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Mareike Fenja Bauer #HambacherForst Polizeiliche Social-Media-Nutzung im Kontext von Protesten ipb working paper 1/2020
ipb working papers | Berlin, Dezember 2020 Autorin Die ipb working paper werden vom Verein für Mareike Fenja Bauer, Institut für Protest- und Protest- und Bewegungsforschung e.V. heraus- Bewegungsforschung (ipb) gegeben. Sie erscheinen in loser Folge. Der Ver- E-mail: mareike.bauer@posteo.de ein ist Träger des gleichnamigen Instituts. Des- sen Aktivitäten sind unter http://protestinsti- tut.eu dokumentiert. Für die Redaktion der ipb- working paper sind Jannis Grimm, Dieter Rucht und Sabrina Zajak verantwortlich. Alle bisher erschienenen Texte aus der Reihe sind online abrufbar unter: https://protestinstitut.eu/ipb-working-papers/ „#HambacherForst. Polizeiliche Social-Media- Nutzung im Kontext von Protesten“ von Ma- reike Fenja Bauer ist lizenziert unter einer Crea- tive Commons Namensnennung International Lizenz (CC-BY 4.0). Die vorgestellten Ergebnisse beruhen auf der im Februar 2019 an der Freien Universität Berlin abgeschlossenen Bachelorarbeit „Polizeiliche Social-Media-Nutzung im Kontext von Protes- ten“. Die Arbeit wurde betreut von Prof. Dr. Sven Chojnacki und Prof. Dr. Christian Volk. Die Titelseite wurde unter Verwendung eines Fotos von Flickr-User „Aktion Unterholz“ er- stellt. Das Foto ist lizensiert mit einer Creative Commons CC-0 Lizenz (CC BY-NC-ND 2.0) und wird bereitgestellt von https://www.flickr.com. Bauer, Mareike Fenja. 2020. #HambacherForst. Polizeiliche Social-Media-Nutzung im Kontext von Pro- testen, ipb working paper series, 1/2020. Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung, ipb.
Zusammenfassung1 Inhaltsverzeichnis Das working paper befasst sich mit der polizeili- Einleitung 4 chen Nutzung sozialer Medien im Kontext von Protestakteur*innen und Hegemonie 5 Protesten. Die qualitative Inhaltsanalyse unter- sucht anhand von Beiträgen der Polizei Aachen Social Media: Ort hegemonialer Aushandlung 6 im Kurznachrichtendienst Twitter, wie die Poli- zei durch Verwendung sozialer Medien die Dar- Polizeiliche Social-Media-Nutzung 7 stellung der Proteste rund um den Hambacher Die Polizei, Twitter und der Hambacher Forst 9 Forst im öffentlichen Diskurs prägte. Die Fallstu- Methode 9 die erstreckt sich über den Zeitraum von August Ergebnisse 10 bis Oktober 2018, in dem vermehrt Polizeiein- Die Erzählung des Gefahrengebietes 10 sätze im Hambacher Forst stattfanden. Die un- Binäre Gegenüberstellung: Positive Eigen- und tersuchten 190 Tweets wiesen eine binäre Ge- negative Fremdbilder 12 genüberstellung der Polizei als besorgter Be- Fernab des Protestes 16 schützer*in und der Aktivist*innen als gedan- Schuldzuweisungen 16 kenlosen Gewaltakteur*innen auf. Diese Dar- Umgang mit Fehlinformationen 17 stellung wird aus einer Gramscianischen Per- spektive als polizeilicher Versuch zur Herstel- Diskussion 18 lung und Wahrung hegemonialer Deutungsho- Fazit 19 heit über umstrittene Ereignisse gedeutet. Die Fallstudie weist zudem auf eine strategische Literaturverzeichnis 21 Nutzung von Twitter hin, die in einem Span- nungsfeld zur gesellschaftlichen Vertrauens- und Autoritätsposition sowie zum Neutralitäts- anspruch der Polizei als Institution steht. Die Po- lizei trat im Kontext des Hambacher Forsts im- mer wieder als meinungsprägende Akteurin in Erscheinung. Diese Rolle wird auch im Hinblick auf die Schnelligkeit, Aktualität und Reichweite sozialer Medien kritisch bewertet. Denn die po- lizeiliche Darstellung erreichte über Twitter in kürzester Zeit ein breites Publikum und zemen- tierte so eine spezifische Lesart der Ereignisse im Hambacher Forst. 1 Ich danke Jannis Grimm für seine kritischen und konstruktiven Anmerkungen.
Einleitung Twitter nichts – staatliche Informationen. Die Po- lizei ist weiterhin als Teil der vollziehenden Ge- Im Kontext von Protesten spielen soziale Medien, walt rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet; wie Twitter und Facebook, eine zentrale Rolle. insoweit unterliegt auch sie bei der Verbreitung Nicht nur Aktivist*innen nutzen diese im Protest- von Informationen den Geboten der Neutralität, zusammenhang, auch für die Polizei gewinnen so- Sachlichkeit und Richtigkeit“ (Wissenschaftliche ziale Medien an Bedeutung (Bayerl und Rüdiger Dienste des Deutschen Bundestages 2015, 9). 2017, 928; Michaelsen 2013, 12). Die polizeiliche Weiter heißt es in der Ausarbeitung: „Insoweit Social-Media-Nutzung im Kontext von Protesten kann (auch bei in 140 Zeichen erfolgenden twit- spielt vor allem bei der Kommunikation mit den ternden Verhalten) das Gebot der Richtigkeit und beteiligten Akteur*innen eine Rolle. Der Einsatz Sachlichkeit verletzt sein oder die Polizei gegen von sozialen Medien im Protestzusammenhang ihre Neutralitätspflicht verstoßen, soweit sie über ermöglicht unter anderem eine direkte und Twitter unsachliche Äußerungen über Protestfor- schnelle Kommunikation zwischen Polizei und Öf- men tätigt“ (Wissenschaftliche Dienste des Deut- fentlichkeit, sowie zwischen Polizei und anderen schen Bundestages 2015, 9). beteiligten Gruppen, wie zum Beispiel Protestie- Ob diese Neutralitätspflicht auf Twitter ge- renden und Anwohner*innen. Diese können so wahrt wird, wurde in der Vergangenheit bereits im Sinne einer taktischen Kommunikation, auf die öfter diskutiert. Unter anderem stellt sich die nachfolgend eingegangen wird, angesprochen Frage, ob sich die für soziale Medien kennzeich- werden (Bayerl und Rüdiger 2017, 926-928). In nenden stilistischen Mittel wie Ironie und Humor Bezug auf Proteste kommt vor allem dem Micro- mit den polizeilichen Geboten zu Neutralität und Blogging-Dienst Twitter eine besondere Rolle zu, Sachlichkeit in Einklang bringen lassen. Während da dieser sich durch eine große Reichweite, der Protest- und Polizeiforscher Peter Ullrich und Schnelligkeit und Aktualität auszeichnet. In Pro- auch der Rechtswissenschaftler Felix Hansch- testsituationen kann über Twitter in Echtzeit auf mann den üblichen Kommunikationsstil inner- ein Protestgeschehen reagiert werden, welches halb sozialer Medien vor allem im Kontrast zur sich ebenfalls oft durch schnelle Dynamiken aus- Neutralitätspflicht sehen (siehe Bartlau 2015),2 zeichnet. Indem sie Handlungsanweisungen öf- erkennt beispielsweise die Juristin Heike Krischok fentlich über Twitter kommuniziert, kann die Po- nicht per se ein Problem bei der polizeilichen Ver- lizei auf das Verhalten von Beteiligten einwirken. wendung dieser stilistischen Mittel, solange es Weiterhin kann sie über Twitter unmittelbar auf dabei nicht zu Bewertungen und Missverständ- die mediale Berichterstattung des jeweiligen Er- nissen kommt (siehe