HANDLUNG SPIEL & RÄUME - Erstellt vom Verein SELBSTLAUT im Auftrag des

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HANDLUNG
                     SPIEL &
                      RÄUME

Erstellt vom
Verein SELBSTLAUT
im Auftrag des
Impressum

   Handlung, Spiel & Räume
   Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen
   zum präventiven Handeln gegen sexuelle Ge-
   walt an Kindern und Jugendlichen mit neuen
   Präventionsmaterialien
   erstellt vom Verein SELBSTLAUT
   im Auftrag des BMUKK,
   leicht veränderte zweite Auflage, Wien 2009

   Fachliche Begleitung:
   SRin Maria Tripammer

   Verein Selbstlaut
   Gegen sexuelle Gewalt an
   Kindern und Jugendlichen                                Leitfaden für Pädagoginnen und
   Vorbeugung - Beratung - Verdachtsbegleitung                     Pädagogen zum
   Berggasse 32/4, A - 1090 Wien
   www.selbstlaut.org, office@selbstlaut.org                  präventiven Handeln gegen
                                                           sexuelle Gewalt an Kindern und
   Grafik und Webgestaltung                                        Jugendlichen mit
   Helga Hofbauer
                                                            neuen Präventionsmaterialien
   Unser großer Dank gilt:
   SRin Maria Tripammer
   Dr. Beatrix Haller, bmukk
   Dr. Harald Aigner, bmukk
   Vlatka Frketić

   Die Bilder, Zeichnungen und Illustratio-
   nen im Materialienteil sind von:
   Christine Aebi
   Zülay Arıkan
   Linda Bilda
   Sissi Konlechner
   Jo Schmeiser
   Helga Hofbauer
   Alexandra Mesensky
   Christine Klimt
   Markus Dorfmüller

   Medieninhaber: Bundesministerium für
   Unterricht, Kunst und Kultur

                                                                               Impressum   2

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Inhaltsverzeichnis

   Einleitung und Einladung                         5         Grundlagenwissen über
                                                              sexuelle Gewalt

                                                                 4Definition und Fakten                   25
   Betroffenheit, Wut und                           8
   Kampfgeist                                                    4Psychodynamik des                      27
   Was es bedeutet, als PädagogIn bei sexuellem                  betroffenen Kindes
   Kindesmissbrauch hinzuschauen
                                                                 4Die Rolle der Mütter bzw.              29
                                                                 nicht missbrauchender Elternteile
   Ein Verdacht kommt auf
                                                                 4 Täterstrategien                       31

      4Kinder und Jugendliche                     10             4Auswirkungen der Dynamik               34
      setzen Zeichen                                             von sexueller Gewalt auf
                                                                 das pädagogische System
      4Gefühle, Gedanken, Erfahrungen             12
      der Pädagogin/des Pädagogen

      4Im Ohnmachtszwischenraum                   14          Prävention

                                                                 4Ein lautes NEIN braucht viele          36
                                                                 Mit-Laute

   Überwindung des                                               4Geschichte der Prävention              37
   Ohnmachtszwischenraumes
                                                                 4Primär-, Sekundär-,                    40
      4Haltung und konkrete                       16             Tertiärprävention
      Handlungsschritte
                                                                 4Praktische Arbeit mit Kindern          42
      4Weiter im pädagogischen                    20             in der Primär, - Sekundär - und
      Alltag in der ganzen Klasse/Gruppe                         Tertiärprävention

      4Schritte nach Draussen:                    22             4Interkulturelle Prävention             47
      Vernetzte Intervention                                     von sexueller Ausbeutung

                                                                 4Unterscheidung von                     50
                                                                 Vorbeugung und Selbstverteidigung

                                                                             Inhaltsverzeichnis      3

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
4Informationen für Eltern und               51
      Erziehungsberechtigte (mehrsprachig)

   Sexualisierte Gewalt in                        54
   Institutionen
      4Missbrauch durch Pädagogen                 55
      und Pädagoginnen

      4Sexuelle Übergriffe unter Kindern          57

   Strukturelle Stolpersteine
      4Gesellschaftliche Bedingungen,             63
      die sexuelle Gewalt begünstigen

      4Stigmatisierung der HelferInnen            65

                                                              Neue Präventionsmaterialien
      4Die Angst davor, jemanden zu               66          link---> Text Neue Präventionsmaterialien
      Unrecht zu beschuldigen

                                                              Präventionsmaterialien-Module

   Handlungsspielräume                            68             4Gefühle
   Über kleine und große Erfolge wird nie                        4Identität, Rollenbilder, Persönlichkeit
   berichtet
                                                                 4Liebe ist...
                                                                 4Grenzen setzen und Hilfe holen
                                                                 4Sexualitäten
                                                                 4Lebensformen und Beziehungen
   Selbstlaut                                 70
   Die Verfasserinnen, der Verein: Angebote und                  4Solidarität
   Kontakt

   Links & Literatur                              72

                                                                             Inhaltsverzeichnis           4

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Einleitung und Einladung

   Wir möchten Sie mit diesem Leitfaden einla-                schenraum” gefunden und betroffene Kinder
   den, einen Blick und vielleicht mehr auf das               gestützt, in ihren Wahrnehmungen gestärkt,
   zu werfen, was die Begegnung mit sexuellem                 auf eine mögliche Aufdeckung oder Änderung
   Kindesmissbrauch alles auslösen und nach                   der Situation vorbereitet und Schuldgefühle
   sich ziehen kann.                                          von ihren Schultern genommen werden.
   Selbstlaut hat den Leitfaden erstellt, um einen
   fairen, in der alltäglichen Berufsrealität brauch-         Wie das möglich ist, wird im folgenden Leitfa-
   baren, weder änstigenden noch verharmlosen-                den, der sich an der Rolle der Pädagogin/des
   den Zugang zu dem anzubieten, was sexuelle                 Pädagogen orientiert, ganz konkret gezeigt:
   Gewalt in der Klasse, Kindergruppe, Einrich-
   tung und in der eigenen Umgebung konkret                      4chronologische Schilderung der Zeitspan-
   bedeutet und an Handeln erfordert.                         ne von einer vagen Vermutung zur vernetzten
                                                              Intervention
   Dies hier ist keine theoretische Abhandlung,
   kein Must-to-Do, kein Abgesang auf die böse                  4grundlegende Information zu der Dynamik
   Welt, sondern zusammengetragene Erfahrung                  von sexueller Gewalt
   verschiedenster PraktikerInnen aus Schu-                      4notwendige Handlungsschritte für die
   le, Sozialarbeit, Jugendamt, Justiz, Familie,              Arbeit mit dem betroffenen Kind und mit der
   FreundInnenkreis, Prozessbegleitung... und                 ganzen Gruppe/Klasse
   unserer 18-jährigen Arbeit gegen sexualisierte                4praktische Übungen mit Mitteln der Prä-
   Gewalt an Kindern und Jugendlichen.                        vention zur Erhärtung einer Vermutung und
                                                              Vorbereitung der Aufdeckung durch das betrof-
                                                              fene Kind selbst
   PädagogInnen sind oftmals diejenigen, die als
   erste von sexueller Gewalt erfahren oder sie                  4Kapitel zu sexuellen Übergriffen unter
   vermuten, also Vertrauenspersonen betroffe-                Kindern und Jugendlichen
   ner Kinder/Jugendlicher und somit jene Perso-                4konkrete Kenntnisse über Grundlagen und
   nen, die eine Aufdeckung ermöglichen.                      Möglichkeiten der Vorbeugung
   “Für viele missbrauchte Kinder ist die Schule                 4Links und Literaturhinweise
   der erste sichere Ort außerhalb der Familie,                  4neu erstellte Präventionsmaterialien, die
   an welchem sie ein “normales” Leben führen                 Selbstlaut in Kooperation mit KünstlerInnen
   können. Sie begegnen erwachsenen Perso-                    und SchülerInnen ausgearbeitet und mit didak-
   nen, die auf Grund ihres Berufes Helfer sein               tischen Hinweisen zum Einsatz im pädagogi-
   können.” (Sellnar, 2007)                                   schen Alltag versehen hat
   In dieser wichtigen Rolle brauchen PädagogIn-
   nen viel Geduld und Kraft, um einen oftmals                Die Kapitel des Leitfadens sowie die
   langen Zeitraum zu bewältigen, in dem sie                  Präventionsmaterialien können Sie ein-
   Missbrauch ahnen, ihn aber (noch) nicht unter-             zeln downloaden.
   brechen können. Häufig macht sich das Ge-
   fühl breit, die Situation sei unveränderbar. Mit           Sie werden im Folgenden so unterschiedliche
   den Mitteln der Prävention, reichhaltigen neu              Begriffe finden wie sexuelle Ausbeutung, sexu-
   erstellten Materialien und fachlicher Begleitung           alisierte Gewalt, Übergriff, Angriff, Kindesmiss-
   können Wege aus diesem “Ohnmachtszwi-                      brauch u.a. Wir haben uns dazu entschieden,

