer Energie Ziel CO2-Ausstoß Emissionen Energien effizienz Verkehrssektor Tabelle 1: Klima- und energie 2020 -20 % 20 % 20 % 10 % – politische Ziele der 2030 mind. -40 % mind. 32 % mind. 32,5 % 15 % Pkw: -37,5% Europäischen Union: Lkw: -30% (Quelle: [2]) 6
Session 1 • Die Energieunion FVEE • Themen 2020 Elektrisch Biokraft- Wasserstoff Brennstoff- CNG (Com- LNG LPG (Liquid Hybride Alternative stoffe zelle pressed Na- (Liquefied Petroleum Kraftstoffe tural Gas) Natural Gas) Gas) A, B, BG, CZ, A, B, BG, A, B, CZ, D, CZ, D, RO, A, B, CZ, E, A, B, CZ, E, CY, CZ, F, B, CY, CZ, D, A, D, E, EST, D, E, EST, CY, CZ, D, F, FIN, I, HR, SLO F, FIN, I, IRL, FIN, I, IRL, SLO FIN, I, RO, F, FIN, LV, F, FIN, GR, E, EST, F, LT, LV, M, HR, LT, LV, HR, LT, LV, SK, N PL, RO, SK, I, IRL, HR, FIN, GR, I, PL, RO, SK, M, PL, SK, M, PL, SK, SLO, N L, LT, LV, IRL, L, LT, SLO, N SLO SLO M, NL, P, LV, M, NL, P, PL, RO, SK, PL, RO, SK, SLO, N SLO, N 24 24 16 4 15 14 4 9 12 Vor diesem Hintergrund werden immer wieder For- nannte integrierte nationale Energie- und Klimapläne Tabelle 2: derungen laut, die energiepolitischen Instrumente (NEKP) auszuarbeiten. Darin müssen die Mitglieds- Inkohärente der EU-Mitgliedsstaaten stärker zu koordinieren und staaten insbesondere darlegen, welche Beiträge sie Verkehrsstrategien der EU-Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen. So heißt es etwa im EU-Weiß- im Einzelnen zur Erreichung der europäischen klima- und Norwegen: buch zum Verkehr: „Kohärenz auf EU-Ebene ist unab- und energiepolitischen Ziele leisten. Die NEKP jeweils berücksichtigte dingbar. Wenn sich beispielsweise ein Mitgliedstaat decken einen Zeitraum von 10 Jahren ab (aktuell Energieträger ausschließlich für Elektroautos und ein anderer aus- 2021 bis 2030) und müssen regelmäßig aktualisiert (Quelle: IZES, Stand 09/2019) schließlich für Biokraftstoffe entschiede, würde dies werden. Darüber hinaus verpflichtet die Governance- das Konzept des freien Reisens in ganz Europa Verordnung die EU-Länder, langfristige Strategien zunichtemachen“ [6, S. 6]. zur Verringerung der Emissionen mit einer Perspek- tive von 50 Jahren zu entwickeln. Energieunion als Lösungsansatz Für und Wider einer stärker koordinierten Um die energiepolitischen Aktivitäten der Mitglieds- europäischen Energiewende staaten stärker zu koordinieren, wurde die Energie union ins Leben gerufen. Im Jahr 2014 wurde Doch gehen diese Maßnahmen weit genug, um die sie zunächst als strategisches Ziel durch den energiepolitischen Aktivitäten der EU-Mitglieds- europäischen Rat festgelegt. Im Jahr 2018 erfolgte staaten in angemessener Weise zu koordinieren? dann auch die rechtliche Verankerung durch die Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu Verordnung über das Governance-System der Ener bedenken, dass eine stärkere Koordination der Ener- gieunion und für den Klimaschutz („Governance- giewende auf europäischer Ebene Stärken, aber auch Verordnung“, VO 2018/1999). Schwächen hat [7]. Insbesondere fünf Dimensionen der Energieunion Eine stärkere zentralisierte Steuerung der europäi sollen dabei auf koordinierte und kohärentere Art sche Energiewende hätte beispielsweise den Vorteil, und Weise umgesetzt werden: dass Skalen- und Verbundvorteile auf europäischer 1. Sicherheit der Energieversorgung Ebene besser genutzt werden könnten. Die räum- 2. Vollständige Integration des europäischen liche Allokation des Ausbaus erneuerbarer Energien Energiemarktes könnte beispielsweise auf europäischer Ebene so 3. Verbesserung der Energieeffizienz als Beitrag zur optimiert werden, dass der Ausbau stärker als bisher Senkung der Energienachfrage an den windhöffigsten oder sonnenreichsten Stand- 4. Verringerung der CO2-Emissionen der Wirtschaft orten konzentriert wird. 5. Förderung von Forschung, Innovation und Allerdings hat eine derart zentralisierte Steuerung Wettbewerbsfähigkeit auch Schwächen, insbesondere wenn nicht klar ist, In der Governance-Verordnung wurden die Ziele welche Ausgestaltung der Instrumente zu bevorzu- noch einmal explizit bestätigt. gen ist. Ein Nebeneinander von unterschiedlichen Regulierungsansätzen in den Mitgliedsstaaten schafft Zentrales Instrument der Governance-Verordnung ist dann Raum für regulatorischen Wettbewerb und die Verpflichtung für die EU Mitgliedsstaaten, soge- gegenseitiges politisches Lernen. In der Vergangen- 7
FVEE • Themen 2020 Session 1 • Die Energieunion heit konnten so z. B. die Stärken und Schwächen Fazit unterschiedlicher Förderansätze für erneuerbare Energien (Einspeisevergütungen vs. Quotensysteme) Insgesamt kann festgehalten werden, dass die gut verglichen werden. Diese Mechanismen haben Umsetzung der europäischen Energieunion immer dann auch „bottom-up“ zu einer schrittweisen Kon- noch in den Kinderschuhen steckt. Die Diversität der vergenz der mitgliedsstaatlichen Energiepolitik energiepolitischen Instrumente der Mitgliedsstaaten geführt [8]. In ähnlicher Weise wird es auch in Zukunft ist weiterhin hoch. Freilich wäre eine vollständige wichtig sein, Raum für politisches Experimentieren zu Zentralisierung und Harmonisierung der europä schaffen, etwa wenn es darum geht, das grundsätz- ischen Energiepolitik wohl weder politisch machbar liche Strommarktdesign für eine Welt mit 100 % noch zielführend. Die vorhandenen, eher weichen erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln. Ein ge Koordinationsmechanismen der EU können und wisses Maß an dezentraler Energiewendepolitik kann sollten jedoch gestärkt werden. Der European Green zudem geboten sein, weil die Präferenzen für und Deal schafft hier ein Gelegenheitsfenster. wider unterschiedliche