Bröckling 2018). Dass es in eignisses Einfluss nehmen (Kern 2017, 170; Reu- der Vergangenheit jedoch durchaus zu missver- ter et al. 2018). Der vorliegende Artikel beschäf- ständlichen Bewertungen von Protestsituationen tigt sich vor diesem Hintergrund mit den Charak- durch polizeiliche Social-Media-Aktivitäten kam, teristiken, Zielen und Problematiken von polizeili- belegt zum Beispiel die Studie „Eskalation: Dyna- cher Twitter-Nutzung im Protestkontext. miken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Die Polizei ist als staatliches Organ der Neutra- Hamburg 2017“ (Malthaner et al. 2018, 76-78). litätspflicht unterworfen. Ihre Außenkommunika- Das vorliegende working paper befasst sich, tion unterliegt damit den Geboten der Sachlich- vor dem Hintergrund dieser Kritik und Bedenken keit und Richtigkeit. Dies sollte sich auch in der über die zunehmende polizeiliche Social-Media- Twitter-Nutzung widerspiegeln.1 In einer Ausar- Nutzung, mit der Darstellung von Protesten und beitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bun- Protestierenden durch polizeiliche Social-Media- destages heißt es dazu: „Auch die an die Öffent- Beiträge im Kontext der Proteste um den Hamba- lichkeit gegebenen (Selbst)Darstellungen der Po- cher Forst. Dabei bildet die Frage, welche Muster lizei sind – und hieran ändert die Freigabe über sich bei der polizeilichen Nutzung sozialer Medien _____ 1 2 Die Neutralitätspflicht ist unter anderem im Bun- Peter Ullrich im Interview mit dem Norddeutschen desbeamtengesetz §60 geregelt. Nachzulesen hier: Rundfunk: https://www.pressepor- https://dejure.org/gesetze/BBG/60.html tal.de/pm/6561/4052873 [22.10.2020] 4
im Kontext von Protesten identifizieren lassen, nungsfeld hinsichtlich ihrer Vertrauens- und Au- das zentrale Erkenntnisinteresse. Um die polizei- toritätsposition sowie hinsichtlich ihres Gebots liche Darstellung von Protesten und Protestieren- zur politischen Neutralität. den durch soziale Medien anhand eines konkre- ten empirischen Beispiels zu untersuchen, wurde die polizeiliche Twitter-Nutzung rund um die Pro- Protestakteur*innen und teste im Hambacher Forst in der Zeit von August bis Oktober 2018 als Analysegegenstand heran- Hegemonie gezogen. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse wurden polizeiliche Twitter-Aktivitäten dieses Gramscis integralem Staatsverständnis nach sind Zeitraumes näher untersucht, die sich thematisch Staaten nicht als starre Gebilde zu verstehen, son- mit den Protesten rund um den Hambacher Forst dern vielmehr als umkämpfte Kräfteverhältnisse befassten. Die Analyse erfolgte dabei vor dem (Becker et al. 2013, 69 f.). Ausdruck dieser Kräfte- Hintergrund eines integralen Staatsverständnis- verhältnisse stellt die Hegemonie dar. Selbig darf ses nach Gramsci. Diesem staatstheoretischen jedoch nicht als bloße Vormachtstellung verstan- Ansatz folgend ist „der Staat“ nicht mit Regierung den werden (Becker et al. 2013, 19 f.). Hegemonie oder Parlament gleichzusetzen, sondern gliedert ist vielmehr das Herrschen mit Zustimmung der sich in die zwei Sphären der politischen und der Beherrschten. Sie ist in Gramscis Verständnis zivilen Gesellschaft. Hierauf wird nachfolgend zentral für den Erhalt einer stabilen Herrschaft noch differenzierter eingegangen (Gramsci 1991, (Gramsci 1991, 102 f.). Denn Herrschaft kann nie 102 f.). durch Gewalt allein aufrechterhalten werden, sondern muss immer hegemonial abgesichert, Bevor der Artikel sich den Ergebnissen der Un- das heißt in den Lebens- und Denkweisen der tersuchung zuwendet, folgt zunächst eine Einfüh- Menschen verankert sein (Langemeyer 2009, 75). rung in Gramscis integrales Staatsverständnis und seinen Hegemoniebegriff. Der Begriff der Hege- Proteste, verstanden als im öffentlichen Raum monie wird dabei im Zusammenhang mit Protes- stattfindende kollektive Akte des politischen Wi- ten erklärt. Weiterhin wird auch auf die Bedeu- derspruchs, streben einen gesellschaftlichen tung sozialer Medien für die Hegemonie, hier ver- Wandel an (Michaelsen 2013, 47; Volk 2014, 138- standen als fluider Prozess der Herausbildung von 139). Sie fordern demnach hegemoniale Erzäh- Einverständnis und Zufriedenheit, eingegangen. lung immer wieder heraus und können durch ihr Anschließend folgt eine kurze Einführung in die Wirken Hegemonie zu ihren Gunsten verändern Merkmale und Funktionen polizeilicher Twitter- (Mullis et al. 2016, 51; Haunss 2009, 31; Michael- Nutzung im Kontext von Protesten. In einem sen 2013, 93). Proteste können zugleich aber nächsten Schritt wendet sich der Artikel der em- auch zur „Vitalisierung und Stärkung bestehen- pirischen Untersuchung am Beispiel des Hamba- der Herrschafts- und Ungleichheitsmuster“ (Bab- cher Forstes zu. Im Zuge dessen wird der Protest acan 2020, 66) beitragen und so zu staatstragen- kurz umrissen und der methodische Ansatz der den Akteur*innen werden. Dies wird etwa am Analyse beschrieben. Beispiel des Aufstiegs und Machterhalts der AK Parti (AKP) in der Türkei deutlich. So ging die AKP Daran anschließend werden die identifizierten einerseits zwar aus einer breiten gegenhegemo- Muster normativ eingeordnet und mit dem Neut- nialen Bewegung her und stieß durch ihre Ver- ralitätsanspruch der Polizei als Institution abgegli- schiebung des hegemonialen Herrschaftskonsen- chen. Im Anschluss an diese Auswertung erfolgt ses etwa weitreichende Reformen des politischen eine Diskussion, in der die Ergebnisse unter Rück- Systems an. Andererseits zementierte der traditi- bezug auf den Hegemoniebegriff gedeutet wer- onalistisch-religiöse Herrschaftsdiskurs der AKP den. Der Artikel schließt mit einem zusammenfas- aber in Kürze selbst die hegemoniale Herrschaft senden Fazit, welches darauf hindeutet, dass die der Partei und ihrer Vertreter*innen. Regelmä- Polizei Twitter in Protestsituation strategisch ein- ßige öffentliche Mobilisierungen von AKP Sympa- setzt, um Ereignisse zu ihren Gunsten zu rahmen. thisant*innen stützen diese hegemoniale Stel- Damit bewegt sich die Polizei in einem Span- lung im türkischen politischen System. 5
