HANDLUNG SPIEL & RÄUME - Erstellt vom Verein SELBSTLAUT im Auftrag des
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HANDLUNG SPIEL & RÄUME Erstellt vom Verein SELBSTLAUT im Auftrag des
Impressum Handlung, Spiel & Räume Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen zum präventiven Handeln gegen sexuelle Ge- walt an Kindern und Jugendlichen mit neuen Präventionsmaterialien erstellt vom Verein SELBSTLAUT im Auftrag des BMUKK, leicht veränderte zweite Auflage, Wien 2009 Fachliche Begleitung: SRin Maria Tripammer Verein Selbstlaut Gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen Leitfaden für Pädagoginnen und Vorbeugung - Beratung - Verdachtsbegleitung Pädagogen zum Berggasse 32/4, A - 1090 Wien www.selbstlaut.org, office@selbstlaut.org präventiven Handeln gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Grafik und Webgestaltung Jugendlichen mit Helga Hofbauer neuen Präventionsmaterialien Unser großer Dank gilt: SRin Maria Tripammer Dr. Beatrix Haller, bmukk Dr. Harald Aigner, bmukk Vlatka Frketić Die Bilder, Zeichnungen und Illustratio- nen im Materialienteil sind von: Christine Aebi Zülay Arıkan Linda Bilda Sissi Konlechner Jo Schmeiser Helga Hofbauer Alexandra Mesensky Christine Klimt Markus Dorfmüller Medieninhaber: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur Impressum 2 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Inhaltsverzeichnis Einleitung und Einladung 5 Grundlagenwissen über sexuelle Gewalt 4Definition und Fakten 25 Betroffenheit, Wut und 8 Kampfgeist 4Psychodynamik des 27 Was es bedeutet, als PädagogIn bei sexuellem betroffenen Kindes Kindesmissbrauch hinzuschauen 4Die Rolle der Mütter bzw. 29 nicht missbrauchender Elternteile Ein Verdacht kommt auf 4 Täterstrategien 31 4Kinder und Jugendliche 10 4Auswirkungen der Dynamik 34 setzen Zeichen von sexueller Gewalt auf das pädagogische System 4Gefühle, Gedanken, Erfahrungen 12 der Pädagogin/des Pädagogen 4Im Ohnmachtszwischenraum 14 Prävention 4Ein lautes NEIN braucht viele 36 Mit-Laute Überwindung des 4Geschichte der Prävention 37 Ohnmachtszwischenraumes 4Primär-, Sekundär-, 40 4Haltung und konkrete 16 Tertiärprävention Handlungsschritte 4Praktische Arbeit mit Kindern 42 4Weiter im pädagogischen 20 in der Primär, - Sekundär - und Alltag in der ganzen Klasse/Gruppe Tertiärprävention 4Schritte nach Draussen: 22 4Interkulturelle Prävention 47 Vernetzte Intervention von sexueller Ausbeutung 4Unterscheidung von 50 Vorbeugung und Selbstverteidigung Inhaltsverzeichnis 3 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
4Informationen für Eltern und 51 Erziehungsberechtigte (mehrsprachig) Sexualisierte Gewalt in 54 Institutionen 4Missbrauch durch Pädagogen 55 und Pädagoginnen 4Sexuelle Übergriffe unter Kindern 57 Strukturelle Stolpersteine 4Gesellschaftliche Bedingungen, 63 die sexuelle Gewalt begünstigen 4Stigmatisierung der HelferInnen 65 Neue Präventionsmaterialien 4Die Angst davor, jemanden zu 66 link---> Text Neue Präventionsmaterialien Unrecht zu beschuldigen Präventionsmaterialien-Module Handlungsspielräume 68 4Gefühle Über kleine und große Erfolge wird nie 4Identität, Rollenbilder, Persönlichkeit berichtet 4Liebe ist... 4Grenzen setzen und Hilfe holen 4Sexualitäten 4Lebensformen und Beziehungen Selbstlaut 70 Die Verfasserinnen, der Verein: Angebote und 4Solidarität Kontakt Links & Literatur 72 Inhaltsverzeichnis 4 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Einleitung und Einladung Wir möchten Sie mit diesem Leitfaden einla- schenraum” gefunden und betroffene Kinder den, einen Blick und vielleicht mehr auf das gestützt, in ihren Wahrnehmungen gestärkt, zu werfen, was die Begegnung mit sexuellem auf eine mögliche Aufdeckung oder Änderung Kindesmissbrauch alles auslösen und nach der Situation vorbereitet und Schuldgefühle sich ziehen kann. von ihren Schultern genommen werden. Selbstlaut hat den Leitfaden erstellt, um einen fairen, in der alltäglichen Berufsrealität brauch- Wie das möglich ist, wird im folgenden Leitfa- baren, weder änstigenden noch verharmlosen- den, der sich an der Rolle der Pädagogin/des den Zugang zu dem anzubieten, was sexuelle Pädagogen orientiert, ganz konkret gezeigt: Gewalt in der Klasse, Kindergruppe, Einrich- tung und in der eigenen Umgebung konkret 4chronologische Schilderung der Zeitspan- bedeutet und an Handeln erfordert. ne von einer vagen Vermutung zur vernetzten Intervention Dies hier ist keine theoretische Abhandlung, kein Must-to-Do, kein Abgesang auf die böse 4grundlegende Information zu der Dynamik Welt, sondern zusammengetragene Erfahrung von sexueller Gewalt verschiedenster PraktikerInnen aus Schu- 4notwendige Handlungsschritte für die le, Sozialarbeit, Jugendamt, Justiz, Familie, Arbeit mit dem betroffenen Kind und mit der FreundInnenkreis, Prozessbegleitung... und ganzen Gruppe/Klasse unserer 18-jährigen Arbeit gegen sexualisierte 4praktische Übungen mit Mitteln der Prä- Gewalt an Kindern und Jugendlichen. vention zur Erhärtung einer Vermutung und Vorbereitung der Aufdeckung durch das betrof- fene Kind selbst PädagogInnen sind oftmals diejenigen, die als erste von sexueller Gewalt erfahren oder sie 4Kapitel zu sexuellen Übergriffen unter vermuten, also Vertrauenspersonen betroffe- Kindern und Jugendlichen ner Kinder/Jugendlicher und somit jene Perso- 4konkrete Kenntnisse über Grundlagen und nen, die eine Aufdeckung ermöglichen. Möglichkeiten der Vorbeugung “Für viele missbrauchte Kinder ist die Schule 4Links und Literaturhinweise der erste sichere Ort außerhalb der Familie, 4neu erstellte Präventionsmaterialien, die an welchem sie ein “normales” Leben führen Selbstlaut in Kooperation mit KünstlerInnen können. Sie begegnen erwachsenen Perso- und SchülerInnen ausgearbeitet und mit didak- nen, die auf Grund ihres Berufes Helfer sein tischen Hinweisen zum Einsatz im pädagogi- können.” (Sellnar, 2007) schen Alltag versehen hat In dieser wichtigen Rolle brauchen PädagogIn- nen viel Geduld und Kraft, um einen oftmals Die Kapitel des Leitfadens sowie die langen Zeitraum zu bewältigen, in dem sie Präventionsmaterialien können Sie ein- Missbrauch ahnen, ihn aber (noch) nicht unter- zeln downloaden. brechen können. Häufig macht sich das Ge- fühl breit, die Situation sei unveränderbar. Mit Sie werden im Folgenden so unterschiedliche den Mitteln der Prävention, reichhaltigen neu Begriffe finden wie sexuelle Ausbeutung, sexu- erstellten Materialien und fachlicher Begleitung alisierte Gewalt, Übergriff, Angriff, Kindesmiss- können Wege aus diesem “Ohnmachtszwi- brauch u.a. Wir haben uns dazu entschieden, Einleitung und Einladung 5 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
