Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022

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Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
                                                                                          Dezember 2022

Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022

     ● Anlässlich des 70. Jahrestags des Luxemburger Abkommens von 1952 wurde 2022 das „Gedenk-
       jahr der Wiedergutmachung“ begangen.

     ● Das Abkommen mit Israel unter Beteiligung der Claims Conference nur sieben Jahre nach Ende
       des Holocausts war ein Meilenstein für alle Beteiligten.

     ● Der 70. Jahrestag des Abkommens fand international große Aufmerksamkeit und wurde auch
       durch das BMF mit einer Gedenkveranstaltung unter Beteiligung des Bundeskanzlers Olaf
       Scholz im Jüdischen Museum in Berlin hervorgehoben.

     ● Darüber hinaus haben BMF und Claims Conference verschiedene kooperative Unternehmungen
       zur Sichtbarkeit des Abkommens und seiner Folgewirkungen bis in die heutige Zeit und in die
       Zukunft unternommen. Dabei wurden auch Projekte mit nichtjüdischen Opfervertretungsorga-
       nisationen, wie dem Bundesverband für NS-Verfolgte in Köln, einbezogen.

     ● Im Zuge des Gedenkjahres entstanden u. a. der Dokumentationsfilm „Reckonings“ sowie eine
       Ausstellung im Deutschen Bundestag. Zudem wurde eine erste Version des Themenportals Wie-
       dergutmachung als zentraler Zugangspunkt zu allen Akten der Wiedergutmachung im Gedenk-
       jahr freigeschaltet.

   Abkommen mit dauerhafter                             entstand im Oktober 1951 als Dachverband von
                                                        23 internationalen jüdischen Organisationen.
   Auswirkung
Das am 10. September 1952 in Luxemburg durch                Die Conference on Jewish Material Claims
Bundeskanzler Konrad Adenauer und Israels Au-               Against Germany,
ßenminister Mosche Scharett unter Beteiligung               auch Claims Conference oder Jewish Claims
des Präsidenten der Conference on Jewish Material           Conference, ist ein Zusammenschluss in-
Claims Against Germany Nachum Goldmann un-                  ternationaler jüdischer Organisationen. Sie
terzeichnete Luxemburger Abkommen über (west-)              vertritt seit ihrer Gründung 1951 Entschä-
deutsche Entschädigungsleistungen war in vielfa-            digungsansprüche jüdischer Opfer des Nati-
cher Hinsicht ein Meilenstein. Zunächst ist zu kon-         onalsozialismus und Holocaust-Überleben-
statieren, dass alle drei Beteiligten zum Zeitpunkt         der. Die Organisation mit Sitz in New York
des Verhandlungsgegenstands – der im deutschen              City unterhält in Frankfurt am Main, Berlin,
Namen begangenen Verbrechen im Nationalsozi-                Wien und Tel Aviv Repräsentanzen.
alismus – noch nicht existierten: Israel gründete
sich als demokratischer und jüdischer Staat im
Mai 1948, die Bundesrepublik gar erst ein Jahr spä-
ter mit Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai
und der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag im
August 1949. Die Claims Conference schließlich

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Analysen und Berichte                                                      Monatsbericht des BMF
           Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022                                             Dezember 2022

    Das Luxemburger Abkommen                              Abkommen selbst waren weder in Israel noch in
    vom 10. September 1952 zwischen der Bun-              der Bundesrepublik in der Öffentlichkeit populär
    desrepublik Deutschland und dem Staat Is-             oder überhaupt gewollt. Gerade einmal 11 Prozent