                                                                    Einleitung und Einladung            5

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
wechselnde Begriffe zu verwenden, da jede                  Kinderdorfmütter, Tagesmütter/väter, kurz alle,
   Person andere Schwerpunkte setzt, Worte auf                die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu
   ihre/seine Art mit Bedeutung füllt und es unse-            tun haben.
   rer Meinung nach keine Ausdrucksweise gibt,                Nach unserer Erfahrung engagieren sich we-
   die alle wichtigen Aspekte sexueller Ausbeu-               sentlich mehr Pädagoginnen als Pädagogen
   tung einschließt.                                          gegen sexuelle Gewalt. Das liegt zuallererst
   Sie finden weiters sowohl die große I-Schrei-               daran, dass Frauen gesellschaftlich nach
   bung, die Schrägstrich-Schreibweise wie auch               wie vor die Hauptzuständigen für Kinder und
   sonstige Möglichkeiten, Personen jeden Ge-                 Jugendliche sind. Zudem sind wesentlich mehr
   schlechts sprachlich sichtbar zu machen.                   Mädchen/Frauen von sexueller Ausbeutung
   Wir verwenden weiters die Begriffe Verdacht                betroffen. Und die Enttabuisierung und Be-
   und Vermutung, weil beide Begriffe von den                 kämpfung von sexualisierter Gewalt gehen auf
   Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten,                  die Frauenbewegung und feministische Projek-
   verwendet werden. Verdacht ist dahingehend                 te zurück, wurden und werden also überwie-
   irreführend, dass es ein Begriff aus der Ge-               gend von Frauen getragen.
   richtssprache ist, PädagogInnen aber nicht in              Sie finden in diesem Leitfaden hin und wieder
   der Rolle sind und sein können, einen Ver-                 ausschließlich die weibliche Form, um diesen
   dacht mit kriminalistischen oder gerichtlichen             Tatsachen Ausdruck zu verleihen. Umgekehrt
   Beweisführungsmitteln zu erhärten. Vermutung               schreiben wir öfter von Tätern als von Täte-
   ist also der passendere Begriff. Nichtsdesto-              rinnen, um dem Umstand gerecht zu werden,
   trotz finden Sie im Folgenden beide Begriffe,               dass ein Großteil der Missbraucher männlich
   gibt es doch auch immer wieder Zeitpunkte, an              ist.
   denen involvierte PädagogInnen tatsächlich
   das Gefühl haben, mitten in einem (schlech-
   ten) Krimi zu stehen und der Begriff “Vermu-               Das “wir”, das Sie als Verfasserinnen an-
   tung” der Wucht der Ereignisse nicht gerecht               spricht, sind die derzeit sechs Mitarbeiterinnen
   wird.                                                      des Vereins

   Der Leitfaden ist an praktischen Abläufen                  Selbstlaut
   entlang aufgebaut. So finden Sie am Anfang                  Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und
   weder Definitionen noch Zahlen, sondern stei-               Buben, Vorbeugung - Beratung -
   gen quasi ein in die Signale, die die Vermutung            Verdachtsbegleitung
   auf Kindesmissbrauch auslösen und folgen im
   Weiteren den Stadien, die viele PädagogInnen               und wir möchten uns an dieser Stelle ganz
   durchlaufen, die die Zeichen und Signale von               herzlich bei Maria Tripammer bedanken, die
   Kindern/Jugendlichen empfangen.                            den Leitfaden fachlich begleitet hat und die
                                                              die Situation betroffener LehrerInnen in der
   Mit Pädagogin/Pädagoge meinen wir nicht nur                Institution Schule kennt und als eine der ersten
   LehrerInnen in Pflicht- und weiterführenden                 zum Thema Prävention und Vernetzung aktiv
   Schulen, sondern auch SozialpädagogInnen,                  geworden ist.
   ErzieherInnen, BehindertenbetreuerInnen,

                                                                    Einleitung und Einladung           6

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
... und wieso noch mehr Materialien?

   Präventionsmaterialien sind für die Arbeit und
   das Spiel mit Kindern und Jugendlichen ge-
   dacht, aber auch als Anregung für Multiplikato-
   rInnen.
   Die Verantwortung für die Gesellschaft, wie
   sie ist, tragen die Erwachsenen. Auch für die
   Denk(T)räume, für die Möglichkeiten, die zur
   Auswahl stehen, für Rolemodels und die Inhal-
   te der Prävention. Das heißt, zuallererst sollten
   gute Materialien zur Vorbeugung von sexueller
   Gewalt nicht den Status Quo fortschreiben,
   sondern überraschen, anregen, herausfordern.
   Und zwar zuallererst die Erwachsenen.
   Natürlich spielen bei der Beurteilung von
   Arbeitsmaterialien viele Faktoren eine Rolle,
   nicht zuletzt künstlerische Geschmacksfragen.
   Aber wenn eine Pädagogin, um ein Beispiel
   zu nennen, in Arbeitsblättern zu kindlicher
   Sexualität vielleicht zum ersten Mal liest, dass           Literatur
   Babies mitunter schon Orgasmen haben oder
   wieviele Kinder intersexuell (d.h. mit soge-               Sellnar, S. in: Sedlak, F. & Sellnar, S. & Reumann, C.
   nannt „uneindeutigen“ Geschlechtsorganen)                  (2007):
   geboren werden oder in einer anderen Übung                 Begegnungstraum(a) und Begegnungsraum
                                                              BMUKK, Wien
   die SchülerInnen beschreiben läßt, was Liebe
   alles ist oder was das Schimpfwort Schlampe                Tripammer, M. & Wanke, P. (1992):
   eigentlich genau meint, dann stellt sich die Pä-           Sexueller Missbrauch an Kindern
   dagogin vermutlich selber auch diese Fragen                Jugend&Volk, Wien
   und genau dann haben die Materialien bereits
   einen Prozess in Gang gesetzt, der für eine
   präventive Haltung wichtig ist.
   Wir als Erwachsene stehen nicht über den
   Inhalten der Prävention von sexuellem Kindes-
   missbrauch, sondern mittendrin.

                                                                     Einleitung und Einladung                   7

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Betroffenheit, Wut und Kampf-
   geist

