Glücks ritter Michael Kleeberg

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Michael Kleeberg

          Glücks
          ritter
          Recherche über
          meinen Vater

          Galiani
          Berlin
Aus Verantwortung für die Umwelt hat sich
                         der Verlag Galiani Berlin zu einer nachhaltigen
                         Buchproduktion verpflichtet. Der bewusste Umgang mit
                         unseren Ressourcen, der Schutz unseres Klimas und der
                         Natur gehören zu unseren obersten Unternehmenszielen.

                          Gemeinsam mit unseren Partnern und Lieferanten setzen
                          wir uns für eine klimaneutrale Buchproduktion ein,
                          die den Erwerb von Klimazertifikaten zur Kompensation
                          des CO 2-Ausstoßes einschließt.

                          Weitere Informationen finden Sie unter:
                          www.klimaneutralerverlag.de

Verlag Kiepenheuer & Witsch, FSC ® N001512

1. Auflage 2020

Verlag Galiani Berlin
© 2020, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen, Berlin
Covermotiv © photothek/FlorianGaertner
Lektorat Wolfgang Hörner
Gesetzt aus der Kepler Std
Satz Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck & Bindung GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86971-140-9

Weitere Informationen zu unserem Programm finden Sie
unter www.galiani.de
1. Kapitel

         Das Hans-im-Glück-Syndrom

In den Osterferien 2011 verbrachte ich mit meiner Familie
zwei Wochen in Irland. Wie jedes Mal, wenn wir verreis-
ten, hütete in dieser Zeit mein Vater bei uns ein, um sich
um Hund und Katzen zu kümmern.
   Obwohl es reiner Urlaub sein sollte, hatte meine Frau
ihren Mailverkehr auf ihr Mobiltelefon umgeleitet, um
auch auf Achill Island zumindest abends oder morgens
einen kurzen Blick auf ihre Korrespondenz werfen und
eventuelle dringende Schreiben beantworten zu können.
Zu ihrem großen Verdruss funktionierte das aber nicht –
ich weiß nicht mehr, ob es an fehlendem Netz lag oder
irgendwelchen anderen Gründen. Nach einigen Tagen
hatte sich meine Frau ins unabänderliche Offline-Dasein
gefügt, es gab genug zu tun und zu sehen.
   Kaum aber war unser Rückflug in Tegel gelandet, und
150 Menschen starteten im Gang stehend und auf den
Ausstieg wartend ihre Telefone, ratterte – bildlich ge-
sprochen – der Ertrag von 15 Tagen in ihre Eingangsbox.
Dutzende und Aberdutzende in diesen zwei Wochen auf
ihrem Computer empfangene Mails – jetzt wo der wieder
in Reichweite war, standen sie alle auch zusätzlich im

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Telefon und waren, ihrer Aktualität verlustig, nur noch
eine Plage.
   Sehr bald jedoch sollten sich diese aufs Handy meiner
Frau kopierten Mails als von entscheidender Wichtigkeit
erweisen.

Wir waren am Dienstag nach Dublin geflogen, also war
mein Vater am Montag nach dem Frühstück in sein Auto
gestiegen und vor dem Mittagessen bei uns angekommen.
Die knapp 300 Kilometer von Hamburg nach Berlin schaffte
er, wie er sagte, locker in zweieinhalb Stunden. Er fuhr im-
mer noch gerne schnell. Er verschwand mit seiner kleinen
Reisetasche im Gästezimmer, zog sich bequeme Kleidung
an, packte seinen Kulturbeutel im Badezimmer aus und
setzte sich dann mit unserer Tochter, während ich den
Tisch deckte, ins Wohnzimmer, um ihr rasch noch eine Ge-
schichte zu erzählen. Im Januar war er 80 geworden, und er
war, abgesehen von ein paar alterstypischen Zipperlein wie
einer vergrößerten Prostata, bei guter Gesundheit.
   Da der Teddy meiner Tochter auf dem Sofa lag, improvi-
sierte mein Vater eine Geschichte über einen Teddybären.
Das Mädchen wird erwachsen, und der Bär, der ihre Kindheit
und Jugend miterlebt und behütet hat, wandert in den Wand-
schrank, wo er zehn entsetzlich einsame Jahre verbringt, bis
eines Tages die Tür aufgeht, und ein neues kleines Mädchen,
die Tochter seiner vormaligen Gefährtin, mit strahlenden
Augen dem Teddy zu einem späten Glück verhilft.
   Als ich rief: »Essen steht auf dem Tisch«, konstatierte
ich lächelnd, dass mein Vater, wie früher, die Erzählung
mit perfektem Timing zu Ende brachte.