Neben zivilgesellschaftlichen Akteur*innen Ebene aber oft kaum voneinander zu trennen, da stützen üblicherweise aber vor allem institutio- erstere die letztere zum Beispiel über gesetzli- nelle Akteur*innen bestehende Machtverhält- chen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftli- nisse, indem sie durch ihr Wirken die bestehende ches Handeln durchdringt. Gleichzeitig kann auch Ordnung reproduzieren. Der Polizei kommt dabei die Zivilgesellschaft die politische Ebene beein- als Institution eine besondere Rolle zu, da sie im flussen, zum Beispiel durch erfolgreiche Proteste, Zweifelsfall Gewalt zur Aufrechterhaltung von die in eine Gesetzesänderung münden. Auch Machtstrukturen anwenden kann. Um verschie- weitreichendere gesellschaftliche Veränderun- dene soziale Akteur*innen hinsichtlich ihrer stüt- gen lassen sich nicht allein durch militärische oder zenden oder herausfordernden Haltung gegen- politische, sondern vor allem über parallele ideo- über hegemonialen Strukturen zu differenzieren, logische und gesellschaftliche Kämpfe auf der unterscheidet Gramsci Staat und Gesellschaft in Ebene der Zivilgesellschaft vollziehen. Zur Erhal- zwei Sphären: Gesellschaft umfasst in seinem tung einer stabilen Herrschaft, muss der politi- staatstheoretischen Ansatz die societa civile, die schen Machterlangung die Herstellung kultureller zivile Gesellschaft oder Zivilgesellschaft. Ihr ge- Hegemonie vorangehen (Vey 2015, 44 f.). genüber steht die politische Gesellschaft, die Gramsci spricht daher auch vom Staat als Hege- societa politica (Ladwig 2013, 133; Gramsci 1996, monie, gepanzert mit Zwang (Gramsci 1992, 783). 1502-1503). Kulturelle Hegemonie reproduziert sich dabei durch das Alltagshandeln der Menschen (Haber- Letztere ist als Staat im engeren Sinne zu ver- mann 2012, 23). Hegemonie ist somit vor allem stehen und umfasst zum Beispiel Polizei und Mili- eine Praxis, deren zentraler Aushandlungsort in tär. Im Zweifelsfall ist die politische Gesellschaft, der Zivilgesellschaft liegt (Vey 2015, 44 f.). Pro- wie angedeutet, in der Lage und rechtlich dazu le- teste werden diesem Verständnis nach nicht als gitimiert, Gewalt zu Gunsten und Aufrechterhal- externe Faktoren, die „den Staat“ adressieren be- tung bestehender Machtstrukturen anzuwenden griffen, sondern selbst als hegemoniale Aushand- – Machtstrukturen, die Gramsci in ihrem Ur- lungsorte (Vey 2015, 50). Im Protestzusammen- sprung als ökonomisch verortet begreift (Becker hang treffen Akteur*innen der zivilen und der po- et al. 2013, 68 f.). Die politische Ebene bildet so- litischen Gesellschaft aufeinander. Als Akteurin mit die Sphäre des Zwangs. Die Sicherstellung von der politischen Gesellschaft tritt dabei vor allem Einverständnis und Zufriedenheit – d.h. der Be- die Polizei in Erscheinung.3 wahrung von Hegemonie – ist hingegen in der zi- vilen Ebene verortet. Sie ist die Sphäre des Kon- senses (Ladwig 2013, 133 f.; Gramsci 1996, 1502 Social Media: Ort hegemonialer Aus- f.). Hier werden moralische Werte und Normen handlung herausgebildet, die das reale kollektive Leben Nach Gramsci sind vor allem Medien als zentrale strukturieren (Demirovic 2012, 144-145). In der Austragungsorte hegemonialer Konflikte zu ver- zivilen Ebene wird die Kultur herausgebildet, die stehen. Sie bilden den dynamischsten Teil der zi- Gramsci als Lebens-, Denk- und Fühlweisen der vilen Gesellschaft und spielen eine entscheidende Menschen definiert (Langemeyer 2009, 75). Zur Rolle bei der Legitimierung von Machtverhältnis- Zivilgesellschaft, also zum Staat im weiteren sen (Gramsci 1991a, 373 f.; siehe auch Süß 2015 Sinne, zählen zum Beispiel Interessensverbände, und Vey 2015). Medien beeinflussen direkt und Gewerkschaften oder die Medien – also insbe- indirekt die öffentliche Meinung (Becker et al. sondere „private“ Organisationsformen und Initi- 2017, 72). Diese bilden sozusagen den Berüh- ativen (Becker et al. 2013, 68 f.). Hierunter fallen rungspunkt zwischen der Zivilgesellschaft und der auch soziale Bewegungen und Proteste. politischen Gesellschaft (Gramsci 1992, 916). Öf- Faktisch sind die politische und die zivile _____ 3 Auch wenn die Polizei als Institution die föderale lungsrahmen der jeweiligen Polizei festlegen, be- Struktur der BRD widerspiegelt und die Landespoli- handelt dieser Artikel „die Polizei“ als Akteurin der zei jeweils eigene Organisationseinheiten mit lan- politischen Gesellschaft (Kern 2018, 223). desgesetzlichen Grundlagen besitzt, die den Hand- 6
fentliche Meinungsbildung findet indes zuneh- Beispiel um diese über Gebiete zu informieren, mend auch über soziale Medien statt. Auch sie re- die gemieden werden sollten. Der Einsatz sozialer präsentieren zentrale Schauplätze für das zivilge- Medien ermöglicht es der Polizei zudem, einen sellschaftliche Ringen um die Einordnung um- Überblick über die Protestsituation zu erlangen kämpfter Ereignisse (Malthaner et al. 2018, 73). (Bayerl und Rüdiger 2017, 926-928). Dabei kommt dem Micro-Blogging-Dienst Twitter eine Aktivist*innen nutzen soziale Medien vor die- besondere Rolle zu, da er sich durch Schnelllebig- sem Hintergrund nicht nur zu Mobilisierungszwe- keit und damit verbunden durch Aktualität aus- cken, sondern auch zur strategischen Herstellung zeichnet. Zudem verfügt Twitter über eine große von Deutungshoheit über politische Entwicklun- Reichweite, insbesondere unter Journalist*innen gen (Michaelsen 2013, 12). Die Polizei nutzt sozi- und Politiker*innen (Kern 2017, 170; Reuter et al. ale Medien wiederum zur Einschätzung der Lage. 2018). Nachrichtenagenturen sehen Twitter-Ac- Gleichzeitig bespielt sie vermehrt auch selbst counts der Polizei als seriöse, verifizierte und be- Social-Media-Plattformen mit Inhalten (Markus deutende Informationsquelle an, die in der Be- 2016, 23). Zudem dienen soziale Medien im Kon- richterstattung zitiert werden kann (Kern 2017, text von Protestgeschehen sowohl Aktivist*innen 168-170). Oft dienen polizeiliche Tweets Journa- als auch Beobachter*innen, Journalist*innen und list*innen als Grundlage und werden ungeprüft der Polizei als Informationsquelle und Kommuni- übernommen (Reuter et al. 2018). kationsplattform. Das Geschehen auf digitalen sozialen Plattformen bildet eine Grundlage zur Die polizeiliche Twitter-Nutzung soll im Kon- Einschätzung volatiler Situationen und prägt text von Protesten zudem klassische Mittel der dadurch auch Handlungsoptionen – sowohl auf taktischen Kommunikation, wie zum Beispiel An- aktivistischer Seite als auch auf Seiten der Polizei. sagen über Lautsprecherwagen, ergänzen. Unter Dies wirkt sich auch auf das Protestgeschehen taktischer Kommunikation lässt sich ein polizeili- selbst aus. ches Mittel zur Ansprache von einzelnen Perso- nen oder Gruppen verstehen (Kern 2017, 32-34, Diese Verquickung bedeutet nicht, dass Aktivi- 165). Soziale Medien sollen demzufolge unter an- täten innerhalb sozialer Medien als direktes Ab- derem der Ansprache und dem Kontaktaufbau zu bild des Protestgeschehens zu verstehen sind. Aktivist*innen oder anderen an Protesten Betei- Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Diskurs ligten dienen, sowie die Öffentlichkeit adressie- in sozialen Medien und das Protestgeschehen vor ren (Bayerl und Rüdiger 2017, 926-928; Kern Ort in einem wechselseitigen Verhältnis stehen 2017, 170). Durch soziale Medien kann die Polizei und sich gegenseitig beeinflussen (Malthaner et zudem schon im Vorfeld einer Demonstration, ei- al. 2018, 72 f.). Akteur*innen der zivilen und der ner Mahnwache oder einer Kundgebung Kontakt politischen Gesellschaft treffen in Form von Pro- zu den betreffenden Personengruppen herstellen testierenden und Polizei also nicht nur physisch (Kern 2017, 170). Die taktische Kommunikation am Protestgeschehen aufeinander, sondern auch über soziale Medien kann dabei der Informations- digital über soziale Medien wie Twitter. vermittlung dienen, etwa, wenn über Ankunfts- wege oder eingerichtete Pressestellen informiert Polizeiliche Social-Media-Nutzung wird (Krischok 2018, 242; Kern 2017, 170). Ziel Soziale Medien haben sich im Kontext von Protes- taktischer Kommunikation kann es aber auch ten für die Polizei als wirksames Kommunikati- sein, Transparenz über polizeiliches Handeln her- onsmittel bewährt. Durch die Verwendung sozia- zustellen und so das Verhalten anwesender Per- ler Medien wird eine direkte und schnelle Kom- sonen zu beeinflussen. Dies ist zum Beispiel der munikation zwischen der Polizei und einer inte- Fall, wenn Aktivist*innen über die Konsequenzen ressierten Öffentlichkeit sowie zwischen der Poli- ihres Verhaltens in Kenntnis gesetzt werden (Kern zei und am Protestgeschehen beteiligten Grup- 2017, 32-34, 167 f.). pen ermöglicht. Dabei handelt es sich nicht nur Soziale Medien können im Sinne einer takti- um Protestteilnehmer*innen. Twitter wird inner- schen Kommunikation auch zur Koordination von halb von Protestsituationen vielmehr auch zur Hilfsanstrengungen eingesetzt werden, zum Bei- Kommunikation mit Bürger*innen genutzt, zum spiel, um über Rettungswege zu informieren 7
(Bayerl und Rüdiger 2017, 928). Des Weiteren Felix Hanschmann und der Protest- und Polizei- können soziale Medien aber auch der Lageein- forscher Peter Ullrich, die beide anmerken, dass schätzung dienen und dabei helfen, einen Über- der polarisierende und emotionalisierende Kom- blick über die Situation vor Ort herzustellen, bei- munikationsstil innerhalb sozialer Medien im spielsweise durch digitale Landkarten auf Grund- starken Kontrast zum Gebot der Sachlichkeit und lage verfasster Tweets (Bayerl und Rüdiger 2017, zur Neutralitätspflicht stehe (Bartlau 2015).4 928; Malthaner et al. 2018, 72). Nicht zuletzt kann Neben dem verwendetem Kommunikations- die polizeiliche taktische Kommunikation im All- stil steht auch das weitere polizeiliche Verhalten gemeinen, und über soziale Medien im Besonde- in sozialen Medien in einem rechtlichen Span- ren, aber auch der Gewinnung von Deutungsho- nungsfeld. Der Kriminologe Tobias Singelnstein heit über die laufenden Ereignisse dienen (Kern weist beispielsweise darauf hin, dass das Blockie- 2017 32-34, 165). Dies ist grundsätzlich nicht ren von Twitter-Nutzer*innen durch die Polizei ei- problematisch, solange Deutungshoheit nicht nen Eingriff in die Informationsfreiheit darstellt über manipulative Effekte erzielt wird: Die Polizei (Bröckling 2018). Weiterhin stellen Arzt und Ull- unterliegt als staatliche Institution der Neutrali- rich (2016) fest, dass die Polizei vermehrt soziale tätspflicht sowie den Geboten der Sachlichkeit Medien einsetzt, um auf Kritik an polizeilichen und Richtigkeit. Ihre Deutungshoheit soll daher Einsätzen zu reagieren. Sind solche polizeilichen vor allem über Transparenz und Ehrlichkeit be- Reaktionen allerdings von wertendem Charakter gründet werden (Wissenschaftliche Dienste des und nehmen inhaltlich Einfluss auf Versammlun- Deutschen Bundestages 2015, 9; Kern 2017, 168). gen und Demonstrationen so stehen sie dem Die polizeilichen Tweets sollen vor diesem Hinter- Recht auf Versammlungsfreiheit problematisch grund nicht wertend, sondern möglichst neutral gegenüber (Arzt und Ullrich 2016, 55). verfasst sein (Kern 2017, 168). Zudem wird kritisiert, dass die polizeiliche Dar- Ob dies in der Praxis jedoch tatsächlich umge- stellung von Protesten über Dienste wie Twitter setzt wird oder überhaupt praktisch umsetzbar vermeintliche Grenzüberschreitungen und ge- ist, wurde in der Vergangenheit bereits kontro- walttätige Handlungen in den Fokus rücke und so vers diskutiert. Die Juristin Heike Krischok betont potenziell friedliche Teilnehmer*innen abschre- beispielsweise, dass es der Polizei grundsätzlich cken können (Bayerl und Rüdiger 2017, 934 f.). In nicht zustehe, Proteste und Protestierende über der Studie „Eskalation: Dynamiken der Gewalt im soziale Medien zu bewerten. Gleichzeitig ver- Kontext der G20-Proteste in Hamburg 2017“ hal- deutlicht sie aber auch, dass eine neutrale Ver- ten Malthaner et al. (2018) fest, dass die Polizei wendung sozialer Medien im Protestzusammen- auf Twitter die „Gewaltfrage“ zu ihren Gunsten hang nur schwer machbar ist. Krischok verweist auslegte und sich so an der diskursiven Eskalation zur Untermauerung dieser These auf Präzedenz- in Bezug auf die Proteste beteiligte (Malthaner et fälle wie die Blockupy-Proteste und den G7-Gip- al. 2018, 72, 76-77). Hartmann und Lang schlie- fel, bei denen die Polizei durchaus inhaltliche Be- ßen an diese Kritik an und sprechen von einer an- wertungen über soziale Medien vornahm tagonistischen Diskursdynamik, die sich auf Twit- (Krischok 2018, 244 f.). In den für soziale Medien ter parallel zum Protestgeschehen auf der Straße typischen Kommunikationsstilen sieht die Juristin herausbildete. Der Twitter-Diskurs rund um die jedoch nicht per se eine Gefahr für die Neutrali- G20-Proteste begünstige so „sich selbst verstär- tätspflicht, solange es dadurch nicht zu politi- kende Spiralen aus Solidarisierung und Feindbild- schen Wertungen und Missverständnissen konstruktion“ (Hartmann und Lang 2020, 8). kommt (Bröckling 2018). Andere Stimmen sehen den für soziale Medien typischen Gebrauch von Ironie und Humor seitens der Polizei deutlich kri- tischer. Darunter auch der Rechtswissenschaftler _____ 4 Peter Ullrich im Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk: https://www.pressepor- tal.de/pm/6561/4052873 [22.10.2020] 8