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    rael unter Beteiligung der Conference on              der Deutschen unterstützten Umfragen zufolge die
    Jewish Material Claims Against Germany war            schwierigen, im niederländischen Wassenaar ge-
    das erste Abkommen für den Versuch einer              führten Gespräche mit Israel und der Claims Con-
    Wiedergutmachung nationalsozialistischen              ference. In Israel zeigte sich der Widerstand da-
    Unrechts.                                             gegen sichtbar auf der Straße: Ein großer Teil der
                                                          Bevölkerung lehnte die Verhandlungen mit „den
                                                          Tätern“ nur sieben Jahre nach dem Ende des Ho-
Es handelte sich um den ersten bilateralen Vertrag        locausts rundweg ab, bezeichnete Entschädigun-
der noch sehr jungen Bundesrepublik nach Erlan-           gen als „Blutgeld“ und befürchtete, man werde am
gung der Teilsouveränität durch den Deutschland-          Ende auch noch vorgeführt werden. Unter Führung
vertrag im Mai 1952. Ein Abkommen unter Betei-            des Oppositionsführers und späteren Ministerprä-
ligung einer Nichtregierungsorganisation, die die         sidenten Menachem Begin kam es zu lautstarken
Claims Conference bis heute darstellt, hatte es darü-     Protesten und sogar zu Straßenschlachten mit der
ber hinaus auch noch nicht gegeben. Dass es hierzu        Polizei, die versuchte, Abgeordnete der Knesset vor
überhaupt kam, liegt im Angebot Konrad Adenauers          Steine werfenden Demonstranten zu schützen.
vom 27. September 1951 begründet, in dem er die
Bereitschaft zu Verhandlungen mit Israel und „ei-         Nach Unterzeichnung des Abkommens und nach-
nem weiteren Vertreter des Weltjudentums“ erklärt         dem gemäß der Vereinbarung Lieferungen zum
hatte. Hieraufhin gründete sich die Claims Confer-        vereinbarten Preis über den Zeitraum von 14 Jah-
ence und verhandelt mit Unterbrechungen seither           ren erfolgt waren, verstummte die Ablehnung in
mit dem BMF in ihrer Eigenschaft als Vertreterin jü-      beiden Ländern fast schlagartig. In Deutschland
discher Interessen mit Ausnahme Israels. Bis heute        profitierte die deutsche Wirtschaft nicht unerheb-
stellt das Luxemburger Abkommen inhaltlich wie            lich. In Israel sorgten die regelmäßigen Warenlie-
symbolisch einen wichtigen Anknüpfungspunkt zu            ferungen und Garantien für Rohölimporte für eine
den moralischen Hintergründen der aktuellen Ent-          Gesundung des bis dahin stark in Schieflage ge-
schädigungspolitik und den Zukunfts- und Folge-           ratenen Staatshaushalts und einen enormen An-
aufgaben der Wiedergutmachung dar.                        schub der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
                                                          Bevor 1965 diplomatische Beziehungen zwischen
1952 übernahm die Bundesrepublik nach lan-                der Bundesrepublik und Israel aufgenommen wur-
gen und hochkomplexen Verhandlungen erstma-               den, war das Abkommen ein erster, unersetzbarer
lig die Verantwortung für die im Nationalsozialis-        Meilenstein für die deutsch-israelischen Beziehun-
mus begangenen Verbrechen insbesondere an den             gen und ist es bis heute für die deutsch-israelische
Juden und verpflichtete sich zu Entschädigungs-           Freundschaft. Darüber hinaus diente die Vereinba-
zahlungen in Höhe von circa 12 Prozent des dama-          rung als initialer Schritt auf dem langen Weg der
ligen Bundeshaushaltsvolumens, zahlbar in Wa-             Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbre-
ren und Dienstleistungen. Darüber hinaus wurde            chen und für den Aufbau von Beziehungen zur jü-
in den Protokollanhängen zum Vertrag festge-              dischen Welt nach dem Holocaust.
legt, dass die Bundesrepublik Entschädigungspro-
gramme für Individualzahlungen an die betrof-             Anlässlich des 70. Jahrestags des Luxemburger Ab-
fenen Opfer selbst gesetzlich regeln sollte. Dies         kommens hat das BMF ein Gedenkjahr der Wieder-
war eine wichtige Vorbedingung für das in der             gutmachung nationalsozialistischen Unrechts ins
Folge implementierte Bundesentschädigungsge-              Leben gerufen und hierzu unter teilweiser Mitwir-
setz und weitere Regelungen zur Entschädigung             kung der Claims Conference verschiedene Veran-
und Rückerstattung. Die Verhandlungen und das             staltungen und Aktivitäten durchgeführt.