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Er erhob sich und sagte händereibend den Satz, den ich in
meinem Leben vielleicht tausendmal von ihm gehört habe,
wenn meine Mutter zu Tisch rief: »Doch wenn’s zum Esse’
gegange’ is, dann hat’s ihn gar grausam geeilt.« Das hörte
sich komisch an, wenn man ihn sah, denn er hatte seit der
Fresswelle in den frühen Sechzigern einen dicken Bauch,
wenn ›dick‹ auch kein Wort war, das er benutzte, weder für
sich noch für andere. Noch weniger das Wort ›fett‹. Mein Va-
ter sagte ›proper‹ oder ›rundlich‹, selbst seine Schwägerin,
meine adipöse Tante, die bei 1,63 Körpergröße zuletzt weit
über 100 Kilo wog, nannte er liebevoll ›moppelig‹.
   Sooft ich meinen Vater sein geflügeltes Wort zu den
Mahlzeiten hatte sagen hören, hatte ich mir doch nie Ge-
danken gemacht, woher es eigentlich kam. Andere seiner
Schablonen waren als Schiller- oder Goethe-Zitate zu er-
kennen oder hatten Frankfurter Lokalbezüge. Aber über
dieses ging ich immer hinweg. Erst jetzt habe ich nach-
geforscht und herausgefunden, dass es sich dabei um ein
Lied des 1736 geborenen fränkischen Mundartdichters Jo-
hann Konrad Grübel handelt, Der Schlossergesell.
   Ein Schlosser hat einen Gesellen gehabt, der hat zwar
langsam gefeilt, doch wenns zum Essen gegangen ist, dann
hats ihn gar grausam geeilt.
   »Früher hast du nicht so traurige Geschichten erzählt«,
sagte ich, als wir alle saßen, denn die Verbannung im
Wandschrank ging mir nach.
   »Das war eine schöne Geschichte!«, protestierte meine
Tochter.
   »Ich will ein paar davon aufschreiben und dachte, ich
gebe sie dem Rydlewski. Vielleicht macht er was draus.«

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»Darauf hat der gerade gewartet«, sagte ich. »Früher
hast du auch nicht daran gedacht, etwas aus deinen Ge-
schichten ›zu machen‹ oder sie zu verkaufen. Schon gar
nicht ans Fernsehen.«
   »Früher kannte ich auch niemanden, der beim Fernse-
hen ist.«
   Rydlewski, einer seiner Versicherungskunden, von
denen er auch mit 80 noch mehrere betreute, war Schau-
spieler und Drehbuchautor und gut im Geschäft.
   »Du verkaufst deine Geschichten doch auch«, sagte
meine Tochter zu mir.
   Meine Frau grinste.
   Den ganzen Tag lang ging mir nicht aus dem Kopf, dass
der Bär trotz der zehn Jahre, die das Mädchen ihn weg-
gesperrt hat, nicht verbittert ist, nur traurig, und am Ende
keine Genugtuung empfindet, nur Freude.

Erst am Tag nach unserer Rückkehr – mein Vater war nach
dem Frühstück abgereist, da er es ohne konkrete Aufgabe
nie lange ohne meine Mutter aushielt und hatte angeru-
fen, dass er gut zu Hause angekommen sei, die Wäsche
war gewaschen, der letzte Koffer verstaut und die Compu-
ter gecheckt – ging meine Frau daran, die nun nutzlosen
Mail-Doppels von ihrem Mobiltelefon zu löschen.
   Kurz darauf kam sie aus ihrem Arbeitszimmer zu mir
und sagte: »Deine Eltern haben ja merkwürdige E-Mail-
Wechsel.«
   Meine Mutter hatte vor ihrem 40. Lebensjahr ange-
fangen schwerhörig zu werden. Spätestens seit ihrem
70. ­Geburtstag war sie de facto taub. Es war eine Form der

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Taubheit, eine Atrophie des Hörnervs, gegen die Hörge-
räte nur wenig oder nichts ausrichteten. Ich hatte mir an-
gewöhnt, in ihrer Gegenwart sehr laut zu sprechen, aber
sie verstand mich trotzdem nur, wenn es ansonsten keine
Nebengeräusche im Raum gab.
   Nach 57 Ehejahren hatten meine Eltern natürlich For-
men der Kommunikation und des gegenseitigen Verste-
hens gefunden, bei denen es auf das genaue Hören nicht
mehr so ankam, aber gegenüber anderen Menschen iso-
lierte der Zustand sie sehr, umso mehr, als sie nie in ihrem
Leben auch nur einmal gesagt hätte: »Entschuldigen Sie
bitte, ich habe Sie nicht verstanden, ich bin etwas schwer-
hörig.« Stattdessen lächelte sie den Menschen verständnis-
sinnig zu und antwortete gar nichts oder sagte etwas völlig
Unpassendes oder behalf sich mit einer Höflichkeitsfloskel.
Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend darunter gelitten,
dass die Menschen sie deswegen für arrogant oder hoch-
näsig hielten.
   Was ich sagen will, ist, dass meine Mutter seit Langem
nicht mehr telefonieren konnte, seit es aber E-Mails gab
(zuvor hatten sie sich, waren sie getrennt, Faxe geschrieben,
davor Briefe), tauschten die beiden Mails, um sich zu erzäh-
len, wie der Tag gewesen war. Und während mein Vater bei
uns wohnte, benutzten sie dazu den Account meiner Frau.
   »Wieso merkwürdig?«, fragte ich.
   »Da war die ganze Zeit die Rede von einem Captain
Brooks oder so. Kennst du einen Captain Brooks? Und
deine Mutter hat insistiert, dass dein Vater vor seiner Ab-
reise ihren gesamten Mailverkehr löscht, weswegen er auf
meinem Computer auch nicht mehr ist; aber alle Mails,

