Gerichtshof für Menschenrechte - Der 16. Rechtsschutztag im Innenministerium widmete sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
RECHTSSCHUTZ 16. Rechtsschutztag im BMI: VfGH-Vizepräsident Christoph Grabenwarter, Gregor Wenda (BMI), VwGH-Präsident Rudolf Thienel, OGH-Präsidentin Elisabeth Lovrek, Innenminister Wolfgang Peschorn, EGMR-Richterin Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Justizminister Clemens Jabloner, Johanna Eteme (BMI), Sektionschef Mathias Vogl (BMI). Gerichtshof für Menschenrechte Der 16. Rechtsschutztag im Innenministerium widmete sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der 1959 in Straßburg eingerichtet wurde. ur Sicherstellung der Seit 1998 ist der EGMR ein Dr. Wolfgang Peschorn ge- in seinen Grußworten, die Z Einhaltung der Europä- ischen Menschenrechts- konvention (EMRK) wurde permanenter Gerichtshof, der aufgrund des Wegfalls der Menschenrechtskommis- folgt, der die Tagung eröff- nete. Der Minister erinnerte daran, dass man sich mit der verlesen wurden, aus, dass der oberste Maßstab für staatliches Handeln stets die 1959 – zehn Jahre nach der sion direkt angerufen werden EMRK auf Regeln verstän- verfassungsrechtlich festge- Gründung des Europarates – kann. digt habe, „die jedem einzel- schriebenen Grundrechte, von dessen Mitgliedstaaten nen Menschen Rechte geben vor allem die EMRK, sein ein Europäischer Gerichts- Beim 16. Rechtsschutztag sollen, egal in welchem Staat müssten. Zuletzt angeklun- hof für Menschenrechte des BMI am 8. November oder Rechtsgebilde“ er sich gene Rufe nach einer Ände- (EGMR) in Straßburg 2019 in Wien standen nicht befinde und die nicht nur die rung oder Kündigung der (Frankreich) etabliert. Es nur die Geschichte und die Exekutive, sondern alle Menschenrechtskonvention handelte sich zu jener Zeit Kompetenzen des Gerichts- Staatsgewalten betreffen. seien für ihn „nicht der rich- um ein zweistufiges Rechts- hofs, sondern auch die Aus- Die EMRK habe die Ver- tige Weg“, Grundrechte kön- schutzsystem: Beschwerden, wirkungen des EGMR auf waltung und Gerichtsbarkeit ne man „nicht nach Belieben die den Schutz von Men- die österreichische Rechts- in Österreich seither nach- einschränken“. schenrechten und Grundfrei- sprechung im Verlauf der haltig geprägt. „Wir begrei- heiten betrafen, wurden zu- vergangenen sechs Jahrzehn- fen sie im Innenministerium Entwicklung in Öster- FOTO: GERD PACHAUER erst von der Europäischen te im Zentrum. Rund 200 als das Stahlgerüst unseres reich. Univ.-Prof. Dr. Chris- Menschenrechtskommission hochrangige Repräsentanten Vollzuges“, betonte Pe- toph Grabenwarter, Vizeprä- geprüft und – im Fall der aus Verwaltung, Justiz und schorn. sident des Verfassungsge- Zulässigkeit – an den Ge- Wissenschaft waren der Ein- Bundespräsident Dr. Ale- richtshofs, beleuchtete in richtshof weiterverwiesen. ladung von Innenminister xander Van der Bellen führte seinem Vortrag die von der ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 1-2/20 77
R E C H T S S C H U T Z TAG EMRK geprägte Judikatur des VfGH bestehe, aufgege- des VfGH. Da die EMRK ben und das Spektrum des ursprünglich im Rang eines VwGH zusätzlich erweitert. gesetzändernden Staatsver- trages ratifiziert wurde und Die Bedeutung der Ver- erst nach Rechtsprechung fahrensgarantien des Art. 6 des VfGH im Jahr 1964 vom EMRK für die Entwicklung Verfassungsgesetzgeber der österreichischen Rechts- rückwirkend – mit dem Tag ordnung und des Rechts- ihres ursprünglichen Inkraft- schutzsystems im öffentli- tretens 1958 – in den Verfas- chen Recht könne für Thie- sungsrang gehoben wurde, nel „nicht überschätzt