wechselnde Begriffe zu verwenden, da jede Kinderdorfmütter, Tagesmütter/väter, kurz alle, Person andere Schwerpunkte setzt, Worte auf die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu ihre/seine Art mit Bedeutung füllt und es unse- tun haben. rer Meinung nach keine Ausdrucksweise gibt, Nach unserer Erfahrung engagieren sich we- die alle wichtigen Aspekte sexueller Ausbeu- sentlich mehr Pädagoginnen als Pädagogen tung einschließt. gegen sexuelle Gewalt. Das liegt zuallererst Sie finden weiters sowohl die große I-Schrei- daran, dass Frauen gesellschaftlich nach bung, die Schrägstrich-Schreibweise wie auch wie vor die Hauptzuständigen für Kinder und sonstige Möglichkeiten, Personen jeden Ge- Jugendliche sind. Zudem sind wesentlich mehr schlechts sprachlich sichtbar zu machen. Mädchen/Frauen von sexueller Ausbeutung Wir verwenden weiters die Begriffe Verdacht betroffen. Und die Enttabuisierung und Be- und Vermutung, weil beide Begriffe von den kämpfung von sexualisierter Gewalt gehen auf Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, die Frauenbewegung und feministische Projek- verwendet werden. Verdacht ist dahingehend te zurück, wurden und werden also überwie- irreführend, dass es ein Begriff aus der Ge- gend von Frauen getragen. richtssprache ist, PädagogInnen aber nicht in Sie finden in diesem Leitfaden hin und wieder der Rolle sind und sein können, einen Ver- ausschließlich die weibliche Form, um diesen dacht mit kriminalistischen oder gerichtlichen Tatsachen Ausdruck zu verleihen. Umgekehrt Beweisführungsmitteln zu erhärten. Vermutung schreiben wir öfter von Tätern als von Täte- ist also der passendere Begriff. Nichtsdesto- rinnen, um dem Umstand gerecht zu werden, trotz finden Sie im Folgenden beide Begriffe, dass ein Großteil der Missbraucher männlich gibt es doch auch immer wieder Zeitpunkte, an ist. denen involvierte PädagogInnen tatsächlich das Gefühl haben, mitten in einem (schlech- ten) Krimi zu stehen und der Begriff “Vermu- Das “wir”, das Sie als Verfasserinnen an- tung” der Wucht der Ereignisse nicht gerecht spricht, sind die derzeit sechs Mitarbeiterinnen wird. des Vereins Der Leitfaden ist an praktischen Abläufen Selbstlaut entlang aufgebaut. So finden Sie am Anfang Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und weder Definitionen noch Zahlen, sondern stei- Buben, Vorbeugung - Beratung - gen quasi ein in die Signale, die die Vermutung Verdachtsbegleitung auf Kindesmissbrauch auslösen und folgen im Weiteren den Stadien, die viele PädagogInnen und wir möchten uns an dieser Stelle ganz durchlaufen, die die Zeichen und Signale von herzlich bei Maria Tripammer bedanken, die Kindern/Jugendlichen empfangen. den Leitfaden fachlich begleitet hat und die die Situation betroffener LehrerInnen in der Mit Pädagogin/Pädagoge meinen wir nicht nur Institution Schule kennt und als eine der ersten LehrerInnen in Pflicht- und weiterführenden zum Thema Prävention und Vernetzung aktiv Schulen, sondern auch SozialpädagogInnen, geworden ist. ErzieherInnen, BehindertenbetreuerInnen, Einleitung und Einladung 6 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
... und wieso noch mehr Materialien? Präventionsmaterialien sind für die Arbeit und das Spiel mit Kindern und Jugendlichen ge- dacht, aber auch als Anregung für Multiplikato- rInnen. Die Verantwortung für die Gesellschaft, wie sie ist, tragen die Erwachsenen. Auch für die Denk(T)räume, für die Möglichkeiten, die zur Auswahl stehen, für Rolemodels und die Inhal- te der Prävention. Das heißt, zuallererst sollten gute Materialien zur Vorbeugung von sexueller Gewalt nicht den Status Quo fortschreiben, sondern überraschen, anregen, herausfordern. Und zwar zuallererst die Erwachsenen. Natürlich spielen bei der Beurteilung von Arbeitsmaterialien viele Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt künstlerische Geschmacksfragen. Aber wenn eine Pädagogin, um ein Beispiel zu nennen, in Arbeitsblättern zu kindlicher Sexualität vielleicht zum ersten Mal liest, dass Literatur Babies mitunter schon Orgasmen haben oder wieviele Kinder intersexuell (d.h. mit soge- Sellnar, S. in: Sedlak, F. & Sellnar, S. & Reumann, C. nannt „uneindeutigen“ Geschlechtsorganen) (2007): geboren werden oder in einer anderen Übung Begegnungstraum(a) und Begegnungsraum BMUKK, Wien die SchülerInnen beschreiben läßt, was Liebe alles ist oder was das Schimpfwort Schlampe Tripammer, M. & Wanke, P. (1992): eigentlich genau meint, dann stellt sich die Pä- Sexueller Missbrauch an Kindern dagogin vermutlich selber auch diese Fragen Jugend&Volk, Wien und genau dann haben die Materialien bereits einen Prozess in Gang gesetzt, der für eine präventive Haltung wichtig ist. Wir als Erwachsene stehen nicht über den Inhalten der Prävention von sexuellem Kindes- missbrauch, sondern mittendrin. Einleitung und Einladung 7 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Betroffenheit, Wut und Kampf- geist Was es bedeutet, als Pädagogin/Pä- betroffene Kind in diesem Wollen nicht mitspie- dagoge bei sexuellem Kindesmiss- len. In dieser Enttäuschung und erlebten Ohn- brauch hinzuschauen macht geht häufig das Gefühl für vermeintlich kleine Schritte verloren: Glauben schenken, Kinder und Jugendliche werden zum allergröß- das Kind ernst nehmen, einen missbrauchsfrei- ten Teil in der Familie und im Bekanntenkreis en Raum bieten, Tabus als solche enttarnen, sexuell ausgebeutet. Das heißt auch, dass die Wahrnehmung stärken. Klingt so wenig im eine Unterstützung des betroffenen Kindes im Vergleich zu Missbrauch beenden, AngreiferIn- familiären Umfeld besonders schwierig ist, da nen hinter Gitter bringen, Verhältnisse spren- vielschichtige emotionale, aber auch materiel- gen, Gesellschaft verändern. le und soziale Verbindungen, Abhängigkeiten Unsere Erfahrung ist, dass es gerade diese und Verstrickungen Teil der missbräuchlichen scheinbar kleinen Schritte sind, die real mög- Struktur sind. lich und notwendig sind und für ein betroffenes LehrerInnen, KindergärtnerInnen u.a., die mit Mädchen/einen betroffenen Buben riesengros- Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben se Schritte bedeuten. auch bei größter emotionaler Nähe zu einem Der Wunsch der Helferin/des Helfers, die Welt betroffenen Mädchen oder Buben immer auch zu ändern, die Wut auf eine Gesellschaft, die noch andere Kinder in der Gruppe/Klasse und so etwas zulässt bzw. erst ermöglicht, die einen privaten Lebensraum, in dem sie dem Verdammungen und Allmachtsphantasien sind betroffenen Kind nicht begegnen. Diese Dis- aber wichtige Energiequellen eines Handelns tanz ist beste Voraussetzung dafür, bei sexu- gegen sexuelle Gewalt. So banal das klingt: eller Gewalt ins Vertrauen gezogen zu werden die Welt ist vor der unmittelbaren Konfrontati- oder Auffälligkeiten zu bemerken. on mit sexualisierter Gewalt und danach nicht mehr dieselbe. Wir möchten Sie einladen, Vom Möglichen, Unmöglichen und dem diese Tatsache nicht als Verlust zu sehen, son- Dazwischen dern als Klärung und als Voraussetzung für ge- Fast jede Person, die von sexueller Ausbeu- sellschaftspolitisch relevantes Handeln. Denn tung eines Kindes erfährt, will zunächst alles das ist es, wenn eine Person bei Missbrauch auf einmal, alles was möglich und alles was nicht weg- sondern hinschaut: gesellschaftspo- unmöglich ist: das Kind in Sicherheit bringen, litisch relevantes Handeln. den/die Täter/in stellen und möglichst bekeh- ren oder aber dingfest machen, (nicht selten Die Wucht der herrschenden Ordnung am liebsten auch umbringen), die Gesellschaft ist dabei nicht zu unterschätzen. Bei aller Er- verändern, die Schule bzw. die eigenen Ar- klärung offizieller Stellen, wie wichtig Vorbeu- beitsstrukturen grundlegend umbauen (nicht gung von sexueller Gewalt und Opferschutz selten einfach sprengen), allen sagen wie sei, ist es unserer Meinung nach wichtig, im es wirklich ist, Schreckliches ungeschehen Auge zu behalten, dass ein Handeln gegen machen und dergleichen mehr. Das ist völlig sexuelle Gewalt jeweils nur in begrenztem normal. Rahmen im Sinne staatlicher Autoritäten sein Meist bleibt ein Ohnmachtsgefühl, weil Tä- kann. Weil es eben ein Handeln ist, an dessen ter/in, Gesellschaft und manchmal auch das utopischem Ende immer eine andere Gesell- Betroffenheit, Wut und Kampfgeist 8 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
schaft als die vorhandene und von staatlichen wiedergefunden haben. Diese Rolle überneh- Stellen verwaltete stehen muss. Das erklärt men Sie, wenn Sie zu sexuellem Kindesmiss- u.a. auch die Wucht, mit der Menschen, die brauch laut Nein sagen. Nicht mehr und nicht hinschauen, oft daran gehindert werden, zu weniger. sehen, was sie sehen und daraus Konsequen- zen zu ziehen. Und warum es so schwierig Diese Tatsache weckt vielleicht Ihren Kampf- ist, Verbündete zu finden. Wer sexuelle Aus- geist, Ihre Wut oder auch Ihr Befremden, Ihre beutung konkret beenden will, sieht sich auf Neugierde oder Ihre Betroffenheit. In jedem der Stelle mit nicht für möglich gehaltenen Fall sind Sie, auch wenn es Ihnen in manchen Widerständen und Angriffen konfrontiert. Und Momenten so vorkommen mag, nicht allein. das sowohl im eigenen Bekanntenkreis als Immer wieder hat sich der stehende Satz auch in der Arbeitsumgebung bis hin zu über- unserer Präventionsvorreiterin- und kollegin geordneten Stellen und der öffentlichen Hand. Ursula Enders von Zartbitter Köln bestätigt: Der Grund dafür ist Angst. Angst, dass kein „Wenn eine Pädagogin oder ein Pädagoge Stein auf dem anderen bleibt. Eingreifende/ den Weg in eine Beratungsstelle gefunden helfende Personen haben das längst begriffen hat, ist für das von Missbrauch betroffene Kind und kämpfen sehr bald nicht mehr nur gegen die Hälfte des möglichen Weges bereits ge- die Manipulations“künste“ von TäterInnen, schafft.“ sondern gegen Menschen im Umfeld, die um den Boden kämpfen, auf dem sie stehen oder glauben, zu stehen. Und auch der eigene Boden gerät ins Schwan- ken. Die Konfrontation mit sexueller Ausbeu- tung und den “Filmen” im Kopf, die ausgelöst werden und nur schwer zu stoppen sind, zieht häufig nicht zuletzt auch die eigene Sexualität in Mitleidenschaft. Verunsicherung und Unlust können sich breit machen, aber - und das sei hier unbedingt dazugesagt - häufig ist das eine vorübergehende Begleiterscheinung, die nach- lässt, wenn aktiv Schritte gegen den vermute- ten Missbrauch unternommen werden. Vom Stören und Empören Immer wieder haben wir erlebt, dass Päda- gogInnen, Mütter und andere HelferInnen, die sich selbst als unpolitisch, eher zufrieden, angepasst oder jedenfalls unauffällig einge- schätzt haben, sich plötzlich in der Rolle der Anführer/in, der Aufwiegler/in, der kritischen Stimme, der Störer/in von Ruhe und Ordnung Betroffenheit, Wut und Kampfgeist 9 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Ein Verdacht kommt auf Kinder und Jugendliche setzen Zei- Betroffene Kinder spielen manchmal die erleb- chen ten Gewaltsituationen nach. Als deutliches Zeichen kann gewertet werden, Auf die eine oder andere Weise zeigt jedes wenn Kinder ein geradezu zwanghaftes Be- Kind sein Nein gegen sexuelle Übergriffe dürfnis zeigen, sexuelle Handlungen immer (Abwenden des Kopfes, Versteifen des ganzen wieder nachzuspielen und dabei auch ver- Körpers...), aber Täter und Täterinnen über- suchen, andere Kinder miteinzubeziehen bzw. gehen diese Zeichen. Fast alle Mädchen und zum „Mitspielen“ zu überreden oder gar zu Buben versuchen sich auch auf ihre kindliche nötigen. Weise gegen den sexuellen Missbrauch zu Manche Kinder drücken die erlebte sexuelle wehren (Versuch, dem Täter aus dem Weg zu Gewalt auch in ihren Zeichnungen aus. Bei gehen, Meiden von bestimmten Personen oder Kinderzeichnungen ist allerdings zu beach- Orten, Anziehen von möglichst vielen Klei- ten, diese von den Kindern kommentieren zu dungsstücken...). lassen und maximal als einen möglichen An- Dennoch gibt es sehr wenig eindeutige Symp- haltspunkt für erlebte Übergriffe festzuhalten. tome, die zweifelsfrei auf sexuellen Miss- Kinderzeichnungen allein für sich genommen brauch schließen lassen. Es gibt betroffene können sexualisierte Gewalt nie beweisen. Kinder, die in ihrem Verhalten keine besonde- Zudem ist eine Beweisführung in keinem Fall ren Auffälligkeiten zeigen. Und es gibt betroffe- Aufgabe von PädagogInnen, sondern die des ne Kinder, deren Verhalten sehr auffällig ist. Gerichts. Für alle Mädchen und Buben ist es jeden- Viele sexuell missbrauchte Mädchen und