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die deine Mutter ihm geschrieben hat, sind auf meinem
Handy.«
   »Ihre typische Geheimnistuerei.«
   »Sieh sie dir mal an. Ich hab nur kurz draufgeschaut,
aber es klingt seltsam.«
   Sechzig Jahre zuvor, als meine Mutter bei den Amerika-
nern gearbeitet hatte, kannte sie mehrere Captains, aber
keiner von denen hatte Brooks geheißen. Ein Mann die-
ses Namens war ihnen nie begegnet, darauf konnte ich
schwören, ich kannte den sehr überschaubaren Bekann-
tenkreis meiner Eltern durch die Zeiten. Blieb ein Versi-
cherungskunde meines Vaters.
   Neugierig geworden, ließ ich mir diese Mails meiner
Mutter, die er alle säuberlich vom Computer meiner Frau
gelöscht hatte, von ihrem Mobiltelefon auf meinen Mai-
laccount schicken und überflog sie von der neuesten
bis hinunter zur ersten, am Tag unserer Abreise ge-
schickten.
   Der erste kryptische – oder zumindest merkwürdige –
Satz meiner Mutter vom Tag vor unserer Rückkehr lau-
tete: »Es ist 12 Uhr 14, gerade habe ich deine Mail gefun-
den, ich hatte schon ein paarmal nachgesehen. Ich wollte
warten, bis etwas von unserem Freund kommt, aber bis-
her nichts. Bei der Gelegenheit: Lösche bitte alle unsere
persönlichen Mails.«
   Merkwürdig war nicht die Geheimnistuerei – meine
Mutter hat selbst heute noch, tief in der Demenz versun-
ken, die Angewohnheit, Zwei-gegen-eins-Konstellationen
zu bilden: In ihrer Senioren-WG hebt sie mir gegenüber
die Augen zum Himmel, um zu signalisieren, dass wir

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nichts mit den ›Leuten‹ zu tun haben, die sonst noch am
Tisch des Gemeinschaftsraumes sitzen, sobald ich aber
aufstehe und sie glaubt, ich sehe nicht mehr hin, hebt sie
ihrem Nachbarn gegenüber ebenso die Augen und sagt, in
ihrer Taubheit glaubend, ich könne sie nicht hören: »Das
war mein Sohn, der Besserwisser.«
   Als ich noch ein Kind war, war das dramatischer, denn
sie verbrüderte sich immer einmal wieder mit mir gegen
meinen Vater, und wenn ich ihn dann beleidigte, indem
ich ihm die Schwächen vorhielt, über die sie sich mo-
kiert oder beklagt hatte, wechselte sie sofort auf seine
Seite und machte mir, zusätzlich zu den Ohrfeigen mei-
nes Vaters, auch noch Vorwürfe für meine Frechheit. Als
ich mit siebzehn oder achtzehn zum ersten Mal das Wort
›­double-bind‹ hörte, glaubte ich plötzlich einiges über
unser Familienleben zu verstehen.
   Diese harmlose Form der Abgrenzung, ihren Mailver-
kehr privat zu halten, war also nichts Besonderes, nein,
merkwürdig war die Formulierung ›unser Freund‹. Sie
konnte nur ironisch gemeint sein, denn meine Eltern hat-
ten keine Freunde in dem Sinne, wie andere Menschen
Freunde haben. Sie hatten auch niemanden in ihrem Be-
kanntenkreis, den meine Mutter jemals meinem Vater
gegenüber einen Freund genannt hätte, ohne die Anfüh-
rungszeichen gleich mitzusprechen.
   Aus dem nächsten Brief ging klar hervor, dass etwas
nicht stimmte. Und das Entscheidende und letztlich auch
der Grund dafür, dass ich diese Geschichte aufschreibe
und zum Ausgangspunkt weiterreichender Überlegungen
nehme: Dass etwas nicht stimmte, war nicht nur mir nach

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einmaligem Lesen klar, es hätte eigentlich jedermann klar
sein müssen, der bei Verstand war und nicht in einem
absoluten Informations- und Kommunikationsvakuum
lebte.

Die Betreffzeile über dem Brief meiner Mutter lautete:
»Neue Mail von Brooks«
  Im Brief selbst stand Folgendes:

   »Lieber Werner,
   eben habe ich die Mail gefunden. Ich versuche, sie zu
   übersetzen:
   ›Bitte wie ist die aktuelle Situation im Augenblick? Ich verliere
   die Geduld mit deiner gleichgültigen Haltung, die Sache zu
   einem Ende zu bringen. Dr. Morgan sagte mir, er könnte
   nichts tun, um das Geld zu beschaffen. Und die Box bleibt in
   UK , wenn du kein Geld schickst. Du kennst meine Situation
   jetzt. Wir sind einen langen Weg gegangen und haben so viel
   investiert. Ich sehe nicht ein, dass diese kleine Gebühr im Weg
   stehen soll, die Angelegenheit abzuschließen.
   Bitte, du solltest dein Bestes tun und ihm das Geld
   schicken, sodass die Sendung sofort an dich ausgeliefert
   wird. (…)
   Denke daran, du hast anfangs zugestimmt, diesen Deal mit
   mir zu machen, ich glaubte und vertraute dir, aber was ich
   jetzt von dir bekomme, ist nicht ermutigend. Lass mich nicht
   im Stich, sieh was du tun kannst, die Box vor Freitag nach
   Deutschland zu bringen.
   Ich zähle wirklich auf dich, bin auch bereit, deinen Anteil zu
   erhöhen, sobald du das erledigt hast. (…)

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Komm auf mich zu.
    Roger‹
    Sag mir, was du antworten willst (fuhr meine Mutter fort),
    ich übersetze es und maile es dir.
    Gruß und Kuss, Ingrid«