Die Polizei, Twitter und der volvierten Akteur*innen prägen. In Protestsitua- tionen können die eingesetzten Narrative und Hambacher Forst Charaktere eine mobilisierende Wirkung entfal- ten (Jasper et al. 2020, 8f). Dabei geht es vor al- Auch der vorliegende Artikel untersucht das lem darum die eigene öffentliche Repräsentation Spannungsfeld polizeilicher Social-Media-Nut- mit positiven Attributen zu besetzen und den zung bei Protesten und stellt die Frage, welche Charakter der Gegenseite im Kontrast dazu nega- Narrative die Polizei wie über soziale Medien pro- tiv einzuordnen, um beim entsprechenden Publi- duzierte und kommunizierte. Hierfür wurden po- kum Emotionen auszulösen. Emotionen prägen, lizeiliche Twitter-Aktivitäten mit Bezug auf die wie Ereignisse und Akteur*innen eingeordnet Proteste rund um den Hambacher Forst unter- und verstanden werden. Narrative mit impliziten sucht. Die Proteste gegen den Braunkohleabbau Charakterisierungen setzen Emotionen frei, die im Gebiet des Hambacher Forstes blicken auf eine sich zum Beispiel in Ablehnung oder Zustimmung lange Geschichte zurück. Seit 2012 zählt die Be- für Geschehnisse und Akteur*innen ausdrücken setzung des verbliebenen Waldes dazu. Immer können (Jasper et al. 2020, 7; Jasper 2018, 190). wieder kam es infolgedessen zu Räumungen und Narrative werden zudem in einen größeren Sinn- polizeilichen Einsätzen. Seit jeher ringen das zusammenhang eingeordnet und lassen weiter- Energieunternehmen RWE, das im Tagebau Ham- gehende Schlussfolgerungen zu. Sie vermitteln so bach Braunkohle abbaut, die Polizei und Akti- deutlich mehr aus als auf direktem Wege ausge- vist*innen um die Deutungshoheit (Dalkowksi drückt wurde (Jasper et al. 2020, 22 f.). Wird zum 2018). Auch 2018 kam es kurz vor Beginn der Ro- Beispiel darüber berichtet, unter welchen schwe- dungssaison (Oktober bis März) zu polizeilichen ren Bedingungen ein Polizeieinsatz erfolgte, so Einsätzen. Eine Analyse der Narrative und Prakti- lässt dies Rückschlüsse auf die beteiligten Poli- ken polizeilicher Twitter-Nutzung im Kontext die- zist*innen zu, die trotz erschwerter Kontextbe- ser Einsätze schien im Vorfeld dieser Studie be- dingungen im Einsatz waren. Sie erscheinen so sonders vielversprechend, da die mediale Be- beispielsweise besonders stark und widerstands- richterstattung (auch in eher konservativen Me- fähig. dien und Leitmedien) den Protesten im Hamba- cher Forst durchaus positiv gegenüberstand. Wei- Methode terhin lehnte ein Großteil der Bevölkerung die Ro- dung des Hambacher Forstes im Untersuchungs- Um die polizeiliche Twitter-Nutzung rund um die zeitraum ab (Cwiertnia 2018; Petrowskaja 2018; Proteste des Hambacher Forstes zu untersuchen, Parth 2018; Wichmann, 2018). wurden die Tweets der Polizei Aachen analysiert (abrufbar unter dem Twitter-Profil @Poli- Der Begriff Narrativ bezieht sich in diesem Zu- zei_NRW_AC), die bei den Ereignissen im Einsatz sammenhang auf die normative Erzählung eines war. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich Ereignisses oder Phänomens. Narrative ordnen auf den Zeitraum von August 2018 bis Ende Okto- die beschriebenen Ereignisse oder Phänomene in ber 2018. Innerhalb dieses Zeitraumes intensi- einen Sinnzusammenhang ein und konstruieren vierten sich die Polizeieinsätze und die mediale dabei Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Diese Aufmerksamkeit.5 Es gab mehrere Räumungen Kausalzusammenhänge müssen dabei nicht not- und Protestaktionen, sowie Großdemonstratio- wendigerweise auf Tatsachen beruhen oder sich nen und Hausbesetzungen im nahegelegenen durch den Rückgriff auf Logik erschließen lassen Manheim, welche im Zusammenhang mit den (Polletta 2006, 10-12). Narrative transportieren Protesten rund um den Hambacher Forst stan- zudem bestimmte Charaktere, die das Bild der in- den.6 Der vom Oberverwaltungsgericht Münster ausgesprochene vorläufige Rodungsstopp fällt _____ 5 6 Überblick über die Proteste im Hambacher Forst Weitere Informationen zur Besetzung in Manheim: im Oktober 2018: https://hambacher- https://hambacherforst.org/blog/2018/10/12/man- forst.org/blog/2018/10/02/ticker-ab-2-okto- heim-besetzung/ ber/#more-9317. 9
ebenfalls in diesen Zeitraum.7 Berücksichtigt wurden alle polizeilichen Tweets, die durch einen entsprechenden Hashtag (#HambacherForst, #Hambi0610, #hambibleibt, #Hambilebt, #EndeGelände, #endegelaende, #EndeGelaende, #Manheimlebt und #hambach- erforst) gekennzeichnet waren. Die Recherche er- folgte manuell über die erweiterte Suchfunktion von Twitter. Nach Ausschluss von Duplikaten ver- blieben 190 Tweets der Polizei Aachen. Im An- Abbildung 2: Tweet an Medienvertreter*innen schluss an die Datensammlung wurden die Tweets einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzo- gen (Mayring 2010, 48 f.). Dabei wurde sowohl Die Erzählung des Gefahrengebietes mittels induktiver als auch deduktiver Codes ge- Die polizeilichen Einsätze im Hambacher Forst arbeitet. Die deduktiven Codes ergaben sich aus wurden in den Tweets unter anderem damit ge- der zuvor gesichteten Literatur zur polizeilichen rechtfertigt, dass es sich bei dem betroffenen Ein- Social-Media-Nutzung im Kontext von Protesten. satzgebiet um ein Gefahrengebiet handle. Auffäl- lig ist, dass die Kennzeichnung des Hambacher Ergebnisse Forstes als Gefahrengebiet erst mit dem vermehr- ten Aufkommen von Polizeieinsätzen und der Bevor sich die Analyse den verwendeten Narrati- zeitgleichen verstärkten Twitter-Nutzung Ende ven, also der normativen Erzählung und Etikettie- August/Anfang September erfolgte: Während rung des Protestes und der Protestierenden wid- Einsätze Anfang August noch als Aufklärungsar- met, soll vorweg angemerkt werden, dass unter beiten gerechtfertigt wurden, wich diese Begrün- den Tweets auch solche vorzufinden waren, die dung bald vollständig dem Bild des Gefahrenge- lediglich informativen Charakter aufwiesen.8 Da- bietes. Das Markieren eines Ortes als Gefahren- bei handelte es sich um Tweets, die allgemeine gebiet erlaubt der Polizei einen größeren Hand- Verkehrsmeldungen sowie Informationen zu An- lungsspielraum. So kann sie in diesem Gebiet und Abreisemöglichkeiten enthielten (Abbildung etwa ohne vorherigen gerichtlichen Beschluss 1), oder sich direkt an Medienvertreter*innen Personenkontrollen und Durchsuchungen durch- richteten und über Presseanlaufstellen informier- führen (Ullrich und Tullney 2012, 3f.). Auch im ten (Abbildung 2). vorliegenden Fall kam es im Anschluss an die Kennzeichnung als Gefahrengebiet zu weitreich- enden Durchsuchungen, die die Polizei zum Teil auch auf Twitter dokumentierte. So twitterte die Polizei am 31. August 2018 um 9:01 Uhr, „Strafta- ten und massive Angriffe auf Polizeibeamte“ hät- ten dazu geführt, dass der Hambacher Forst und seine Umgebung von der Polizei Aachen als „ge- fährlicher Ort“ eingestuft wurden. Im zweiten Teil Abbildung 1: Verkehrsmeldung des Twitter-Threads erklärte die Polizei zudem welche Auswirkungen sich durch die Benennung als Gefahrengebiet für den Handlungsspielraum _____ 7 8 Zur Pressemitteilung des Oberverwaltungsgerichts Anzumerken ist hier, dass Informationen immer NRW: https://www.ovg.nrw.de/beho- aus einer bestimmten Perspektive also nie vollstän- erde/presse/pressemitteilungen/01_ar- dig objektiv oder neutral erfolgen. Die hier genann- chiv/2018/46_181005/index.php ten informativen Tweets weisen jedoch keine offen- sichtlichen Narrative auf und verfügen über als sachlich einzuordnende Formulierungen. 10