   Was es bedeutet, als Pädagogin/Pä-                         betroffene Kind in diesem Wollen nicht mitspie-
   dagoge bei sexuellem Kindesmiss-                           len. In dieser Enttäuschung und erlebten Ohn-
   brauch hinzuschauen                                        macht geht häufig das Gefühl für vermeintlich
                                                              kleine Schritte verloren: Glauben schenken,
   Kinder und Jugendliche werden zum allergröß-               das Kind ernst nehmen, einen missbrauchsfrei-
   ten Teil in der Familie und im Bekanntenkreis              en Raum bieten, Tabus als solche enttarnen,
   sexuell ausgebeutet. Das heißt auch, dass                  die Wahrnehmung stärken. Klingt so wenig im
   eine Unterstützung des betroffenen Kindes im               Vergleich zu Missbrauch beenden, AngreiferIn-
   familiären Umfeld besonders schwierig ist, da              nen hinter Gitter bringen, Verhältnisse spren-
   vielschichtige emotionale, aber auch materiel-             gen, Gesellschaft verändern.
   le und soziale Verbindungen, Abhängigkeiten                Unsere Erfahrung ist, dass es gerade diese
   und Verstrickungen Teil der missbräuchlichen               scheinbar kleinen Schritte sind, die real mög-
   Struktur sind.                                             lich und notwendig sind und für ein betroffenes
   LehrerInnen, KindergärtnerInnen u.a., die mit              Mädchen/einen betroffenen Buben riesengros-
   Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben                   se Schritte bedeuten.
   auch bei größter emotionaler Nähe zu einem                 Der Wunsch der Helferin/des Helfers, die Welt
   betroffenen Mädchen oder Buben immer auch                  zu ändern, die Wut auf eine Gesellschaft, die
   noch andere Kinder in der Gruppe/Klasse und                so etwas zulässt bzw. erst ermöglicht, die
   einen privaten Lebensraum, in dem sie dem                  Verdammungen und Allmachtsphantasien sind
   betroffenen Kind nicht begegnen. Diese Dis-                aber wichtige Energiequellen eines Handelns
   tanz ist beste Voraussetzung dafür, bei sexu-              gegen sexuelle Gewalt. So banal das klingt:
   eller Gewalt ins Vertrauen gezogen zu werden               die Welt ist vor der unmittelbaren Konfrontati-
   oder Auffälligkeiten zu bemerken.                          on mit sexualisierter Gewalt und danach nicht
                                                              mehr dieselbe. Wir möchten Sie einladen,
   Vom Möglichen, Unmöglichen und dem                         diese Tatsache nicht als Verlust zu sehen, son-
   Dazwischen                                                 dern als Klärung und als Voraussetzung für ge-
   Fast jede Person, die von sexueller Ausbeu-                sellschaftspolitisch relevantes Handeln. Denn
   tung eines Kindes erfährt, will zunächst alles             das ist es, wenn eine Person bei Missbrauch
   auf einmal, alles was möglich und alles was                nicht weg- sondern hinschaut: gesellschaftspo-
   unmöglich ist: das Kind in Sicherheit bringen,             litisch relevantes Handeln.
   den/die Täter/in stellen und möglichst bekeh-
   ren oder aber dingfest machen, (nicht selten               Die Wucht der herrschenden Ordnung
   am liebsten auch umbringen), die Gesellschaft              ist dabei nicht zu unterschätzen. Bei aller Er-
   verändern, die Schule bzw. die eigenen Ar-                 klärung offizieller Stellen, wie wichtig Vorbeu-
   beitsstrukturen grundlegend umbauen (nicht                 gung von sexueller Gewalt und Opferschutz
   selten einfach sprengen), allen sagen wie                  sei, ist es unserer Meinung nach wichtig, im
   es wirklich ist, Schreckliches ungeschehen                 Auge zu behalten, dass ein Handeln gegen
   machen und dergleichen mehr. Das ist völlig                sexuelle Gewalt jeweils nur in begrenztem
   normal.                                                    Rahmen im Sinne staatlicher Autoritäten sein
   Meist bleibt ein Ohnmachtsgefühl, weil Tä-                 kann. Weil es eben ein Handeln ist, an dessen
   ter/in, Gesellschaft und manchmal auch das                 utopischem Ende immer eine andere Gesell-

                                                         Betroffenheit, Wut und Kampfgeist            8

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
schaft als die vorhandene und von staatlichen              wiedergefunden haben. Diese Rolle überneh-
   Stellen verwaltete stehen muss. Das erklärt                men Sie, wenn Sie zu sexuellem Kindesmiss-
   u.a. auch die Wucht, mit der Menschen, die                 brauch laut Nein sagen. Nicht mehr und nicht
   hinschauen, oft daran gehindert werden, zu                 weniger.
   sehen, was sie sehen und daraus Konsequen-
   zen zu ziehen. Und warum es so schwierig                   Diese Tatsache weckt vielleicht Ihren Kampf-
   ist, Verbündete zu finden. Wer sexuelle Aus-                geist, Ihre Wut oder auch Ihr Befremden, Ihre
   beutung konkret beenden will, sieht sich auf               Neugierde oder Ihre Betroffenheit. In jedem
   der Stelle mit nicht für möglich gehaltenen                Fall sind Sie, auch wenn es Ihnen in manchen
   Widerständen und Angriffen konfrontiert. Und               Momenten so vorkommen mag, nicht allein.
   das sowohl im eigenen Bekanntenkreis als                   Immer wieder hat sich der stehende Satz
   auch in der Arbeitsumgebung bis hin zu über-               unserer Präventionsvorreiterin- und kollegin
   geordneten Stellen und der öffentlichen Hand.              Ursula Enders von Zartbitter Köln bestätigt:
   Der Grund dafür ist Angst. Angst, dass kein                „Wenn eine Pädagogin oder ein Pädagoge
   Stein auf dem anderen bleibt. Eingreifende/                den Weg in eine Beratungsstelle gefunden
   helfende Personen haben das längst begriffen               hat, ist für das von Missbrauch betroffene Kind
   und kämpfen sehr bald nicht mehr nur gegen                 die Hälfte des möglichen Weges bereits ge-
   die Manipulations“künste“ von TäterInnen,                  schafft.“
   sondern gegen Menschen im Umfeld, die um
   den Boden kämpfen, auf dem sie stehen oder
   glauben, zu stehen.
   Und auch der eigene Boden gerät ins Schwan-
   ken. Die Konfrontation mit sexueller Ausbeu-
   tung und den “Filmen” im Kopf, die ausgelöst
   werden und nur schwer zu stoppen sind, zieht
   häufig nicht zuletzt auch die eigene Sexualität
   in Mitleidenschaft. Verunsicherung und Unlust
   können sich breit machen, aber - und das sei
   hier unbedingt dazugesagt - häufig ist das eine
   vorübergehende Begleiterscheinung, die nach-
   lässt, wenn aktiv Schritte gegen den vermute-
   ten Missbrauch unternommen werden.

   Vom Stören und Empören
   Immer wieder haben wir erlebt, dass Päda-
   gogInnen, Mütter und andere HelferInnen,
   die sich selbst als unpolitisch, eher zufrieden,
   angepasst oder jedenfalls unauffällig einge-
   schätzt haben, sich plötzlich in der Rolle der
   Anführer/in, der Aufwiegler/in, der kritischen
   Stimme, der Störer/in von Ruhe und Ordnung

                                                         Betroffenheit, Wut und Kampfgeist            9

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Ein Verdacht kommt auf

   Kinder und Jugendliche setzen Zei-                         Betroffene Kinder spielen manchmal die erleb-
   chen                                                       ten Gewaltsituationen nach.
                                                              Als deutliches Zeichen kann gewertet werden,
   Auf die eine oder andere Weise zeigt jedes                 wenn Kinder ein geradezu zwanghaftes Be-
   Kind sein Nein gegen sexuelle Übergriffe                   dürfnis zeigen, sexuelle Handlungen immer
   (Abwenden des Kopfes, Versteifen des ganzen                wieder nachzuspielen und dabei auch ver-
   Körpers...), aber Täter und Täterinnen über-               suchen, andere Kinder miteinzubeziehen bzw.
   gehen diese Zeichen. Fast alle Mädchen und                 zum „Mitspielen“ zu überreden oder gar zu
   Buben versuchen sich auch auf ihre kindliche               nötigen.
   Weise gegen den sexuellen Missbrauch zu                    Manche Kinder drücken die erlebte sexuelle
   wehren (Versuch, dem Täter aus dem Weg zu                  Gewalt auch in ihren Zeichnungen aus. Bei
   gehen, Meiden von bestimmten Personen oder                 Kinderzeichnungen ist allerdings zu beach-
   Orten, Anziehen von möglichst vielen Klei-                 ten, diese von den Kindern kommentieren zu
   dungsstücken...).                                          lassen und maximal als einen möglichen An-
   Dennoch gibt es sehr wenig eindeutige Symp-                haltspunkt für erlebte Übergriffe festzuhalten.
   tome, die zweifelsfrei auf sexuellen Miss-                 Kinderzeichnungen allein für sich genommen
   brauch schließen lassen. Es gibt betroffene                können sexualisierte Gewalt nie beweisen.
   Kinder, die in ihrem Verhalten keine besonde-              Zudem ist eine Beweisführung in keinem Fall
   ren Auffälligkeiten zeigen. Und es gibt betroffe-          Aufgabe von PädagogInnen, sondern die des
   ne Kinder, deren Verhalten sehr auffällig ist.             Gerichts.
   Für alle Mädchen und Buben ist es jeden-                   Viele sexuell missbrauchte Mädchen und Bu-
   falls schwierig, über sexuellen Missbrauch zu              ben leiden unter den verschiedensten psycho-
   reden.                                                     somatischen Beschwerden und Ängsten. Die-
   Viele betroffene Kinder senden Signale aus,                se Beschwerden sind Reaktionen des Körpers,
   um Menschen in ihrem Umfeld aufmerksam zu                  ausgelöst durch die psychische Belastung und
   machen und somit Hilfe zu bekommen.                        äußern sich zum Beispiel in Bauchschmerzen,
   Sie verhalten sich plötzlich anders, ohne dass             Kopfschmerzen, Hautkrankheiten, häufigem
   von außen ein nachvollziehbarer Grund er-                  Kranksein, Schmerzen, für die sich keine or-
   sichtlich ist.                                             ganischen Ursachen finden lassen, Schlafstö-
   Traumatisierte Kinder können starke Stim-                  rungen, Albträumen, chronischer Erschöpfung,
   mungsschwankungen haben, sie können still                  Konzentrationsstörungen, Depressionen, Reiz-
   werden, sich verschließen und zurückziehen,                barkeit, Weinkrämpfen oder Wutausbrüchen.
   aber auch unruhiges, aggressives bis hin zu                Manche Betroffene entwickeln autoaggressi-
   übergriffigem Verhalten zeigen.                             ve Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen,
   Sie versuchen eventuell Situationen oder Akti-             Essstörungen (Magersucht, Bulimie), Drogen-
   vitäten zu vermeiden, die Erinnerungen an die              konsum und Sucht, bis hin zu Selbstmordver-
   Gewalterfahrungen hervorrufen.                             suchen.
   Manchmal ist ihr Verhalten nicht altersadäquat,            Körperliche Symptome wie Hämatome und
   sie zeigen plötzlich regressives oder ein dem              Verletzungen im Brust- und Genitalbereich,
   Alter unangemessenes, stark sexualisiertes,                Geschlechtskrankheiten, Spermaspuren und
   distanzloses Verhalten.                                    Schwangerschaften bei jungen Mädchen sind

