VON DER HEIMARBEIT INS HOMEOFFICE - Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt? - Mitbestimmungsportal
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REPORT Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 VON DER HEIMARBEIT INS HOMEOFFICE Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Rolf Paprotny AUF EINEN BLICK – Paprotny beschreibt Ähnlichkeiten zwischen – Die Motive und Arbeitsformen im Homeoffice Heimarbeit damals und Homeoffice heute. Er unterscheiden sich heute sehr von damals, sie verdeutlicht Widersprüche in der aktuellen De- sind verschieden und individuell. Aber die Aus- batte um das Homeoffice und zeigt auch auf einandersetzung um soziale Absicherung und prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen, die gute Arbeitsbedingungen abhängig beschäftig- nicht neu sind. ter Menschen ist geblieben. – Ungewöhnlich ist seine Perspektive. Die Streit- – Diese Streitschrift ist ein Plädoyer dafür, ganz schrift wirft einen frischen Blick zurück in die genau hinzuhören, wenn man über das Home- frühe Zeit der Industrialisierung und fragt: Was office diskutiert. hat Heimarbeit von damals mit uns heute zu tun? Und was können wir aus diesem Blick in die Geschichte womöglich lernen? Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 1
VORWORT Was meinen wir, wenn wir heute vom Homeoffice die Betriebskosten wie Heizung, Licht und Nähzu- sprechen? Prekär arbeitende Menschen ohne so- taten selbst zu tragen hatten: sogar ihre Nähma- ziale Sicherung? Überlastete Eltern, die während schinen mussten die Arbeiterinnen und Arbeiter der Corona-Pandemie am Küchentisch ihren Job kaufen. Notebooks werden heute zur Verfügung machen? Gelassen wirkende Führungskräfte, die gestellt und die sehr prekäre Lage der Textilarbei- weniger Zeit auf der Autobahn verbringen müssen? terinnen und -arbeiter vor 150 Jahren lässt sich Beschäftigte, die froh sind, nicht mit überfüllten sicher nicht mit unseren modernen Homeoffice- Bussen und Bahnen zu fahren? Digitale Nomaden, Arbeitsplätzen in westlichen Industriestaaten ver- die egal wo auf der Welt im Homeoffice sind? Ja, gleichen. Aber auch moderne Clickworker arbei- all das ist Homeoffice und mobiles Arbeiten im 21. ten auf Internetplattformen ohne soziale Absiche- Jahrhundert. rung zu meist sehr geringen Entgelten. Das Homeoffice boomt. Nicht zuletzt die Corona- Zugleich ist das moderne Homeoffice heute Pandemie hat die Arbeit von zu Hause für sehr viele ein Status mit Freiheitsgraden, den – zumindest Beschäftigte erst ermöglicht. Viele Unternehmen bis zu Beginn der Pandemie – meist höher Qua- schaffen Hardware an, insbesondere für Personal, lifizierte und Führungskräfte in Unternehmen für das bis dahin nicht Zuhause arbeiten sollte. Wer sich in Anspruch nehmen konnten: keine Kont- frühzeitig eine geregelte Struktur im Unternehmen rolle, bessere Work-Life-Balance. Eine völlig neue oder in der Verwaltung hatte, musste nicht über Ausprägung der Arbeitsorganisation zeigt sich bei Nacht Verfahren einführen, sondern konnte auf ver- weltweit mobil arbeitenden digitalen Nomaden: einbarte Regelungen zurückgreifen. Gute Beispiele Egal wo auf der Welt man sich gerade aufhält, aus Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen tru- man kann seinen Job erledigen. Das ist ganz gen in dieser Zeit sehr zur Versachlichung der Dis- sicher eine Frage der Tätigkeit, aber auch des kussion bei. Mitbestimmung zahlt sich aus. Lebensgefühls. Was ist positiv an diesem Homeoffice-Trend? Eines hat sich in den Jahrhunderten nicht ver- Welche Entwicklungen sind eher problematisch? ändert: Der Kampf um die soziale Absicherung Welche Rahmenbedingungen sind förderlich, wel- von abhängig beschäftigten Menschen. Die che hinderlich? Darüber wird nach wie vor gestrit- Bandbreite an Motiven ist groß und die Diskus- ten. Ungewöhnlich ist die Perspektive, die Ralf Pap- sion um die Zukunft des Homeoffice nach der rotny in unserem aktuellen Mitbestimmungsreport Pandemie ist in vollem Gange. Gute Arbeit fern als Beitrag zu diesem Diskurs wählt. Er wirft mit vom Büro gibt es durch Mitbestimmung und Ta- seiner Streitschrift einen frischen Blick zurück in die rifverträge. Das sind wichtige Beiträge für einen Frühzeit der Industrialisierung und fragt sich und die gerechteren Übergang in der Transformation. Leserschaft: Was hat Heimarbeit von damals mit uns heute zu tun? Und was können wir aus diesem Wir wünschen eine anregende Lektüre! Blick in die Geschichte womöglich lernen? Paprotny beschreibt das Widersprüchliche der Dr. Norbert Kluge „Heimarbeit“ – damals und heute. Er zeigt auf die Wi- ehemaliger Geschäftsführer der dersprüche in der aktuellen Debatte um das Home- Hans-Böckler-Stiftung office. Für Arbeitgeber der frühen Textilindustrie war Heimarbeit höchst attraktiv: Das notwendige Dr. Manuela Maschke Betriebskapital war gering, weil die Beschäftigten Referatsleiterin im I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 2
IST DIE ARBEIT ZU HAUSE AM SCHÖNSTEN? Dieser Eindruck drängt sich jedem förmlich auf, ” Der Arbeitgeber hat den Beschäftigten im der einen flüchtigen Blick wirft auf die Vielzahl von Falle von Büroarbeit oder vergleichbaren Tä- Befragungen und Forschungsberichten des letzten tigkeiten anzubieten, diese Tätigkeit in deren Jahres zum Thema Homeoffice. Ihr Tenor scheint Wohnung auszuführen, wenn keine zwingenden eindeutig zu sein: Homeoffice als „Arbeitsplatz im betriebsbedingten Gründe entgegenstehen. privaten Wohnraum“ und als „Form der Arbeit von § 2 Absatz 4 der Verordnung zu Hause aus“, wie der Begriff im Duden definiert wird, sei nicht nur in Zeiten der Corona-Pandemie Diese Verpflichtung galt befristet bis Ende Juni ein längst fälliger und richtiger Schritt für alle Ar- 2021 und wurde nicht verlängert. beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht orts- Die Arbeit im Homeoffice wurde jedoch nicht wei- gebunden arbeiten müssten. tergehend geregelt. In keiner gesetzlichen Verord- Richtig sei der Schritt, weil er den Beschäftigten nung ist sie näher bestimmt. Dem Arbeitsschutz- viele Vorteile biete: Immer wieder verweisen Stu- recht ist dieser Begriff gänzlich fremd, obwohl die- dien etwa auf die bessere Vereinbarkeit von Beruf se Form der Arbeit heute ganz selbstverständlich in und Familie, den Wegfall von Fahrtzeiten und die aller Munde ist. Dies ist bemerkenswert und wirft flexiblere Einteilung von Arbeits- und Freizeit. Vie- viele offene Fragen auf. Geregelt ist die Arbeit von le Arbeitnehmende im Homeoffice zeichneten sich zu Hause aus lediglich in der 2016 novellierten Ar- durch höhere Arbeitszufriedenheit aus, da sie we- beitsstättenverordnung (ArbStättV) für die Telearbeit. niger Arbeitsunterbrechungen als im Büro erlebten Darin sind die Anforderungen des Arbeitsschutz- und und ihre zu erledigende Arbeit sinnvoller über den Arbeitszeitgesetzes ähnlich streng wie in den Un- Tag verteilen könnten. Sie zeigten zudem mehr