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          Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022                                              Dezember 2022

   „Reckonings“ – erster                                 in Europa und in Asien. Ende Oktober 2022 wurde
   Dokumentarfilm zum                                    er zur Primetime auf dem United Nations Asso-
   Luxemburger Abkommen und                              ciation Film Festival in Kalifornien vorgeführt.
                                                         Im Januar 2023 wird er zum Internationalen Ho-
   zur Wiedergutmachung                                  locaust-Gedenktag bei einer Veranstaltung der UN-
                                                         ESCO in Paris zu sehen sein.
Bei den jährlichen Verhandlungen auf der Grund-
lage der Artikel-2-Vereinbarung im Jahr 2019 ver-        Neben der 74-minütigen Original-Version von
ständigten sich die Claims Conference und das            „Reckonings“ gibt es bereits eine 18- und eine
BMF auf die gemeinsame Beauftragung eines Do-            58-minütige Variante, die u. a. zu Bildungszwecken
kumentarfilms zum Luxemburger Abkommen an-               eingesetzt werden sollen. Eine 40-minütige Version
lässlich des 70. Jahrestags im Jahr 2022. Hierzu en-     für den Unterricht an Schulen ist in Arbeit. Hierzu
gagierte die Claims Conference die international         ist geplant, außerdem filmspezifisches Lehrmate-
bekannte und preisgekrönte US-amerikanische Re-          rial in Auftrag zu geben, das anhand des Films und
gisseurin und Drehbuchautorin Roberta Grossman,          seiner Inhalte Vorbereitungsmaterial für Schüle-
die in der Vergangenheit u. a. für ihren Dokumen-        rinnen und Schüler sowie Lehrkräfte bereithal-
tarfilm „Who Will Write Our History“ ausgezeich-         ten soll. Sobald die Festival-Tour im Sommer 2023
net wurde. Mit der Bereitschaft, einen Film über die     beendet ist, wird der Film kostenfrei für schuli-
Wiedergutmachung zu produzieren, stand sie vor           sche und politische Bildungszwecke zur Verfügung
der besonderen Herausforderung, ein komplexes,           stehen.
unzugängliches und unbequemes Thema öffent-
lichkeitswirksam und „konsumierbar“ umzusetzen
und dabei die Perspektiven Israels, der Claims Con-          „Reckonings“
ference und der Bundesregierung gleichermaßen                ist ein Dokumentarfilm über die Entste-
zu integrieren und in Einklang zu bringen.                   hung des Luxemburger Abkommens im Rah-
                                                             men dessen 70-jährigen Jahrestags. Der Film
Dies verlangte neben allen handwerklich und                  wurde von BMF und der Jewish Claims Con-
künstlerisch notwendigen Attributen vor allem                ference bei der US-amerikanischen Regis-
Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick:             seurin Roberta Grossmann in Auftrag gege-
Sowohl die Claims Conference als auch das BMF                ben. Die Vorpremiere fand am 18. Mai 2022
achteten bei der Entstehung, der vielfachen Über-            in Berlin statt. Der Film wird derzeit auf ver-
arbeitung und der letztlichen Umsetzung von                  schiedenen Festivals gezeigt, aber noch
Drehbuch und Film auf unerlässlich erscheinende              nicht öffentlich vorgeführt. Ein Trailer des
Narrative und Perspektiven. Das Ergebnis, das am             Films kann auf der Website des BMF aufge-
18. Mai 2022 in Berlin im Delphi Filmpalast Vor-             rufen werden (https://www.bundesfinanz-
premiere feierte, wird als außergewöhnlich gelun-            ministerium.de/mb/20221211).
gen anerkannt, wie seither zahlreiche Pressebeob-
achtungen und Rezensionen bestätigen. Zurzeit
macht der Film die obligatorische „Tour“ über zahl-
reiche internationale Film-Festivals in den USA,