Wie gesagt, nach der Lektüre dieses Briefes war mir klar,
dass meine Eltern es mit einem Betrüger zu tun hatten,
einer Betrugsmasche aufsaßen, weder einer neuen noch
einer unerhörten, noch auch einer besonders cleveren.
Es war eine Spielart des Vorschussbetrugs, auf Englisch
scam, und seit Jahren unter dem Namen Nigeria-Connec-
tion bekannt. Eigentlich, hatte ich gedacht, wusste das je-
dermann. Meine Eltern aber offenbar nicht.
   Was ging in diesem Moment der Lektüre in mir vor?
   Der erste innerliche Ausruf war: Gottverdammt, wie
kann man bloß so bescheuert sein?! Und sofort schämte
ich mich wieder meiner Eltern, ihrer mangelnden gesell-
schaftlichen Geschmeidigkeit, ihrer kleinbürgerlichen Be-
schränktheit, ihrer sozialen Einsamkeit – all dessen, wo-
für ich mich mit sechzehn angefangen hatte zu schämen,
als wir aus Böblingen in den gutbürgerlichen Hamburger
Vorort umzogen und ich all die parkettsicheren Kinder er-
folgreicher, kommunikativer Eltern kennenlernte.
   Ich hatte mich ihrer 20 Jahre lang geschämt, im Grunde
bis ich selbst eine Familie gründete und gar nicht so viel
anders lebte als sie, nämlich im kleinbürgerlichen Klein­
familienglück (recht genau nach dem Muster meiner eige-
nen Kindheit), da begann ich mich vielmehr meiner Atti-
tüde zu schämen, auf die mich mein bester Freund sogar

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einmal ansprach, sodass ich aus allen Wolken fiel: »Es war
peinlich damals, Michael, wie du deine Eltern behandelt
hast. Schließlich waren es sehr sympathische Menschen,
die alles für dich getan haben.«
   Ich hatte jedenfalls angefangen, mich ihrer zu schämen
und zugleich begonnen zu glauben, ich werde und könne
alles anders und besser machen als sie: erfolgreich sein,
smart sein, mich nicht für dumm verkaufen lassen, mich
nicht unterbuttern lassen. Und genau dieses Gefühl: ›Das
könnte mir nicht passieren‹ war jetzt wieder da.
   Es war aber nicht das Einzige. Noch bevor ich anfing,
mir Sorgen zu machen, kam zugleich mit der Verächt-
lichkeit auch die Schadenfreude. Das ist die Quittung,
dachte ich. Das konnte ja nicht anders kommen, dachte
ich. Recht geschieht es euch, dachte ich, und als ich das
dachte, fragte ich mich, was ich eigentlich von ihnen er-
wartete, wenn ich ihnen das tatsächlich sagte.
   Vermutlich erwartete ich, dass sie dann meine Überle-
genheit anerkannten. Und diese Überlegung erkannte ich
nur zu gut als die Rückseite meines lebenslangen Appor-
tiertriebes, der am Anfang natürlich exklusiv auf meine
Eltern gerichtet war: Ich liebte es, Exzellenz abzuliefern
und dafür von ihnen bewundert zu werden, und als gute
Herrchen (aber das war mir als Kind nicht klar) verlangten
sie nichts von mir, bei dem es mit der Exzellenz schlecht
ausgesehen hätte. Diese Lehre war dem Leben vorbehal-
ten, das mir dann auch eine narzisstische Kränkung nach
der anderen zufügte.
   Wenn ich nicht zum Apportierhund geboren bin, dann
wurde ich zu einem gemacht, und im Grunde habe ich

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diesen Drang nie verloren: Das meiste, was ich je getan
habe, tat ich, um von einem unsichtbaren Publikum oder
einem konkreten Gegenüber Lob zu bekommen: ›Feiner
Hund!‹
   Zugleich mit der Verächtlichkeit und der Schaden-
freude, deren ich mich schämte, während ich sie empfand,
war natürlich sofort auch die Sorge darüber da, wie tief
sie bereits in diesem Betrugsmahlstrom versunken waren,
und ein tiefes, trauriges Mitleid mit diesem isolierten, arg-
losen, gutgläubigen und naiven alten Paar, zugleich aber
auch wiederum Ärger über ihre Motive. Wärt ihr weniger
geldgierig und geldfixiert, wäre euch das nicht passiert.
Andererseits hatten sie tatsächlich wenig Geld. Seit mein
Vater in Rente war, stand ihnen das Wasser bis zum Hals
wegen des noch immer nicht abgezahlten Hauses, an das
meine Mutter sich klammerte wie an die Elendshaut der
früheren Hoffnung auf gutbürgerliches Renommee.
   Und weil ihre Dummheit eben nicht nur Dummheit
war, sondern auch Lebenskampf, empfand ich noch etwas
anderes, worüber ich mir aber erst sehr viel später klar
wurde: eine tiefinnere Solidarität. Die Familiensolidarität
der aufstiegsfixierten, haltlosen Kleinbürger, deren einzi-
ges Ziel, deren wichtigster Wert, deren Leitbild und Götze
in dieser Gesellschaft das Geld ist, Gott Mammon. Wozu?
Was damit tun? Zu welchem Ende? Ganz gleich.
   Wie gesagt, mein Vater hatte viele geflügelte Worte pa-
rat, die er über die Jahrzehnte hin immer wieder verläss-
lich in gewissen Momenten zitierte. So wie den Spruch
vom Schlossergesellen vor dem Essen, brachte er, wann
immer es um Geld ging, den Anfang von Goethes Schatz-