Energietechnologien zwischen Wünschenswert wäre es, dass die umfangreichen den Mitgliedsstaaten stark unterschiedlich ausgeprägt Zahlungen, die damit an die Mitgliedsstaaten verteilt sind. Eine vollständig zentralisierte und harmonisierte werden, stärker als bisher an die Umsetzung der Regulierung der Energiewende auf euro päischer Energieunion gekoppelt werden. Ebene wäre daher weder politisch durchsetzbar, noch gesamtgesellschaftlich zielführend [9, 10]. Optionen für eine Stärkung der Energieunion Trotzdem lassen die gegenwärtigen Regeln der Governance-Verordnung den Mitgliedsstaaten wohl zu viel Gestaltungsspielraum. Zu diesem Fazit kommt das Akademienprojekt „Energiesystem der Zukunft“ (ESYS) [11]. Zwar seien die Instrumente der Verord- nung – mitgliedsstaatliche NEKP und Langfriststrate- gien – grundsätzlich geeignet, die Koordination der mitgliedsstaatlichen Energiepolitik zu stärken. Aller- dings gäbe es bei Abweichungen von den Empfeh- lungen der Kommission kaum Möglichkeiten, die Mitgliedsstaaten wirksam zu sanktionieren. Um den gegenwärtigen Regulierungsrahmen für die Energieunion zu stärken, schlägt ESYS daher insbe- sondere vier Maßnahmen vor: 1. effektive Implementierung der Governance- Verordnung, z. B. durch einheitliche europäische Leitlinien für die NEKP 2. Schaffung finanzieller Anreize, z. B. indem die Mittel aus dem europäischen Struktur- und Investitions fond mit den NEKP verknüpft werden 3. Sanktionierung bei Nichtbefolgung der Gover- nance-Verordnung, z. B. indem mit der Kürzung von Mitteln aus den Struktur- und Investitions- fonds gedroht wird (analog zum „Europäischen Semester“, mit dem die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten koordiniert wird) 4. Flankierung der Governance-Verordnung durch Allianzen, z. B. indem sich ambitionierte Mitgliedsstaaten auf einheitliche, nationale CO2-Mindestpreise verständigen. 8
Session 1 • Die Energieunion FVEE • Themen 2020 Literatur [10] Gawel, E., Strunz, S. (2019). Energy Policies in the EU – A Fiscal Federalism Perspective. [1] Callies C. and Hey C. (2013). Multilevel In: Knodt, M., Kemmerzell, J. (eds.) Handbook Energy Policy in the EU: Paving the Way for of Energy Governance in Europe. https://doi. Renewables? Journal for European Environ- org/10.1007/978-3-319-73526-9_51-1 mental and Planning Law 10(2): 87–131, [11] Acatech/Leopoldina/Akademienunion (2018). https://doi.org/10.1163/18760104-01002002 Governance für die Europäische Energieunion [2] Europäische Kommission (2019). Vierter – Stellungnahme des Akademienprojekts Bericht zur Lage der Energieunion. https://ec. „Energiesysteme der Zukunft“, europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2019/ https://energiesysteme-zukunft.de/ DE/COM-2019-175-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF publikationen/stellungnahme-energieunion [3] Banja M., Jégard M., Monforti-Ferrario F., Dallemand J.-F., Taylor N., Motola V., Sikkema R. (2017). Renewables in the EU: an overview of support schemes and measures. JRC Science for Policy Report, https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/ publication/83d9ab2f-647d-11e8-ab9c- 01aa75ed71a1/language-en [4] Europe Beyond Coal (2020). Overview: National coal phase-out announcements in Europe, https://www.klimareporter.de/ images/dokumente/2020/07/Overview-of- national-coal-phase-out-announcements- Europe-Beyond-Coal-14-July-2020.pdf [5] Wappelhorst, S. (2020). The end of the road? An overview of combustion-engine car phase- out announcements across Europe. International Council on Clean Transportation, https://theicct.org/sites/default/files/publica- tions/Combustion-engine-phase-out-briefing- may11.2020.pdf [6] Europäische Kommission (2011). Weißbuch zum Verkehr. https://ec.europa.eu/transport/ sites/transport/files/themes/strategies/ doc/2011_white_paper/white-paper-illustra- ted-brochure_de.pdf [7] Strunz, S., Gawel, E., Lehmann, P. (2015). Towards a general "Europeanization" of EU Member States' energy policies? Economics of Energy & Environmental Policy 4(2), 143-159, http://dx.doi.org/10.5547/2160-5890.4.2.sstr [8] Strunz, S., Gawel, E., Lehmann, P., Söderholm, P. (2018). Policy convergence as a multi-face- ted concept: The case of renewable energy policies in the EU. Journal of Public Policy 38(3), 361–387, https://doi.org/10.1017/ S0143814X17000034. [9] Gawel, E., Strunz, S., Lehmann, P., Purkus, A. (Eds.) (2019). The European Dimension of Germany’s Energy Transition – Opportunities and Conflicts. Springer, https://doi. org/10.1007/978-3-030-03374-3 9
FVEE • Themen 2020 Session Session11•• Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie für die europäische Energiewende Einleitung ehrgeizigen Zielsetzung, weltweit der erste klima neutrale Kontinent zu werden. Das europäische Klima Wasserstoff als Energieträger der Zukunft ist kein schutzgesetz und der europäische „Green Deal“ sind neues Thema in der angewandten Energieforschung: die ersten Schritte zur Umsetzung. Bereits 1986 erlebte Wasserstoff im Kontext des HYSolar-Projekts, einer deutsch–saudi-arabischen Bisher gingen die europäischen ebenso wie die natio Kooperation zur Technologieentwicklung für solaren nalen Szenarien zwar von einer Verringerung der Wasserstoff, eine erste Hochphase, die u. a. durch die Treibhausgasemissionen um –80 % bis –95 % gegen- Auswirkungen der Ölkrisen und die offensichtliche über 1990 aus, die Maßnahmen ebenso wie die Vulnerabilität des Wirtschaftssystems durch Schwan- formulierten Zwischenziele zielten jedoch jeweils nur ZSW kungen und Versorgungsengpässe im Energiemarkt, auf eine Minderung von –80 %. Der Green