wer- habe der Gerichtshof die den“. Mit der Ratifikation EMRK „erst nach einigen der EMRK 1958, den Ver- Anlaufschwierigkeiten zum fahrensgarantien für Zivil- festen Maßstab seiner Recht- und Strafsachen und den von sprechung machen können“, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Österreich getroffenen Vor- erklärte Grabenwarter. In behalten habe man sich „auf den ersten Jahren der neuen der Doppelbestrafung. Dass malstandard bilden. Gerade der sicheren Seite“ gewähnt; Gerichtsbarkeit habe vor al- dieser Dialog bis heute in der Bereich des Diskriminie- auch der VwGH sei lange lem die Europäische Men- der Praxis gelebt werde, rungsschutzes sei als We- davon ausgegangen, „dass schenrechtskommission prä- zeigt sich für den VfGH-Vi- sensmerkmal des österrei- die Kontrolle der Verwal- gende Schritte gesetzt. Die zepräsidenten etwa daran, chischen Wegs in der Rechts- tung durch den VwGH den ersten Urteile des EGRM ge- dass die innerstaatliche sprechung hervorzuheben. Anforderungen des Art. 6 gen Österreich seien ab den Rechtsprechung bei Verfah- EMRK genügt“, unterstrich 1970er-Jahren zu verzeich- ren gegen einen Staat sehr EMRK und VwGH. Univ.- Thienel. Der Anwendungs- nen gewesen – so etwa im genau wahrgenommen wer- Prof. Dr. Rudolf Thienel, bereich des Art. 6 EMRK sei „Fall Ringeisen“, der sich de und der jeweilige nationa- Präsident des Verwaltungs- aber durch die Straßburger mit dem Begriff der „zivil- le Richter Mitglied der Kam- gerichtshofs, erörterte den Rechtsprechung immer wei- rechtlichen Ansprüche und mer sei, die über einen Fall Einfluss der EMRK auf die ter ausgedehnt worden, das Verpflichtungen“ beschäftig- gegen den betreffenden Staat Rechtsprechung des Verwal- angloamerikanische Konzept te und, ausgehend vom zu entscheiden habe. Ab- tungsgerichtshofes. Auf den der „Civil Rights“ habe die Grundverkehrsrecht, Ein- schließend hielt Grabenwar- ersten Blick könne sich die österreichischen Vorbehalte fluss auf die Verwaltung hat- ter mehrere Beobachtungen Frage stellen, weshalb der ins „Bröckeln gebracht“. te. Mitte der 1980er-Jahre fest: Die EMRK sei „Aus- VwGH die EMRK in seiner Dass über die Verhängung seien die Auswirkungen auf gangspunkt, Rückgrat und Judikatur überhaupt anzu- von Verwaltungsstrafen in die Rechtsprechung laut Richtschnur des Grund- wenden habe, wenn doch Österreich Verwaltungsbe- Grabenwarter noch „über- rechtsschutzes auf Verfas- Rechtssachen des VfGH von hörden entscheiden könnten, schaubar“ gewesen, man ha- sungsebene“, Bauelemente der Zuständigkeit des sei schließlich im Lichte des be sich an die Berücksichti- der Grundrechtsdogmatik VwGH ausgeschlossen seien Spannungsverhältnisses zum gung der EMRK und der des EGMR – etwa zur effek- und der VfGH über Be- Rechtsschutz nach Art. 6 Rechtsprechung des EGMR tiven verfassungsgerichtli- schwerden gegen Entschei- EMRK nicht mehr haltbar „gewöhnt“. Ab diesem Zeit- chen Kontrolle – seien in die dungen der Verwaltungsge- gewesen. Der österreichische punkt erweiterte sich aller- österreichische Verfassungs- richte betreffend die Verlet- Gesetzgeber schuf 1988 vor- dings zunehmend das Spek- dogmatik übernommen wor- zung verfassungsgesetzlich erst die Unabhängigen Ver- trum der Grundrechte, etwa den. Der grundrechtliche gewährleisteter Rechte zu waltungssenate (UVS) als im Bereich der politischen Normenbestand aus einein- entscheiden habe. „Viele tribunalartige Sonderbehör- Grundrechte, der Meinungs-, halb Jahrhunderten sei in Grundrechte der EMRK, ins- den. 2012 konnte schließlich Presse- und Rundfunkfrei- Österreich – wie es Walter besondere die Verfahrens- eine