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gräber an, den er bezeichnenderweise an zwei Stellen
falsch zitierte:
   »Arm am Beutel, krank am Magen, schleppt’ ich meine
alten Tage, Armut ist die größte Plage, Reichtum ist das
höchste Gut.«
   Mein Vater, denke ich mir, ersetzte das Herz durch den
Magen, weil er, als er das Gedicht kennenlernte, keine Lie-
bessehnsucht litt, sondern Hunger. Und die langen Tage
wurden vielleicht deswegen zu alten, weil er als jemand,
der immer gerne arbeitete, keine Langweile empfand, da-
für sehr wohl das Gefühl, über das Warten auf den Schatz
alt geworden zu sein.
   Ich höre noch den Klang seiner Worte, wenn er wie ei-
nen Stoßseufzer die Erkenntnis aussprach: Reichtum ist
das höchste Gut! Es waren immer mindestens zwei Aus-
rufezeichen dabei.
   Interessanterweise wurde das Gedicht nie bis zu sei-
nem wie ich bis heute finde etwas heuchlerischen, pietis-
tischen und biederen Schluss zitiert, der eigentlich eher
zu Schiller gepasst hätte als zum Freigeist Goethe. Wo-
möglich hatte mein Vater ab und zu auch die ›sauren Wo-
chen‹ auf der Zunge, aber die ›frohen Feste‹ und ›abends
Gäste‹ waren bei uns Mangelware gewesen.
   Ich weiß nicht, ob mein Vater je so weit gegangen wäre,
sich für einen Schatz mit dem Widersacher zu verbünden,
hätte die Gelegenheit sich geboten – wobei – konstatierte
ich mit schiefem Grinsen im Weiterlesen, im kleinen Maß-
stab hatte er ja genau das jetzt getan.

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»Lieber Werner,
die Sonne scheint, in London ist es neblig und trüb, sicher
wird der ›hochgeschätzte Diplomat‹ Morgan in die
Westminster Abbey eingeladen sein zur Hochzeit. (…)
Mir fällt bei den Briefen von Morgan immer wieder auf,
dass er Fehler macht und die Sprache primitiv ist. Ein
hochgeachteter Diplomat? Na, ich weiß nicht … (…)
Hast du etwas von der englischen Hochzeit gesehen?
Ich fand den Vater der Braut am sympathischsten, als er
seine Tochter zum Altar führte, der Gesichtsausdruck:
eine Mischung aus Stolz und Verlegenheit. Er hielt sich
ausgezeichnet. (…)

Lieber Werner,
hier mein zweiter Versuch für den Brief an Brooks:
I have no indifferent attitude. Is it so difficult to understand
that I have used all my possibilities? I will not get money from
the bank or from relatives whom I owe 7500. I don’t have the
money!
(Ich schlug die Hände überm Kopf zusammen. Das war die
erste konkret genannte Summe. Und es war für meine Eltern,
die seit Jahren nicht mehr in Urlaub fahren konnten, ein
Riesenbatzen Geld. Der flehende Ton gegenüber jemandem,
der in Wirklichkeit gar nicht existierte, zerriss mir das Herz.
Ich musste die beiden einzigen relatives sofort anrufen. Hatte
mein Vater sich das Geld von seinem Bruder gepumpt oder
von der kleinen Schwester, was reichlich ironisch gewesen
wäre, weil Elfriede immer das ärmliche Sorgenkind der
Familie gewesen war, auf das die beiden erfolgreicheren
Brüder naserümpfend und verächtlich herabsahen?)

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The ›little sum‹ of 3200 was due after a delay for which
   Dr. Morgan was responsible. How much has accumulated in
   the meantime? Dr. Morgan should get a written insurance
   that after that payment the consignment will be handed to
   him without further delay and costs. You and Dr. Morgan
   know that there is money in the box – I don’t! It should not
   be a problem to raise the necessary sum from friends if they
   know they get a good interest (I am a pensioner and I don’t
   have the income which a ›highly esteemed diplomat‹ should
   have).
   Den letzten Satz kannst du weglassen. Alles andere ist so
   wie du willst.
   Gute Nacht, Ingrid«.

Darunter stand ein Originalbrief von Brooks:

   Hello Werner,
   Please what is really going on? Have you sent the money to
   Dr. Morgan? According to him you are responsible for his
   inability to deliver you the consignment. I am losing patience
   with this whole situation. I must tell you that I am totally
   unhappy, this is so unbearable.
   I want to hear from you as soon as possible. You seem to
   have forgotten what is involved here. Please that money is
   my life so you dare not joke about it. Very soon I’ll be leaving
   here for Europe without getting my dream realized. Please
   be reasonable and bring this matter to this long awaited
   successful end.
   Regards,
   Roger.

                     22
Ich sah meine Mutter vor mir, konzentriert auf ihren An-
teil an der gemeinsamen Mission Geld, an die sie gewiss
nur halb glaubte – ich weiß nicht genau, wie lange das
Vertrauen in die Fähigkeiten meines Vaters in ihr schon
erschüttert war –, jedenfalls zog sie ihre einzige Befrie-
digung aus der Tatsache, ein besseres Englisch zu schrei-
ben als der hochgeschätzte Diplomat Morgan und dieser
vermeintliche Roger Brooks, vor denen mein Vater sich
erniedrigte, ohne es zu bemerken oder ohne dass es ihm
etwas ausmachte, oder die Erniedrigung still herunter-
schluckend. Warum zählte sie nicht eins und eins zusam-
men? Warum schloss sie aus dem offenbaren Pidgineng-
lisch des Betrügers nur auf ihre eigene Überlegenheit ihm
und meinem Vater gegenüber und schöpfte keinen Ver-
dacht? Und wenn sie Verdacht schöpfte, warum versuchte
sie nicht, meinen Vater von seiner fixen Idee abzubringen,
er könne mit ein, zwei kleinen Zahlungen auf seine alten
Tage endlich zum Multimillionär werden?
   O die unschönen Erinnerungen, die diese Lektüre wach-
rief ! Meine Mutter, die mir kopfschüttelnd und seufzend,
zwinkernd, augenrollend und verschwörerisch die Schwä-
chen und Fehler meines Vaters aufzählte und woher sie
rührten, sodass ich, als ihr Echo und vermeintlicher galanter
Verteidiger – ich mochte zehn Jahre alt sein oder zwölf – bei
der nächsten sich bietenden Gelegenheit meinen Vater pro-
vozierte: »Du hast ja nur Volksschule« oder »Du kannst ja
noch nicht mal Englisch«. Und wie seine Augen dann base-
dowartig anschwollen, während er zwischen den Schlägen
keuchte: »Und du bild dir mal nichts auf dein Gymnasium ein.
Du kannst gar nichts. Du weißt gar nichts. Du bist gar nichts.«