Deal hebt Maike Schmidt insbesondere in der Versorgung mit Mineralöl getra- nun klar die Handlungsfelder hervor und verdeut maike.schmidt@zsw-bw.de gen wurde. licht, dass die neue Anforderung der Klimaneutralität DBFZ Etwa 10 Jahre später im Jahr 1997 kündigte der jetzt auch die Sektoren in den Fokus rücken, die Dr. Franziska Müller-Langer Automobilkonzern Daimler öffentlichkeitswirksam bei einer –80 %-Strategie außer den üblichen Effi franziska.mueller-langer@dbfz.de das erste Brennstoffzellenfahrzeug in Serie für das zienzanstrengungen keine größeren strukturellen Dr. Jörg Kretschmar Jahr 2002 an, ohne jedoch in die entsprechende Änderungen erfahren hätten. Dies ist neben der joerg.kretzschmar@dbfz.de Umsetzungsphase einzutreten. energieintensiven Grundstoffindustrie (Stahlindu- DLR Wiederum etwa 10 Jahre später startete die strie, Chemieindustrie, Mineralölwirtschaft, Zement- Prof. Dr. Carsten Agert Bundesregierung im Jahr 2007 mit dem Nationalen industrie) auch ein großer Teil des Verkehrssektors, carsten.agert@dlr.de Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoff- da nunmehr auch der Luftverkehr, die internationale Fraunhofer IEE zellentechnologie eine hochbudgetierte Forschungs- Seeschifffahrt und die nicht elektrifizierbaren Teile Jochen Bard und Entwicklungsinitiative, um die mit einer Wasser- des Güterverkehrs adressiert werden müssen. Nur jochen.bard@iee.fraunhofer.de stoffindustrie für Deutschland verbundenen Chancen mit grünem Wasserstoff und seinen Folgeprodukten Fraunhofer ISE erschließbar zu machen. Im Juni 2020 verabschiedete wie synthetischen Kraftstoffen werden die Klimaziele Prof. Dr. Christopher Hebling die Bundesregierung die Nationale Wasserstoffstra im Verkehrssektor und das Ziel der klimaneutralen christopher.hebling@ise. tegie, kurz darauf folgte die europäische Wasserstoff- Produktion in der Industrie erreichbar sein. Zudem fraunhofer.de strategie. kann grüner Wasserstoff als Speicher eine Beschleuni FZ Jülich gung der Transformation im Stromsektor unterstützen. Dr. Heidi Heinrichs Was ist heute anders als vor 30 Jahren? Warum wird h.heinrichs@fz-juelich.de diese neue Hochphase für grünen Wasserstoff von Die rasante Entwicklung und Verbreitung der erneu- Dr. Martin Robinius Dauer sein und was macht Wasserstoff im Jahr 2020 erbaren Stromerzeugungstechnologien, insbeson- m.robinius@fz-juelich.de zur Schlüsseltechnologie für die europäische Energie- dere der Photovoltaik und der Windenergie an Land, ISFH wende? haben es zudem ermöglicht, dass heute Strom aus Dr. Raphael Niebelt erneuerbaren Energien gerade im internationalen niepelt@isfh.de Mit dem Klimaschutzabkommen von Paris im Jahr Kontext häufig die kostengünstigste Option der KIT 2015 hat die Weltgemeinschaft beschlossen, die glo- Stromerzeugung darstellt (u. a. BloombergNEF, 2020). Prof. Dr. Roland Dittmeyer bale Erwärmung auf unter 2 °C bzw. möglichst unter Dies bildet die Basis für eine zukünftig zur heutigen roland.dittmeyer@kit.edu 1,5 °C seit Beginn der Industrialisierung zu begrenzen. fossil basierten Wasserstoffproduktion mit Erzeu- Dr. Frank Graf Aufgrund mangelnder Fortschritte hinsichtlich der gungskosten zwischen 2,00 EUR/kg H2 und 3,00 EUR/ frank.graf@kit.edu Reduktion der weltweiten Treibhausgasemissionen, kg H2 wettbewerbsfähige Erzeugung von grünem der spürbar zunehmenden Bedrohung durch den Wasserstoff ( Abbildung 1), was neben den Klima- Klimawandel und den wachsenden öffentlichen schutzanforderungen ein zweites gewichtiges Argu- Druck, stärkere Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen ment für ein dauerhaftes Interesse an Wasserstoff- hat die EU-Kommission im Herbst 2019 als neues technologien ist. Leitbild für Europa das Erreichen der Klimaneutralität bis spätestens 2050 formuliert, verbunden mit der 10
Session 1 • Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie FVEE • Themen 2020 Abbildung 1: Zukünftige Wasserstoff erzeugungskosten aus Elektrolyse auf Basis von erneuerbarem Strom aus Photovoltaik und Windenergie an Land (Quelle: IEA 2019) Als dritter Aspekt kommt hinzu, dass zunehmend Hochofenprozess: auch institutionelle Anleger auf der Suche nach C + O2 CO2 zukunftssicheren Investitionsmöglichkeiten den C + CO2 2 CO Bereich der erneuerbaren Energietechnologien, zu Fe2O3 + 3 CO 2 Fe + 3 CO2 denen auch grüner Wasserstoff zählt, entdecken, so dass ausreichend Kapital auch für den Einstieg in eine Direktreduktionsverfahren mit Wasserstoff: grüne Wasserstoffwirtschaft vorhanden sein dürfte, ½ Fe2O3 + ½ H2 FeO + ½ H2O sofern die politischen Rahmensetzungen dies ent- FeO + H2 Fe + H2O sprechend unterstützen (IIGCC, 2019). Bei der Direktreduktion fallen keine prozessbedingten Dass für die Bereitstellung und den Einsatz von CO2-Emissionen an. Der entstehende Eisenschwamm, Wasserstoff in Deutschland und der EU bereits zeit- kann anschließend in einem Elektrolichtbogenofen nah eine entsprechende Entwicklungsdynamik (bei Bedarf gemeinsam mit Schrott) zu Rohstahl erreicht werden muss, gibt die EU-Kommission mit geschmolzen werden. Bei einer Bereitstellung des ihrer angestrebten „Ambitionierung“ des europä Wasserstoffs basierend auf 100 % erneuerbaren ischen Klimaschutzziels für 2030 vor, da nunmehr Energien ist diese Route nahezu CO 2-neutral eine Minderung der Treibhausgasemissionen um (Minderungspotenzial 97 %) (Agora Energiewende –55 % gegenüber 1990 statt der bisher angestrebten und Wuppertal Institut, 2019). –40 % erreicht werden soll. Eine derartige Prozessumgestaltung ist mit entspre- chend hohen Investitionsanforderungen verbunden, die nur getätigt werden, wenn der politische und Wasserstoff – Türöffner für die regulatorische Rahmen entsprechend gestaltet wird klimaneutrale industrielle Produktion – beispielsweise über Carbon-Contracts-for- Difference oder Carbon Border Adjustments, die Das hohe Interesse der Industrie an Wasserstoff, die Mehrkosten für klimaneutralen Stahl im inter erklärt sich aus der Tatsache, dass viele Industriepro- nationalen Wettbewerb ausgleichen bzw. gleiche zesse gerade in der Grundstoffindustrie ohne den Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff nicht klima schaffen. Wenn dies zeitnah erfolgt, könnte sich ein neutral gestaltet werden können. „Window-of-opportunity“ öffnen, um die Stahl erzeugung zeitnah in Richtung Klimaneutralität zu Beispiel Stahlproduktion entwickeln, da in den nächsten Jahren umfangreiche Im herkömmlichen Hochofenprozess mit Koks als Neu- bzw. Ersatzinvestitionen anstehen. Kohlenstoffquelle und Kohlenmonoxid als Reduk Gelingt diese Transformation, werden in kurzer Zeit tionsmittel entsteht zwangsläufig CO2, während bei sehr große Mengen klimaneutralen Wasserstoffs der Direktreduktion mit Wasserstoff eine kohlenstoff- benötigt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass freie Reaktion abläuft: eine Investitionsentscheidung seitens der Industrie nur dann getroffen werden wird, wenn die Versor- gung mit klimaneutralem Wasserstoff entsprechend gesichert erscheint. 11
FVEE • Themen 2020 Session 1 • Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie Abbildung 2: Wasserstoffeinsatz in der Prozesswärme bereitstellung in der Industrie im Jahr 2050 in Deutschland im Vergleich eines 80 %-THG-Minderungs- szenarios mit einem 95 %-THG-Minderungs- szenario (Quelle: Robinius et al., 2020) Beispiel Mineralölwirtschaft stoffproduktion, die bei etwa 70 Mio. t/a liegt. In Ein weiterer Industriesektor, der ohne grünen Wasser Deutschland gehen sogar etwa 40 % der 1,6 Mio. t stoff keine Möglichkeit hat, klimaneutral zu werden, Wasserstoff pro Jahr in die Mineralölverarbeitung. ist die Mineralölwirtschaft. Bei den Raffinerien wird Der Wasserstoff wird dabei überwiegend am Ort des dies besonders deutlich: Raffinerien stoßen weltweit Bedarfs via Dampfreformierung aus fossilem Erdgas jährlich ca. 1 Mrd. t CO2 aus (Stand 2015). Davon gewonnen. Das entstehende CO2 (ca. 10 kg CO2 pro entfallen etwa 128 Mio. t CO2 pro Jahr (Stand 2014) kg Wasserstoff) wird freigesetzt und trägt seinen Teil auf Raffineriestandorte innerhalb Europas. Hier ist zu den heutigen Gesamtemissionen der Raffinerie Deutschland mit 24 Mio. t CO2 pro Jahr (Stand 2018) bei. Diese könnten über den Einsatz von klimaneutra der größte Emittent. Um die Zahlen in Relation zu lem Wasserstoff bereits kurzfristig vermieden werden. setzen sei darauf hingewiesen, dass die deutschen Raffinerien damit für 19 % der Gesamtemissionen Beispiel Prozesswärmebereitstellung des ETS-pflichtigen Industriesektors in Deutschland Zu diesen unmittelbaren und speziellen Anwen- verantwortlich sind. dungen von Wasserstoff in der Industrie kommt ein Für eine klimaneutrale Raffinerie müssen die Strom- weiterer Bereich hinzu – die Prozesswärmebereit und Prozesswärmebereitstellung und die in der Raffi stellung. Gerade der Bedarf an Hochtemperatur nerie ablaufenden Prozesse zukünftig klimaneutral prozesswärme (> 500 °C) lässt sich mit erneuerbaren gestaltet werden. Dies ist aber nur möglich, wenn Wärmeträgern (Solarthermie, Geothermie, Biomasse) auch der verarbeitete Rohstoff – das Rohöl – bereits nur in begrenztem Umfang bedienen. Hier kann klimaneutral – d. h. frei von fossilem Kohlenstoff – ist, klimaneutraler Wasserstoff eine wichtige Lücke da nicht nur im Veredelungsprozess prozessbedingte schließen, wie Abbildung 2 zeigt. CO2-Emissionen anfallen, sondern gerade die anfal- lenden Neben- und Abfallprodukte wie Purge Gas zur Energieversorgung (Strom- und Prozesswärme- Wasserstoff-Roadmaps – potenzielle bereitstellung) genutzt werden. Ohne einen Umstieg Absatzmärkte/Lieferländer von morgen von fossilem Rohöl auf einen synthetischen Vor produkt-Mix auf regenerativer Basis („Green Crude“), Betrachtet man exemplarisch die Markthochlauf haben Raffinerien somit in einer klimaneutralen Welt szenarien der „Hydrogen Roadmap Europe“ und der im Jahr 2050 keinen Platz mehr. Das „Green Crude“ „Roadmap to a US Hydrogen Economy“ wird deut- kann dabei auf Basis von grünem Wasserstoff mit lich, dass im Jahr 2030 die Unterschiede zwischen CO2 entweder über ein Fischer-Tropsch-Verfahren dem jeweiligen Basisszenario und dem ambitionier oder über die Methanol-Route synthetisiert werden. ten Szenario noch nicht sehr groß sind. Dies zeigt, Dies kann an Standorten mit sehr guten Erzeugungs- dass sich die Anwendungstechnologien wie die bedingungen für grünen Wasserstoff erfolgen. genannten Industrieprozesse aber auch neue Konzepte „Green Crude“ kann wie heute Rohöl importiert und wie Brennstoffzellenantriebe im Verkehr erst etablieren über die vorhandene Rohöl-Transportinfrastruktur müssen und die Marktdiffusion bis 2030 noch über- zur Raffinerie gelangen. schaubar sein wird. Entscheidend wird auf der Nach- Dies ist jedoch nicht der einzige Wasserstoffbedarf, frageseite sein, die notwendige Dynamik in der den eine Raffinerie aufweist: Raffinerien konsumieren Marktdurchdringung zu erreichen, die langfristig heute weltweit für die Prozessschritte Hydrocracking den Weg in eine Wasserstoffwirtschaft sichert. und Hydrotreating etwa 25 % der globalen Wasser- 12