der Polizei ergeben, nämlich die Feststellung von Ortes der Proteste, fand auch eine Versicherheit- Personalien und die Durchsuchung anwesender lichung ihrer Teilnehmer*innen statt. Neben der Personen und ihrer Fahrzeuge (Abbildung 3).9 Kennzeichnung als Gefahrengebiet wurden Ende August/Anfang September die Protestteilneh- mer*innen innerhalb Twitters vermehrt als ge- waltbereit markiert. Das Motiv der gewaltberei- ten Aktivist*innen trat auch als Erklärung für Eins- ätze auf, wie in der folgenden Abbildung 4 zu se- hen ist. Abbildung 1: Gefahrengebiet Den erweiterten polizeilichen Handlungsspiel- raum, der durch die Einstufung als Gefahrenge- biet ermöglicht wurde, rechtfertigte die Polizei durch den Verweis auf die „Verhinderung weite- rer Straftaten“. In den darauffolgenden Wochen fand sich die im Tweet genannte Bezeichnung des Hambacher Forstes als gefährlicher Ort auch in den Medien wieder, so zum Beispiel in einem im Stern veröffentlichten Artikel oder in der Welt, die die Erzählung des Gefahrengebiets übernah- men (Wüstenberg 2018; Die Welt 2018 ). Aber auch die Aktivist*innen reagierten auf die Etiket- tierung als gefährlicher Ort. Ein Aktivist erklärte im Presseinterview, dass die Polizei versuche durch die Kennzeichnung des Hambacher Forstes als Gefahrengebiet „die komplette Bewegung zu kriminalisieren und zu diffamieren“ (Zeit Online 2018). Die Polizei legitimierte ihr Handeln hier also nicht nur rechtlich, indem sie das Gebiet als Ge- fahrenort kennzeichnete, sondern trug dieses Abbildung 4: Einsatzerklärung Narrativ auch in den öffentlichen Diskurs. Hier wird deutlich, dass die Polizei Twitter auch zur Der polizeiliche Einsatz wurde in dem Twitter- Herstellung von Deutungshoheit einsetzte. So Thread mit „dem Auffinden und Sicherstellen von kann argumentiert werden, dass das entspre- Beweismitteln sowie Gegenständen, die zur Vor- chende Gebiet bewusst vor allem zu Beginn des bereitung oder Durchführung von Straftaten und Polizeieinsatzes als Gefahrengebiet markiert Ordnungswidrigkeiten geeignet sind“ begründet. wurde, um alle folgenden polizeilichen Handlun- Angenommen wurde also, dass die Aktivist*innen gen nicht nur rechtlich abzusichern, sondern auch Straftaten und Ordnungswidrigkeiten planten. in der öffentlichen Wahrnehmung zu legitimie- Das Narrativ der gewaltbereiten Aktivist*innen ren. wurde dadurch verstärkt. Auch der Appell im drit- ten Tweet des Threads: „Seien sie friedlich und Zeitgleich zu dieser Versicherheitlichung des _____ 9 In einem Twitter-Thread werden mehrere Tweets desselben Accounts miteinander verbunden. 11
leisten Sie den Anweisungen der Polizeibeamt*in- ermöglichte der Polizei einen größeren Hand- nen Folge!“, suggerierte eine mögliche Gefahr, lungsspielraum. die von den Aktivist*innen ausging. Binäre Gegenüberstellung: Positive Ei- Anfang August waren die Einsätze der Polizei gen- und negative Fremdbilder demgegenüber noch mit dem Verweis auf „Auf- klärungsmaßnahmen“ begründet worden, wie im Die Andeutung von Gewaltbereitschaft unter den Folgenden zu sehen ist. In dem Tweet (Abbildung Aktivist*innen stand indes im direkten Gegensatz 5), der Anfang August veröffentlicht wurde, er- zur positiven Selbstdarstellung der Polizei über klärte die Polizei, dass sie „aktuell für Aufklä- Social Media. So setzte die Polizei Aachen inner- rungsmaßnahmen kurzfristig im #Hambacher- halb ihrer Tweets auf ein klassisches Opfer-Täter- Forst“ sei. Erst Ende August/ Anfang September Framing. Indem die Einsatzkräfte als von Gewalt tauchten schließlich die beiden Narrative gewalt- Betroffene hervorgehoben wurden, wurden Akti- bereite Aktivist*innen und des Hambacher Forsts vist*innen implizit als gewaltbereit gekennzeich- als Gefahrengebiet auf. Diese versicherheitli- net. Tweets, die dieses Narrativ transportierten, chenden Narrative traten auch am 13. September waren zumeist emotional aufgeladen, wie im Fol- in Erscheinung. An diesem Tag begann die Räu- genden Beispiel an der Formulierung „Das geht zu mung des Hambacher Forstes. Dies schlug sich weit“ ersichtlich ist (Abbildung 6). auch in einer größeren polizeilichen Twitter-Nut- zung nieder. Abbildung 6: Polizei als Betroffene von Gewalt Abbildung 5: Aufklärungseinsatz Der abgebildete Tweet thematisierte den Ein- satz von Molotowcocktails gegen ein Einsatzfahr- Durch die Etikettierung der Protestierenden und zeug: „Im #HambacherForst wurde ein Polizei- des Protestes als Gefahr für die Sicherheit wurde fahrzeug aus dem Wald heraus mit zwei Molo- das Bild einer Ausnahmesituation konstruiert. Si- towcocktails beworfen. Nur mit Glück wurde nie- cherheit wird hier verstanden als Ergebnis sozia- mand verletzt. Hierdurch werden leichtfertig ler Aushandlungsprozesse und stellt keinen ob- Menschenleben gefährdet“. Thematisiert wurde jektiven Zustand dar. Was als Bedrohung gilt wird hier also ein Ereignis, bei dem die Aktivist*innen also zwischen Sicherheitsakteur*innen und Publi- als leichtsinnige und gewalttätige Akteur*innen kum ausgehandelt (Ketzmerick 2019, 65). Durch agierten und die Polizei als Opfer dieser Gewalt Versicherheitlichungsprozesse werden die „nor- auftrat. An dieser Stelle kann angenommen wer- malen“ politischen Spielregeln ausgesetzt (Belina den, dass die Beschreibung des Vorfalls bei den 2010, 192). Im Sinne einer solchen „Versicher- Adressaten vor allem Sympathie mit den Einsatz- heitlichung“ wurde auch der Protest im Forst öf- kräften erzeugen sollte. Durch die Emotionalisie- fentlich als eine Bedrohung gekennzeichnet. Poli- rung wurde ein positives Bild der Polizei als Ziel- zeiliches Handeln außerhalb des „normalen“ Ein- scheibe von Gewalt bestärkt. Diese Darstellung satzrahmens wurde so nicht nur rechtlich durch trat im Kombination einer pauschalen Markie- die Deklarierung des Gebietes als Sonderzone le- rung der Aktivist*innen als leichtsinnig und grenz- gitimiert, sondern auch im öffentlichen Diskurs. überschreitend auf. Formulierungen wie „Nur mit Das Einsetzen versicherheitlichender Narrative Glück wurde niemand verletzt“ und „Hierdurch entpolitisierte sowohl den Protest als auch den werden leichtfertig Menschenleben gefährdet“ polizeilichen Einsatz zu seiner Eindämmung und (Abbildung 6) suggerierten, dass die Aktivist*in- nen sich über die Konsequenzen ihres Handelns 12