                                                     Kinder und Jugendliche setzen Zeichen           10

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
als eindeutige Symptome für sexuellen Miss-
   brauch zu werten, stellen aber die Ausnahme
   dar.

   Es gibt eine Vielzahl an möglichen Hinweisen
   auf sexuellen Missbrauch. Eine Auffälligkeit
   alleine kann Missbrauch nicht „beweisen“. Erst
   die Summe und Verdichtung mehrerer Signale
   und Symptome, eine plötzliche und unerklär-
   bare Verhaltensveränderung des Kindes, das
   Zusammenfügen von Beobachtungen, ver-
   bunden mit den eigenen Gefühlen können auf
   sexuellen Missbrauch schließen lassen.
   Als PädagogIn findet man häufig für das
   „auffällige“ Verhalten von betroffenen Kindern
   keine „Schublade“, keinen erklärbaren Grund.
   PädagogInnen sprechen dann häufig von ei-
   nem „komischen Gefühl“, das sie nicht einord-
   nen können und das sie nicht mehr loslässt.
   Es ist typisch, dass ein aufkommender Ver-
   dacht in Wellen auftaucht und mitunter starke
   Gefühlsverwirrungen hervorruft.
   Eines der wichtigsten „Erkennungsmerkmale“
   für sexuellen Missbrauch bleibt im Umgang
   mit Kindern demnach das eigene Gefühl. Für
   Pädagoginnen, Pädagogen und alle die mit
   Kindern zu tun haben, ist es wichtig, ihrem
   eigenen Gefühl zu trauen, auf Erzählungen der
   Kinder zu hören, offen zu sein, um die Möglich-
   keit des sexuellen Missbrauchs in Erwägung
   ziehen zu können und die Mitteilungsversuche
   der Kinder als mögliche Hinweise auf sexuel-
   len Missbrauch wahrzunehmen.

                                                     Kinder und Jugendliche setzen Zeichen   11

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Gefühle, Gedanken, Erfahrungen                            wegen Blasenentzündungen. Die Mutter des
    der Pädagogin/des Pädagogen                               Mädchens reagiert auf Fragen der Lehrerin
                                                              bezüglich des veränderten Verhaltens und des
    Wo beginnt eigentlich der Verdacht auf se-                Fehlens des Kindes ausweichend und be-
    xuellen Kindesmissbrauch? Wie sehen die                   schwichtigend.
    ersten Anzeichen, Hinweise, Auffälligkeiten
    aus – oder was macht mich stutzig, was be-                Beispiel aus der Praxis
    rührt mich? Bei wem fällt mir etwas auf: beim             Beim Anschauen von Sexualerziehungsbü-
    Kind – bei den Eltern/Erziehungsberechtigten              chern fällt einer Pädagogin auf, dass ein Mäd-
    – bei sonstigen Verwandten – bei anderen                  chen ganz rote Backen bekommt und auf dem
    Mädchen und Buben meiner Klasse/ meiner                   Sessel hin und her zu rutschen beginnt. Das
    Kindergruppe? Und – was mache ich, wenn                   Mädchen ist eine sehr angepasste und gute
    ich etwas wahrnehme? Wie reagiere ich auf                 Schülerin, die ihre Sachen immer in Ordnung
    das Kind, die Eltern...? Wie gehe ich mit der             hält. Sie sucht oft die Nähe zur Pädagogin und
    gesamten Klasse/Gruppe um? Was will ich                   hilft ihr gerne bei anfallenden Tätigkeiten wie
    vermitteln – und was eigentlich nicht? Wie                Tafel löschen, etwas holen oder austeilen. Die
    kann ich helfen – will ich das überhaupt? Bin             Lehrerin hat das Gefühl, dass das Mädchen ihr
    ich die/der Richtige für das Kind?                        etwas erzählen möchte, sich aber nicht traut.
    Das alles sind Fragen, die sich PädagogIn-
                                                              Beispiel aus der Praxis
    nen stellen, wenn sie sich mit sexueller Ge-
                                                              Ein zehnjähriger Bub erzählt, dass sein Vater
    walt oder der Vermutung auf sexuelle Gewalt
                                                              sich jede Nacht zu ihm ins Bett legt, dabei hät-
    konfrontiert sehen.
                                                              te er doch sein Bett gerne für sich alleine. Im-
    Eine Flut an Emotionen, Fragen und Unklar-
                                                              mer wieder macht er Zeichnungen, bei denen
    heiten bricht über sie/ihn herein.
                                                              am Schluss alles schwarz übermalt wird, so
    Die Vermutung „nagt“ an ihr/an ihm und lässt
                                                              als ob er etwas verbergen möchte. In der Früh
    sie/ihn oft nicht mehr los. Nicht nur während
                                                              wirkt er oft abwesend und kann nur schwer zur
    der Arbeit beschäftigt eine/n das Kind, nein,
                                                              Mitarbeit motiviert werden.
    auch zu Hause, in der Freizeit, vielleicht so-
    gar in der Nacht.
    Meist kristallisiert sich nach dem Wahrneh-
                                                              Bei einem Verdacht ist es einerseits wichtig
    men einer Vielzahl von Hinweisen eine vage
                                                              zu beobachten was ein Kind tut, was es sagt
    Vermutung oder ein Verdacht heraus.
                                                              und was es zeigt – genauso wichtig ist es aber,
    Beispiel aus der Praxis                                   was dieses Kind in mir auslöst, was ich emp-
    Eine Pädagogin beobachtet seit einiger Zeit               finde, wenn ich das Mädchen/den Buben sehe
    bei einem Mädchen ihrer Klasse eine gestei-               oder an sie/ihn denke. Wie geht es mir mit
    gerte Aggressivität und einen Leistungsabfall.            diesem Kind, welche Gefühle habe ich ihm und
    Gleichzeitig fällt ihr auf, dass das Mädchen              seiner Situation gegenüber?
    das Ausziehen vor dem Turnunterricht „zele-               Das ist entscheidend, weil mir diese Projek-
    briert“ und sich vor den anderen Kindern zur              tionen verraten können, wie es dem Mädchen/
    Schau stellt. Auch fehlt das Mädchen häufig                Buben geht und was sie/er möglicherweise

                                                             Gefühle, Gedanken, Erfahrungen           12

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
erlebt. Verwirrt mich das Kind, so ist das Kind           ation wenn schon nicht bewältigen, so doch
    selbst auch verwirrt und kennt sich nicht aus;            besser aushalten lässt. Das Wissen, dass
    macht mich der Bub/das Mädchen aggressiv,                 wenn sie/er darüber reden könnte, ihr/ihm ge-
    so stecken in ihm/ihr wahrscheinlich auch                 glaubt würde, das alleine kann sehr entlastend
    Aggressionen; empfinde ich mich als hilf-                  sein.
    los und ohnmächtig, so sind das vermutlich
    ebenfalls Gefühle des Kindes.
    Es ist oft sehr schwer, das zu durchschauen
    und benötigt manchmal eine sehr lange Aus-
    einandersetzung und Selbstreflexion. Aber
    erst, wenn ich weiß, wieso ich welche Gefüh-
    le habe und zu wem sie eigentlich gehören,
    wird es möglich, dem Kind tatsächlich zu
    helfen. Das Wissen und die Klarheit darüber,
    dass mir viele der Emotionen des Kindes
    „nur“ gespiegelt werden, macht mich wieder
    handlungsfähig.