Session 1 • Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie FVEE • Themen 2020 Parallel zur Nachfrageseite muss die Anwendungs- Dagegen würden in einer zentral ausgelegten Power- seite entwickelt werden, denn auch die Produktions- to-X-Struktur Anlagen ausschließlich für eine mög- kapazitäten für klimaneutralen Wasserstoff insbeson- lichst konstante Erzeugung von chemischen Energie- dere für die Wasserelektrolyse müssen erst entwickelt, trägern konzipiert. Die Produktion findet dann errichtet und in Betrieb genommen werden, zumal vorzugsweise an optimalen Standorten für die diesbezüglich noch wichtige Hürden im Rahmen der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien statt Skalierung der Technologien in den Multi-Megawatt- (auch im inner- oder außereuropäischen Ausland Maßstab zu nehmen sind. oder offshore). Die Anlagengrößen sind groß bis sehr Für Deutschland stellt sich in diesem Kontext die Frage, groß (100 – 5.000 MW Elektrolyseleistung). Aus diesen wie langfristig eine deutlich steigende Nachfrage Anlagen kann entweder Wasserstoff nach Deutsch- nach klimaneutralem Wasserstoff gedeckt werden land importiert werden, sofern die entsprechenden kann und sollte. Mehrere Optionen werden diskutiert, Transportinfrastrukturen aufgebaut werden können, auch wenn bereits klar ist, dass Deutschland in einer oder der Wasserstoff wird zu Syntheseprodukten wie klimaneutralen Wasserstoffzukunft Energieimport- „Green Crude“, Methanol oder Ammoniak weiter- land bleiben wird. Offen ist jedoch noch, was und verarbeitet und über bestehende Transportrouten wieviel importiert werden wird. und Infrastrukturen nach Deutschland gebracht. In einer dezentral ausgelegten Power-to-X-Versor- Auch wenn Deutschland nennenswerte Erzeugungs- gungsstruktur müssten die Anlagen lastflexibel sein, potenziale für Wasserstoff aufweist (DVGW-Forschungs könnten die lokale Sektorenkopplung und damit die vorhaben, 2019), nehmen die meisten Szenarien Netzintegration unterstützen. Eine Kopplung mit langfristig erhebliche Wasserstoffimportmengen an. bestehenden Bioenergie-und Industrieprozessen Dies zeigt auch ein 100 %-EE-Szenario für Nieder wäre vielfältig möglich (z. B. Biogas, Bioethanol, BTL) sachsen, das im Jahr 2019 bereits einen Anteil von und würde somit die Nutzung lokaler erneuerbarer 88,6 % erneuerbarer Energie am Stromsektor vorwei- Kohlenstoffquellen erlauben und im Sinne von Syn- sen konnte. Mit aus heutiger Sicht gesellschaftlich BioPTx Synergien von biomasse- und strombasierten akzeptablen Ausbauzielen (30 GW Wind an Land, Technologien erschließen. Die Anlagengrößen wären 15 GW Freiflächen-PV, vollständige Nutzung des eher klein bis mittelgroß (1 – 100 MW Elektrolyseleis Offshore-Potenzials) reichen die angestrebten Kapazi tung). Hierfür wäre ggf. der Import von erneuerbarem täten nicht aus, um den gesamten Energiebedarf in Strom aus dem europäischen Ausland erforderlich, Niedersachsen selbst decken zu können, so dass ein Abbildung 3: wenn in Deutschland kein weiterer Zubau realisiert Viertel der Primärenergie als grüner Energieträger Weltweite Wasserstoff- wird. (Fokus Wasserstoff) importiert werden muss. Im Ver- Roadmaps und gleich zu heute sinkt damit die Importquote von -Strategien rund 300 TWh auf ca. 100 TWh deutlich. (Quelle: Fraunhofer ISE) 13
FVEE • Themen 2020 Session Session11•• Grüner Wasserstoff als Schlüsseltechnologie Die entstehenden Importbedarfe werden die Energie importsysteme und -strukturen deutlich verändern. Neue Energiepartnerschaften und Lieferbeziehungen müssen angebahnt und etabliert werden. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der rasanten internatio nalen Entwicklung, die Wasserstoff erfährt. Wie Abbildung 3 zeigt, ist weltweit eine Vielzahl an Ländern aktiv und hat bereits eine Wasserstoffstrate- gie entwickelt oder ist auf dem Weg dorthin. Wasser- stoff wird also weltweit als Schlüsseltechnologie für die Klimaneutralität und den Wandel von Industrie- strukturen wahrgenommen und man will die damit verbundenen Chancen nutzen. Deutschland hat eine sehr gute Ausgangsposition – insbesondere auch im Bereich Forschung und Entwicklung – und sollte daher aktiv die mit einer Wasserstoffzukunft verbun- denen Chancen nutzen und die damit verbundenen Wertschöpfungspotenziale insbesondere auch im Maschinen- und Anlagenbau und im Technologie export heben. Referenzen • Agora Energiewende und Wuppertal Institut (2019): Klimaneutrale Industrie: Schlüssel technologien und Politikoptionen für Stahl, Chemie und Zement. Berlin, November 2019. • BloombergNEF (2020): Sweden, Spain the Cheapest European Markets for Wind and Solar Corporate PPAs, BNEF Survey Finds; London, 02. April 2020. • DVGW-Forschungsvorhaben (2019): Ermittlung des Gesamtpotentials erneuerbarer Gase zur Einspeisung ins deutsche Erdgasnetz. • IEA (2019): The Future of Hydrogen; Technology report – June 2019. • IIGCC (2019): The Institutional Investors Group on Climate Change; Open letter to EU leaders, 6th December 2019. • Robinius et al. (2020) Wege für die Energie- wende, Schriften des Forschungszentrums Jülich, Energie & Umwelt Bd. 499. 14