Ein- ternehmen. Der Gesetzgeber spricht von Telearbeit, satzbereitschaft, seien sehr leistungsfähig und en- wenn der Arbeitgeber seinen Beschäftigten in ihren gagiert bei hoher Effizienz (vgl. BMAS 2015, DAK eigenen vier Wänden vollständige Arbeitsplätze ein- 2021, Lott 2020, Kunze/Hampel/Zimmermann 2020). richtet und diese ausstattet. Zu beachten sind da- Viele Beschäftigte wünschten sich daher, dass ihr bei u. a. die Punkte Unterweisung, Unfallversiche- Arbeitgeber nach der Corona-Pandemie grundsätz- rung, Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Erreichbarkeit, Ar- lich offen bleibt für mehr Arbeitszeit im Homeoffice. beitsumgebung, private Endgeräte, Datenschutz und Rund 70 Prozent von ihnen erhoffen dies laut einer Stromkosten. Studie des bayerischen Forschungsinstituts für di- Der Begriff der Telearbeit klingt heute bereits an- gitale Transformation (vgl. bidt 2020). Doch sie be- tiquiert. In der deutschen Fachliteratur wurde er je- fürchteten gleichzeitig, dass ihre Arbeitgeber die- doch erst 1982 erstmals benutzt, als die aufkom- se Möglichkeit wieder stark einschränken werden. mende Informations- und Kommunikationstechnik Denn in den Büros setze man Produktivität mit An- (IKT) die bestehenden, mit der Industrialisierung ver- wesenheit gleich. Vor Ort funktioniere die Kontrolle bundenen Strukturen in den Unternehmen und so- durch Vorgesetzte besser und schaffe die Arbeit kla- gar in den Verwaltungen des öffentlichen Dienstes re Orientierung und unmittelbare Vergleichbarkeit. radikal umwälzten. Dank der IKT und insbesondere Die Arbeit im Homeoffice ist nicht erst seit der Co- dank des weltweiten Internets ließen sich dezent- rona-Pandemie für viele Arbeitnehmerinnen und Ar- rale Rechner miteinander vernetzen. Bahnbrechend beitnehmer eine längst eingeübte Praxis. Ein Drittel veränderte dies Raum und Zeit – und Arbeit. Letzte- der Unternehmen in Deutschland bot bereits 2015 re konnte jetzt wieder – wie in vorindustrieller Zeit – seinen Beschäftigten diese Möglichkeit an; bei gro- aus den Unternehmen ausgelagert werden, häufig ßen Unternehmen mit über 500 Angestellten war es begleitet von einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten. sogar die Hälfte (vgl. BMAS 2015). 12 Prozent aller Üblicherweise werden drei Formen von Telearbeit abhängig Beschäftigten nutzten diese Möglichkeit unterschieden: bereits, indem sie überwiegend oder gelegentlich von zu Hause aus arbeiteten (vgl. Brenke 2016). In Teleheimarbeit der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr Bei der Teleheimarbeit verrichten die Beschäf- 2020 waren es dann über 40 Prozent aller Berufs- tigten ihre gesamte Arbeit sozusagen als Heim- tätigen, die zumindest ab und zu im Homeoffice ar- arbeit im eigenen Zuhause, möglichst in einem beiteten (vgl. bidt 2020). separaten Arbeitszimmer. Ein Arbeitsplatz in den Hat Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Räumen ihres Arbeitgebers steht ihnen nicht zur Soziales, also alles richtig gemacht mit seiner SARS- Verfügung. Von zu Hause aus können ganze Pro- CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) duktionsvorgänge mit höchst unterschiedlichen vom 21. Januar 2021? (vgl. BMJV/BfJ 2021) Sie re- Qualifikationsanforderungen erledigt werden, gelt verbindlich und unmittelbar, dass jeder Arbeit- z. B. Textverarbeitung, Softwareentwicklung oder geber seinen Beschäftigten künftig anbieten muss, Dateneingaben. von zu Hause aus zu arbeiten, sofern ihre Tätigkeit es zulasse. Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 3
Alternierende Telearbeit HEIMARBEIT IM DEUTSCHEN stellt eine Mischform dar, bei der abwechselnd zu Hause oder im Unternehmen gearbeitet wird. KAISERREICH: IDYLL ODER ELEND? Meist stellt das Unternehmen dafür einen Büro- Die Heimarbeit als eigenständige Erwerbsform ist platz, den mehrere Angestellte zu unterschied- älter als die Industrialisierung. Sie lässt sich bis ins lichen und untereinander abgestimmten Zeiten 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Über Jahrhunderte nutzen. war die Einheit von Haus und Gewerbe der Normal- fall. Man unterschied daher auch nicht zwischen Heim- und Arbeitsstätte. Mobile Telearbeit Wenngleich sie uns heute (noch) als selbstver- Die Möglichkeit der mobilen Telearbeit nehmen ständlich erscheint: Die Trennung von Arbeit und insbesondere Berufsgruppen in Marketing, Ver- Privatleben begann erst mit der industriellen Revo- trieb, Kunden- und Unternehmensberatung wahr, lution. Ihre bahnbrechenden Erfindungen – Dampf- die häufig an wechselnden Arbeitsorten zu tun maschine, Spinnmaschine und mechanischer Web- haben. Dabei besteht durch die neuen Techni- stuhl – führten Ende des 18. Jahrhunderts zunächst ken ein Fernzugriff auf die IT-Infrastruktur des in England zu großen gesellschaftlichen Umwälzun- Arbeitgebers. gen, bevor im 19. Jahrhundert die Folgen auch in Deutschland immer stärker sichtbar wurden. Zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts stieg Deutschland zu ei- Arbeiten im Homeoffice ist für den Gesetzgeber keine ner der führenden Industrienationen der Welt auf. Telearbeit. Er wertet diese heutige Form des „Heim- Wie im Zeitraffer veränderte sich das Leben der büros“ als mobiles Arbeiten, auch wenn es nur in der Menschen binnen weniger Jahrzehnte völlig. Sicht- eigenen Wohnung stattfindet und in Pandemiezeiten barstes Zeichen war die Umwandlung der Jahrhun- stattfinden soll. Dies ist insofern irreführend, als das derte alten statischen Agrargesellschaft in die ruhe- Kennzeichen mobiler Arbeit insbesondere ihre Flexi- und rastlose Industriegesellschaft unserer Zeit. Leb- bilität ist. Mobile Beschäftigte sind an keinen festen ten noch 1830 etwa 80 Prozent der deutschen Be- Arbeitsplatz gebunden; sie können an jeden beliebi- völkerung von der Landwirtschaft, war es 50 Jah- gen Ort arbeiten – unterwegs, bei Freunden oder in re später nur noch die Hälfte (Müller 2002, S. 169). einem anderen Land. Der Preis dafür: Mobiles Ar- Überall im Deutschen Kaiserreich wuchsen in ei- beiten ist in keiner gesetzlichen Verordnung geregelt. nem kaum für möglich gehaltenen Tempo in we- Da das coronabedingte Arbeiten von zu Hause aus nigen Jahren Fabrikanlagen empor, entwickelten nur für beschränkte Zeit gedacht ist, wird es vom sich aus einst winzigen Dörfern Industrieregionen Gesetzgeber ebenfalls als mobile Arbeit angesehen. wie z. B. das Ruhrgebiet und setzte eine industriel- Ob das Heimbüro zukünftig mehr sein sollte als le Massenproduktion ein, die dem früheren Hand- nur eine Übergangslösung, ist eine ernsthaft zu dis- werk mit seiner Einzelanfertigung so gut wie keinen kutierende Frage. Ist es wirklich erstrebenswert, das Raum mehr ließ. Die Folge war eine Binnenbewe- Homeoffice als feste Einrichtung zu etablieren? Auch gung unvorstellbaren Ausmaßes: Tausende arbeits- die Arbeit zu Hause hat stets ein zweites Gesicht, los gewordener Handwerksgesellen strömten eben- wie der