keine Gedanken machten. Im selben Tweet er- wurde hierdurch, dass die Aktivist*innen sich der folgte auch der kollektive Appell: „Distanzieren möglichen Konsequenzen ihres Handelns nicht Sie sich von gewalttätigen Aktionen“. Diese Auf- bewusst seien und dadurch nicht nur sich, son- forderung richtete sich zunächst an die Protestie- dern auch andere Personengruppen, wie Polizei renden und versuchte so das Verhalten der Akti- und Anwohner*innen, in Gefahr bringen könn- vist*innen zu beeinflussen. Gleichzeitig trat die ten. Im Gegensatz zu diesem vermeintlich unver- Polizei durch den Appell in Verknüpfung mit der antwortlichen Handeln stand die verantwor- Hervorhebung des Leichtsinns der Aktivist*innen tungsbewusste Polizei, die demnach die Gefahr als „Stimme der Vernunft“ in Erscheinung. So war erkannte und sich besorgt zeigte, wie an Formu- es die Polizei, die sich über ihre Opferrolle erhob lierungen wie „Die #Polizei #Aachen möchte und als besonnene Kraft auf mögliche Konse- nicht, dass Personen zu Schaden kommen!“ deut- quenzen wie das Gefährden von Menschenleben lich wird. Zugleich bat die Polizei den Protestie- hinwies und zur Distanzierung aufforderte. Über renden ihre Hilfe beim Verlassen der Dächer an; Twitter wurden aber nicht nur die Protestieren- trat hier also als Retterin der vermeintlich leicht- den erreicht, sondern auch eine breitere Öffent- sinnig und unverantwortlich handelnden Akti- lichkeit. Die direkte Aufforderung zur Distanzie- vist*innen in Erscheinung. Auch hier lag eine bi- rung sprach somit auch andere Personengrup- näre Gegenüberstellung von Polizei und Akti- pen, wie zum Beispiel Anwohner*innen, an. An- vist*innen vor, die ein Eingreifen der Polizei öf- genommen werden kann, dass der Appell somit fentlich legitimierte und an das weitverbreitete auch für andere Personengruppen als Aufforde- Bild der Polizei als „Freund und Helfer“ an- rung verstanden werden konnte sich vom Protest knüpfte. Während die Aktivist*innen zu Beginn zu distanzieren. In Bezug auf die polizeiliche Nut- der Polizeieinsätze vor allem als gewaltbereit ge- zung sozialer Medien im Kontext von Protesten kennzeichnet wurden, setzte sich im späteren wird in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die Verlauf diese Beschreibung der Aktivist*innen als polizeiliche Darstellung von Protesten vermeintli- leichtsinnig zunehmend durch. che Grenzüberschreitungen und gewalttätige Handlungen in den Fokus rücken und so potenzi- elle friedliche Teilnehmer*innen abschrecken könnte (Bayerl und Rüdiger 2017, 934 f.). Auch in diesem Fall ist eine solche abschreckende Wir- kung denkbar. Weiterhin trat die Erzählung der leichtsinnigen Aktivist*innen zusammen mit der Darstellung der Polizei als „besorgt“ in Erscheinung. Im Beispiel in Abbildung 7 ist diese Gegenüberstellung zu se- hen. Der abgebildete Tweet nimmt Bezug auf eine Reihe von Hausbesetzungen im nahegelege- nen Manheim, die als Solidaritätsaktionen im Zuge der Proteste rund um den Hambacher Forst stattfanden.10 In dem Tweet wies die Polizei da- rauf hin, dass das Besteigen von Hausdächern der besetzen Häuser aufgrund der Witterung und des unbekannten Zustandes unkalkulierbare Risiken für die Hausbesetzer*innen mit sich bringe. Wei- terhin appellierte sie an die Protestierenden, sich Abbildung 7: Besorgte Polizei/leichtsinnige Aktivist*innen und andere nicht in Gefahr zu bringen. Suggeriert _____ 10 Zum Protesthintergrund der Hausbesetzungen in Manheim: https://hambacher- forst.org/blog/2018/10/12/manheim-besetzung/ 13
Diese Narrativveränderung lässt sich auch darin positive Züge an, während der Polizeieinsatz und begründen, dass sich im Laufe der zunehmenden die Rodung größtenteils abgelehnt wurden Mediatisierung des Protestes die kollektiven Akti- (Wichmann 2018). onen im Hambacher Forst diversifizierten. An ei- Der 6. Oktober 2018, der „Aktionstag“ gegen nigen Protestaktionen, wie etwa am Aktionstag die Rodung des Hambacher Forsts, verzeichnete des 6. Oktobers 2018, beteiligte sich eine Vielzahl eine verstärkte polizeiliche Twitter-Nutzung, bei von Menschen, die nicht zwingend zum nahen der es vor allem zu der beschriebenen Gegen- Umfeld der Waldbesetzer*innen zählten. Unter überstellung von besorgter Polizei und leichtsin- den Teilnehmenden fanden sich zivilgesellschaft- nigen Aktivist*innen kam. Abgeleitet werden liche Gruppen wie Greenpeace,11 aber auch Ver- kann daher, dass die Polizei die zuvor beschriebe- treter*innen politischer Parteien wie die Grü- nen Bilder des Gefahrengebietes und der gewalt- nen.12 bereiten Aktivist*innen nicht als hegemoniale Der Protest beschränkte sich also nicht länger Lesart der Proteste etablieren konnte. Um ihr Ein- nur auf eine bestimmte klar abgrenzbare „Szene“, greifen in das Protestgeschehen nicht nur recht- sondern wurde von einer breiten Öffentlichkeit lich, sondern auch weiterhin öffentlich zu legiti- getragen. Dazu passte, dass Umfragen zufolge mieren, musste sie auf andere tragfähigere Nar- auch ein immer größer werdender Teil der Bevöl- rative ausweichen. In diesem Sinne sind also nicht kerung die Rodung des Hambacher Forstes ab- nur die Proteste und die polizeilichen Gegenmaß- lehnte (Wichmann 2018).13 Auch der am 5. Okto- nahmen selbst als zentrale Aushandlungsorte von ber 2018 durch das Oberverwaltungsgericht Hegemonie zu verstehen, sondern auch die pro- Münster verkündete vorläufige Rodungsstopp testbegleitende und sich an das materielle Ge- kann als ein Faktor gewertet werden, der die Ab- schehen anpassende Twitter-Nutzung. schwächung des Gefährder*innennarrativs be- Eine weiteres wiederkehrendes Narrativ war günstigte. Das Oberverwaltungsgericht verkün- das der beschützenden Polizei, welches auch in dete den vorläufigen Rodungsstopp mit Verweis Gegenüberstellung mit dem Bild leichtsinniger auf eine zu diesem Zeitpunkt noch laufende Aktivist*innen auftrat und sich ebenfalls vor al- Klage, die der Bund für Umwelt und Naturschutz lem auf Tage konzentrierte, an denen besondere e.V. Nordrhein-Westfalen (BUND NRW) gegen die Ereignisse stattfanden. An Tagen also an denen Rodung des Hambacher Forstes eingereicht Aktivist*innen und Polizei in besonderem Maße hatte. Der BUND NRW klagte gegen die Rodung aufeinandertrafen und die medial stark begleitet mit Verweis auf Umwelt- und Artenschutz. Das wurden, wie zum Beispiel zu Beginn der Räumung Oberverwaltungsgericht kam zu dem Entschluss, am 13. September, am Tag der Großdemonstra- dass eine Rodung des Forstes durch die Schaffung tion am 6. Oktober oder auch bei der Räumung vollendeter Tatsachen einer Überprüfung dieser der Hausbesetzungen in Manheim am 25. Okto- Bedenken unmöglich mache. Die Überprüfung ber. Dabei inszenierte sich die Polizei nicht zwin- auf Umwelt- und Artenschutz müsse erst erfol- gend als Beschützerin einer bestimmten Gruppe. gen, bevor eine eventuelle Rodung fortgesetzt In einigen Fällen trat sie jedoch explizit als Be- werden könnte.14 schützerin der RWE-Mitarbeitenden, behördli- Im Zuge der wachsenden Unterstützung für cher Vertreter*innen sowie als Beschützerin der die Besetzer*innen des Hambacher Forstes nahm Aktivist*innen auf. die mediale Darstellung der Proteste durchaus _____ 11 13 Aufruf von Greenpeace zur Demonstration am 6. Umfrage zur Rodung des Hambacher Forstes: Oktober: https://www.greenpeace.de/ter- https://www.campact.de/wp-content/uplo- mine/hambacher-wald-grossdemo-am-6-okto- ads/2018/10/Emnid-Umfrage-NRW-Hambacher- ber/06102018-kerpen-buir Forst.pdf 12 14 Aufruf der Partei „Die Grünen NRW“ zur De- Pressemitteilung des Oberverwaltungsgerichts monstration am 6. Oktober: https://gruene- NRW zum vorläufigen Rodungsstopp: nrw.de/termin/grossdemo-am-hambacher-wald/ https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/presse- mitteilungen/01_archiv/2018/46_181005/index.php 14