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          Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022                                             Dezember 2022

   Ausstellung im Deutschen                                 Botschaftssitzung im EURO-
   Bundestag                                                Saal und Verhandlungen 2022

                                                                                                                Analysen und Berichte
Ein weiteres wichtiges Element im Gedenkjahr             Anlässlich des 84. Jahrestags der sogenannten
war eine Ausstellung im Deutschen Bundestag von          Reichspogromnacht am 9. November 1938 und
Anfang September bis Anfang Oktober 2022. Sie            der am 12. November 1938 folgenden „Vor-Wann-
wurde am 6. September von Bundestagspräsiden-            see-Konferenz“ fand auf Wunsch des israelischen
tin Bärbel Bas eröffnet. Zuvor hatte die Präsiden-       Botschafters in Deutschland Ron Prosor eine Son-
tin mit dem israelischen Staatspräsidenten Jizchak       dersitzung des Diplomaten-Teams der israelischen
Herzog nach seiner Rede vor dem Deutschen Bun-           Botschaft im EURO-Saal des BMF statt.
destag gemeinsam einen Rundgang zu den wich-
tigsten Stationen der Ausstellung gemacht.               Wenige Tage nach der Reichspogromnacht hatte
                                                         im damaligen Reichsluftfahrtministerium in die-
Die Ausstellung entstand in Kooperation zwischen         sem Saal unter Leitung des Hausherrn Herrmann
der Claims Conference und dem BMF sowie dem              Göring eine Sitzung von über 100 hochrangigen
israelischen Knesset-Museum. Dazu wurden ge-             Vertretern verschiedener Ministerien aus Wirt-
eignete Foto- und Textquellen sowie Grafiken und         schaft, Politik und SS stattgefunden. Ziel der über
Karten ausgewählt und zusammengestellt. Wie              vierstündigen Besprechung war, den durch die Po-
schon beim Film bestand die Herausforderung              grome terrorisierten Juden zusätzliche, langfris-
auch hier darin, die mitunter verschiedenen Per-         tige und bedeutende wirtschaftliche Schäden zu-
spektiven auf die Wiedergutmachungs- und Ent-            zufügen. So war u. a. beschlossen worden, dass die
schädigungspolitik in einer gemeinsamen Ausstel-         für die zahllosen beschädigten Geschäfte und Sy­
lung miteinander zu vereinen.                            nagogen von Versicherern gezahlten Schadens-
                                                         summen nicht an die jüdischen Eigentümerinnen
In der feierlichen Eröffnungszeremonie im Deut-          und Eigentümer, sondern an den deutschen Staat
schen Bundestag sprachen neben der Bundestags-           fließen sollten – zur Abgeltung der vermeintlich
präsidentin und dem Direktor des Knesset-Muse-           durch die Juden selbst erwirkten Schäden. Weiter-
ums Dr. Moshe Fuksman-Shal auch der Executive            hin war eine Reihe von Regelungen zur Verdrän-
Vice President der Claims Conference Greg Schnei-        gung von Juden aus dem wirtschaftlichen und ge-
der sowie Staatssekretärin Prof. Dr. Luise Hölscher.     sellschaftlichen Leben beschlossen worden, etwa
In einem bewegenden Interview wurde die Ho-              die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus
locaust-Überlebende Eva Szepesi von ihrer Enke-          dem deutschen Wirtschaftsleben“.
lin Celina Schwarz zu ihren Erinnerungen an die
Verfolgung und das Konzentrations- und Vernich-          Botschafter Ron Prosor zog im Rahmen der Sonder-
tungslager Auschwitz befragt. Die Biografie von Eva      sitzung das bittere Resümee und mahnte gleichzei-
Szepesi ist auch Teil der Ausstellung.                   tig zur Wachsamkeit: „Das ist wie in der Geschichte
                                                         von König Ahab: ‚Erst zerstöre ich dich und dein
Aufgrund vieler Anfragen werden mit der Claims           Eigentum und zum Dank darfst du mir den Teil
Conference derzeit die weiteren Möglichkeiten der        überlassen, den ich heil gelassen habe.‘ Ich glaube,
Präsentation der Ausstellung an anderen Orten be-        dass die Tatsache, dass wir alle hier sind und die
sprochen und vorbereitet.                                Geschichte erzählen und darüber sprechen, auch