folgende Einblick in die Arbeits- und Lebens- so wie besitzlose Landarbeiter und verarmte Klein- situation von Arbeitern, zumeist Arbeiterinnen der bauern Tag für Tag in die Fabriken und in die wach- Bekleidungs- und Textilindustrie im Deutschen Kai- senden Städte wie Berlin, Hamburg und Leipzig. serreich eindrücklich zeigt. Das Leben aller Bevölkerungsschichten schien sich gewandelt, nahezu auf den Kopf gestellt zu ha- Infobox 1 ben. Doch es gab Ausnahmen – eine davon war die Heimarbeit. Hoch blieb im Deutschen Kaiserreich die Zahl der Erwerbstätigen, die in der Hausindus- SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung trie im Auftrag eines Arbeitgebers in ihrer eigenen Wohnung allein oder mit Hilfe von Familienangehö- des Bundesministerium für Arbeit und Sozia- rigen arbeiteten. Sicherlich überstieg sie in den letz- les, (Corona-ArbSchV) vom 21.01.2021 ten beiden Jahrzehnten des Deutschen Kaiserreichs zur Verordnung die Millionengrenze ganz beträchtlich (Kuczynski 1968, S. 175). Das Hauptgewerbe der Hausindustrie war die Tex- Telearbeit und Mobiles Arbeiten til- und hier vor allem die Bekleidungsindustrie. In Großstädten wie Berlin und anderen wachsenden Sachstand Städten im Deutschen Kaiserreich erlebte sie eine Voraussetzungen, Merkmale und rechtliche wahre Blütezeit. Überwiegend waren es Frauen, die Rahmenbedingungen dort ihr Einkommen suchten. Der Grund dafür dürfte zum Sachstand nicht nur in der Erfindung der Nähmaschine gelegen haben, sondern auch in den flinken Fingern der Nähe- rinnen (Ritter/Tenfelde 1992, S. 213). Doch die Haus- Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 4
industrie war damals nicht nur in der Konfektion und te Zwischenmeister oder Lohngewerbetreibende ein, im Reinigungsgewerbe stark vertreten, sondern auch heute vergleichbar mit Subunternehmen. Sie über- in der Spielwarenherstellung, im Musikinstrumenten- nahmen die Herstellung von Musterstücken und den bau, im Uhrmachergewerbe, in der Korbflechterei Zuschnitt der zu ordernden Waren. Um sich dabei sowie in der Tabak- und Zigarettenfabrikation. selbst einen möglichst großen Gewinn zu sichern, Für die Arbeitgeber war diese Form der Arbeit setzten sie „in gegenseitiger Konkurrenz unterein- höchst attraktiv: Ihr eigenes notwendiges Betriebs- ander“ (Karpf 1980, S. 32) die von ihnen Beschäftig- kapital war gering, weil die Beschäftigten selbst die ten stark unter Druck. Betriebskosten wie Heizung, Licht und Nähzutaten Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen trugen. Das notwendige Arbeitswerkzeug stellten waren damals und sind heute nur möglich, wenn die Hausindustriellen stets selbst. Wer als Näherin verbindliche Kollektivvereinbarungen für den Ar- einen Auftrag übernehmen wollte, musste sich eine beitsmarkt galten bzw. heute gelten – da der Ar- verhältnismäßig teure Nähmaschine anschaffen. In- beitsmarkt kein Markt wie jeder andere ist, bildet vestitionen, wie andere Arbeitgeber sie unausweich- dies einen unverzichtbaren Schutz für abhängig lich aufbringen mussten, etwa für Gebäude- und Ma- Beschäftigte. Denn sie sind strukturell gegenüber schinenkosten, entfielen damit. Den Arbeitsschutz- ihrem Arbeitgeber im Nachteil: Sie brauchen für bestimmungen der Betriebe konnten sie sich entzie- ihre Arbeit einen anständigen Lohn, der ihnen ihre hen, ebenso den Lasten der Arbeiterversicherung. Existenz sichert. Ohne Tarifverträge müssten sie Denn diese Regelungen galten nicht für Selbstän- in Krisenzeiten zu unzumutbaren Löhnen und Ar- dige wie Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter. Die beitsbedingungen arbeiten. Doch während seit den Heimindustrie lebte zumindest bis Ende des Ersten 1890er Jahren die Gewerkschaftsbewegung nach Weltkrieges in einer behaglichen Nische, die ihr die Aufhebung des Sozialistengesetzes wieder aufblüh- schnell wachsende Industrialisierung ließ. te, fand sie ausgerechnet in der Heimindustrie so gut Die Lage vieler Heimarbeiterinnen und Heimar- wie keine Resonanz. beiter war eine ganz andere. Sie war erbärmlich: Die Einer der Gründe dürfte in der Isolierung der Arbeitszeiten waren elend lang. Um den Lebensun- Heimarbeiterinnen gelegen haben. Im Gegensatz zu terhalt halbwegs sichern zu können, waren 14 bis ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern in den Fabri- 15 Stunden Arbeit am Tag (werktags wie sonntags), ken gingen sie ihrer Beschäftigung fernab in den ei- oft auch 17 bis 18 Stunden notwendig. Überlange genen vier Wänden nach. Ein Austausch über Löhne Arbeitstage waren auch insofern geboten, als Heim- und Arbeitsbedingungen war nur schwer möglich. arbeit häufig Saisonarbeit war (vgl. Karpf 1980). Die Die Arbeitszeiten waren zudem nahezu unerträglich Einkommen deckten dabei kaum das Existenzmi- lang. Woher sollten die Frauen die Zeit nehmen, sich nimum. Von anständigem Lohn zu sprechen, von zu organisieren? Woher sollten sie die Kraft noch ha- dem man sich selbst und seine Familie gut ernäh- ben, sich neben ihrer Dreifachbelastung durch Er- ren hätte können, wäre höhnisch (vgl. Beier 1983, werbs-, Haus- und Erziehungsarbeit in freien oder Hindenburg 2018). christlichen Gewerkschaften zu engagieren? Ein weiteres Übel waren die Wohnungen: Sie Ihre besonderen Schwierigkeiten bringt stellver- waren nicht nur in den berühmt-berüchtigten Ber- tretend für viele andere folgende Äußerung eines liner Mietskasernen verheerend, sondern auch in Zeitgenossen auf den Punkt: idyllischen Gegenden wie im Erzgebirge: erbärm- lich eingerichtet, viel zu klein und häufig noch durch Untermieter, sogenannte Bettgeher, zusätzlich über- belegt. Dass viele Heimarbeiterinnen unter diesen ” Heimarbeiter, besonders Heimarbeiterinnen zu organisieren, ist freilich eine schwierige, fast unüberwindbare Aufgabe; denn wenn es über- widrigen Umständen vermehrt unter Erkrankungen haupt schwer ist, Frauen für den Organisations- wie Durchblutungsstörungen, Augenleiden, Bleich- gedanken zu gewinnen, wie viel schwerer ist es, sucht, Magenbeschwerden und Unterleibserkran- wenn diese Frauen auf dem Tiefstand materieller kungen litten, überrascht nicht. Gedrücktheit stehen, wenn auch der geringste Für ihre elende Lage lässt sich aber nicht nur Beitrag einen empfindlichen finanziellen Abbruch das sogenannte Verlagssystem verantwortlich ma- der allzu kargen Einnahmen darstellt, wenn chen, treffend auch „Schwitzsystem“ genannt: Die Heimarbeiterinnen in allen Winkeln einer Groß- in Heimarbeit Beschäftigten erhielten von Firmen stadt zerstreut, einander unbekannt, jede in ih- und Fabriken Arbeitsaufträge für die Herstellung rem Heim tagein tagaus über ihre Arbeit sitzt. von Waren, z. B. von Kleidung. Dabei legten die Un- zitiert nach Beier 1983, S. 156 ternehmer Größe, Verarbeitung, Menge und Ab- gabetermin fest und stellten die zu verarbeitenden Sich als Arbeitnehmerin gewerkschaftlich zu or- Rohstoffe für die Produkte zur Verfügung. Da die- ganisieren, blieb vielen Frauen auch noch aus einem se Arbeitgeber früher zutreffend „Verleger“ genannt anderen Grund fremd. Ihre Ehemänner, Väter und wurden, etablierte sich für diese Art der Organisati- Brüder wehrten sich dagegen. Sie sahen es als ihr on und Produktion die Bezeichnung Verlagssystem. „Herrschaftsgebiet“ an, nicht nur Haupternährer zu Ein Teil der Firmen und Fabriken vergab die Aufträge sein, sondern auch ihre Familie in der Öffentlichkeit an Dritte nicht selbst, sondern schaltete sogenann- sichtbar zu machen. „ Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 5