Session 2 • Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie FVEE • Themen 2020 Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie – Herausforderungen und Strategien 1. Industrietransformation: zials an erneuerbarem Strom und aufgrund von Herausforderung und Chance Hindernissen bei dessen Ausschöpfung ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft Energieimporte Wuppertal Institut Dr. Anna Leipprand Die Transformation der Industrie hin zur Klimaneu eine große Rolle spielen werden. anna.leipprand@wupperinst.org tralität ist von entscheidender Bedeutung für das Dr. Sascha Samadi Erreichen der Klimaziele und das zukünftige Energie- sascha.samadi@wupperinst.org system. Die Industrie ist für ein knappes Viertel 2. Technologische Strategien der Treibhausgas(THG)-Emissionen in Deutschland Dr. Georg Holtz georg.holtz@wupperinst.org verantwortlich (Prognos et al., 2020). Trotz Effizienz- Der vorliegende Beitrag setzt einige exemplarische steigerungen stagnieren die Emissionen der Industrie Schlaglichter auf die Forschung im FVEE zu Strategien Clemens Schneider clemens.schneider@wupperinst.org seit 2010 auf einem hohen Niveau. Aufgrund des für die Industrietransformation ohne den Anspruch, großen Anteils prozessbedingter Emissionen sowie diese vollständig darzustellen. DBFZ des hohen Bedarfs an Hochtemperaturprozesswärme Dr. Volker Lenz volker.lenz@dbfz.de sind THG-Emissionsreduzierungen in diesem Sektor 2.1. Kreislaufwirtschaft schwierig umzusetzen. Einige Kunststoffabfälle sind mechanisch nicht wieder UFZ verwertbar. Anstatt diese Abfälle zu verbrennen, kann Matthias Jordan matthias.jordan@ufz.de Die Grundstoffindustrie (Eisen und Stahl, Zement chemisches Recycling eine Lösung für die Wieder und Chemie) macht über die Hälfte der industriellen verwertung sein. Beim chemischen Recycling werden DLR Emissionen aus. Deshalb sind Schlüsseltechnologien, Kunststoffe gesammelt, sortiert und durch Pyrolyse Dr. Tom Lorenz welche die Emissionen dieser Sektoren nahe Null in ihre molekularen Bausteine gespalten. Pyrolyseöl tom.lorenz@dlr.de bringen können (Low Carbon Breakthrough Techno- kann dann zum Beispiel durch Steamcracking in Prof. Dr. Robert Pitz-Paal logies), von zentraler Bedeutung ( Abbildung 1). neue Rohstoffe für die Produktion von High Value robert.pitz-paal@dlr.de Solche Schlüsseltechnologien sind grundsätzlich ver- Chemicals überführt werden. FZ Jülich fügbar und stehen zum Teil kurz vor der großtech- Insbesondere aufgrund vergleichsweise geringer Dr. Manuel Dahmen nischen Anwendbarkeit (Agora Energiewende und Kosten kann das chemische Recycling attraktiv sein, m.dahmen@fz-juelich.de Wuppertal Institut, 2019). um Kohlenstoffkreisläufe zu schließen und Treibhaus- Dr. Martin Robinius Beispiele sind die Nutzung von sauberem Wasserstoff gasemissionen zu vermeiden (Agora Energiewende martin.robinius@umlaut.com zur Direktreduktion in der Stahlproduktion oder als Roh und Wuppertal Institut, 2019). Allerdings sind Dr. Thiemo Pesch stoff in der Chemieindustrie und die CO2-Abscheidung Verfahren zum chemischen Recycling technologisch t.pesch@fz-juelich.de und -speicherung in der Zementindustrie. noch nicht ausgereift. Weitere Forschungs- und Fritz Röben Darüber hinaus können neue Produktionsverfahren Entwicklungsanstrengungen sowie Nachhaltigkeits f.roeben@fz-juelich.de Emissionen reduzieren, die nicht der Industrie selbst bewertungen sind erforderlich. Dr. Peter Markewitz zugerechnet werden, beispielsweise Emissionen, die p.markewitz@fz-juelich.de in der Vorkette oder bei der Nutzung oder Entsorgung Auch bei anderen Materialien trägt eine verstärkte ihrer Produkte anfallen. Kreislaufführung dazu bei, den Energie- und Ressour- Fraunhofer ISE Dr. Peter Nitz cenbedarf zu senken und Emissionen zu reduzieren. peter.nitz@ise.fraunhofer.de Insgesamt existieren vielfältige Klimaschutzstrategien Modellierungsstudien zufolge ist ein verstärktes in der Industrie, die insbesondere durch Reduktion des Recycling – neben der Umstellung der Stahlprimär- ISFH Ressourcenbedarfs, Wechsel zu erneuerbaren Energie produktion auf die Direktreduktion – ein zentraler Dr. Raphael Niepelt niepelt@isfh.de trägern, und Abscheidung und Speicherung unvermeid Hebel, um die Stahlproduktion in Deutschland barer Emissionen wirken können ( Abbildung 2). klimaneutral zu machen (Kullmann et al., 2020; KIT Die Umsetzung dieser Strategien erfordert struktu- Prognos et al., 2020). Nach Modellrechnungen des Prof. Dr. Roland Dittmeyer roland.dittmeyer@kit.edu relle Änderungen im Energiesystem. Insbesondere Forschungszentrums Jülich (FZJ) steigt der Recycling werden große zusätzliche Mengen an erneuerbarem anteil bei Stahl von heute etwa 40 auf etwa 70 Pro- Prof. Dr. Dieter Stapf dieter.stapf@kit.edu Strom und nicht-fossiler Kohlenstoff für die Produktion zent in 2050. Die Entwicklung hängt dabei maßgeb- von synthetischen Energieträgern und Rohstoffen lich von den Kostenannahmen für Wasserstoffimporte benötigt. Kohlenstoffkreisläufe müssen geschlossen und Stahlschrott ab. werden. Aufgrund des begrenzten heimischen Poten 15
FVEE • Themen 2020 Session 2 • Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie Abbildung 1 Low Carbon Breakthrough Technologien für die Grundstoffindustrie (Quelle: Agora Energiewende & Wuppertal Institut 2019.) 2.2. Wasserstoff Neben der Nutzung in Direktreduktionsanlagen zur Grüner Wasserstoff kann für die Transformation der Stahlproduktion kann grüner Wasserstoff auch dazu Industrie eine entscheidende Rolle spielen. genutzt werden, CO2-armes Kupfer herzustellen. Mögliche Einsatzmöglichkeiten sind: Röben et al. (2020) modellieren ein System, bei dem • der Ersatz für fossile Reduktionsmittel grüner Wasserstoff sowohl für die Bereitstellung von • der Einsatz als Rohstoff wie etwa für die Hochtemperatur-Prozesswärme als auch als Reduk Produktion von Ammoniak oder synthetischen tionsmittel in der Kupferproduktion eingesetzt wird. Kohlenwasserstoffen Wasserstoff wird durch Elektrolyse mit erneuerbarem • der Einsatz als CO2-neutraler Energieträger für Strom bereitgestellt; der als Nebenprodukt anfallende die Bereitstellung von Hochtemperaturwärme Sauerstoff kann direkt in der Kupferproduktion genutzt und Dampf (Lechtenböhmer et al., 2019). werden. Die CO2-Vermeidungskosten werden in Abbildung 2: Bandbreite der Strategien für eine klimaneutrale Industrie (Quelle: Wuppertal Institut) 16