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          Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022                                             Dezember 2022

für die Zukunft wichtig ist. Und wie ich am An-          Darüber hinaus unterstützt das BMF im Gedenk-
fang gesagt habe, werden Dinge getan, die aus mei-       jahr verschiedene Projekte von Opferorganisa-
ner Sicht antisemitisch sind, die plötzlich salonfä-     tionen. So wurde die Social-Media-Kampagne
hig gemacht werden. Es passiert allmählich, Schritt      #zumfeindgemacht (Instagram) vom Bundesver-
für Schritt, und wir müssen alle dagegen kämpfen.“       band für NS-Verfolgte aus Mitteln des BMF finan-
Dass nun diese Sitzung der israelischen Diploma-         ziert. Ferner steht das BMF mit dem Zentralrat
tinnen und Diplomaten in unmittelbarer zeitlicher        der Sinti und Roma im Gespräch, ein Filmpro-
Nähe zum Jahrestag von Pogrom und Vor-Wann-              jekt des Zentralrats im Jahr 2023 zu unterstützen.
see-Konferenz in ebendiesem Raum stattfinden             Auch ein Projekt „16 Objekte“ mit dem deutschen
konnte, dürfte sichtbarer Ausdruck dafür sein, die       Yad Vashem Freundeskreis, das in das Gedenkjahr
dunkle deutsche Vergangenheit mit der Realität           eingebettet wird, wurde zum Jahresende 2022 ver-
der deutsch-israelischen Freundschaft abzuglei-          einbart und konzipiert und wird im Januar 2023
chen und gleichzeitig nicht nachzulassen im Be-          im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages
mühen, gemeinsam und konstruktiv Gegenwart               eröffnet.
und Zukunft zu gestalten.