    Grundsätzlich muss bei der Vermutung von
    sexueller Gewalt in der Intervention sehr
    behutsam vorgegangen werden. Jede zu
    schnelle oder zu eindringliche Vorgangswei-
    se kann zu einem völligen Verschließen und
    Vertrauensbruch des Kindes der Pädagogin
    gegenüber führen, womit, zumindest für eini-
    ge Zeit, eine Aufdeckung unmöglich wird.

    Wenn man bedenkt, dass die meisten Be-
    troffenen von sexueller Ausbeutung erst im
    Jugend-, oder gar erst im Erwachsenenalter
    über die Übergriffe sprechen können, ergibt
    sich eine andere Sichtweise auf den Druck,
    möglichst schnell zu handeln.

    Das Gefühl, jemandem wichtig zu sein, ernst
    genommen zu werden, zu erfahren, dass
    die Verantwortung ausschließlich beim Täter
    liegt, das alles kann betroffenen Kindern eine
    nicht zu unterschätzende Unterstützung und
    Hoffnung sein, ein sicherer, heiler Ort, eine
    Kraftquelle, mit der sich die schwierige Situ-

                                                             Gefühle, Gedanken, Erfahrungen         13

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Im Ohnmachtszwischenraum                                   betroffenen Kinder auch.
                                                              Das Wahr-haben-können wird vom Nicht-wahr-
   Den Zeitraum von der „leisen“ Vermutung bis                haben-wollen wellenartig abgelöst, je nachdem
   zum erhärteten Verdacht (und einem mögli-                  wie gut aushaltbar die Ohnmachtsgefühle sind,
   chen Eingreifen behördlicher Stellen) nennen               die Umwelt reagiert, das Kind Signale sendet,
   wir Ohnmachtszwischenraum, da er geprägt                   der Missbraucher die Wahrnehmung vernebelt.
   ist von einem immer wiederkehrenden Gefühl,
   nichts ändern zu können, von überflutenden                  An-sprechen, heraus-sagen, los-reden
   Gefühlen und viel Unklarheit. Die PädagogIn                Auch die Sprachlosigkeit des Kindes aufgrund
   durchlebt, wie das Kind, eine schwere Zeit.                des Geheimhaltungsdrucks, den der Täter dem
   Sie wird häufig sekundär traumatisiert und in               Kind auferlegt und die Schamgefühle, darüber
   der Handlungsfähigkeit für einige Zeit einge-              zu sprechen, kann die PädagogIn überneh-
   schränkt. Alle Gefühle des Kindes können                   men. Dies kann aus projizierten Ängsten des
   auch von der PädagogIn durchlebt werden.                   Kindes dem Angreifer gegenüber entstehen,
                                                              aber auch aus realen Ängsten dem Täter
   Nichts ist mehr so wie es war                              gegenüber (er könnte der PädagogIn z. B. mit
   Sexuelle Gewalt bedeutet für ein betroffenes               einer Verleumdungsklage drohen). Auch die
   Mädchen, einen betroffenen Buben immer                     Befürchtung, jemanden vielleicht zu Unrecht
   einen massiven Vertrauensverlust gegenüber                 zu beschuldigen, kann sprachlos machen. Die
   dem Täter, der Mutter und der nahen Umwelt.                Angst vor möglichen Konsequenzen ist dann
   Zunächst wird das Vertrauen vom Täter -                    zu groß und kann zu Schuldgefühlen führen
   durch besondere Zuwendung, durch Geschen-                  („Das kann ich doch niemandem antun, da
   ke, durch Komplimente u.v.m.- erschlichen,                 wäre ich ja an der Zerstörung eines Lebens
   um dann ausgenutzt zu werden. Mädchen und                  schuld.“). Die Täterentlastung (Bagatellisieren
   Buben, die das erleben müssen, haben das                   oder Negieren der Taten, in Schutz nehmen)
   Gefühl, niemandem mehr trauen zu können.                   kann auch durch eine Art Identifikation (Über-
   Den Vertrauensverlust erlebt auch die Pädago-              tragung) der PädagogIn mit dem Aggressor
   gin: in die Integrität der Eltern des betroffenen          entstehen. Dann finden sich plötzlich viele
   Kindes („Wieso schaffen sie es nicht ihr Kind              Gründe, wieso er sicher kein Täter sein kann
   zu schützen?“), gegenüber dem Täter, den                   und die Missbrauchsvermutung wirkt auf ein-
   KollegInnen, der DirektorIn und der Gesell-                mal ungeheuerlich.
   schaft. Nichts ist mehr so wie es vorher war.
   Besonders stark wird das empfunden, wenn                   Manipulation nach allen Seiten
   sonst niemand ihre Wahrnehmungen teilt und                 Die Manipulationen durch den Täter gehen
   sie keinen Rückhalt bekommt.                               weit über das Kind hinaus, sie betreffen das
                                                              gesamte Umfeld des Kindes – so auch direkt
   Es stimmt – es stimmt nicht – es stimmt                    oder indirekt die PädagogIn (in dem ihr/ihm
   – es stimmt nicht                                          vom Täter z.B. Hilfe angeboten wird oder
   Den Zweifel an der eigenen Wahrnehmung                     besonderes Lob - z.B. für die pädagogischen
   und den Gefühlen erfahren PädagogInnen, die                Fähigkeiten oder über die Person - ausgespro-
   sexuelle Gewalt vermuten, genau so wie die                 chen wird u.ä.). Auch eine abwertende Haltung

                                                                    Im Ohnmachtszwischenraum        14

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
der Mutter gegenüber sollte unter dem Aspekt               betroffenen Kind aber keinesfalls helfen, da es
   der Tätermanipulation gesehen und hinterfragt              wieder übergangen wird. Dies zu erfahren wirkt
   werden. Es wird sehr oft ein Keil in die Mut-              für die Pädagogin/den Pädagogen oft entlas-
   ter-Kind Beziehung getrieben. Die Mutter darf              tend und entspannt die Situation.
   nichts vom sexuellen Missbrauch erfahren,
   sie bedeutet eine wesentliche Gefahr für den               Raum für starke Gefühle
   Täter.                                                     In einer Beratung ist es wichtig, die Pädagogin/
                                                              den Pädagogen zunächst „nur“ zu begleiten;
   Wieso reagiert denn niemand                                ihr/ihm Raum zu geben für ihre/seine Gefühle:
   Eine weitere Folge von sexueller Gewalterfah-              Ängste, Aggressionen, Verwirrungen, die Wut
   rung ist das Gefühl der Isolation. Auch die Pä-            über den Täter und/oder das Kind, die Hilflo-
   dagogIn erfährt dies. Sie fühlt sich oftmals von           sigkeit, die Lähmung. All diese Gefühle be-
   den KollegInnen und der DirektorIn, aber auch              sprechbar zu machen schafft Distanz, notwen-
   dem privaten Umfeld im Stich gelassen, weil                dige Distanz zum betroffenen Mädchen/Buben,
   sich diese nicht mit dem sexuellen Missbrauch              zum Täter, zu der Mutter bzw. dem nicht
   konfrontieren wollen.                                      missbrauchenden Elternteil und zu den auf-
                                                              kommenden Bildern und Fantasien über das,
   Immer noch näher                                           was mit dem Kind geschehen ist. Erst durch
   Die Vermutung von sexuellem Kindesmiss-                    ein Wiedergewinnen von Sicherheit wird es der
   brauch fesselt jede/jeden, die/der damit zu tun            Pädagogin/dem Pädagogen möglich, für das
   hat. Sie lähmt, lässt nicht mehr los, dringt in            Kind da zu sein und für weitere Schritte, Bera-
   die intimsten Bereiche einer Person ein, macht             tung und Vernetzung offen zu sein.
   auch vor der eigenen Sexualität nicht halt,
   bringt verdrängte Ängste und Aggressionen an
   die Oberfläche und fordert damit eine vehe-
   mente Auseinandersetzung mit dem Selbst.