” Diese Vereinnahmung der öffentlichen Prä- sentation findet gerade in der gewerkschaftlichen Organisation ihren krassesten Ausdruck. Ge- musste der Regierung und dem Reichstag „ledig- lich“ noch ein sozial verträglicher Kompromiss ab- gerungen werden. Aber dazu kam es nicht. Die Ge- werkschaftliche Organisation war das Vorrecht setzgebung trat auf der Stelle. Es fehlte dafür der des Mannes, gehörte zu seiner Domäne, in der organisierte Widerstand der Betroffenen und der or- er der Frau jegliche Kompetenz streitig machte. ganisierte Arbeitskampf für bessere Arbeitsbedin- Beier 1983, S. 159 gungen (vgl. FES 2000). So blieb es bei der moralischen, aber ohnmäch- Ohne gewerkschaftliche Interessenvertretung tigen Ächtung der Heimarbeit, die engagierte Ge- herrschte auf dem Arbeitsmarkt für Heimarbeite- werkschafter, Frauenrechtlerinnen und konservative rinnen daher uneingeschränkt das Marktgesetz von Sozialreformer im Deutschen Kaiserreich unermüd- Angebot und Nachfrage. Das heißt: Suchte eine gro- lich in Öffentlichkeit, Literatur und Untersuchungen ße Zahl von Frauen – tatsächlich waren es Heerscha- wiederholten. ren – Heimarbeit, ließ sich der Stücklohn so niedrig wie möglich festsetzen. Und die Nachfrage war so groß, weil auf die Heimarbeit kaum eine Arbeiter- familie verzichten konnte. Besonders in Familien, ” Die Hausindustrie ist allzu reich an Zügen, die uns zwar in der Großindustrie schon begegneten, dort aber gewissermaßen nur die ersten Sorgen- deren Männer Ungelernte, Tagelöhner oder Saison- falten des Antlitzes waren, während sie hier jenen arbeiter waren, war ein Zuverdienst ihrer Frauen un- tiefen Furchen gleichen, die ein Leben voll Qual den verzichtbar. Genauso notwendig war dies im Falle Gesichtern armer, alter Leute unauslöslich einge- von Arbeitslosigkeit oder Krankheit des männlichen prägt hat. Alles ist hier ins Ungeheuerliche vergrö- Haupternährers – für viele Familien damals ein stän- bert und vergrößert: die Niedrigkeit der Löhne, die dig drohender Schicksalsschlag. schlechten Wohnungen und Arbeitsstätten und ihre Ein weiterer Grund: Ihrem Selbstverständnis nach physischen und moralischen Folgeerscheinungen. verstanden sich Heimindustrielle auch nicht als „Pro- Braun 1979, S. 326 leten“, obwohl sie de facto wie proletarische Existen- zen lebten. Sie sahen sich vielmehr als Selbständige; Diese klassische Heimarbeit in der Bekleidungs- schließlich konnten sie ihre Arbeitszeiten und Pau- und Textilindustrie verlor – genauso wie in ihren an- sen, ihre Arbeitsgeschwindigkeit und viele Einzelhei-deren Gewerben – erst in der Weimarer Republik ten ihrer Arbeit selbst bestimmen. Diese Autonomie immer mehr an Bedeutung; in der Bundesrepublik war zwar angesichts ihrer gänzlichen Abhängigkeit war sie praktisch bis zum Aufkommen der Telearbeit von ihren Auftraggebern lediglich eine Illusion, aberin den 1980er Jahren vergessen (vgl. Walwei 2019). sie lebte fort. Daran änderten auch die Erfolge der Ihr Niedergang lag nicht nur am härter werdenden freien und christlichen Gewerkschaften für die ab- internationalen Wettbewerb und an der Maschini- hängig Beschäftigten in den Fabriken nichts. sierung und Automatisierung selbst vieler kleiner Produktionsvorgänge, sondern auch an den stei- ” In Wirklichkeit hat der in (Heimarbeit) be- schäftigte Arbeiter nebst seinen Angehörigen sämmtliche Uebel der Fabrikindustrie zu ertra- genden Arbeitskosten für die Arbeitgeber. Das Ge- schäftsmodell Heimarbeit rentierte sich einfach nicht mehr. Denn das Heimarbeitsgesetz vom 14. März gen, ohne deren Vorzüge und günstige Seiten. 1951 (vgl. BMJV/BfJ 1951) schützte erstmals Men- „Der Sozialdemokrat“, zitiert nach FES 2020 schen, die Heimarbeit ausübten: Es regelte die in der Heimarbeit üblichen Stückentgelte und Sonder- Die Strategie der freien Gewerkschaften zur Ver- zahlungen sowie Lohnuntergrenzen (Mindestlohn); besserung der Situation der Heimarbeiterinnen und zudem sicherte es die Heimarbeitsbeschäftigten ab: Heimarbeiter erwies sich zudem als wenig erfolg- bei Krankheit, Kurzarbeit, Kündigung und Insolvenz. versprechend. Fast 20 Jahre lang führten sie eine Bei Zuwiderhandlungen drohte den Unternehmen scharfe Kampagne gegen die Heimarbeit mit dem ein Ausgabeverbot. Ziel, sie per Gesetz zu verbieten und in „geordnete Betriebswerkstätten“ (zitiert nach Schöck-Quinteros Infobox 2 1998, S. 194) zu überführen – vergeblich. Wenig Einfluss besaßen auch die christlichen Ge- werkschaften mit ihren Gewerkvereinen. Deren Ziel Heimarbeitsgesetz war es, die Arbeits- und Lebenssituation der Heim- arbeiterinnen durch praktische Hilfen zu verbessern. vom 14. März 1951 Ein Verbot der Heimarbeit war für sie nie die Lö- Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 14 sung des Problems. Ganz im Gegenteil: Aus ihrer zum Gesetzblatt Sicht deckten sich die Interessen der Unternehmer mit denen der Heimarbeiterinnen, da Heimarbeit ih- nen als Mutter und als Ehefrau ihren Arbeitsplatz si- chere. Hausfrauen- und Mutterpflichten ließen sich gut mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren. Folglich Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 6
HOMEOFFICE HEUTE: ZUKUNFTSMODELL ODER RÜCKSTÄNDIGKEIT? Das Janusgesicht der Heimarbeit ist mit deren (vgl. DGB 2021). Wie hoch dieses Verdrängungspo- Bedeutungsverlust im 20. Jahrhundert nicht ver- tenzial ist, lässt sich derzeit empirisch noch schwer schwunden. Als Symbol für Zwiespältigkeit lebt beziffern. Dafür sind zu viele Effekte noch nicht er- es auch heute noch fort. Viele Parallelen drängen fasst oder schwer einzuordnen. Aber die Tendenz sich unübersehbar auf zwischen der „klassischen“ ist eindeutig: Die Plattformwirtschaft wächst seit Heimarbeit und dem modernen Crowdworking, auch Jahren geradezu sprunghaft – und zwar weltweit. Click- oder Cloudworking genannt. Gleichwohl wäre Vieles spricht dafür, dass der Arbeitsmarkt auch eine Eins-zu-eins-Übertragung vermessen. Die Lage künftig in diese Richtung weiterwächst. Er ist für Ar- der Heimarbeiterinnen war elendig, die der Platt- beitgeber einfach zu verführerisch! Die Entgelte für formbeschäftigten ist äußerst bedenklich. die geleistete Arbeit sind äußerst gering, zumindest Bei Crowdworking lagert ein Unternehmen über für die Masse der Crowdworker, Frauen wie Män- eine sogenannte Crowdworking-Plattform bestimm- ner. Für Mikroaufgaben werden meist nur ein paar te digitale