Bu- falls schwierig, über sexuellen Missbrauch zu ben leiden unter den verschiedensten psycho- reden. somatischen Beschwerden und Ängsten. Die- Viele betroffene Kinder senden Signale aus, se Beschwerden sind Reaktionen des Körpers, um Menschen in ihrem Umfeld aufmerksam zu ausgelöst durch die psychische Belastung und machen und somit Hilfe zu bekommen. äußern sich zum Beispiel in Bauchschmerzen, Sie verhalten sich plötzlich anders, ohne dass Kopfschmerzen, Hautkrankheiten, häufigem von außen ein nachvollziehbarer Grund er- Kranksein, Schmerzen, für die sich keine or- sichtlich ist. ganischen Ursachen finden lassen, Schlafstö- Traumatisierte Kinder können starke Stim- rungen, Albträumen, chronischer Erschöpfung, mungsschwankungen haben, sie können still Konzentrationsstörungen, Depressionen, Reiz- werden, sich verschließen und zurückziehen, barkeit, Weinkrämpfen oder Wutausbrüchen. aber auch unruhiges, aggressives bis hin zu Manche Betroffene entwickeln autoaggressi- übergriffigem Verhalten zeigen. ve Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen, Sie versuchen eventuell Situationen oder Akti- Essstörungen (Magersucht, Bulimie), Drogen- vitäten zu vermeiden, die Erinnerungen an die konsum und Sucht, bis hin zu Selbstmordver- Gewalterfahrungen hervorrufen. suchen. Manchmal ist ihr Verhalten nicht altersadäquat, Körperliche Symptome wie Hämatome und sie zeigen plötzlich regressives oder ein dem Verletzungen im Brust- und Genitalbereich, Alter unangemessenes, stark sexualisiertes, Geschlechtskrankheiten, Spermaspuren und distanzloses Verhalten. Schwangerschaften bei jungen Mädchen sind Kinder und Jugendliche setzen Zeichen 10 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
als eindeutige Symptome für sexuellen Miss- brauch zu werten, stellen aber die Ausnahme dar. Es gibt eine Vielzahl an möglichen Hinweisen auf sexuellen Missbrauch. Eine Auffälligkeit alleine kann Missbrauch nicht „beweisen“. Erst die Summe und Verdichtung mehrerer Signale und Symptome, eine plötzliche und unerklär- bare Verhaltensveränderung des Kindes, das Zusammenfügen von Beobachtungen, ver- bunden mit den eigenen Gefühlen können auf sexuellen Missbrauch schließen lassen. Als PädagogIn findet man häufig für das „auffällige“ Verhalten von betroffenen Kindern keine „Schublade“, keinen erklärbaren Grund. PädagogInnen sprechen dann häufig von ei- nem „komischen Gefühl“, das sie nicht einord- nen können und das sie nicht mehr loslässt. Es ist typisch, dass ein aufkommender Ver- dacht in Wellen auftaucht und mitunter starke Gefühlsverwirrungen hervorruft. Eines der wichtigsten „Erkennungsmerkmale“ für sexuellen Missbrauch bleibt im Umgang mit Kindern demnach das eigene Gefühl. Für Pädagoginnen, Pädagogen und alle die mit Kindern zu tun haben, ist es wichtig, ihrem eigenen Gefühl zu trauen, auf Erzählungen der Kinder zu hören, offen zu sein, um die Möglich- keit des sexuellen Missbrauchs in Erwägung ziehen zu können und die Mitteilungsversuche der Kinder als mögliche Hinweise auf sexuel- len Missbrauch wahrzunehmen. Kinder und Jugendliche setzen Zeichen 11 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Gefühle, Gedanken, Erfahrungen wegen Blasenentzündungen. Die Mutter des der Pädagogin/des Pädagogen Mädchens reagiert auf Fragen der Lehrerin bezüglich des veränderten Verhaltens und des Wo beginnt eigentlich der Verdacht auf se- Fehlens des Kindes ausweichend und be- xuellen Kindesmissbrauch? Wie sehen die schwichtigend. ersten Anzeichen, Hinweise, Auffälligkeiten aus – oder was macht mich stutzig, was be- Beispiel aus der Praxis rührt mich? Bei wem fällt mir etwas auf: beim Beim Anschauen von Sexualerziehungsbü- Kind – bei den Eltern/Erziehungsberechtigten chern fällt einer Pädagogin auf, dass ein Mäd- – bei sonstigen Verwandten – bei anderen chen ganz rote Backen bekommt und auf dem Mädchen und Buben meiner Klasse/ meiner Sessel hin und her zu rutschen beginnt. Das Kindergruppe? Und – was mache ich, wenn Mädchen ist eine sehr angepasste und gute ich etwas wahrnehme? Wie reagiere ich auf Schülerin, die ihre Sachen immer in Ordnung das Kind, die Eltern...? Wie gehe ich mit der hält. Sie sucht oft die Nähe zur Pädagogin und gesamten Klasse/Gruppe um? Was will ich hilft ihr gerne bei anfallenden Tätigkeiten wie vermitteln – und was eigentlich nicht? Wie Tafel löschen, etwas holen oder austeilen. Die kann ich helfen – will ich das überhaupt? Bin Lehrerin hat das Gefühl, dass das Mädchen ihr ich die/der Richtige für das Kind? etwas erzählen möchte, sich aber nicht traut. Das alles sind Fragen, die sich PädagogIn- Beispiel aus der Praxis nen stellen, wenn sie sich mit sexueller Ge- Ein zehnjähriger Bub erzählt, dass sein Vater walt oder der Vermutung auf sexuelle Gewalt sich jede Nacht zu ihm ins Bett legt, dabei hät- konfrontiert sehen. te er doch sein Bett gerne für sich alleine. Im- Eine Flut an Emotionen, Fragen und Unklar- mer wieder macht er Zeichnungen, bei denen heiten bricht über sie/ihn herein. am Schluss alles schwarz übermalt wird, so Die Vermutung „nagt“ an ihr/an ihm und lässt als ob er etwas verbergen möchte. In der Früh sie/ihn oft nicht mehr los. Nicht nur während wirkt er oft abwesend und kann nur schwer zur der Arbeit beschäftigt eine/n das Kind, nein, Mitarbeit motiviert werden. auch zu Hause, in der Freizeit, vielleicht so- gar in der Nacht. Meist kristallisiert sich nach dem Wahrneh- Bei einem Verdacht ist es einerseits wichtig men einer Vielzahl von Hinweisen eine vage zu beobachten was ein Kind tut, was es sagt Vermutung oder ein Verdacht heraus. und was es zeigt – genauso wichtig ist es aber, Beispiel aus der Praxis was dieses Kind in mir auslöst, was ich emp- Eine Pädagogin beobachtet seit einiger Zeit finde, wenn ich das Mädchen/den Buben sehe bei einem Mädchen ihrer Klasse eine gestei- oder an sie/ihn denke. Wie geht es mir mit gerte Aggressivität und einen Leistungsabfall. diesem Kind, welche Gefühle habe ich ihm und Gleichzeitig fällt ihr auf, dass das Mädchen seiner Situation gegenüber? das Ausziehen vor dem Turnunterricht „zele- Das ist entscheidend, weil mir diese Projek- briert“ und sich vor den anderen Kindern zur tionen verraten können, wie es dem Mädchen/ Schau stellt. Auch fehlt das Mädchen häufig Buben geht und was sie/er möglicherweise Gefühle, Gedanken, Erfahrungen 12 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