Session 2 • Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie FVEE • Themen 2020 erster Linie durch den Strompreis beeinflusst. Die 2.3. Erneuerbare Prozesswärme Kostenersparnis durch die Nutzung des Sauerstoffs Erneuerbare Prozesswärme ist als Lösung insbeson- aus der Elektrolyse kann einen Teil der Mehrkosten dere für Hochtemperaturprozesse derzeit noch nicht ausgleichen. Für die Emissionsbilanz ist ebenfalls der umfassend verfügbar bzw. wettbewerbsfähig und genutzte Strom entscheidend. Erst ab einem Emissi- wird deshalb in Szenariostudien kaum berücksichtigt. onsfaktor für Strom von unter 160 g CO2/kWh trägt Im FVEE wird erneuerbare Prozesswärme intensiv das System insgesamt zu einer Emissionsreduktion beforscht. Sie könnte perspektivisch einen wesent- bei. Bei einem Strommix wie dem heutigen in lichen Beitrag zur Dekarbonisierung der Industrie Deutschland mit einem Emissionsfaktor von 400 g leisten. CO2/kWh würden sich die Gesamtemissionen sogar erhöhen. Eine Umsetzung wäre dementsprechend Etwa die Hälfte des industriellen Wärmebedarfs erfor- nur unter veränderten Rahmenbedingungen ökono- dert Temperaturen bis 500 °C, die andere Hälfte über misch und ökologisch sinnvoll. 500 °C (de Boer et al., 2020). Für die Temperatur bereiche bis 500 °C stehen bereits solare Technologien Die standortspezifischen Wasserstoffgestehungs zur Verfügung, die jedoch teilweise weiterer F&E- kosten sind für die zukünftige geografische Verteilung Anstrengungen bedürfen. Weitere Lösungen sind einer Erzeugungsinfrastruktur relevant (Merten et al., Gegenstand aktueller Forschung. 2020a). Am Institut für Solarenergieforschung in Am DLR-Institut für CO2-arme Industrieprozesse in Hameln (ISFH) wurden Wasserstoffgestehungskosten Cottbus wird z. B. eine innovative Hochtemperatur- für den Standort Salzgitter-Watenstedt und eine wärmepumpe entwickelt, die Temperaturen von 250 mögliche Versorgung des dortigen Stahlwerks durch bis 550 °C erreichen soll 1) ( Abbildung 3). Bisher Wind-Solar-Wasserstoff untersucht. Die Simulation in können Wärmepumpen nur Temperaturen bis maxi- stündlicher Auflösung zeigt, dass die Kombination mal 165 °C bereitstellen. Durch die höheren Tempe- von Solar- und Windenergie 4000 bis 5500 Betriebs- raturen lässt sich ein Teil der fossil erzeugten Prozess- stunden der Elektrolyse pro Jahr bei einer Abregelung wärme in der Industrie elektrifizieren. von unter 10 Prozent ermöglicht. Die nach wie vor bestehenden großen Kostensenkungspotenziale Auch Temperaturbereiche über 500 °C können mit sowohl bei den Technologien zur Erzeugung erneu- solaren Kollektortechnologien adressiert werden. erbarer Energie als auch bei der Elektrolyse können Während moderne Flüssigsalzsysteme Wärme im längerfristig zu geringeren Unterschieden bei Wasser Bereich bis zu 500 °C bereitstellen können, wird für stoffgestehungskosten im In- und Ausland führen höhere Temperaturen an Partikelsystemen geforscht, und solche Inselsysteme zu Wasserstofferzeugung im etwa beim DLR-Institut für Solarforschung in Köln- Inland zunehmend attraktiv machen (Niepelt und Porz (Ebert et al., 2019). 2) Mittels eines Heliostaten- Brendel, 2020). felds werden im Receiver kleine Bauxit-Partikel auf Abbildung 3: Hochtemperatur wärmepumpe: CO2-neutrale Prozesswärme von 250 bis 550 °C. Planung des ersten Prototyps am DLR in Cottbus (Quelle: DLR-Institut für CO2-arme Industrieprozesse) 17
FVEE • Themen 2020 Session 2 • Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie Abbildung 4: Auswirkungen der Strategien für klimaneutrale Industrien bis 2050: links: Reduktion der CO2-Emissionen rechts: Höhe und Zusammensetzung des Energiebedarfs (Quelle: Agora Energiewende & Wuppertal Institut 2020). Temperaturen bis zu 1000 °C erhitzt. Die heißen • Beiträge zur Versorgungssicherheit bei Partikel können in einem Behälter bei Atmosphären- e rgänzendem Einsatz zu solarer Prozesswärme druck gespeichert werden. Die Wärmeauskopplung bei Temperaturen unter 200 °C an einen Industrieprozess erfolgt durch Partikel- • Einsatz als Rohstoff mit speziellen Prozesseffekten Wärmeübertrager, beispielsweise an einen Luftstrom. (Biokoks als Kohlenstoffquelle in der Stahlproduk Diese Technologie wird auch weltweit in einer Reihe tion per Wasserstoff-Direktreduktion; Asche als von Projekten entwickelt. Zuschlagsstoff für Zement) • Erzeugung negativer Emissionen bei Kopplung In dem vom Fraunhofer ISE koordinierten EU-Projekt mit CO2-Abscheidung und -Speicherung oder INSHIP (Integrating National Research Agendas on -Nutzung (Bioenergy with Carbon Capture and Solar Heat for Industrial Processes) 3) vernetzt sich die Storage or Utilisation, BeCCS/U) europäische Forschung zur Nutzung solarer Prozess- • Umstellung fossil basierter Prozesse (z. B. Kunst- wärme in der Industrie und erarbeitet eine European stoffproduktion) auf biogenen Rohstoffeinsatz Common Research and Innovation Agenda. und systemdienliche energetische Nutzung der neu anfallenden biogenen Reststoffe am Standort 2.4. Bioenergie (Bioökonomie) Aktuelle Forschung aus dem FVEE legt nahe, dass das begrenzt vorhandene nachhaltige Biomassepotenzial Eine techno-ökonomische Modellierung des Wärme- zu deutlich größeren Anteilen als bisher in der Indus- marktes unter der Bedingung der Erfüllung der trie eingesetzt werden sollte. Klimaziele bestätigt: Die kostenoptimale Verwendung • Derzeit werden in Deutschland etwa 0,1 Exajoule von Biomasse im Wärmesektor besteht langfristig – (EJ) Biomasse für die Wärmebereitstellung unter neben einigen anderen systemstabilisierenden Ein- 200 °C