Arbeitsschritte aus. Je nach Auftrag wer- Cent oder nur wenige Euros gezahlt. Zwei Drittel der den diese Aufgaben dann von einem oder mehreren Aufträge werden mit einem Honorar vergütet, das Crowdworker(n) bearbeitet. Danach führt die Platt- unter 1,99 Euro liegt. Da sich rund die Hälfte davon form die Arbeitsergebnisse wieder zusammen. innerhalb von 15 Minuten erledigen lässt, entspricht Überwiegend sind es Mikroaufgaben, Routine- dies einem Stundenlohn unterhalb des gesetzlichen und Unterstützungsarbeiten, für die sich eine Crowd Mindestlohnes. Das große Geld verdienen nur weni- (Masse) bewerben kann. Besondere Kenntnisse sind ge gesuchte Experten (vgl. Mai 2020). Dazu kommt: dabei nicht gefragt. Es sind meist reine Fleißarbei- Viele Aufträge sind schlecht planbar. Wann kommt ten, die im Prinzip jeder ohne besondere Kenntnisse welcher Auftrag? Wie lange dauert er? Gibt es Fol- ausführen kann: Produktdaten recherchieren und geaufträge? Damit ist das Einkommen pro Woche erfassen, kurze Texte schreiben, Bilder kategorisie- oder Monat höchst unsicher. Eine Planungssicher- ren, Adressen abtippen, Onlinefragebögen auszu- heit, wie sie Festangestellte haben, ist Beschäftig- füllen, kleinere Videoaufnahmen drehen, Apps und ten der Plattformökonomie fremd. Mit höheren Ent- Webseiten testen. Der Aufwand dafür ist gering; in gelten dürften auch zukünftig die wenigsten rech- wenigen Stunden, manchmal auch nur in Minuten nen können, da der weltweite digitale Arbeitsmarkt ist der Auftrag erfüllt. Entscheidend für die Auftrag- den Wettbewerb um Aufträge unermesslich ver- geber ist, dass in kürzester Zeit eine große Menge schärft. Mit immer gleicher Folge: Nur wer das kos- an Aufgaben erledigt werden kann. tengünstigste Angebot macht, erhält den Auftrag – Anders ist es, wenn komplexere Aufgaben (Mak- und alle anderen gehen leer aus! roaufgaben) von Plattformen bereitgestellt werden. Crowdworker – und dies ist entscheidend – be- Sie erfordern häufig Fachwissen und Kreativität. Eine sitzen nicht den Status „Arbeitnehmer“ mit abge- Zergliederung in möglichst kleine Arbeitsschritte, sicherten Arbeitnehmerschutzrechten. Die Plattfor- die in kürzester Zeit erledigt werden, ist dabei nicht men verstehen sich in keiner Weise als Unterneh- möglich. Es sind ganze, umfassende, vielschichtige men, sondern nur „als Vermittler von Dienstleis- Projekte. Allerdings sind sie vergleichsweise selten. tungen, die die Transaktion zwischen Auftragneh- Hier sind vor allem Programmierer, Grafikerinnen, menden und Auftraggebenden“ erleichtern (Kalk- Journalisten, Architektinnen sowie Designer ge- hake 2016, S. 55). Ihre Beschäftigten gelten daher fragt, die nicht nur gute, sondern optimale Lösun- als Soloselbständige – das heißt, sie arbeiten wie gen erstellen. ein Trapezartist ohne Netz: Im Krankheitsfall haben Der typische Beschäftigte der Plattformökonomie sie keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung; sie ken- ist jung, männlich, ledig, lebt in einer Großstadt und nen keinen Urlaubsanspruch, stehen bei einer Kün- ist gut ausgebildet. Ein deutlich überdurchschnitt- digung von Aufträgen ohne Schutz dar; ihr Auftrag- liches Bildungsniveau lässt sich aber anhand der geber zahlt für sie keine Sozialversicherungsbeiträ- vorliegenden Daten nicht feststellen – und dies ist ge. Gegen die Risiken von Alter, Erwerbslosigkeit auch für die überwiegenden Mikroaufgaben nicht und Krankheit müssen sie sich selbst versichern, so- erforderlich. Für die große Mehrheit ist Crowdwor- fern sie dazu finanziell überhaupt in der Lage sind. king ein Nebenverdienst. Wer Mikrojobs übernimmt, will oder muss vor allem zusätzlich Geld verdienen. Die Zahl der Beschäftigten, die in der Plattform- Infobox 3 ökonomie arbeiten, liegt laut Crowdworking-Monitor des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bei rund 4,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über Crowdworking Monitor 2018 18 Jahre in Deutschland (vgl. Serfling 2019). Dies entspricht knapp 3 Millionen Menschen. Und der Bundesministerium für Arbeit und Soziales Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erwartet, dass zum Monitor diese Zahl in den kommenden Jahren zulasten der bestehenden Arbeitsplätze deutlich ansteigen wird Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 7
Der Status „soloselbständig“ ist dabei keineswegs hinsetzt, damit er für dich arbeitet, und ihn dann immer erwünscht. Zwar ist es auf den ersten Blick nach den 10 Minuten zu feuern. Aber mit dieser verführerisch, den Zeitpunkt der Arbeitssuche auf Technologie kannst du tatsächlich jemanden finden, den Plattformen selbst zu wählen; selbst zu entschei- bezahlst ihm einen winzigen Geldbetrag und wirst den, welche Aufträge angenommen und wie sie in ihn dann los, wenn du ihn nicht mehr brauchst. den Alltag eingebunden werden. Die Vielfalt der Jobs zitiert nach Däubler/Klebe 2015, S. 1034 verspricht Autonomie und eine Menge Abwechslung in der Tätigkeit. Aber die Realität ist oft eine andere. Allzu große Hoffnungen, dass sich die Lage der Die Arbeit in der digitalisierten Wirtschaft ist häu- Crowdworker bald entscheidend verbessern wird, fig zwingend notwendig, um den Lebensunterhalt sollte sich keiner machen. Ausschlaggebend ist ihre mehr schlecht als recht zu sichern. Großteils sind strukturelle Unterlegenheit gegenüber dem Platt- es abhängig Beschäftigte und junge Menschen in formbetreiber. Ihm können sie nicht auf Augenhö- der Ausbildung und im Studium, die auf diesen Ne- he begegnen, da sie keinerlei Verhandlungsmacht benverdienst dringend angewiesen sind. besitzen. Sie stehen ja nicht unter dem Schutz des Die Arbeitsbedingungen in der Plattformökono- Arbeiternehmerstatus. Überwinden ließe sich diese mie sind dazu äußerst widrig. Die Autonomiespiel- Ohnmacht nur durch mehr Macht in Form von Mit- räume sind für die hier suchenden Arbeitskräfte bestimmung, unterstützt von Gewerkschaften und stark eingeschränkt. Sie sind einer umfassenden durch staatliche Regulierungen. Nur durch verbriefte Kontrolle ausgesetzt, wie sie Erwerbstätige in Fab- Schutzrechte für digitale Heimarbeit könnten Fakten riken und Büros heute nicht mehr kennen. Die Auf- geschaffen werden, die eine Verbesserung bringen. traggeber streben eine umfassende Sichtbarkeit ih- Erster Widerstand regt sich aber in der Politik und rer Arbeitskräfte an, aber ihre Kontrollsysteme blei- den Gewerkschaften. In der IG Metall und in der ben dabei weitestgehend unsichtbar. Verlangt wird Dienstleistungsgewerkschaft ver.di können Crowd- u. a. ein lückenloser Berufs- und Lebenslauf. Jede worker mit allen entsprechenden Vorteilen Mitglied abgeschlossene Arbeit wird streng hinsichtlich ih- werden. Die IG Metall hat darüber hinaus bereits rer Qualität überprüft. Wird sie abgelehnt, müssen 2015 die Plattform „Fair Crowd Work“ aufgebaut, die Korrekturen in Extraarbeit unbezahlt vorgenom- in der sie sich beraten lassen, vernetzen und