In dem beschriebenen Fall vermischte sich das Ziel der Verhaltensbeeinflussung mit der Kon- struktion bestimmter demoralisierender/emotio- nalisierender Narrative, beziehungsweise von Werturteilen. Dies mag auch bei klassischen Mit- teln der taktischen Kommunikation, wie Ansagen über Lautsprecher, der Fall sein, jedoch erreicht Twitter nicht nur Personen vor Ort, sondern auch weitere Teile der Öffentlichkeit. Die Twitter-U- ser*innen, ob nun Journalist*innen oder Bür- Abbildung 8: Appell / Infragestellung der Aktivist*innen ger*innen, bekamen so eine ganz bestimmte Per- spektive geboten, welche auf Fehlverhalten der In den Tweets, in denen die Aktivist*innen als ge- Aktivist*innen schließen ließ und zugleich die ge- waltbereit und leichtsinnig markiert wurden, nannten Narrative transportierte, ohne dabei konnte auch beobachtet werden, wie Appelle an selbst vor Ort gewesen zu sein. Zwar bringen auch die Aktivist*innen formuliert wurden. So rief die Aktivist*innen bei Protesten ihre Perspektive Polizei Aachen via Twitter etwa dazu auf, den po- über Twitter an die Öffentlichkeit, jedoch ist zu lizeilichen Anweisungen zu folgen und sich fried- bedenken, dass die Polizei über Jahre hinweg auf lich zu verhalten, wie in Abbildung 8 zu sehen ist. hohe Vertrauenswerte innerhalb der deutschen In dem Beispiel ist der appellative Charakter des Bevölkerung zurückschauen kann und so eine Tweets und die Kennzeichnung der Aktivist*innen machtvolle Sprechposition einnimmt (Jarolimek als gewaltbereit an der Formulierung „Wir appel- 2019, 181). Mit der Infragestellung der Glaubwür- lieren: Verzichten Sie auf jegliche Gewalt“ zu er- digkeit der Protestform und der Protestziele kennen. Weiterhin wird in dem Tweet auch die In- nahm die Polizei Aachen eine eindeutige politi- fragestellung der Glaubwürdigkeit und der Ziele sche Wertung der Ereignisse vor. Damit erfüllte der Aktivist*innen durch die Formulierung „Die die Polizei hier, nach Gramsci, klassische Funktio- Natur schützen zu wollen, aber Menschen zu ver- nen der zivilen Gesellschaft, die über ihren nor- letzen, passt nicht zusammen“ deutlich. mativen Charakter als Teil der politischen Gesell- schaft hinausgehen. Abbildung 9: Positive Eigendarstellung 15
Fernab des Protestes vergessen, lasst Ihr alles stehen und liegen, hockt Euch hin und beantwortet ihm all seine Fragen, Die positive Eigendarstellung der Polizei auf Twit- stillt seine Neugier und unterhaltet Euch mit ihm ter erfolgte zudem auch durch Posts, die nicht im- und als wäre das alles nicht schon großartig ge- mer in direktem Zusammenhang mit dem Pro- nug, bekommt er einen Teil Eurer Verpflegung ge- testgeschehen standen. So zitierte die Polizei auf schenkt“ wurde das Narrativ der Polizei in der Op- Twitter etwa einen Facebook-Post, der nicht das ferrolle gestärkt. Zugleich wurden Polizist*innen Protestgeschehen selbst beschrieb, sondern ei- als Bürger*innen-nahe Held*innen präsentiert, nen privaten Meinungsbeitrag zum Polizeieinsatz die sich trotz ihrer hohen Belastung Zeit für die und den Protesten im Hambacher Forst dar- Anwohner*innen nahmen. Dieses Bild der Polizei stellte. Versehen wurde dieser Tweet mit dem setzte der Kritik am Polizeieinsatz eine positive Er- Hashtag #HambacherForst. Bei dem Tweet han- zählung gegenüber. Die Anwohner*innen wurden delte es sich um einen Facebook-Post, in dem durch den Post als Verbündete der Polizei skiz- eine Anwohnerin eine Begegnung mit Polizist*in- ziert und der Einsatz so indirekt als Wahrneh- nen beschrieb (Abbildung 9). Die Anwohnerin mung bürgerlicher Interessen legitimiert. schilderte darin, wie sie mit ihrem Sohn beim Bä- ckereibesuch auf einige Polizist*innen traf und Schuldzuweisungen diese sich Zeit nahmen, ihrem Kind seine Fragen zu beantworten. Weiterhin beschrieb sie, dass die Polizist*innen dem Kind ein Brötchen schenkten – ein echtes „Polizeibrötchen“ wie sie es im Post nannte. Der Post war emotional stark aufgeladen, wie an Formulierungen wie „dass Ihr trotz all dem, was Ihr jeden Tag aushalten müsst, es im- mer noch schafft, kleine Menschen so glücklich zu machen“ deutlich wird. Dies diente weder der Verbreitung von Informationen zum Protestge- Abbildung 11: polizeilicher Tweet wenige Minuten später schehen noch der Verhaltensbeeinflussung von Beteiligten, sondern der positiven Hervorhebung Auch zu dem Unfall am 19. September 2018, bei der Polizeiarbeit selbst. Zudem kann angenom- dem der Journalist Steffen Meyn tödlich verun- men werden, dass die Polizei sich durch diese glückte, informierte die Polizei (Kreuzfeldt 2018). Darstellung und den entsprechenden Retweet als Bezüglich des Unfalls veröffentlichte die Polizei Bürger*innen-nah präsentieren wollte. Auch aber nicht nur informierende und wertfreie wenn der Tweet nicht das Protestgeschehen be- Tweets, wie zum Beispiel über die Ankunft des schreibt, wurde er durch den Hashtag #Hambach- Rettungshubschraubers, sondern auch wertende erForst gekennzeichnet, die Verbindung zum po- Tweets. So kam es kurz nach dem Unfall zu An- lizeilichen Einsatz wurde also bewusst hergestellt. schuldigungen gegenüber der Polizei, gegen die sie sich unter anderem auf Twitter zur Wehr Der Tweet reihte sich so in die positive Eigen- setzte (Abbildung 10). beschreibung des polizeilichen Einsatzes ein. Durch Beschreibungen wie „und als hättet Ihr all In einem Tweet vom 19. September erklärte den Stress, all den Ärger, all die Angriffe und Be- die Polizei, dass zum Zeitpunkt des Unfalles keine schimpfungen und all die langen Tage und Nächte polizeilichen Maßnahmen am entsprechenden Baumhaus, in dem sich der Verunglückte aufhielt, stattgefunden hatten. Aber die Polizei demen- tierte die Anschuldigungen nicht nur, sondern veröffentlichte nur wenige Augenblicke später ei- nen weiteren Tweet (Abbildung 11), in dem sie die Protestierenden zur Besonnenheit aufrief, da diese sich und andere in Lebensgefahr bringen Abbildung 10: Polizei zum Unfall am 19. September 2018 würden. Im Kontext des Unfalles und des zuvor 16
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