   Schritt für Schritt
   Der erste Schritt ist die Bewusstmachung
   dieser sekundären Traumatisierung. Bei
   vermuteter sexueller Gewalt gerät die Päda-
   gogin fast immer in eine Krise, dies muss ihr
   bewusst (gemacht) werden. Oft wird zu schnell
   gehandelt: sofort die Mutter oder gar der Täter
   konfrontiert, andere Eltern informiert, vielleicht
   sogar angezeigt, das betroffene Kind – be-
   sonders, wenn es die erlebte sexuelle Gewalt
   aggressiv oder anderen Kindern gegenüber
   grenzverletzend ausagiert - aus der Schule
   „gejagt“. Der große Handlungsdruck ist Teil
   der sekundären Traumatisierung, kann dem

                                                                    Im Ohnmachtszwischenraum         15

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Überwindung des
   Ohnmachtszwischenraumes

    Haltung und konkrete                                         Das kann ein Schutz sein, weil eine/r sich
    Handlungsschritte                                         überfordert fühlt, es kann aber auch ganz ein-
                                                              fach passieren, weil andere Dinge übergroß
                                                              werden. Dann ist es wichtig, sich wieder der
                                                              eigenen Rolle als Vertrauensperson des Kindes
       41. Ruhe bewahren                                      bewusst zu werden. Aber wie werden Sie oder
                                                              bleiben Sie Vertrauensperson?
       42. Suchen sie sich Verbündete, Men-
    schen, denen sie vertrauen (z.B.: KollegInnen,                45. Vertrauen aufbauen – wie mache ich
    DirektorInnen, FreundInnen, PartnerInnen,...);            das? Was ist für ein Vertrauen wichtig? Zeigen
    Personen, die Ihnen glauben und Sie ernst                 Sie dem Mädchen/dem Buben, dass Sie es ehr-
    nehmen, vielleicht sogar den Verdacht teilen.             lich mit ihr/ihm meinen, dass Sie ihr/ihm nichts
    Es tut gut und gibt Sicherheit, die eigene                vorspielen. Dazu gehört auch Echtheit und
    Vermutung mitzuteilen und das „Sorgenpaket“               Authentizität: Zeigen Sie, wie es Ihnen wirklich
    nicht mehr alleine tragen zu müssen. Erkundi-             geht; auch, wenn Sie betroffen, traurig oder wü-
    gen Sie sich, ob und wem Sie meldepflichtig                tend sind, bringen Sie es kindgemäß (dem Alter
    sind. Generell gilt nur für die Polizei Anzei-            entsprechend) zum Ausdruck. Nehmen sie das
    gepflicht. Ständig aktualisierte Information               Kind unbedingt ernst. Auch, wenn Sie vielleicht
    zu rechtlichen Fragen finden Sie unter www.                nicht alles glauben können – der Kern der
    schulpsychologie.at                                       Sache stimmt. Bestätigen Sie dem Kind seine
                                                              Wahrnehmungen. Das ist wichtig, weil diese oft
                                                              von TäterInnen vernebelt werden. TäterInnen
       43. Im nächsten Schritt holen Sie sich pro-            verwirren Kinder, in dem sie ihre Handlungen
    fessionelle Hilfe in Beratungsstellen (siehe              zum Beispiel als ganz „normal“ darstellen („Das
    Kapitel Links und Literatur). Diese können                machen alle Väter mit ihren Mädchen“). Hillary
    Ihnen helfen, zu mehr Klarheit zu gelangen                Eldridge, die mit sexuellen MissbrauchstäterIn-
    und die eigenen Möglichkeiten kennenzuler-                nen arbeitet, spricht davon, dass TäterInnen
    nen. Es wird dabei geholfen, die eigene, dem              Kinder nicht nur physisch missbrauchen, son-
    Beruf zugeordnete Rolle wieder zu finden. Es               dern sie versuchen auch, den Kindern „Denk-
    ist wichtig, sich immer wieder klar zu machen,            fehler zu implantieren“. (Eldridge, 1999)
    dass man die Vertrauensperson des Kindes,
    der/des Jugendlichen sein kann, aber nicht                    Sagen Sie dem Mädchen/dem Buben, dass
    Kriminalbeamtin/er, nicht DetektivIn, nicht               ihr/sein Gefühl richtig ist, und nicht das, was
    Mutter/Vater, nicht TherapeutIn, sondern Päd-             ihr/ihm eingeredet wurde. Wenn sich etwas
    agogin oder Pädagoge.                                     komisch, eklig oder unangenehm angefühlt hat,
                                                              so war es das auch.
                                                                 Versuchen Sie möglichst behutsam mit
       44. Bleiben Sie bei dem Kind. Festi-                   Erzähltem und Gezeigtem umzugehen; das
    gen und stärken Sie die Beziehung zwischen                Timing bestimmt immer das Kind. „Einfach“ da
    Ihnen und dem Kind. Es ist erstaunlich, wie               sein, zuhören, gemeinsam etwas tun und im
    schnell in Gesprächen und Beratungen über                 Moment nicht nach Lösungen suchen, ist oft
    anderes wie z.B. den Täter/die Täterin oder               über lange Zeit das Richtigste und Wichtigste
    die Meldung beim Jugendamt etc. gesprochen                für das betroffene Mädchen/den betroffenen
    wird und das Mädchen/der Bub immer mehr                   Buben. Kinder (auch Erwachsene) brauchen
    aus dem Blickfeld gerät.                                  Zeit, Mitgeteiltes zu verarbeiten. Machen Sie
                                                              keine vorschnellen Versprechungen (z.B.
                                                              absolute Geheimhaltung, sofortige Beendigung

                                                   Haltung und konkrete Handlungsschritte            16

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
des Missbrauchs...), die können häufig nicht                   410. Normalität – Alltag leben. Sehen
    gehalten werden und es kann zu einem Ver-                 Sie nicht nur das „arme Opfer“ im Kind. Es ist
    trauensbruch kommen.                                      auch ein ganz „normales“ Mädchen/ein ganz
                                                              „normaler“ Bub, die/der Fehler bei Schulaufga-
                                                              ben macht, aggressiv zu anderen Kindern sein
       46. Loben Sie das Kind für ihren/seinen                kann, sich an Regeln halten soll usw. – und
    Mut. Geben Sie dem Kind die Information, dass             genauso wie alle anderen behandelt werden
    es vielen Kindern ähnlich geht und dass kein              will. Geben Sie dem betreffenden Kind keine
    Erwachsener oder Jugendlicher Übergriffe set-             Sonderstellung, indem Sie es schonen oder
    zen darf, und die Verantwortung für jede                  nicht adäquat auf unangemessenes Verhalten
    Art von Grenzverletzung ausschließlich                    reagieren. Genau das hilft dem Kind nicht. Der
    beim Täter/bei der Täterin liegt.                         Schulalltag ist möglicherweise der einzige Halt
                                                              für das Mädchen/den Buben. „Normalität“ und
                                                              Strukturen (Stundenpläne, Klassenregeln, Auf-
       47. Konfrontieren Sie nicht vor-                       gaben, Tests) geben Halt und Sicherheit. Das
    schnell Eltern oder andere Bezugspersonen                 Mädchen/der Bub nimmt wahr, es gibt auch
    des Kindes mit Ihrem Verdacht, insbesondere               noch etwas anderes als diese „ver-rückte“ Welt
    wenn ein möglicher Täter im engeren Umfeld                in der sie/er sonst lebt. Dies führt zu einem
    des Kindes zu vermuten ist oder die Reakti-               Stück Stabilität.
    onen der Bezugspersonen auf den Verdacht
    nicht abzuschätzen sind.
                                                                  411. Vieles besprechbar machen: Ge-
                                                              fühle, auch kleine Probleme, Konflikte, Kritik,
      48. Besprechen Sie alle weiteren                        Erlebnisse (schöne oder schwierige) – es ist
    Schritte mit dem Kind. Erklären Sie, dass                 alles wichtig, du (das Kind) bist wichtig und
    Sie Hilfe beiziehen müssen, weil Sie ihr/ihm              wirst als Gesamtperson wahrgenommen (nicht
    alleine nicht so gut helfen können, oder, dass            nur dein Körper). Das ist die Botschaft, die Sie
    das auch für Sie ein so schwieriges Problem               damit vermitteln. Sie als PädagogIn sind dabei
    ist, dass auch Sie Hilfe brauchen.                        ein wichtiges Vorbild. Sprechen Sie über eigene
                                                              Gefühle, gestehen Sie auch einmal einen Feh-
                                                              ler ein oder entschuldigen Sie sich dafür. Reden
      49. Verfassen Sie Gedächtnisproto-                      Sie auch über „schwierige“ Themen. So wird es
    kolle über Aussagen und Verhaltensweisen                  auch dem Mädchen/dem Buben möglich wer-
    des Kindes und dessen Umfeld. Damit halten                den, über ihre/seine Erlebnisse zu erzählen.
    Sie fest, was Ihnen aufgefallen ist, was Sie mit
    dem Kind bereits besprochen haben und wann
    was war. Es ist später oft sehr schwer, die Er-
    eignisse und Beobachtungen zu rekonstruie-
    ren und zeitlich zu ordnen. (Eine Vorlage für
    ein solches Gedächtnisprotokoll finden Sie
    auch auf der Website des Unterrichtsministe-
    riums unter www.schulpsychologie.at in dem
    Dokument „Sexueller Missbrauch. Rechtliche
    Situation“)