ihre men werden, was den Lohn erheblich drücken kann. Auftraggeber bewerten können. Teilweise wird bei Mängeln auch einfach kein Geld für die gesamte Arbeit bezahlt. Wer eine qualitativ minderwertigere Arbeit ab- http://faircrowd.work/de/ liefert und damit von der vorgegebenen Norm ab- weicht, wird nicht etwa vom Unternehmen getadelt, sondern bekommt eine Abstufung im Ranking. Nach Beteiligt war die Gewerkschaft auch an der Über- welchen Kriterien diese Rankings und Reputations- arbeitung eines sogenannten Code of Conduct, ei- systeme berechnet werden, ist für Außenstehende nes Verhaltenskodexes, mit der sich große Plattfor- nicht einsehbar. Auf jeden Fall sind sie einseitig, damen in Deutschland, teilweise in Europa, freiwillig es an Transparenz und Einspruchsmöglichkeit fehlt. verpflichten, faire Standards für Arbeitsbedingun- gen zu schaffen und faire Bezahlungen zu leisten. ” „Ob Aufträge wegen einer allgemeinen Flaute ausbleiben, ob der Zuteilungsalgorith- mus damit frühere Leistungen sanktioniert Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hu- bertus Heil, legte am 27. November 2020 ein Eck- punktepapier vor, das Plattformen auffordert, sich oder ob er andere Crowdworker bevorzugt an der Alltagsvorsorge ihrer Beschäftigten zu be- und wenn ja, warum – all dies ist ungewiss. teiligen. Für Crowdworker soll eine „Beweislastum- Hans-Böckler-Stiftung 2020c kehr“ greifen: Nicht sie, sondern ihr Auftraggeber muss dann nachweisen, dass sie keine „Arbeitneh- Diese Intransparenz führt dazu, dass sich die mer“ sind. Weiter geprüft werden soll, ob für diese Plattformakteure selbst disziplinieren. Sie „geißeln“ Beschäftigten auch Urlaubsanspruch und Entgelt- sich selbst in der Hoffnung, dass ein regelkonformes fortzahlung im Krankheitsfall bestehen sollten. Ob Verhalten ihnen weitere Aufträge einbringt. Verstärkt aus diesem Papier tatsächlich ein Gesetzesentwurf wird ihre Anpassungsbereitschaft noch durch den wird, ist jedoch noch vollkommen offen. Druck ihrer zahllosen Mitbewerber auf den Platt- Der Widerstand aus der Plattformökonomie ist formen, die aus allen Ländern der Welt stammen groß. Ihr Geschäftsmodell des „selbständigen Auf- können. tragnehmers“ ist zu einträglich. Zu verlockend, da Lukas Biewald, CEO von CrowdFlower, eigener zu billig, Menschen ohne die Rechte, den Schutz Einschätzung nach die größte englischsprachige und die Leistungen als „Arbeitnehmer“ arbeiten zu Microtasking-Plattform, bringt die äußerst missli- lassen. Und je billiger die Arbeitskräfte, umso hart- che Lage unverblümt auf den Punkt: näckiger der Widerstand der Plattformunternehmen mit ihrer milliardenschweren Marktmacht. Wenn es ” Vor dem Internet wäre es richtig schwierig ge- aber nicht gelingt, Onlinearbeit fair zu entlohnen und wesen, jemanden zu finden, der sich für 10 Minuten zu regulieren, droht ein sozialer Rückschritt. Solch Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 8
missliche Arbeitsverhältnisse könnten zum Normal- trag bestimmen. Je strikter dieses Selbstmanage- zustand werden, zum digitalen Normalzustand für ment ist, desto weniger kommen Familie, Sport und die Masse der Beschäftigten weltweit. Sie wären Bewegung, Entspannung und Muße sowie Hobbys dann in einer ähnlichen Lage wie die Heimarbeite- zu kurz. Ob dies wirklich wünschenswert oder wo- rinnen im Deutschen Kaiserreich. möglich anmaßend ist, liegt in der Autonomie je- Die moderne Arbeit im Homeoffice zeigt aber des Einzelnen. So sinnvoll ein Arbeitsrhythmus mit auch viele Schattenseiten, die umso dunkler sind, festen Arbeitszeiten zu Hause für viele Beschäftig- wenn die Arbeit von Zuhause ungeregelt anstatt re- te vielleicht auch sein mag – er bleibt Makulatur, guliert ist; wenn sie nicht selbstbestimmt ist, son- solange die Arbeitgeber nicht mitspielen. Vertrau- dern als Sparmaßnahme der Unternehmen genutzt ensarbeit hat auch ein Janusgesicht. Nicht wenige wird und wenn sie zu einem Dauerzustand zu wer- Firmen vertrauen ihren Beschäftigten „großzügig“, den droht. wohlwissend, dass ihre Angestellten zu Hause eher Lobend wird häufig die größere Flexibilität her- mehr als weniger leisten – für sie „ein super Ge- vorgehoben. Doch flexible Arbeit braucht Grenzen schäft“ (Ceballos Betancur et al. 2020). –umso dringlicher, wenn es wie im Homeoffice kei- Im Mai 2019 setzte jedoch der Europäische Ge- ne räumliche Trennung zwischen Arbeit und Freizeit richtshof (EuGH) der Vertrauensarbeit Grenzen, in- mehr gibt. Wo fängt dann die Tätigkeit zu Hause an? dem er von den EU-Mitgliedstaaten verbindliche An- Wo hört sie auf? Ohne verbindliche Regeln besteht forderungen für die Arbeitszeiterfassung verlangt die Gefahr der Entgrenzung und Intensivierung der (vgl. EuGH 2019). Der Gerichtshof entschied, dass Arbeit. Selbstmanagement steckt oft voller Tücken: die Arbeitszeit von Angestellten dokumentiert wer- Zwar ist es verführerisch, selbstbestimmt zu arbei- den muss. Dazu muss die Bundesregierung jetzt ein ten; doch dies führt eher dazu, länger als notwen- Gesetz erlassen. Die große Herausforderung besteht dig am Schreibtisch zu sitzen, auf Pausen zu ver- darin, eine Balance zu finden zwischen Selbstbe- zichten, in den Abendstunden und oft auch noch stimmung, Flexibilität und Schutz vor Entgrenzung am Wochenende für das Unternehmen beschäftigt und Intensivierung der Arbeit. Hierbei handelt es zu sein. Die Menschen setzen sich selbst stark unter sich um eine Machtfrage: Wie soll sich die digita- Druck – und dies kann auf Dauer abträglich sein für le Arbeitswelt weiterentwickeln? Wie eng oder wie die Regeneration und damit für die Gesundheit der weit wird dieser gesetzliche Ordnungsrahmen für Beschäftigten. Der Jahresbericht 2020, herausge- selbstbestimmtes Arbeiten im Gesetz gezogen? Da- geben vom Institut DGB-Index Gute Arbeit (2020a), rüber streitet die Koalition aus CDU/CSU und SPD zeigt die widersprüchlichen Seiten des Homeoffice bereits seit Monaten. Für den DGB gehören dazu unmissverständlich auf: einerseits den überdurch- u. a. eine vollständige Arbeitszeiterfassung, eine schnittlichen Handlungsspielraum bei der Arbeits- Einhaltung der Arbeitszeitgrenzen, die Stärkung der gestaltung, andererseits die hohe Arbeitszeitbelas- Nichterreichbarkeit, ein wirksamer Arbeits- und Ge- tung, die eine gute Vereinbarkeit von Arbeit und sundheitsschutz sowie die Sicherung der Freiwillig- Privatleben sowie das Abschalten von der Arbeit un- keit seitens der Beschäftigten, ob sie überhaupt ins geheuer erschwert. „Arbeit im Homeoffice bedeu- Homeoffice gehen wollen. Aber wird dies der Deut- tet offenbar nicht automatisch einen Gewinn an Ar- sche Bundestag auch so beschließen? beits- und Lebensqualität“ (S. 39). Ebenso stellt sich hier erneut die Frage der Gleich- Die Arbeit im Homeoffice sollte daher wirksam berechtigung von Frauen und Männern. Führt die erfasst werden, um gesundheitsschädliche Fehlbe- ständige Arbeit im Homeoffice zur „Verheimlichung anspruchungen