Staatssekretärin Prof. Dr. Luise Hölscher hob die in        Die Vergangenheit für
Abgrenzung zur damaligen Besprechung und zu                 die Zukunft bewahren –
den damaligen Beschlüssen gegenwärtige Nutzung
des historischen EURO-Saals hervor: „Heute hat er
                                                            Fort­schritte beim
einen anderen Zweck“, einen gegenteiligen, denn             Data-Hub-Themenportal
nun finden hier u. a. die von ihr geführten jährli-         Wiedergutmachung
chen Verhandlungen mit der Claims Conference
über Verbesserungen der verschiedenen Entschä-           Die Akten und Dokumente der Wiedergutma-
digungsprogramme für die noch lebenden Verfolg-          chung nationalsozialistischen Unrechts sollen für
ten des NS-Regimes statt.                                die Zukunft digital bereitgestellt werden. Das ent-
                                                         stehende Portal wird ein entscheidender Pfeiler der
Im Mai 2022 einigte man sich nach engagiert ge-          Wiedergutmachung in einer Zeit sein, wenn keine
führten Verhandlungen auf deutsche Unterstüt-            Verfolgten mehr am Leben sein werden. Im Ge-
zungsleistungen in Höhe von rund 1,2 Mrd. Euro           denkjahr 2022 wurden entscheidende Fortschritte
für das Jahr 2023 zur Verteilung durch die Claims        gemacht. Nachdem im noch stark unter den pan-
Conference. Durch besonderen Einsatz von Bun-            demiebedingten Einschränkungen stehenden
desfinanzminister Christian Lindner wurden               Jahr 2021 Vereinbarungen mit den Kooperations-
im Sommer 2022 zusätzliche und über das ur-              partnern Bundesarchiv, Landesarchiv Baden-Würt-
sprüngliche     Verhandlungsmandat      hinausge-        temberg und FIZ Karlsruhe – Leibniz-Institut für
hende 180 Mio. Euro für weitere Einmalzahlun-            Informationsinfrastruktur geschlossen werden
gen im Zusammenhang mit der Pandemie auch                konnten, wurde unmittelbar mit einer ersten Ent-
im Jahr 2023 zugesagt. Außerdem wurde im Zuge            wicklungsphase zum Aufbau des Portals begonnen.
der diesjährigen Verhandlungen ein Finanzpaket           Dort können schon heute die bereits durch die Ar-
für die zukunftsorientierte sogenannte Holocaust         chive standardmäßig erschlossenen Daten zur Ent-
Education vereinbart, das sich bis 2025 auf insge-       schädigungs- und Wiedergutmachungspolitik von
samt 100 Mio. Euro belaufen wird; die ersten Pro-        Bund und Ländern erstmals zentral eingesehen
jekte des von der Claims Conference zusammenge-          werden.
stellten Projektkorbs werden noch in diesem Jahr
starten.

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Analysen und Berichte                                                      Monatsbericht des BMF
          Gedenkjahr der Wiedergutmachung 2022                                             Dezember 2022

   Rahmenvereinbarung zum                               Alliierten erlassen worden waren und später Ein-
   Themenportal                                         fluss auf die deutschen Regelungen hatten. Neben
                                                        den Archivverwaltungen waren hochrangige Ver-