erlebt. Verwirrt mich das Kind, so ist das Kind ation wenn schon nicht bewältigen, so doch selbst auch verwirrt und kennt sich nicht aus; besser aushalten lässt. Das Wissen, dass macht mich der Bub/das Mädchen aggressiv, wenn sie/er darüber reden könnte, ihr/ihm ge- so stecken in ihm/ihr wahrscheinlich auch glaubt würde, das alleine kann sehr entlastend Aggressionen; empfinde ich mich als hilf- sein. los und ohnmächtig, so sind das vermutlich ebenfalls Gefühle des Kindes. Es ist oft sehr schwer, das zu durchschauen und benötigt manchmal eine sehr lange Aus- einandersetzung und Selbstreflexion. Aber erst, wenn ich weiß, wieso ich welche Gefüh- le habe und zu wem sie eigentlich gehören, wird es möglich, dem Kind tatsächlich zu helfen. Das Wissen und die Klarheit darüber, dass mir viele der Emotionen des Kindes „nur“ gespiegelt werden, macht mich wieder handlungsfähig. Grundsätzlich muss bei der Vermutung von sexueller Gewalt in der Intervention sehr behutsam vorgegangen werden. Jede zu schnelle oder zu eindringliche Vorgangswei- se kann zu einem völligen Verschließen und Vertrauensbruch des Kindes der Pädagogin gegenüber führen, womit, zumindest für eini- ge Zeit, eine Aufdeckung unmöglich wird. Wenn man bedenkt, dass die meisten Be- troffenen von sexueller Ausbeutung erst im Jugend-, oder gar erst im Erwachsenenalter über die Übergriffe sprechen können, ergibt sich eine andere Sichtweise auf den Druck, möglichst schnell zu handeln. Das Gefühl, jemandem wichtig zu sein, ernst genommen zu werden, zu erfahren, dass die Verantwortung ausschließlich beim Täter liegt, das alles kann betroffenen Kindern eine nicht zu unterschätzende Unterstützung und Hoffnung sein, ein sicherer, heiler Ort, eine Kraftquelle, mit der sich die schwierige Situ- Gefühle, Gedanken, Erfahrungen 13 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Im Ohnmachtszwischenraum betroffenen Kinder auch. Das Wahr-haben-können wird vom Nicht-wahr- Den Zeitraum von der „leisen“ Vermutung bis haben-wollen wellenartig abgelöst, je nachdem zum erhärteten Verdacht (und einem mögli- wie gut aushaltbar die Ohnmachtsgefühle sind, chen Eingreifen behördlicher Stellen) nennen die Umwelt reagiert, das Kind Signale sendet, wir Ohnmachtszwischenraum, da er geprägt der Missbraucher die Wahrnehmung vernebelt. ist von einem immer wiederkehrenden Gefühl, nichts ändern zu können, von überflutenden An-sprechen, heraus-sagen, los-reden Gefühlen und viel Unklarheit. Die PädagogIn Auch die Sprachlosigkeit des Kindes aufgrund durchlebt, wie das Kind, eine schwere Zeit. des Geheimhaltungsdrucks, den der Täter dem Sie wird häufig sekundär traumatisiert und in Kind auferlegt und die Schamgefühle, darüber der Handlungsfähigkeit für einige Zeit einge- zu sprechen, kann die PädagogIn überneh- schränkt. Alle Gefühle des Kindes können men. Dies kann aus projizierten Ängsten des auch von der PädagogIn durchlebt werden. Kindes dem Angreifer gegenüber entstehen, aber auch aus realen Ängsten dem Täter Nichts ist mehr so wie es war gegenüber (er könnte der PädagogIn z. B. mit Sexuelle Gewalt bedeutet für ein betroffenes einer Verleumdungsklage drohen). Auch die Mädchen, einen betroffenen Buben immer Befürchtung, jemanden vielleicht zu Unrecht einen massiven Vertrauensverlust gegenüber zu beschuldigen, kann sprachlos machen. Die dem Täter, der Mutter und der nahen Umwelt. Angst vor möglichen Konsequenzen ist dann Zunächst wird das Vertrauen vom Täter - zu groß und kann zu Schuldgefühlen führen durch besondere Zuwendung, durch Geschen- („Das kann ich doch niemandem antun, da ke, durch Komplimente u.v.m.- erschlichen, wäre ich ja an der Zerstörung eines Lebens um dann ausgenutzt zu werden. Mädchen und schuld.“). Die Täterentlastung (Bagatellisieren Buben, die das erleben müssen, haben das oder Negieren der Taten, in Schutz nehmen) Gefühl, niemandem mehr trauen zu können. kann auch durch eine Art Identifikation (Über- Den Vertrauensverlust erlebt auch die Pädago- tragung) der PädagogIn mit dem Aggressor gin: in die Integrität der Eltern des betroffenen entstehen. Dann finden sich plötzlich viele Kindes („Wieso schaffen sie es nicht ihr Kind Gründe, wieso er sicher kein Täter sein kann zu schützen?“), gegenüber dem Täter, den und die Missbrauchsvermutung wirkt auf ein- KollegInnen, der DirektorIn und der Gesell- mal ungeheuerlich. schaft. Nichts ist mehr so wie es vorher war. Besonders stark wird das empfunden, wenn Manipulation nach allen Seiten sonst niemand ihre Wahrnehmungen teilt und Die Manipulationen durch den Täter gehen sie keinen Rückhalt bekommt. weit über das Kind hinaus, sie betreffen das gesamte Umfeld des Kindes – so auch direkt Es stimmt – es stimmt nicht – es stimmt oder indirekt die PädagogIn (in dem ihr/ihm – es stimmt nicht vom Täter z.B. Hilfe angeboten wird oder Den Zweifel an der eigenen Wahrnehmung besonderes Lob - z.B. für die pädagogischen und den Gefühlen erfahren PädagogInnen, die Fähigkeiten oder über die Person - ausgespro- sexuelle Gewalt vermuten, genau so wie die chen wird u.ä.). Auch eine abwertende Haltung Im Ohnmachtszwischenraum 14 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
der Mutter gegenüber sollte unter dem Aspekt betroffenen Kind aber keinesfalls helfen, da es der Tätermanipulation gesehen und hinterfragt wieder übergangen wird. Dies zu erfahren wirkt werden. Es wird sehr oft ein Keil in die Mut- für die Pädagogin/den Pädagogen oft entlas- ter-Kind Beziehung getrieben. Die Mutter darf tend und entspannt die Situation. nichts vom sexuellen Missbrauch erfahren, sie bedeutet eine wesentliche Gefahr für den Raum für starke Gefühle Täter. In einer Beratung ist es wichtig, die Pädagogin/ den Pädagogen zunächst „nur“ zu begleiten; Wieso reagiert denn niemand ihr/ihm Raum zu geben für ihre/seine Gefühle: Eine weitere Folge von sexueller Gewalterfah- Ängste, Aggressionen, Verwirrungen, die Wut rung ist das Gefühl der Isolation. Auch die Pä- über den Täter und/oder das Kind, die Hilflo- dagogIn erfährt dies. Sie fühlt sich oftmals von sigkeit, die Lähmung. All diese Gefühle be- den KollegInnen und der DirektorIn, aber auch sprechbar zu machen schafft Distanz, notwen- dem privaten Umfeld im Stich gelassen, weil dige Distanz zum betroffenen Mädchen/Buben, sich diese nicht mit dem sexuellen Missbrauch zum Täter, zu der Mutter bzw. dem nicht konfrontieren wollen. missbrauchenden Elternteil und zu