                                          23
Und wie meine Mutter dann bleich und erschüttert in
meinem Zimmer erschien, wo ich vor Wut und Schmerz
und Hass weinte und mir vorwurfsvoll sagte: »Dein Va-
ter musste wieder eine Bellergal nehmen, weil er sich so
aufgeregt hat, wie böse du warst. Du solltest dich bei ihm
entschuldigen.«
   Meine ganze Kindheit über lag (ich forschte heimlich
nach) permanent eine angebrochene Schachtel Bellergal
in seiner nach Holz und Aftershave duftenden Nacht-
tischschublade neben einer Packung London-Gefühls-
echt-Kondome … Genug davon!
   Wobei: Herrschten Frieden und Eintracht im Haus,
konnte mein Vater diese Dinge selbst ironisieren und zi-
tierte dann gerne aus dem Zigeunerbaron: »Ja das Schrei-
ben und das Lesen sind nie mein Fall gewesen …«

   »Lieber Werner,
   ich bin mir nicht sicher, was zu tun ist. Ich trau’ der Sache
    einfach nicht. Es ist ja immer wieder dasselbe. Selbst
   wenn du das Geld hättest, gäbe es wieder Probleme mit
    dem Transfer, und schon wäre die Frist wieder verstrichen,
   und er hätte eine neue Ausrede und Forderung. Hat er
   überhaupt mit Brooks gesprochen, von dem hört man ja
   auch nichts nach unserer letzten Mail. Wenn du diesen
   Vorschlag machst, weißt du ja immer noch nicht, ob die
   Kiste dann wirklich geliefert wird, und du bist wieder einen
   Tausender los. Weder Morgan noch Brooks reagieren je
   auf irgendwelche Vorschläge, die du machst oder jemals
    gemacht hast. Die ganze Sache fängt immer wieder von
   vorne an. Man kann ihnen ja vielleicht Geld versprechen

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(nach deinem Vorschlag) und gleichzeitig sagen, wenn
   es nicht akzeptiert wird und die Box nicht umgehend
   ausgeliefert wird, übergibst du die Sache dem Anwalt,
   der sich darum kümmern wird. (Du musst das ja nicht
   tun, nur sagen, überlege mal, was der Schuft dir schon an
   Drohungen an den Kopf geworfen hat.) Durchdenke die
   Sache nochmal, ich überwache den Computer.
   Gruß«

Dazwischen hatte sie immer wieder genug von dem
Thema und schrieb über anderes:

   »Lieber Werner,
   gerade habe ich deine Mail gefunden, vielen Dank. Hier ist
   es sonnig, aber windig und kühl. Du könntest zu deinem
   Kotelett ein paar Bratkartoffeln machen, wenn du keinen
   Salat oder Gemüsekonserven hast. Heute Abend gibt es im
   Fernsehen einen Münsteraner Tatort. Gestern wollte ich im
   Südwestfunk eine Sendung über die besten Grand-Prix-Lieder
   aller Zeiten ansehen, habe aber bald aufgehört, denn wie
   gewöhnlich haben viele Leute ihren Mist dazu erzählt, was
   keinen interessiert, von den Liedern kaum etwas, immerhin –
   wenn auch kurz – Domenico Modugno mit Volare. Ich habe
   dann noch kurz Wetten dass angesehen, dort war ein Auftritt
   der (ostdeutschen) Band Silly, deren Sängerin Anna Loos ist.
   Sie sang mit ihrem Mann, der auch sehr gut ist (Liefers), da
   fragt man sich, warum solche Leute nicht zu dem Grand Prix
   geschickt werden anstatt die dümmliche Lena.
   Viele Grüße und Küsse,
   Ingrid.«

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Irgendwann verlor ich den Überblick über die Reihenfolge
der Briefe, da es mehrere Dopplungen gab, aber dann ent-
deckte ich noch ein Schreiben, das von Dr. Morgan kam:

   »Lieber Werner,
    gerade habe ich eine Mail gefunden, sie war von 22.20 Uhr,
    ganz versteckt, weil die Mails alle nicht sortiert sind, obwohl
    ich die ganze Liste durchgesehen hatte.
   Text: Sie und Capt. Brooks müssen das ausmachen, weil
    ich schon so viel in der Vergangenheit investiert habe und
    nicht noch mehr will. Sie müssen das mit Capt. Brooks
    teilen und bis spätestens Dienstag mit der Zahlung
    kommen. Ich werde Ihnen morgen die Details für die
   Zahlung senden.
    Dr. Morgan.