im Industriebereich, v. a. in der holzverarbei satzmöglichkeiten im Rahmen der Sektorkopplung tenden und in der Lebensmittelindustrie, eingesetzt. – überwiegend in Hochtemperaturanwendungen in • Weitere 0,4 EJ werden für die Wärmebereitstellung der Industrie. Diese Lösung wurde unter den gege- von Haushalten genutzt. benen Unsicherheiten im Rahmen einer umfang- • Die restlichen 0,5 EJ des nachhaltigen reichen Sensitivitätsanalyse als robust identifiziert Biomassepotenzials werden bereits teilweise im (Jordan et al., 2020). Eine aktuelle Modellierungs Stromsektor und Mobilitätssektor verwendet. studie, in der Deutschland bis 2050 klimaneutral wird, erreicht die hierfür notwendigen negativen Für eine effiziente Energiewende sollte Biomasse aber Emissionen durch den Einsatz von BeCCS (Prognos in Zukunft dort eingesetzt werden, wo sie einen et al., 2020). möglichst großen Zusatznutzen erzeugen kann (Lenz et al., 2020). Dies ist insbesondere bei indus trielle Anwendungen der Fall, etwa durch 18
Session 2 • Auf dem Weg zur klimaneutralen Industrie FVEE • Themen 2020 3. Strukturelle Auswirkungen 4. Herausforderungen für die Politik Die Umsetzung der Strategien für die Industrietrans- Damit die Transformation der Industrie gelingen formation wird, zusammen mit Veränderungen in kann, muss die Politik entsprechende Rahmenbedin- den anderen Sektoren, erhebliche Auswirkungen auf gungen schaffen und langfristig wirksame strate- Höhe und Zusammensetzung des Energiebedarfs gische Signale setzen. und auf Energieerzeugungs- und transportstrukturen • So muss etwa eine weitgehende Kreislaufwirt haben. Modellrechnungen des FZ Jülich (Robinius et schaft mit möglichst geschlossenen Stoffströmen al., 2020) und des Wuppertal Instituts (Prognos et angereizt werden. al., 2020) zufolge verschwinden fossile Energieträger • Forschung zu neuen Technologien mit hohem sukzessive aus dem Energiemix. Biomasse, Strom Klimaschutzpotenzial muss weiter gefördert und Wasserstoff werden zu tragenden Säulen der werden. industriellen Energieversorgung, die weiterhin – bei • Begrenzt verfügbare Energieträger wie Biomasse nur leicht sinkendem Bedarf – erhebliche Mengen und Wasserstoff müssen effizient eingesetzt umfasst ( Abbildung 4). werden. • Zudem stellt der Aufbau von Infrastruktur eine Der Wechsel der Energieträger macht eine Analyse wesentliche Herausforderung dar, insbesondere der nötigen Infrastruktur erforderlich. Eine aktuelle da erhebliche Unsicherheiten bezüglich des wissenschaftliche Diskussion dreht sich etwa um die zukünftigen Energie- und Rohstoffbedarfes Frage, an welchen Standorten Elektrolysekapazitäten bestehen. aufgebaut werden sollten, und welche Transportinfra • Von zentraler Bedeutung ist es, Investitionen in strukturen notwendig sein werden, um Wasserstoff Schlüsseltechnologien rechtzeitig und auch bei zu den Verbrauchsorten zu transportieren (z. B. noch nicht ausreichend hohem CO2-Preis zu Merten et al., 2020a). Analysen des FZ Jülich legen ermöglichen. Wegen der langen Lebensdauer nahe, dass Elektrolyseure zur Produktion großer Was- von industriellen Anlagen müssen neue Investi serstoffmengen, etwa für die Stahl-Direktreduktion, tionen bereits heute kompatibel mit der langfristig dort platziert werden sollten, wo viel Windstrom anvisierten Klimaneutralität sein (Agora Energie- erzeugt wird, da es sonst zu Netzengpässen im wende, 2020). Hierfür ist eine entsprechende Stromsystem kommt (Görner et al., 2018). Gestaltung von Märkten und Preissignalen in der EU ebenso notwendig wie die Gewährleistung von Wenn große Mengen von grünem Wasserstoff in international fairen Wettbewerbsbedingungen. Regionen mit hoher EE-Stromerzeugungsleistung produziert und große Mengen Wasserstoff importiert werden, wird der Aufbau einer groß angelegten Literatur Wasserstoffinfrastruktur notwendig. Studien von Instituten im FVEE skizzieren Randbedingungen und • Agora Energiewende (2020). A Clean Industry mögliche Ausgestaltungen von Pipelinenetzen Package for the EU: Making sure the European (Robinius et al., 2020, S. 448; Merten et al., 2020b). Green Deal kick-starts the transition to climate- neutral industry. Berlin: Agora Energiewende. Darüber hinaus können die genannten Maßnahmen • Agora Energiewende, Wuppertal Institut (2019). zur Industrietransformation eine Reihe von Neben Klimaneutrale Industrie – Schlüsseltechnologien effekten hervorrufen, die es bei der Umsetzung zu und Politikoptionen für Stahl, Chemie und Zement. berücksichtigen gilt. Mit der Umstellung auf Schlüssel Berlin. technologien können beispielsweise Zwischenpro- • de Boer, R., Marina, A., Zühlsdorf, B., Arpagaus, C., dukte entfallen, die wiederum Ausgangsmaterial für Bantle, M., Wilk, V., Elmegaard, B., Corberán, J., andere Prozesse sind, wie z. B. die Hüttensande aus Benson, J. (2020). Strengthening Industrial Heat der konventionellen Stahlproduktion, die derzeit für Pump Innovation – Decarbonizing Industrial Heat. die Zementherstellung genutzt werden. Zudem kann Whitepaper, TNO. durch den Ersatz von fossilen Rohstoffen die Kohlen- • Ebert, M., Amsbeck, L., Rheinländer, J., stoffquelle für Industrieprozesse verloren gehen. Dies Schlögl-Knothe, B., Schmitz, S., Sibum, M. betrifft bspw. die Harnstoffproduktion, die gegen- • Uhlig, R., Buck, R. (2019). Operational wärtig CO2 aus der vorgeschalteten Ammoniak Experience of a Centrifugal Particle Receiver synthese als Kohlenstoffquelle nutzt. Prototype. AIP Conference Proceedings, 2126 (030018), SolarPACES 2018, 2. – 5. Oct. 2018, Casablanca, Morocco. https://doi.org/10.1063/1.5117530 19
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