und Überlastungen durch ausufern- von Frauen“, wie die Soziologin und Präsidentin des de Arbeitszeiten und den Druck ständiger Erreich- Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung barkeit zu mindern. Darauf drängen Gewerkschaf- (WZB) Jutta Allmendinger befürchtet? Werden sie ten und Betriebsräte bereits seit Jahren (vgl. DGB wieder zurückgeworfen in ihre „klassische Rolle“ als 2020). Nur: Wie soll das umgesetzt werden? Wofür Erzieherinnen der Kinder und als Organisatorinnen trägt jeder selbst die Verantwortung, wofür das Un- der Familie? Diese Frage wurde bereits mit dem Auf- ternehmen und wofür der Staat? Beschäftigte könn- kommen der Telearbeit strittig diskutiert (vgl. Raehl- ten mit sich und ihrer Familie eine Art Arbeitsver- mann 2004, S. 129 f.). Neuere empirische Studien belegen die Verfes- Infobox 4 tigung der klassischen Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern bei Heimarbeit – und nicht erst seit den Zeiten der Corona-Pandemie. Von einer Jahresbericht 2020 besseren Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf für Frauen ist hier nirgends die Rede, geschweige Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung zum denn von einem Aufbruch zu neuen Formen der Rol- DGB-Index Gute Arbeit 2020 lenverteilung. Der Tenor dieser Untersuchungen ist: Schwerpunktthema: Mobiles Arbeiten Die Arbeit im Homeoffice ist vor allem für Frauen in zum Jahresbericht Familien mit Kindern unter 14 Jahren doppelt belas- tend. Bereits vor der Corona-Pandemie verbrachten sie mehr Zeit für die tägliche Sorgearbeit für Familie Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 9
und Haushalt. In der aktuellen Krise ist die Auftei- Nur: Wie kann eine Schädigungsfreiheit im Home- lung zwischen den Geschlechtern noch ungleicher office überhaupt gewährleistet werden? Wie lässt geworden, wenn beide Partner zu Hause arbeiten. sich ein einheimischer Arbeitsplatz einrichten, der Überwiegend übernehmen die Frauen die zusätzlich dem ergonomischen Standard des betrieblichen Ar- anfallende Betreuungsarbeit. Gut ein Viertel von ih- beitsplatzes entspricht? Das Problem: Wie ist eine nen sah sich sogar gezwungen, die Arbeitszeit zu verbindliche Überprüfung der heimischen Arbeits- mindern. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt in plätze möglich? Da niemand seinen Vorgesetzten in Haushalten mit einem niedrigen Einkommen. Zu die eigene Wohnung lassen muss, ist die Kontrolle Recht lässt sich daher in diesen Familien von einem äußerst schwierig. Doch jeder Arbeitgeber sollte zu- „Rückfall in traditionelle Muster der geschlechtsspe- mindest das Angebot einer Begehung und Bewer- zifischen Arbeitsteilung“ sprechen (Kohlrausch/Zuc- tung des Homeoffice-Arbeitsplatzes machen, um sei- co 2020, S. 7; vgl. auch Zucco/Lott 2021). ner Kontrollpflicht zu entsprechen. Arbeits- und Gesundheitsschutzziele werden im Ein anderes Problem: Die Zahl der Betriebe mit Homeoffice – wenn überhaupt – nur unzureichend Betriebsrat ist seit Jahren rückläufig, wie aus den umgesetzt. Statt Regeln herrscht Wildwuchs. Mo- Daten des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufs- bile Arbeit und das Homeoffice unterliegen immer forschung (IAB) hervorgeht: 2020 arbeiteten rund noch keinen Regulierungen. Sollen etwa unter dem 45 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland Deckmantel von Flexibilität und Büroabbau Zustän- und 32 Prozent in Ostdeutschland in einem Unter- de wie bei der Heimarbeit im Deutschen Kaiserreich nehmen mit betrieblicher Mitbestimmung (vgl. IAB wieder aufleben? Dass die Arbeit im Homeoffice aus 2021). Mitte der 1990er Jahre waren es noch 51 Pro- der neuen Arbeitsstättenverordnung überhaupt aus- zent in West- und 43 Prozent in Ostdeutschland. Be- geklammert blieb, dafür sorgte der Druck der Bun- sonders ausgeprägt ist der Rückgang dabei in klei- desvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände neren Unternehmen (5 bis 50 Beschäftigte) und in (BDA) auf die Bundesregierung. Diese Haltung über- mittelgroßen Unternehmen (51 bis 500 Beschäftig- rascht nicht, da viele ihrer Mitgliedsunternehmen te) (vgl. Ellguth 2019, Emmler/Misterek 2020). Doch das Homeoffice als Billigversion der Telearbeit an- wer soll in betriebsratsfreien Betrieben auf eine Ge- sehen. So unterbleibt meist eine Gefährdungsbeur- fährdungsbeurteilung und eine Unterweisung zur teilung des heimischen Arbeitsplatzes. Gestaltung der Arbeit im Homeoffice drängen? Wer Doch jeder Arbeitgeber muss seinen Beschäf- ist dann legitimiert, die erforderlichen Maßnahmen tigten einen Arbeitsplatz anbieten, der den Arbeits- in einer Betriebsvereinbarung festzulegen? Ohne Be- schutzgesetzen entspricht. Das Homeoffice ist kein triebsräte lassen sich die arbeitsschutzrechtlichen rechtsfreier Raum. Es gelten alle arbeitsschutz- Verpflichtungen des Arbeitgebers kaum einhalten. rechtlichen Vorschriften wie für Beschäftigte im Die Arbeit zu Hause ist vielleicht für ein paar Wo- Betrieb des Unternehmers. Eine Gefährdungsbeur- chen schön. Aber auf Dauer? Wie können Frauen teilung gemäß § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und Männer der drohenden Isolation und Fragmen- zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit ist tierung entgehen? Wir Menschen sind soziale We- Pflicht und keine freiwillige Leistung. Zum Katalog sen. Es ist uns ein Grundbedürfnis, uns ständig mit der Gefährdungen gehören u. a. die Gestaltung anderen auszutauschen. Die unmittelbare Reaktion und die Einrichtung des Arbeitsplatzes, die not- der anderen auf unsere Arbeit ist uns gerade bei wendige Qualifikation und die Unterweisung der komplexen kreativen Aufgaben wichtig. Sie erwei- Beschäftigten sowie die psychischen Belastungen tern uns mit neuen Ideen und Perspektiven, stellen der Arbeit. Eine Gefährdungsbeurteilung ist auch vorgefasste Meinungen in Frage und fördern unse- keine einmalige Aktion, sondern muss in regelmä- re Neugier. Menschen, die sich einander niemals ßigen Abständen bei maßgeblichen Veränderungen persönlich getroffen haben, fällt es daher überaus oder nach dem Auftreten von Arbeitsunfällen, Bei- schwer, miteinander zu arbeiten. Aus Kolleginnen naheunfällen, Berufskrankheiten oder Fehlzeiten und Kollegen, die sich im Team gegenseitig unter- wiederholt werden. stützen und gut zusammenarbeiten könnten, wer- Diese Arbeitsschutzvorschriften sind nicht im Ein- den dann im schlimmsten Fall mäßig angeregte Ein- zelnen vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Wie die zelkämpfer. Es fehlt der soziale Kitt, die Bindung zwi- Gefährdungsbeurteilung umgesetzt wird, liegt in den schen ihnen. Händen der Betriebsparteien. Sie entscheiden darü- Diese soziale Vernetzung ist es aber, die unser ber, wie alle bedeutsamen Gefährdungen ermittelt Leben erst lebenswert macht. Sie entsteht oft am und bewertet werden, denen die Beschäftigten in Rande der Arbeit, beim Smalltalk auf dem Büroflur, ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Wo der Gesetzgeber in der Teeküche oder beim Essen in der Kantine. sich geweigert hat, seine Hausaufgaben zu machen, Freunde lernen sich oft am Arbeitsplatz kennen, „vergrößert sich der Mitbestimmungsspielraum der gerade bei zufälligen Treffen. Ohne Räume, die wir Betriebsräte, es wächst aber auch ihr Aufwand“ physisch miteinander teilen, drohen uns soziale Iso- (Reusch 2020, S. 27). Sie sind es, die darauf drängen lation und Fragmentierung. Das Homeoffice sollte müssen, dass die Arbeitsplätze ihrer Kolleginnen und daher ein Ausnahmezustand sein und keine Dauer- Kollegen im Homeoffice nicht so belastend sind, dass lösung werden, die so häufig von Beschäftigten als sie zu Folgeschäden bei den Beschäftigten führen. Fehlbeanspruchung erlebt werden kann. Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 10