flächendeckende erstin- heit, der Versammlungsfrei- Berka ausdrücke – zu „ag- grundrechte, sind aber un- stanzliche Verwaltungsge- heit oder des Schutzes der gregierten Grundrechtsnor- mittelbar – und daher auch richtsbarkeit in der Rechts- persönlichen Freiheit. Paral- men“ geworden, in denen vom VwGH – anzuwenden“, ordnung verankert werden. lel zu dieser Phase, die die die EMRK und das „Straß- sagte Thienel. Zudem habe Die außerordentliche Be- Judikatur des VfGH deutlich burger Case-Law eine „ge- der VfGH seine frühere deutung der EMRK belegte „geprägt“ habe, sei ein „Dia- wichtige Rolle“ spielten. Rechtsprechung, wonach bei der Präsident des VwGH mit log zwischen Straßburg und Das Grundrechtsniveau Grundrechten mit Ausgestal- verschiedenen Judikaturbei- Wien“ begonnen worden, sei in Österreich gegenüber tungsvorbehalt jede Verlet- spielen, etwa zum „Recht FOTO: GREGOR WENDA der teils in kritischen Rück- der europäischen Ebene in zung eines diese Grundrech- auf Leben“, den Freiheits- fragen beim EGMR und in vielen Bereichen angehoben te ausführenden Gesetzes zu- rechten, der freien Mei- „punktuellen Zweifeln an worden; europäische Grund- gleich eine Grundrechtsver- nungsäußerung oder dem Begründungswegen“ gemün- rechte würden dabei den letzung darstelle und daher Verbot der Doppelbestra- det habe – etwa beim Verbot Ausgangspunkt und Mini- eine exklusive Zuständigkeit fung. Die enge Verzahnung 78 1-2/20
MENSCHENRECHTSGERICHTSHOF der einfachgesetzlichen Re- Gerichtshof einzulegen. Das gelungen mit den grund- 14. Zusatzprotokoll zur rechtlichen Garantien bewir- EMRK trat am 1. Juni 2010 ke, dass viele Fälle, in denen in Kraft: Um angesichts gro- es vordergründig „nur“ um ßer Fallzahlen die Funkti- die Anwendung einfacher onsfähigkeit des EGMR Gesetze gehe, „ohne Rück- langfristig sicherzustellen, griff auf die EMRK und die wurde unter anderem ein dazu ergangene Rechtspre- Einzelrichterverfahren ein- chung des EGMR nicht adä- geführt. 2010 begann in In- quat gelöst werden können.“ terlaken ein weiterer Re- Die tiefe Verwurzelung der formprozess, der dem Ge- EMRK in der österrei- richtshof eine Steigerung chischen Rechtspraxis zeigt seiner Arbeitseffizienz erlau- sich für Thienel nicht zuletzt ben sollte. Zwei weitere Zu- an der „Selbstverständlich- Sektionschef Mathias Vogl, Christoph Grabenwarter, Vi- satzprotokolle liegen seither keit, mit der der VwGH – Leiter der Rechtssektion. zepräsident des VfGH. zur Zeichnung auf. aber auch die Verwaltungs- Für Kucsko-Stadlmayer gerichte und die Verwal- dern sogar zu einem – von OGH auch dazu veranlasst, sind die „geteilte Verantwor- tungsbehörden – die Vorga- Lovrek sehr postiv bewerte- seine Judikatur zu den Rech- tung“ und die „Subsidiarität“ ben der EMRK als Leitlinien ten – „Polylog“ zwischen ten biologischer Väter wei- des Konventionssystems ge- ihrer Entscheidungstätigkeit dem EGMR, dem Verfas- terzuentwickeln. Im Straf- genüber dem nationalen beachten.“ sungsgerichtshof, dem recht wiederum habe die Rechtsschutz wesentliche Obersten Gerichtshof und EGMR-Rechtsprechung zur Elemente für die erfolgrei- Auswirkungen auf das Zi- dem nationalen Gesetzgeber. Zulässigkeit des Einsatzes che Fortsetzung der Tätig- vil- und Strafrecht. Hon.