                                                   Haltung und konkrete Handlungsschritte            17

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Was vermieden werden soll                                 Betroffenen sich bedrängt und alleingelassen
                                                              fühlen, weil der Aufbau von Vertrauen dadurch
    Im Umfeld des Kindes, der/des Ju-                         gestört wird.
    gendlichen:                                               Wenn ein Kind sich anvertraut, sollen indirek-
                                                              te Schuldzuweisungen vermieden werden.
    Vom vorschnellen Konfrontieren der Erzie-                 Damit sind Sätze gemeint wie: „Hast du dich
    hungsberechtigten oder des mutmaßlichen                   gewehrt? Hast du gesagt, dass du das nicht
    Täters ist unbedingt abzuraten. Ist ein Täter             willst? Hast du das der Mama (dem Papa)
    (oder eine Täterin) gewarnt und die Trennung              schon erzählt?...“ Solche Sätze suggerieren,
    von TäterIn und Opfer nicht gewährleistet,                dass das Kind den Missbrauch beenden oder
    wird er/sie Druck auf das Kind ausüben, da-               verkürzen hätte können, was in der Realität so
    mit die Geheimhaltung gewahrt bleibt. Wenn                gut wie unmöglich ist. Sollte es aufgrund von
    nicht missbrauchende Erziehungsberechtigte                völlig verständlicher Überforderung zu solchen
    ohne Vorbereitung und Unterstützung von                   Aussagen gekommen sein, ist es wichtig,
    eventueller sexualisierter Gewalt am eigenen              diese bei einem späteren Gespräch zu thema-
    Kind erfahren, so ist das eine traumatische               tisieren und sie zurückzunehmen.
    Erfahrung. Deshalb muss Hilfe für sie selbst              Voreilige Lösungsvorschläge können entmuti-
    bereitstehen, damit sie glauben können und                gend wirken, denn alle missbrauchten Kinder
    für ihr Kind da sind. Andererseits ist mit Si-            und Jugendlichen haben bereits viele Strate-
    cherheit anzunehmen, dass sie den/die mut-                gien ausprobiert, auch wenn diese nach außen
    maßliche/n Täter/in konfrontieren und damit               nicht sichtbar wurden. Und sie haben erlebt,
    warnen würden.                                            dass ihre Lösungsversuche nicht geholfen ha-
    Außerdem ist zu bedenken: Wenn ein betrof-                ben. Wenn jetzt ein “Überangebot” an schein-
    fenes Mädchen/ein betroffener Bub zu Hause                bar einfachen Lösungsvorschlägen kommt,
    über den Missbrauch berichten könnte, würde               wirkt das u.U. so, als habe die/der Betroffene
    sie/er das tun. Wenn sie/er das nicht tut, so             es nicht richtig gemacht.
    hat das einen Grund und der sollte ernstge-
    nommen werden.

                                                              Was im Vorfeld getan werden kann

    Im Umgang mit dem Kind, der/dem                           Da es in einer aktuellen Krise schwierig ist,
    Jugendlichen                                              klaren Kopf zu bewahren und bei Verdacht
                                                              auf sexualisierte Gewalt der Handlungsdruck
    Es ist weder zielführend noch nötig, möglichst            extrem groß ist, ist es empfehlenswert, sich
    viel herauszufinden, sozusagen „Detektivar-                in der Institution damit auseinanderzusetzen,
    beit“ zu leisten. Eine Arbeitshypothese reicht            wie ein Vorgehen im Verdachtsfall aussehen
    völlig aus, um sinnvolle Schritte einzuleiten.            könnte.
    Eine genaue Abklärung durch intensive
    Befragung fällt nicht in den Aufgabenbereich
    der Schule und führt meistens dazu, dass die

                                                   Haltung und konkrete Handlungsschritte            18

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Folgende Fragestellungen haben sich
    im Vorfeld als hilfreich erwiesen:

       4Wer stellt sich als interne/r Ansprechpart-
    nerin oder Ansprechpartner für PädagogInnen,
    die einen Verdacht haben, zur Verfügung (Lei-
    tung, BeratungslehrerIn, Schulpsychologie,
    SchulärztIn, PsychagogIn...)?
      4Gibt es Erfahrungen mit einschlägigen
    Beratungsstellen, wie viel Vertrauen gibt es
    da?
      4Wie sind die Erfahrungen mit dem Ju-
    gendamt, gibt es dort AnsprechpartnerInnen?
       4Gibt es Erfahrungen mit der Polizei,
    gibt es dort AnsprechpartnerInnen? Welche
    zwingenden Folgen hat eine Meldung bei der
    Polizei?
      4Was ist die Rolle als Institution Schule
    bzw. einzelne/r Pädagogin/Pädagoge?
      4Wo beginnt unsere/meine Verantwortung
    und wo hört sie auf?
      4Wenn meine Verantwortung aufhört,
    wann übergebe ich an wen?
       4Hat unsere Institution ein sexualpädago-
    gisches Konzept und falls ja, wie schaut das
    theoretisch und praktisch aus?

                                                              Für konkrete Hilfseinrichtungen siehe auch
                                                              Kapitel Schritte nach Draußen - vernetzte
                                                              Intervention