                                                                                                                 Analysen und Berichte
Anlässlich der Unterzeichnung der Rahmenverein-         treterinnen und Vertreter der Länder anwesend, die
barung zum Themenportal durch Staatssekretärin          nicht nur für die jeweiligen Landes- und Staatsar-
Prof. Dr. Luise Hölscher und die Leiterinnen und        chive verantwortlich sind, sondern im Zuge des fö-
Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und            deralen Aufbaus von Wiedergutmachungsregelun-
der Länder am 1. Juni 2022 auf dem Petersberg bei       gen ebenfalls im Bereich der künftigen Aufgaben
Bonn wurde das Themenportal offiziell online ge-        von Wiedergutmachung wirken.
schaltet und steht seither als erstes Aktenverweis-
system unter https://www.archivportal-d.de/the-         Dem Anlass entsprechend entstand ein besonde-
menportale/wiedergutmachung zur Verfügung.              res musikalisches Begleitprogramm. Vorgetragen
Es wird nun inhaltlich und funktionell Schritt für      durch das Trio Prof. Marc Secara, Prof. Jonas Schoen
Schritt ausgebaut, technisch erweitert und für For-     und Johannes von Ballestrem wurden Stücke aus
schung, Bildung und vor allem für die Nachkom-          den Akten (wieder) zum Leben erweckt. Denn in
men von NS-Opfern zugänglicher und umfängli-            den Akten der Wiedergutmachung steckt im Wort-
cher nutzbar gemacht. Hierfür bildet die auf dem        sinn Musik – unzählige während des Nationalsozi-
Petersberg geschlossene Rahmenvereinbarung              alismus verfolgte Künstlerinnen und Künstler hat-
eine wichtige Arbeitsgrundlage, denn die Wieder-        ten in Entschädigungsverfahren als Nachweis des
gutmachungsakten selbst liegen zum großen Teil in       erlittenen wirtschaftlichen und beruflichen Scha-
den Länderarchiven.                                     dens Beweisstücke ihrer Tätigkeit eingereicht –
                                                        Noten, Kompositionen und vieles mehr. Viele der
                                                        verfolgten Künstlerinnen und Künstler waren in
    Das Themenportal Wiedergutmachung                   den 1920er- und 1930er-Jahren bekannte Stars der
    ist ein vom BMF initiiertes Projekt, das suk-       Weimarer Musik-, Theater-, Opern- und Kinoszene.
    zessive einen zentralen digitalen Zugang
    zum Dokumentenerbe der Wiedergutma-                 Dr. Eva Umlauf, die als Kind u. a. das Vernichtungs-
    chungsakten innerhalb der Strukturen des            lager Auschwitz-Birkenau überlebt hatte, berichtete
    Archivportals-D der Deutschen Digitalen Bi-         im Gespräch mit Tanit Koch von ihren Erfahrun-
    bliothek ermöglicht. Das Archivportal-D ist         gen mit den Entschädigungsprogrammen der Wie-
    ein Online-Informationssystem mit spar-             dergutmachung im Rahmen des Bundesentschädi-
    tenspezifischem Zugang zu den Daten der             gungsgesetzes und im außergesetzlichen Verfahren
    Deutschen Digitalen Bibliothek. Es ist als          über die Claims Conference. In einer Podiumsdis-
    Nachweissystem für die Bestände deutscher           kussion mit Staatssekretärin Prof. Dr. Luise Hölscher,
    Archive konzipiert.                                 dem Präsidenten des Bundesarchivs Dr. Michael
                                                        Hollmann, der Leiterin des FIZ Karlsruhe Sabine
                                                        Brünger-Weilandt, dem stellvertretenden Präsi-
Aufgrund der Bedeutung der Vereinbarung für die         denten des Landesarchivs Baden-Württemberg
Zukunft der Wiedergutmachung nationalsozialisti-        Dr. Clemens Rehm und der Vorsitzenden der Kon-
schen Unrechts fand die Unterzeichnung im fest-         ferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwal-
lichen Rahmen auf dem Petersberg bei Bonn statt,        tungen des Bundes und der Länder und Präsiden-
dem ehemaligen Sitz der Alliierten Hohen Kom-           tin des Niedersächsischen Landesarchivs Dr. Sabine
mission – durchaus auch in Erinnerung daran, dass       Graf wurden die Herausforderungen und Möglich-
die ersten Regelungen zur Wiedergutmachung              keiten des Themenportals für Wissenschaft, Kultur
und Entschädigung bereits unter den westlichen          und Gesellschaft beleuchtet und hervorgehoben.