Moderne Medien wie eine Videokonferenz sind Doch am Grundproblem der Gewerkschaften, kein Ersatz für analoge Kommunikation. Sie blei- Mitglieder für ihre Organisation zu gewinnen, würde ben auch mit bester Technik unvollkommen. Ihnen auch ein digitales Zugangsrecht nur unzureichend fehlt die „ganzheitliche, auch sinnliche Erfahrbar- etwas ändern. Gewerkschaften sind Massenorgani- keit des Gegenüber im Kommunikationsprozeß“ (Pi- sationen, die ihre Kraft ihren Mitgliedern und deren cot/Reichwald 1984, S. 150). Ihnen fehlt die „sozi- Mobilisierung verdanken. Aber wie sollen sie ange- ale Präsenz und physische Nähe“ (ebd.). Im ana- sprochen werden, wenn Kontakte im Betrieb auf ein logen Gespräch signalisieren wir vielfach nonver- Minimum beschränkt sind und große Teile der üb- bal (z. B. durch Lächeln, Heben der Augenbrauen, rigen Belegschaft dauerhaft im Homeoffice sitzen? Nicken), dass wir den anderen verstanden haben. Wie können überhaupt Beschäftigte, vereinzelt und Selbst eine technisch fehlerfrei verlaufende Video- abgesondert in den eigenen vier Wänden, noch da- konferenz kann dies nur unzureichend leisten; erst von überzeugt werden, Mitglied einer Gewerkschaft recht kein Chat, keine E-Mail und kein Telefonat. Mit zu werden? Kontakte aus der Ferne per E-Mail, Tele- ihnen werden bloß Inhalte, Mitteilungen und Daten fon und Videokonferenz sind nur ein höchst unzurei- übertragen. Aber ihre Fähigkeit, soziale Beziehun- chender Ersatz für persönliche Gespräche von An- gen zu klären und weiterzuentwickeln, ist höchst gesicht zu Angesicht. Das Abstandhalten und die beschränkt. Erst recht entstehen im Homeoffice kei- Isolation der Beschäftigten schwächen somit un- ne neuen Bindungen. Dazu gehören nämlich Ges- weigerlich die Grundlagen einer kollektiven Inter- tik, Mienenspiel, Blickkontakt, Heben und Senken essenvertretung. „Mitglied wird man durch direkte der Stimme, Gesprächsatmosphäre etc. – ohne sie Ansprache, und die ist in einer Pandemie schwieri- verdienen neue und alte Beziehungen nur einge- ger“, so Jörg Hoffmann, IG Metall Vorsitzender (zi- schränkt das Beiwort „sozial“. tiert nach Hagelüken/Peters 2021, S. 22). Die Isolation und Fragmentierung macht es auch Die Heimarbeit, ob vor 150 Jahren oder heute, Gewerkschaften immer schwerer, Beschäftigte über- kennt stets Gegensätzlichkeiten. Ja, der unüber- haupt organisieren zu können. Es fehlt der Betrieb sehbare Trend zur mobilen, digitalen Arbeit bietet als Präsenzkultur! Mitglieder gewinnen die Arbeit- durchaus Vorteile für viele Beschäftigte, nicht nur nehmerorganisationen überwiegend bei Neueinstel- in Pandemiezeiten. Die bestimmende Frage ist aber: lungen durch persönliche Kontakte, die es aber in Wie frei und selbstbestimmt wird die Arbeitskultur in Zeiten der Corona-Pandemie in vielen Branchen im Zukunft sein? Wer bestimmt die Regeln? Und davon letzten Jahr nur eingeschränkt gab. Es überrascht wird es abhängen, wie mächtig die Schattenseiten daher nicht, dass die Mitgliederzahlen in den DGB- dieser Arbeit sein werden. Als Zukunftsmodell ei- Gewerkschaften im letzten Jahr gegenüber dem ner besseren Arbeitswelt für Beschäftige taugt es Vorjahr um 85.000 Angehörige schrumpften. Nur bestimmt nicht, wenn sich Arbeitgeber dauerhaft noch rund 5,85 Millionen Frauen und Männer sind vom Präsenzmodell, dem Arbeiten im Unternehmen, heute Mitglied bei einer Gewerkschaft (vgl. https:// verabschieden; wenn nur noch physische Treffen vor www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen). Ort bei unabdingbaren Teammeetings oder gemein- Das lag nicht nur an fehlenden neuen Arbeitsplät- samen Firmenveranstaltungen stattfänden. Dies ist zen. Genauso wichtig war und ist es, auf Beschäf- nicht die schöne neue Arbeitswelt, auch nicht für tigte überhaupt zugehen zu können. viele digitalisierte junge Menschen. Davon würden Gewerkschaften wie die Industriegewerkschaft nicht die Beschäftigten, sondern nur die Unterneh- Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) fordern daher, men profitieren: Sie sparten teure Büroflächen ein, dass das im Grundgesetz Artikel 9 Absatz 3 verbrief- die vor allem in Großstädten ein ganz erheblicher te Zutrittsrecht zu den Betrieben auch in der digita- Kostenfaktor sind. len Welt gelten müsse. Die Realität ist (noch) eine Und noch ein ganz anderer Aspekt darf keines- andere, wie ihr Rechtsstreit mit dem Sportartikelher- falls übersehen werden: Die große Errungenschaft steller Adidas zeigt (vgl. Hofer/Specht 2021). Aber der industriellen Revolution, die Trennung zwischen wie sollen dann Gewerkschaften gemeinsam mit Heim- und Arbeitsstätte, hat Gewerkschaften ent- den Betriebs- bzw. Personalräten Menschen noch stehen lassen und groß gemacht. Doch ihre Existenz schützen vor Entlassung, Umstrukturierung und Ver- und ihr Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und weigerung von Zuschlägen? Wie können sie der Ent- höhere Löhne ist durch die neue Abgeschiedenheit grenzung von Arbeit und der Leistungsintensivie- der Werktätigen, ihr Arbeiten in den eigenen vier rung im Homeoffice verbindliche Grenzen setzen? Wänden, wieder stark gefährdet. Denn: Wie können Wie „ein regulatorisches Niemandsland“ (Mayer- soziale Ungleichheit und der seit Jahren wachsende Ahuja/Detje 2020, S. 499) wie das Homeoffice als Druck auf Beschäftigte bekämpft werden, wenn je- neuen Standard einer „schönen“ neuen Arbeitswelt der für sich vor seinem einheimischen Laptop sitzt? verhindern? Den Klageweg über Sozialgerichte zu Nur in einer solidarischen Gesellschaft lassen sich gehen, ist eine Möglichkeit; eine andere, ein digita- Missstände am Arbeitsplatz wirksam bekämpfen. les Zugangsrecht im Bundestag zu verabschieden. Aber dafür braucht es gemeinsam geteilte Arbeits- Praktikabel für Gewerkschaften ist hier der Weg, den und Lebenswirklichkeiten und die Erfahrung der Dialog mit den Beschäftigten über das firmeneigene Notwendigkeit von Kooperation. Notwendig bleiben Intranet zu halten. Büroarbeitsplätze! Mitbestimmungsreport Nr. 67, 10. 2021 Seite 11
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