                                                   Haltung und konkrete Handlungsschritte           19

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Weiter im pädagogischen Alltag                            gin/Pädagoge signalisieren den Kindern damit:
    in der ganzen Klasse/Gruppe                               Gefühle sind bei uns erwünscht und müssen
                                                              nicht verdrängt oder für sich behalten werden.
                                                              Ich interessiere mich für das, was du erlebt
    Trotz des Ernstes der Situation ist es im Alltag          hast. Es ist möglich darüber zu reden, ich höre
    für das betroffene Mädchen/den betroffenen                dir zu und nehme es so wie du es sagst (d.h.
    Buben wichtig, keine Sonderstellung oder Iso-             ich glaube dir deine Wahrnehmung von diesem
    lation von den anderen Kindern zu erfahren.               oder jenem Erlebnis).
    Die/der Betroffene kann sich in der schüt-
    zenden Gruppe „verstecken“, aber dennoch
                                                              „Mein Thron“
                                                              (aus Begleitmaterial „Ich bin doch keine
    für sich wichtige Informationen und Signale               Zuckermaus“ Blattmann & Mebes, 2001)
    aufnehmen. Dafür eignen sich die Mittel der               Die Kinder erhalten eine Kopiervorlage von
    Prävention am besten. Es ist im pädagogi-                 einem KönigInnen-Thron, auf dem sie als
    schen Alltag gut möglich und überdies für alle            Königinnen und Könige Platz nehmen und sich
    Kinder sinnvoll, die ganze Klasse oder Grup-              selbst malen sollen. Die Mädchen und Buben
    pe in die präventive Arbeit einzubeziehen.                werden angeregt, sich ihren Thron auszuge-
                                                              stalten. Geheimzeichen und Symbole, die für
                                                              Stärke und Sicherheit stehen, symbolisieren
    Beispiele:
                                                              den eigenen Thron als Kraftort innerer Ruhe.
    „Ein Dino zeigt Gefühle“                                  Sie zeigen den Kindern damit: Du bist wichtig
    (Manske & Löffel, 1996)                                   und individuell. Wir schätzen uns gegensei-
    Das Bilderbuch zeigt einen Dino in zwölf                  tig und respektieren jede und jeden in der
    verschiedenen Stimmungen (fröhlich, wütend,               Gruppe. Du hast ganz spezielle Fähigkeiten
    nachdenklich, entspannt...). Ergänzend zu                 und Stärken – das erkenne ich an. Sicherheit,
    den Bildern werden die unterschiedlichen Ge-              Ruhe und Kraftholen ist hier in der Schule/im
    fühle in Worte gefasst. Das geschieht durch               Kindergarten möglich.
    lautmalerische Ausrufe wie z. B.: „Dumdidum“
    oder „Huuu“ oder „Grrr“ und durch ganze Sät-
    ze, die Stimmungen und Gefühlsbewegungen                  Karteikasten Sexualerziehung
                                                              (aus „Freiarbeit – Kartei Sexualerziehung in
    wiedergeben. (Beim wütenden Dino steht
                                                              Grundschule und Kindergarten“
    z.B.:„Ich bin wütend“ – „Hau ab“, „Das macht              Eichmanns, 1990)
    mich rasend“, „Ich habe Wut im Bauch“, „Wer               Die Kartei ist ein Nachschlagewerk rund um
    will Streit mit mir?“). Im dazugehörigen Be-              Sexualität. Gefühle, Vorurteile, biologisches
    gleitheft für die pädagogische Praxis finden               Wissen und vieles was Kinder interessiert,
    Sie Vorschläge, wie Sie das Buch verwenden                wird darin aufgenommen und kann auch von
    können.                                                   den SchülerInnen erweitert werden. (Beispie-
    Beim Betrachten und Lesen werden Assozia-                 le: „Warum heißt es Sex?“; “Weshalb ist es
    tionen geweckt. Die Kinder können über eige-              mir peinlich wenn ich verliebt bin?”, „Tut Sex
    ne Erlebnisse berichten, bei denen sie sich so            weh?“, Wie schaut eine Eizelle aus?“)
    wie der Dino gefühlt haben. Sie als Pädago-

                                                             Weiter im pädagogischen Alltag          20

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Wenn Sie solch einen Karteikasten in der
    Klasse auflegen, signalisieren Sie den Mäd-
    chen und Buben damit, es ist selbstverständ-
    lich, wichtig, lustig und schön über Sexualität
    zu reden. Sie geben den Kindern damit ein
    Wissen und eine Sprache mit, die es mögli-
    cherweise erleichtert, über Erlebtes zu berich-
    ten. Vor allem machen Sie Mut: Wir können
    auch über gesellschaftlich immer noch tabu-
    isierte Themen reden und “ich falle nicht vor
    Schreck tot um“.

                                                              Literatur

                                                              Blattmann, S. & Mebes, M. (2001):
                                                              Ich bin doch keine Zuckermaus -
                                                              Begleitmaterial
                                                              Verlag mebes & noack, Ruhnmark/ Bonn

                                                              Eichmanns, C. (1990):
                                                              Freiarbeit–Kartei Sexualerziehung in Grundschule und
                                                              Kindergarten
                                                              Verlag an der Ruhr, Mühlheim

                                                              Enders, U. (2001):
                                                              Zart war ich, bitter war´s – Handbuch gegen sexuellen
                                                              Missbrauch
                                                              Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

                                                              Löffel, H. & Manske, C. (1996):
                                                              Ein Dino zeigt Gefühle
                                                              Donna Vita, Ruhnmark

                                                             Weiter im pädagogischen Alltag                 21

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
Schritte nach Draußen: vernetzte                          Von einer Anzeige bei der Polizei ohne vorhe-
    Intervention                                              rige Vernetzung mit dem Amt für Jugend und
                                                              Familie, Beratungsstellen, der Kinder- und
    Wenn sich ein Verdacht auf sexuelle Gewalt                Jugendanwaltschaft oder anderen Fachleuten
    an Kindern erhärtet, kommt ein großer Hand-               raten wir dringend ab. Der Auftrag der Polizei
    lungsdruck auf.                                           ist, TäterInnen zu stoppen. Dazu braucht es
                                                              die Information der Betroffenen. Es geht also
    Bevor Sie “nach draußen” gehen, dass heißt,               aus polizeilicher Sicht um die Aussagen des
    sich an behördliche Stellen wenden, sollte                Kindes als Mittel zum Zweck. Das Tempo be-
    das betroffene Kind, die/der Jugendliche von              troffener Kinder, ihre Bedürfnisse und Möglich-
    Ihnen darüber informiert werden.                          keiten finden in diesem Auftrag keinen Platz.
    Sehr hilfreich ist auch eine Dokumentation                Geht eine Anzeige bei der Polizei ein, muss
    dessen, was die Vermutung auf sexuelle                    diese handeln und in den allermeisten Fällen
    Gewalt für Sie nahelegt; das sind Aufzeich-               sind betroffene Kinder nicht vorbereitet, nicht
    nungen über Dinge, die das betroffene Kind                begleitet und daher restlos überfordert. Diese
    gesagt oder gezeigt hat, Ergebnisse von                   schnellen Aktionen bringen Betroffene eher
    Austauschgesprächen mit KollegInnen u.a.                  zum Verstummen, als dass sie einer Beendi-
    (siehe dazu auch Kapitel Haltung und konkre-              gung des Missbrauchs förderlich sind.
    te Handlungsschritte).
    Klarheit über die eigene Rolle macht den                  Vom Zeitpunkt einer vagen Vermutung bis zur
    Schritt “nach draußen” auch leichter.                     Beendigung von sexuellem Missbrauch kann
                                                              sehr viel Zeit vergehen, da immer das Kindes-
    Allzu oft erleben wir, dass PädagogInnen                  wohl im Vordergrund zu stehen hat und Mäd-
    sich überfahren fühlen vom Tempo und der                  chen und Buben meistens sehr lange brau-
    Eigendynamik, die solch ein Schritt nach sich             chen, um über Übergriffe zu berichten. Auch
    zieht. Denn anders als unabhängige Bera-                  darum heißt es in erster Linie: Ruhe bewahren.
    tungsstellen haben behördliche Stellen die                Und das Tempo des Kindes im Blick behalten.
    Pflicht, weitere Schritte zu unternehmen. Und
    gerade weil das Amt für Jugend und Familie                Zudem kann niemand allein sexualisierte
    die wichtigste Rolle bei der Beendigung von               Gewalt an Kindern und Jugendlichen been-
    interfamiliärer sexueller Gewalt einnimmt,                den. Dazu braucht es unbedingt vernetztes
    ist es im Sinne der Kinder und Jugendlichen               Arbeiten. Je früher Personen, die eine vage
    wichtig, eine sogenannte Gefährdungsmel-                  Vermutung haben, sich Hilfe holen, desto
    dung gut vorzubereiten. Mit einer diffusen,               besser kann einem Kind, einer/m Jugendlichen
    unklaren Meldung kann das Amt für Jugend                  geholfen werden. Eine Außensicht hilft bei den
    und Familie wenig anfangen. Denn bei einer                weiteren Schritten. Gemeinsam wird überlegt,
    Meldung muss es innerhalb von wenigen                     wie das Mädchen/der Bub gestärkt werden
    Wochen tätig werden.                                      kann und welche Signale und Informationen
                                                              sie/er braucht, um eventuell etwas mehr zu
                                                              erzählen oder zu zeigen, das für eine nachhal-
                                                              tige Intervention notwendig ist.

                                           Schritte nach draussen:vernetzte Intervention             22

Selbstlaut: Handlung, Spiel und Räume. Präventionsleitfaden für PädagogInnen
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