    Ich finde das unverschämt wie immer, er hat doch Kontakt
    zu Brooks. Also, was ist jetzt?
    Gruß und Kuss Ingrid«

Den Rest überflog ich nur noch. Ich hatte auch genug ge-
sehen. Aber anders als in den ersten Momenten, in denen
der Briefwechsel mich elektrisiert hatte, als wäre ich ein
Detektiv und kurz davor, einen Fall zu lösen, war ich jetzt
wie gelähmt. Der Gedanke, meinen Vater sofort anzuru-
fen, war unerträglich. Ich war völlig hilflos. Ich wusste
nicht, wie ich vorgehen sollte. Ich rief meine Frau um
Hilfe und erklärte ihr alles beim Wein. Das half, denn im
Erzählen wurde es schon wieder komisch.
   »Was soll ich ihm um Himmels willen sagen?«

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»Du sagsts ihm wie es ist. Dass er einer Betrugsmasche
aufgesessen ist. Und dass es keinen Captain Brooks und
keinen Dr. Morgan gibt.«
   »Wahrscheinlich spreche ich zuerst mal mit Friedrich
und Elfriede, um herauszufinden, wer ihm das Geld ge-
liehen hat«, sagte ich kopfschüttelnd. »Ich meine, er hat
schließlich keins. Er muss, seit er das Lebensversiche-
rungsgeld in der 2001er-Krise mit irgendwelchen Risiko-
anlagen bis auf den letzten Pfennig verloren hat, jeden
Monat einen Tausender zu seiner Rente dazuverdienen,
um das Haus abzahlen und dürftig leben zu können. Was
glaubst du, warum er mit 80 immer noch arbeitet?«
   »Klar braucht er das Geld, aber er arbeitet auch, weil
es ihm Spaß macht, und weil er es gut macht. Es macht
ihm ja sogar Spaß, meine Steuerunterlagen zu machen. Er
hilft und er berät eben einfach gerne.«
   »Ich weiß«, sagte ich. »Deutschlands einziger ehrlicher
Versicherungsvertreter. Zumindest der einzige, dessen
Kunden im Schadensfall wirklich manchmal etwas von
ihrer Versicherung kriegen.«
   »Da würde er wieder aufbrausen, wenn du so über-
treibst. Aber wenn du mit ihm sprichst, mach es freund-
lich und einfühlsam. Nicht so von oben herab wie sonst
und ohne Vorwürfe. Die wird er sich dann schon selbst
machen.«
   »Warum sagst du mir das. Ich bin immer freundlich
und einfühlsam.«
   Meine Frau verzog das Gesicht.
   »Schmiers ihm nicht so rein mit so einer besserwisse-
rischen Attitüde.«

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»Ich glaub, ich geb ihm noch eine ruhige Nacht.«
   »Du meinst dir. Aber es hat keinen Sinn, davor wegzu-
laufen. Du hast schon die Pflicht, ihnen zu helfen, bevor
noch mehr passiert.«
   »Ja, sicher«, sagte ich halb ärgerlich, seufzte und fragte
dann:
   »Was sind das für Leute, die auf so eine Masche rein-
fallen?«
   »Es müssen zum einen Menschen sein, die um jeden
Preis zu Geld kommen wollen –«
   »Ja«, unterbrach ich sie, »und denen das auf dem üb-
lichen Weg über eine Arbeit nicht oder nur unzureichend
gelingt, sodass sie auf die verzweifeltsten Ideen kom-
men …«
   Und vor meinem inneren Ohr hörte ich die Zeilen:
   Und zu enden meine Schmerzen,
   Ging ich einen Schatz zu graben.
   Meine Seele sollst du haben,
   Schrieb ich hin mit eignem Blut.

»Und zum anderen«, fuhr meine Frau fort, »sehr isolierte,
sehr einsame Leute. Ich meine, wie du schon sagtest: Hät-
ten sie irgendwen gefragt, deine Eltern, hätte man ihnen
sofort gesteckt, dass es sich um ein Betrugssystem han-
delt.«
   Ich nickte und überlegte.
   »Geldfixiert und sozial autistisch. Typisch, dass er
offenbar weder Elfriede noch Friedrich gesagt hat, wo-
für ers will, wenn er einen von ihnen um Geld bat. Aber
eben auch schicksalsgläubig. Es sind Menschen, die im

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Guten wie im Schlechten überzeugt sind, dass das Leben
gerade für sie das Außergewöhnliche bereitstellt, das es
anderen vorenthält. Wenn ihn ein vermeintlicher engli-
scher Diplomat anschreibt und ihm ein paar Millionen in
Aussicht stellt, würde ein normaler Mensch schon allein
deswegen misstrauisch werden, weil er sich sagt: Solche
Glücksfälle passieren Menschen wie mir nicht. Bei mei-
nem Vater ist es genau umgekehrt. Es hat ihn vermutlich
keine Sekunde lang wirklich gewundert, dass man ihm
fünf oder zehn Millionen anbietet. Er hat sich höchstens
gefragt, warum es so lange gedauert hat.«
   »Du sagst das mit einer Gewissheit, als würdest du von
dir sprechen«, sagte meine Frau.
   Ich starrte sie an. Dann nickte ich. »Das tue ich viel-
leicht auch.«

Am nächsten Morgen rief ich zuerst bei meinem Onkel
an. Der große Bruder meines Vaters, zweieinhalb Jahre
älter als er, der den Frankfurter Raum nie verlassen hatte
und dem (allerdings auch nicht ohne Kollateralschäden)
in finanzieller Hinsicht all das glückte, was meinem Vater
misslang, war die logische erste Wahl für mich. Das no-
minelle Familienoberhaupt, der klarste Kopf, der kälteste
Rechner der Geschwister – aber ich täuschte mich. Fried-
rich war von meinem Vater – ich kleidete meine Frage
neutral ein und platzte nicht gleich mit der Tür ins Haus –
seit Monaten nicht angesprochen worden. Das war im
Grunde logisch. Er hätte sich geschämt, seinen Bruder um
Geld zu bitten. Friedrich hatte eine finanzielle Hilfsaktion
für Elfriede aus den frühen Achtzigern seiner Schwester