den auf- kommenden Bildern und Fantasien über das, Immer noch näher was mit dem Kind geschehen ist. Erst durch Die Vermutung von sexuellem Kindesmiss- ein Wiedergewinnen von Sicherheit wird es der brauch fesselt jede/jeden, die/der damit zu tun Pädagogin/dem Pädagogen möglich, für das hat. Sie lähmt, lässt nicht mehr los, dringt in Kind da zu sein und für weitere Schritte, Bera- die intimsten Bereiche einer Person ein, macht tung und Vernetzung offen zu sein. auch vor der eigenen Sexualität nicht halt, bringt verdrängte Ängste und Aggressionen an die Oberfläche und fordert damit eine vehe- mente Auseinandersetzung mit dem Selbst. Schritt für Schritt Der erste Schritt ist die Bewusstmachung dieser sekundären Traumatisierung. Bei vermuteter sexueller Gewalt gerät die Päda- gogin fast immer in eine Krise, dies muss ihr bewusst (gemacht) werden. Oft wird zu schnell gehandelt: sofort die Mutter oder gar der Täter konfrontiert, andere Eltern informiert, vielleicht sogar angezeigt, das betroffene Kind – be- sonders, wenn es die erlebte sexuelle Gewalt aggressiv oder anderen Kindern gegenüber grenzverletzend ausagiert - aus der Schule „gejagt“. Der große Handlungsdruck ist Teil der sekundären Traumatisierung, kann dem Im Ohnmachtszwischenraum 15 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Überwindung des Ohnmachtszwischenraumes Haltung und konkrete Das kann ein Schutz sein, weil eine/r sich Handlungsschritte überfordert fühlt, es kann aber auch ganz ein- fach passieren, weil andere Dinge übergroß werden. Dann ist es wichtig, sich wieder der eigenen Rolle als Vertrauensperson des Kindes 41. Ruhe bewahren bewusst zu werden. Aber wie werden Sie oder bleiben Sie Vertrauensperson? 42. Suchen sie sich Verbündete, Men- schen, denen sie vertrauen (z.B.: KollegInnen, 45. Vertrauen aufbauen – wie mache ich DirektorInnen, FreundInnen, PartnerInnen,...); das? Was ist für ein Vertrauen wichtig? Zeigen Personen, die Ihnen glauben und Sie ernst Sie dem Mädchen/dem Buben, dass Sie es ehr- nehmen, vielleicht sogar den Verdacht teilen. lich mit ihr/ihm meinen, dass Sie ihr/ihm nichts Es tut gut und gibt Sicherheit, die eigene vorspielen. Dazu gehört auch Echtheit und Vermutung mitzuteilen und das „Sorgenpaket“ Authentizität: Zeigen Sie, wie es Ihnen wirklich nicht mehr alleine tragen zu müssen. Erkundi- geht; auch, wenn Sie betroffen, traurig oder wü- gen Sie sich, ob und wem Sie meldepflichtig tend sind, bringen Sie es kindgemäß (dem Alter sind. Generell gilt nur für die Polizei Anzei- entsprechend) zum Ausdruck. Nehmen sie das gepflicht. Ständig aktualisierte Information Kind unbedingt ernst. Auch, wenn Sie vielleicht zu rechtlichen Fragen finden Sie unter www. nicht alles glauben können – der Kern der schulpsychologie.at Sache stimmt. Bestätigen Sie dem Kind seine Wahrnehmungen. Das ist wichtig, weil diese oft von TäterInnen vernebelt werden. TäterInnen 43. Im nächsten Schritt holen Sie sich pro- verwirren Kinder, in dem sie ihre Handlungen fessionelle Hilfe in Beratungsstellen (siehe zum Beispiel als ganz „normal“ darstellen („Das Kapitel Links und Literatur). Diese können machen alle Väter mit ihren Mädchen“). Hillary Ihnen helfen, zu mehr Klarheit zu gelangen Eldridge, die mit sexuellen MissbrauchstäterIn- und die eigenen Möglichkeiten kennenzuler- nen arbeitet, spricht davon, dass TäterInnen nen. Es wird dabei geholfen, die eigene, dem Kinder nicht nur physisch missbrauchen, son- Beruf zugeordnete Rolle wieder zu finden. Es dern sie versuchen auch, den Kindern „Denk- ist wichtig, sich immer wieder klar zu machen, fehler zu implantieren“. (Eldridge, 1999) dass man die Vertrauensperson des Kindes, der/des Jugendlichen sein kann, aber nicht Sagen Sie dem Mädchen/dem Buben, dass Kriminalbeamtin/er, nicht DetektivIn, nicht ihr/sein Gefühl richtig ist, und nicht das, was Mutter/Vater, nicht TherapeutIn, sondern Päd- ihr/ihm eingeredet wurde. Wenn sich etwas agogin oder Pädagoge. komisch, eklig oder unangenehm angefühlt hat, so war es das auch. Versuchen Sie möglichst behutsam mit 44. Bleiben Sie bei dem Kind. Festi- Erzähltem und Gezeigtem umzugehen; das gen und stärken Sie die Beziehung zwischen Timing bestimmt immer das Kind. „Einfach“ da Ihnen und dem Kind. Es ist erstaunlich, wie sein, zuhören, gemeinsam etwas tun und im schnell in Gesprächen und Beratungen über Moment nicht nach Lösungen suchen, ist oft anderes wie z.B. den Täter/die Täterin oder über lange Zeit das Richtigste und Wichtigste die Meldung beim Jugendamt etc. gesprochen für das betroffene Mädchen/den betroffenen wird und das Mädchen/der Bub immer mehr Buben. Kinder (auch Erwachsene) brauchen aus dem Blickfeld gerät. Zeit, Mitgeteiltes zu verarbeiten. Machen Sie keine vorschnellen Versprechungen (z.B. absolute Geheimhaltung, sofortige Beendigung Haltung und konkrete Handlungsschritte 16 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
des Missbrauchs...), die können häufig nicht 410. Normalität – Alltag leben. Sehen gehalten werden und es kann zu einem Ver- Sie nicht nur das „arme Opfer“ im Kind. Es ist trauensbruch kommen. auch ein ganz „normales“ Mädchen/ein ganz „normaler“ Bub, die/der Fehler bei Schulaufga- ben macht, aggressiv zu anderen Kindern sein 46. Loben Sie das Kind für ihren/seinen kann, sich an Regeln halten soll usw. – und Mut. Geben Sie dem Kind die Information, dass genauso wie alle anderen behandelt werden es vielen Kindern ähnlich geht und dass kein will. Geben Sie dem betreffenden Kind keine Erwachsener oder Jugendlicher Übergriffe set- Sonderstellung, indem Sie es schonen oder zen darf, und die Verantwortung für jede nicht adäquat auf unangemessenes Verhalten Art von Grenzverletzung ausschließlich reagieren. Genau das hilft dem Kind nicht. Der beim Täter/bei der Täterin liegt. Schulalltag ist möglicherweise der einzige Halt für das Mädchen/den Buben. „Normalität“ und Strukturen (Stundenpläne, Klassenregeln, Auf- 47. Konfrontieren Sie nicht vor- gaben, Tests) geben Halt und Sicherheit. Das schnell Eltern oder andere Bezugspersonen Mädchen/der Bub nimmt wahr, es gibt auch des Kindes mit Ihrem Verdacht, insbesondere noch etwas anderes als diese „ver-rückte“ Welt wenn ein möglicher Täter im engeren Umfeld in der sie/er sonst lebt. Dies führt zu einem des Kindes zu vermuten ist oder die Reakti- Stück Stabilität. onen der Bezugspersonen auf den Verdacht nicht abzuschätzen sind. 