- Diese Kooperation sei die verdeckter Ermittler dazu keit des EGMR. Der kon- Prof. Dr. Elisabeth Lovrek, Voraussetzung dafür, dass geführt, dass der OGH zu- struktive Dialog des EGMR Präsidentin des Obersten Ge- die in der EMRK veranker- nächst eine eigenständige mit den staatlichen Institu- richtshofes, ging in ihrem ten Rechte auch effektiv ge- „Strafzumessungslösung“ent tionen sei dabei unerlässlich, Referat auf die Auswirkun- schützt und durchsetzbar sei- wickelt habe. Nach einer denn die Mitgliedstaaten sei- gen der Judikatur des EGMR en. Dies sei an verschiede- weiteren grundlegenden Ent- en die „primären Garanten auf das Zivil- und Strafrecht nen Entscheidungen aus dem scheidung des EGMR habe der Rechte der Menschen- ein. „Die Rechtsprechung Zivil- und Strafrecht zu er- schließlich der Gesetzgeber rechtskonvention.“ 90 bis 95 des EGMR ist heute von kennen, die sowohl verfah- ein Verfolgungshindernis bei Prozent der EGMR-Ent- ganz grundlegender Bedeu- rens- als auch materielrecht- Vorliegen unzulässiger Tat- scheidungen könnten heute tung für die ordentliche Ge- liche Fragen betreffen. Im provokation geschaffen. auf gut etabliertem „Well- richtsbarkeit, die Entwick- Zivilprozess und im Außer- Established Case-Law“ auf- lung war aber anfangs von streitverfahren sei das ur- Rechtsschutz. Univ.-Prof. bauen. Dass der Gesetzgeber einer gewissen Abwehrhal- sprüngliche Prinzip der Dr. Gabriele Kucsko-Stadl- in Österreich mehrfach und tung gegenüber dem Straß- grundsätzlichen „Einseitig- mayer, seit 2015 österrei- durchgreifend auf Verurtei- burger Gerichtshof geprägt“, keit“ des Rekursverfahrens, chische Richterin am Euro- lungen reagiert habe, bewer- berichtete die OGH-Präsi- das zu Gehördefiziten führte, päischen Gerichtshof für tete die EGMR-Richterin als dentin. Dies zeige sich schon aufgrund von EGMR-Ent- Menschenrechte, unterstrich sehr positiv: „Österreich an einer Recherche der scheidungen aufgegeben die herausragende Rolle des wird heute nur mehr selten Rechtssätze des Obersten worden. Teils habe der Ge- EGMR als völkerrechtlich verurteilt.“ Die Garantien Gerichtshofes: Während in setzgeber reagiert, teils habe einmalige Einrichtung, die der EMRK und ihre Anwen- den 1980er- und frühen die Rechtsprechung selbst bindend über Beschwerden dung in der Rechtspraxis der 1990er-Jahren nur rund 20- auch ohne entsprechende von Einzelpersonen ent- 47 Mitgliedstaaten des Euro- mal auf den EGMR Bezug Gesetzesänderung die scheiden und Staaten wegen parats seien „Grundpfeiler genommen worden sei, habe „Zweiseitigkeit“ im Lichte Menschenrechtsverletzungen für die Erhaltung der rechts- sich die Zahl der Referenzen der EGMR Rechtsprechung verurteilen könne. „Der Ge- staatlichen, liberalen Demo- zwischen 1993 und 2003 auf bejaht. Heute müsse im Zi- richtshof hat den Rechts- kratie im gemeinsamen euro- etwa 230 erhöht. Zwischen vilverfahren im Zweifel stets schutz in den europäischen päischen Rechtsraum.“ An- 2004 und 2014 sei sie auf „Zweiseitigkeit“ angenom- Staaten auf ein hohes Niveau gesichts „hoher Beschwerde- rund 540 angestiegen. Nach- men werden; zuletzt sei dies gebracht.“ Mehr als 22.000 zahlen, komplexer Staaten- dem sich der OGH seine auch in einem Ablehnungs- Urteile seien seit 1959 er- konflikte sowie der Zunah- Kompetenzen durch den verfahren betreffend einen gangen. Mit dem 11. Zusatz- me von Nationalismus und FOTOS: GERD PACHAUER EGMR ursprünglich „nicht Richter so judiziert worden. protokoll zur EMRK, das Populismus“ steht der Ge- beschneiden“ lassen wollte, Straßburger Entscheidungen 1998 in Kraft trat, sei es Be- richtshof aus Kucsko- sei es inzwischen nicht nur zu Art. 8 EMRK („Recht auf schwerdeführern erstmals Stadlmayers Sicht allerdings zu einer Annäherung an Achtung des Privat- und Fa- möglich geworden, ihre Be- „vor großen Herausforderun- Straßburg gekommen, son- milienlebens“) hätten den schwerden direkt vor dem gen.“ Gregor Wenda ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 1-2/20 79
Sie können auch lesen