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und uns jahrzehntelang bei jedem Treffen aufs Butterbrot
geschmiert, eine solche Erniedrigung wollte mein Vater
sich verständlicherweise ersparen. Und womöglich gab es
einen weiteren Grund: dass er fürchtete, der kühle Den-
ker Friedrich könne ihm seine schöne Seifenblase zum
Platzen bringen. Vielleicht, ja eigentlich sogar sehr wahr-
scheinlich, war er sich seiner Sache selbst nicht ganz si-
cher, spielte Vabanque und wollte dabei nicht noch weiter
verunsichert werden. Es war wie immer: Wenn eine Ent-
scheidung gefragt war, zauderte er und schreckte zurück.
Waren Zurückhaltung und Klugheit angebracht, sprang er
ohne Netz und doppelten Boden.
   Natürlich konnte ich mit meinem Wissen dann doch
nicht hinter dem Berg halten und sagte irgendwann, mein
Vater habe offenbar Geld an einen Internetbetrüger über-
wiesen.
   »Oje, was macht er denn für Sachen, der Werner«, war
aber alles, was mein Onkel völlig emotionslos dazu zu be-
merken hatte. Ich hätte es wissen können.
   Danach rief ich meine Tante an. Ich mochte Elfriede
gerne. Sie war das Enfant terrible der Familie gewesen,
hatte mit 17 geheiratet und das erste Kind bekommen,
war mit 18 geschieden worden, mit 19 das zweite Mal
schwanger von einem G.I., sie war die ungeliebte Tochter
ihrer Mutter (nahm die quasi Mittellose aber in den Sech-
zigern jahrelang bei sich auf). Ihr Rebellentum gegenüber
den großen Brüdern, ihr ›Schandmaul‹, wie Friedrich
das nannte, ihre offene Art und auch ihren Fatalismus
in Gelddingen, in dem sie sich fundamental von meinem
Vater unterschied – all das liebte ich respektvoll, seit ich

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erwachsen war und mir eine eigene Meinung über die Fa-
milie bildete. Ironischerweise lebte sie dank ihrer dritten
(mittlerweile auch verwitweten) Ehe mit einem Beamten
der Deutschen Bahn wirtschaftlich in viel komfortableren
Verhältnissen als meine Eltern, umso mehr, seit sie eine
ordentliche Rente von der Dresdner Bank bekam, bei der
sie ihr ganzes Berufsleben über gearbeitet hatte. Mit ih-
rem letzten Mann war sie auf Safari in Afrika gewesen und
sogar nach Australien gereist.
   Nach der Begrüßung ging ich gleich in die Vollen:
   »Elfriede, hat mein Vater sich letztens Geld bei dir ge-
pumpt?«
   »Ja.«
   »Ach du Scheiße«, brach es aus mir heraus.
   »Sag mir nicht (sie, die Frankfurt nie verlassen hatte,
sagte: Ei, sach mer net), dass ers nicht zurückzahlen
kann!«
   »Das weiß ich offen gestanden nicht. War es denn viel?«
   »8000 Euro.«
   »Hat er denn gesagt, wofür ers haben wollte.«
   »Nicht wirklich genau. Er hat irgendwas von einer In-
vestition gesagt. Hat er denn irgendeine Dummheit ge-
macht, des Wänäsche?«
   »Ja, kann man so sagen …«
   Ich hatte mich erneut nicht im Griff und genoss es, mit
meiner Tante über meinen Vater wie zwei Erwachsene
über ein Sorgenkind zu reden, das mal wieder Dummhei-
ten gemacht hat. Ich erklärte ihr die Betrugsmasche, der
er aufgesessen war, natürlich hatte sie davon schon gehört.
   »Du willst mir sagen, er überweist irgendwelchen Be-

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trügern, die ihm eine Mail geschickt haben, auf guten
Glauben meine 8000 Euro in der Hoffnung, dafür 10 Mil-
lionen zurückzukriegen?«
   »Sieht ganz so aus, ich hab’ ihn noch nicht angerufen,
das mache ich gleich. Aber ich wollte dich vorwarnen,
falls er noch mehr will, dass du ablehnst, verstanden? Das
Geld und alles, was er denen sonst noch gegeben hat, ist
futsch und kommt auch nicht mehr zurück.«
   »Ach, der Wänä …«
   »Ja, und offen gestanden weiß ich nicht, ob du die Ein-
zige bist, die er angehauen hat … Mir schwant da was,
aber gut, das muss ich herausfinden. Jedenfalls: Sollte er
dich nochmal um was bitten, bleib hart, ok?«
   Der Gedanke, der mir plötzlich gekommen war, war
apokalyptisch.
   Im Laufe der Jahre hatte mein Vater zu vielen seiner
Versicherungskunden ein Vertrauensverhältnis aufgebaut,
das manchmal bis ins Persönliche reichte. So bestellte
eine alte alleinstehende Dame, die, wenn ich mich recht
erinnere, nichts als eine kümmerliche Hausratversiche-
rung hatte, ihn, weil er ihr immer wieder bei Behördensa-
chen half, ihr zuhörte, für sie einkaufte, das alles natürlich
kostenlos, zu ihrem Nachlassverwalter, und er rechnete
die Sache auf Heller und Pfennig ab, ohne einen einzigen
in die eigene Tasche zu stecken. Für einen türkischen Ge-
müsehändler bürgte er, der eigentlich viele Vorbehalte
gegen die Türken hatte, persönlich für eine Anschaffung,
zu der seine Bank ihm keinen Kredit geben wollte, und
fand für seinen Sohn eine Lehrstelle. Das alles kostete ihn
wochenlange Arbeit. Und das waren nur zwei von vielen

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