411. Vieles besprechbar machen: Ge- fühle, auch kleine Probleme, Konflikte, Kritik, 48. Besprechen Sie alle weiteren Erlebnisse (schöne oder schwierige) – es ist Schritte mit dem Kind. Erklären Sie, dass alles wichtig, du (das Kind) bist wichtig und Sie Hilfe beiziehen müssen, weil Sie ihr/ihm wirst als Gesamtperson wahrgenommen (nicht alleine nicht so gut helfen können, oder, dass nur dein Körper). Das ist die Botschaft, die Sie das auch für Sie ein so schwieriges Problem damit vermitteln. Sie als PädagogIn sind dabei ist, dass auch Sie Hilfe brauchen. ein wichtiges Vorbild. Sprechen Sie über eigene Gefühle, gestehen Sie auch einmal einen Feh- ler ein oder entschuldigen Sie sich dafür. Reden 49. Verfassen Sie Gedächtnisproto- Sie auch über „schwierige“ Themen. So wird es kolle über Aussagen und Verhaltensweisen auch dem Mädchen/dem Buben möglich wer- des Kindes und dessen Umfeld. Damit halten den, über ihre/seine Erlebnisse zu erzählen. Sie fest, was Ihnen aufgefallen ist, was Sie mit dem Kind bereits besprochen haben und wann was war. Es ist später oft sehr schwer, die Er- eignisse und Beobachtungen zu rekonstruie- ren und zeitlich zu ordnen. (Eine Vorlage für ein solches Gedächtnisprotokoll finden Sie auch auf der Website des Unterrichtsministe- riums unter www.schulpsychologie.at in dem Dokument „Sexueller Missbrauch. Rechtliche Situation“) Haltung und konkrete Handlungsschritte 17 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Was vermieden werden soll Betroffenen sich bedrängt und alleingelassen fühlen, weil der Aufbau von Vertrauen dadurch Im Umfeld des Kindes, der/des Ju- gestört wird. gendlichen: Wenn ein Kind sich anvertraut, sollen indirek- te Schuldzuweisungen vermieden werden. Vom vorschnellen Konfrontieren der Erzie- Damit sind Sätze gemeint wie: „Hast du dich hungsberechtigten oder des mutmaßlichen gewehrt? Hast du gesagt, dass du das nicht Täters ist unbedingt abzuraten. Ist ein Täter willst? Hast du das der Mama (dem Papa) (oder eine Täterin) gewarnt und die Trennung schon erzählt?...“ Solche Sätze suggerieren, von TäterIn und Opfer nicht gewährleistet, dass das Kind den Missbrauch beenden oder wird er/sie Druck auf das Kind ausüben, da- verkürzen hätte können, was in der Realität so mit die Geheimhaltung gewahrt bleibt. Wenn gut wie unmöglich ist. Sollte es aufgrund von nicht missbrauchende Erziehungsberechtigte völlig verständlicher Überforderung zu solchen ohne Vorbereitung und Unterstützung von Aussagen gekommen sein, ist es wichtig, eventueller sexualisierter Gewalt am eigenen diese bei einem späteren Gespräch zu thema- Kind erfahren, so ist das eine traumatische tisieren und sie zurückzunehmen. Erfahrung. Deshalb muss Hilfe für sie selbst Voreilige Lösungsvorschläge können entmuti- bereitstehen, damit sie glauben können und gend wirken, denn alle missbrauchten Kinder für ihr Kind da sind. Andererseits ist mit Si- und Jugendlichen haben bereits viele Strate- cherheit anzunehmen, dass sie den/die mut- gien ausprobiert, auch wenn diese nach außen maßliche/n Täter/in konfrontieren und damit nicht sichtbar wurden. Und sie haben erlebt, warnen würden. dass ihre Lösungsversuche nicht geholfen ha- Außerdem ist zu bedenken: Wenn ein betrof- ben. Wenn jetzt ein “Überangebot” an schein- fenes Mädchen/ein betroffener Bub zu Hause bar einfachen Lösungsvorschlägen kommt, über den Missbrauch berichten könnte, würde wirkt das u.U. so, als habe die/der Betroffene sie/er das tun. Wenn sie/er das nicht tut, so es nicht richtig gemacht. hat das einen Grund und der sollte ernstge- nommen werden. Was im Vorfeld getan werden kann Im Umgang mit dem Kind, der/dem Da es in einer aktuellen Krise schwierig ist, Jugendlichen klaren Kopf zu bewahren und bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt der Handlungsdruck Es ist weder zielführend noch nötig, möglichst extrem groß ist, ist es empfehlenswert, sich viel herauszufinden, sozusagen „Detektivar- in der Institution damit auseinanderzusetzen, beit“ zu leisten. Eine Arbeitshypothese reicht wie ein Vorgehen im Verdachtsfall aussehen völlig aus, um sinnvolle Schritte einzuleiten. könnte. Eine genaue Abklärung durch intensive Befragung fällt nicht in den Aufgabenbereich der Schule und führt meistens dazu, dass die Haltung und konkrete Handlungsschritte 18 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Folgende Fragestellungen haben sich im Vorfeld als hilfreich erwiesen: 4Wer stellt sich als interne/r Ansprechpart- nerin oder Ansprechpartner für PädagogInnen, die einen Verdacht haben, zur Verfügung (Lei- tung, BeratungslehrerIn, Schulpsychologie, SchulärztIn, PsychagogIn...)? 4Gibt es Erfahrungen mit einschlägigen Beratungsstellen, wie viel Vertrauen gibt es da? 4Wie sind die Erfahrungen mit dem Ju- gendamt, gibt es dort AnsprechpartnerInnen? 4Gibt es Erfahrungen mit der Polizei, gibt es dort AnsprechpartnerInnen? Welche zwingenden Folgen hat eine Meldung bei der Polizei? 4Was ist die Rolle als Institution Schule bzw. einzelne/r Pädagogin/Pädagoge? 4Wo beginnt unsere/meine Verantwortung und wo hört sie auf? 4Wenn meine Verantwortung aufhört, wann übergebe ich an wen? 4Hat unsere Institution ein sexualpädago- gisches Konzept und falls ja, wie schaut das theoretisch und praktisch aus? Für konkrete Hilfseinrichtungen siehe auch Kapitel Schritte nach Draußen - vernetzte Intervention Haltung und konkrete Handlungsschritte 19 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Weiter im pädagogischen Alltag gin/Pädagoge signalisieren den Kindern damit: in der ganzen Klasse/Gruppe Gefühle sind bei uns erwünscht und müssen nicht verdrängt oder für sich behalten werden. Ich interessiere mich für das, was du erlebt Trotz des Ernstes der Situation ist es im Alltag hast. Es ist möglich darüber zu reden, ich höre für das betroffene Mädchen/den betroffenen dir zu und nehme es so wie du es sagst (d.h. Buben wichtig, keine Sonderstellung oder Iso- ich glaube dir deine Wahrnehmung von diesem lation von den anderen Kindern zu erfahren. oder jenem Erlebnis). Die/der Betroffene kann sich in der schüt- zenden Gruppe „verstecken“, aber dennoch „Mein Thron“ (aus Begleitmaterial „Ich bin doch keine für sich wichtige Informationen und Signale Zuckermaus“ Blattmann & Mebes, 2001) aufnehmen. Dafür eignen sich die Mittel der Die Kinder erhalten eine Kopiervorlage von Prävention am besten. Es ist im pädagogi- einem