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Analysen und Berichte                                                    Monatsbericht des BMF
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   Kooperation mit Yad Vashem                             Internationale Konferenz in Tel
                                                          Aviv
Die Bedeutung der Wiedergutmachungsakten ins-
besondere für zukünftige Generationen von Nach-        Auf einer von Yad Vashem, der Tel Aviv Univer-
kommen von Überlebenden wird auch von der In-          sity und der Claims Conference ausgerichteten in-
ternationalen Gedenk- und Forschungsstätte Yad         ternationalen Konferenz „70 Years of Holocaust
Vashem in Jerusalem gesehen und die Entwicklung        Compensation and Restitution“, die vom 14. bis
technisch und inhaltlich unterstützt. Im Rahmen        16. November 2022 in Tel Aviv stattfand, wurde
eines gemeinsamen Workshops im November 2022           das Themenportal Wiedergutmachung erstmals
wurde diese Bedeutung nochmals deutlich hervor-        der internationalen Fachwelt vorgestellt. In einem
gehoben. Die Nachfrage nach Recherchemöglich-          halbstündigen Vortrag wurden die Hintergründe
keiten durch Überlebende und ihre Nachkommen,          der Folge- und Zukunftsaufgaben sowie die Rolle
aber auch durch die Forschung bei Yad Vashem,          des Themenportals als künftiger digitaler Gesamt-
wachse jährlich. Vertreter des BMF hatten zu einem     zugang zum Aktenerbe der weltweit einzigartigen
sehr frühen Entwicklungsstand des Themenpor-           Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten
tals den Kontakt zu Yad Vashem beziehungsweise         dargelegt und die Möglichkeiten einer dann er-
der dortigen sehr erfahrenen Archiv-Abteilung          heblich verbesserten Recherche insbesondere für
gesucht. Seither ist eine Kooperation entstanden,      die wissenschaftliche Forschung erläutert. Die an-
die immer enger geworden ist. Nach zweijähriger        schließende Podiumsdiskussion und die vielen im
pandemiebedingter Pause konnten im gemeinsa-           Umfeld der Konferenz geführten Gespräche zeig-
men Workshop u. a. der Normdaten-Einsatz und           ten das große Interesse und die positive Grundhal-
Möglichkeiten historischer Bildungsarbeit disku-       tung für die durch BMF in Aussicht gestellten Pers-
tiert werden. Erstmalig waren auch die Koopera-        pektiven rund um das Themenportal.
tionspartner des Themenportals mit dabei. Auch
künftig soll dieser stets enge und vertrauensvolle
Austausch fortgeführt werden mit dem Ziel, die Er-        Gedenkveranstaltung 70 Jahre
gebnisse technisch immer besser verflechten und           Luxemburger Abkommen im
vernetzen zu können und damit insgesamt die Re-
cherche zum Holocaust und die anschließenden
                                                          Jüdischen Museum Berlin
Versuche von Entschädigung und Wiedergutma-
chung zu erleichtern.                                  Am 15. September 2022 begrüßte Hetty Berg
                                                       als Hausherrin des Jüdischen Museums in Ber-
                                                       lin die Gäste, die Bundesfinanzminister Christian
    Yad Vashem                                         Lindner zu der zentralen Gedenkveranstaltung
    in Jerusalem ist die weltweit bedeutendste         zum 70. Jahrestag des Luxemburger Abkommens
    Gedenkstätte des Holocaust, die an die nati-       zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem
    onalsozialistische Judenvernichtung erinnert       Staat Israel und der Claims Conference eingeladen
    und sie wissenschaftlich dokumentiert.             hatte. Neben der durch Präsident Gideon Taylor
                                                       und dem langjährigen Verhandlungsführer Bot-
                                                       schafter Stuart Eizenstat hochkarätig vertrete-
                                                       nen Claims Conference war auch der Staat Is-
                                                       rael durch die für Holocaust-Angelegenheiten
                                                       zuständige Ministerin Meirav Cohen bei der Ver-
                                                       anstaltung zugegen. Auf deutscher Seite begrüß-
                                                       ten Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesfinanz-
                                                       minister Christian Lindner die zahlreichen Gäste
                                                       unter dem Motto: „Verantwortung weitertragen,

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Analysen und Berichte                                                  Monatsbericht des BMF
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weiter Verantwortung tragen“. Neben den Rede-        durch künftige Generationen weitergetragen wer-
beiträgen wurden ein Musikprogramm, interes-         den könne, gab es einen bemerkenswerten Auftritt
sante Podiumsdiskussionen und eine exzellente        der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer.

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historische Einordnung durch den deutsch-isra-       Mit ihrer bewegenden Botschaft „Was war, können
elischen Historiker Prof. Dr. Dan Diner geboten.     wir nicht mehr ändern. Aber es darf nie wieder ge-
Die Veranstaltung war auch ein Treffen der Gene-     schehen! […] Wir sind alle Menschen. Es gibt kein
rationen, denn neben den jungen Gewinnern ei-        christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Es
nes von BMF ausgerichteten Essay-Wettbewerbs         gibt nur menschliches Blut.“ setzte sie einen würdi-
zur Frage, wie die deutsche Verantwortung in und     gen Schlusssatz unter die Veranstaltung.

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