KönigInnen-Thron, auf dem sie als schen Alltag gut möglich und überdies für alle Königinnen und Könige Platz nehmen und sich Kinder sinnvoll, die ganze Klasse oder Grup- selbst malen sollen. Die Mädchen und Buben pe in die präventive Arbeit einzubeziehen. werden angeregt, sich ihren Thron auszuge- stalten. Geheimzeichen und Symbole, die für Stärke und Sicherheit stehen, symbolisieren Beispiele: den eigenen Thron als Kraftort innerer Ruhe. „Ein Dino zeigt Gefühle“ Sie zeigen den Kindern damit: Du bist wichtig (Manske & Löffel, 1996) und individuell. Wir schätzen uns gegensei- Das Bilderbuch zeigt einen Dino in zwölf tig und respektieren jede und jeden in der verschiedenen Stimmungen (fröhlich, wütend, Gruppe. Du hast ganz spezielle Fähigkeiten nachdenklich, entspannt...). Ergänzend zu und Stärken – das erkenne ich an. Sicherheit, den Bildern werden die unterschiedlichen Ge- Ruhe und Kraftholen ist hier in der Schule/im fühle in Worte gefasst. Das geschieht durch Kindergarten möglich. lautmalerische Ausrufe wie z. B.: „Dumdidum“ oder „Huuu“ oder „Grrr“ und durch ganze Sät- ze, die Stimmungen und Gefühlsbewegungen Karteikasten Sexualerziehung (aus „Freiarbeit – Kartei Sexualerziehung in wiedergeben. (Beim wütenden Dino steht Grundschule und Kindergarten“ z.B.:„Ich bin wütend“ – „Hau ab“, „Das macht Eichmanns, 1990) mich rasend“, „Ich habe Wut im Bauch“, „Wer Die Kartei ist ein Nachschlagewerk rund um will Streit mit mir?“). Im dazugehörigen Be- Sexualität. Gefühle, Vorurteile, biologisches gleitheft für die pädagogische Praxis finden Wissen und vieles was Kinder interessiert, Sie Vorschläge, wie Sie das Buch verwenden wird darin aufgenommen und kann auch von können. den SchülerInnen erweitert werden. (Beispie- Beim Betrachten und Lesen werden Assozia- le: „Warum heißt es Sex?“; “Weshalb ist es tionen geweckt. Die Kinder können über eige- mir peinlich wenn ich verliebt bin?”, „Tut Sex ne Erlebnisse berichten, bei denen sie sich so weh?“, Wie schaut eine Eizelle aus?“) wie der Dino gefühlt haben. Sie als Pädago- Weiter im pädagogischen Alltag 20 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Wenn Sie solch einen Karteikasten in der Klasse auflegen, signalisieren Sie den Mäd- chen und Buben damit, es ist selbstverständ- lich, wichtig, lustig und schön über Sexualität zu reden. Sie geben den Kindern damit ein Wissen und eine Sprache mit, die es mögli- cherweise erleichtert, über Erlebtes zu berich- ten. Vor allem machen Sie Mut: Wir können auch über gesellschaftlich immer noch tabu- isierte Themen reden und “ich falle nicht vor Schreck tot um“. Literatur Blattmann, S. & Mebes, M. (2001): Ich bin doch keine Zuckermaus - Begleitmaterial Verlag mebes & noack, Ruhnmark/ Bonn Eichmanns, C. (1990): Freiarbeit–Kartei Sexualerziehung in Grundschule und Kindergarten Verlag an der Ruhr, Mühlheim Enders, U. (2001): Zart war ich, bitter war´s – Handbuch gegen sexuellen Missbrauch Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Löffel, H. & Manske, C. (1996): Ein Dino zeigt Gefühle Donna Vita, Ruhnmark Weiter im pädagogischen Alltag 21 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Schritte nach Draußen: vernetzte Von einer Anzeige bei der Polizei ohne vorhe- Intervention rige Vernetzung mit dem Amt für Jugend und Familie, Beratungsstellen, der Kinder- und Wenn sich ein Verdacht auf sexuelle Gewalt Jugendanwaltschaft oder anderen Fachleuten an Kindern erhärtet, kommt ein großer Hand- raten wir dringend ab. Der Auftrag der Polizei lungsdruck auf. ist, TäterInnen zu stoppen. Dazu braucht es die Information der Betroffenen. Es geht also Bevor Sie “nach draußen” gehen, dass heißt, aus polizeilicher Sicht um die Aussagen des sich an behördliche Stellen wenden, sollte Kindes als Mittel zum Zweck. Das Tempo be- das betroffene Kind, die/der Jugendliche von troffener Kinder, ihre Bedürfnisse und Möglich- Ihnen darüber informiert werden. keiten finden in diesem Auftrag keinen Platz. Sehr hilfreich ist auch eine Dokumentation Geht eine Anzeige bei der Polizei ein, muss dessen, was die Vermutung auf sexuelle diese handeln und in den allermeisten Fällen Gewalt für Sie nahelegt; das sind Aufzeich- sind betroffene Kinder nicht vorbereitet, nicht nungen über Dinge, die das betroffene Kind begleitet und daher restlos überfordert. Diese gesagt oder gezeigt hat, Ergebnisse von schnellen Aktionen bringen Betroffene eher Austauschgesprächen mit KollegInnen u.a. zum Verstummen, als dass sie einer Beendi- (siehe dazu auch Kapitel Haltung und konkre- gung des Missbrauchs förderlich sind. te Handlungsschritte). Klarheit über die eigene Rolle macht den Vom Zeitpunkt einer vagen Vermutung bis zur Schritt “nach draußen” auch leichter. Beendigung von sexuellem Missbrauch kann sehr viel Zeit vergehen, da immer das Kindes- Allzu oft erleben wir, dass PädagogInnen wohl im Vordergrund zu stehen hat und Mäd- sich überfahren fühlen vom Tempo und der chen und Buben meistens sehr lange brau- Eigendynamik, die solch ein Schritt nach sich chen, um über Übergriffe zu berichten. Auch zieht. Denn anders als unabhängige Bera- darum heißt es in erster Linie: Ruhe bewahren. tungsstellen haben behördliche Stellen die Und das Tempo des Kindes im Blick behalten. Pflicht, weitere Schritte zu unternehmen. Und gerade weil das Amt für Jugend und Familie Zudem kann niemand allein sexualisierte die wichtigste Rolle bei der Beendigung von Gewalt an Kindern und Jugendlichen been- interfamiliärer sexueller Gewalt einnimmt, den. Dazu braucht es unbedingt vernetztes ist es im Sinne der Kinder und Jugendlichen Arbeiten. Je früher Personen, die eine vage wichtig, eine sogenannte Gefährdungsmel- Vermutung haben, sich Hilfe holen, desto dung gut vorzubereiten. Mit einer diffusen, besser kann einem Kind, einer/m Jugendlichen unklaren Meldung kann das Amt für Jugend geholfen werden. Eine Außensicht hilft bei den und Familie wenig anfangen. Denn bei einer weiteren Schritten. Gemeinsam wird überlegt, Meldung muss es innerhalb von wenigen wie das Mädchen/der Bub gestärkt werden Wochen tätig werden. kann und welche Signale und Informationen sie/er braucht, um eventuell etwas mehr zu erzählen oder zu zeigen, das für eine nachhal- tige Intervention notwendig ist. Schritte nach draussen:vernetzte Intervention 22 Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
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