Hans J. Wulff: Reality-TV. Von Geschichten über Risiken und Tugenden
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Hans J. Wulff: Reality-TV. Von Geschichten über Risiken und Tugenden Eine erste Fassung dieses Artikels erschien in: Montage/AV 4,1, 1995, S. 107-123. Eine Online-Fassung ist auf der Homepage der Montage/AV zugänglich (URL: http://www.montage- av.de/pdf/041_1995/04_1_Hans_J_Wulff_Reality_TV.pdf). Bibliographische Angabe der Online-Fassung: http://www.derwulff.de/2-51. Reality-TV ist eine medialisierte Form der Alltags- agonisten, die hilflos sind (so daß die Rede vom erzählung, lautet die These, und hat sowohl formal "Agonisten" eigentlich sinnlos ist). wie inhaltlich seinen Unterboden in oraler Vis-à-vis- Erzählung. Die Geschichten des Reality-TV sind so- Wenn der Protagonist einer ist, der sich durch etwas mit auch gebunden an gewisse Rahmenbedingungen auszeichnet, eine besondere Person ist, und wenn er des alltäglichen Erzählens - an nachbarschaftliche einer ist, der im Geschehen fast zuschanden kam, Beziehungen zum Beispiel, an ein interaktives Nah- dann kann jene rhetorische Figur gezogen werden, feld, in dem sich das Subjekt orientiert und aus- die das Geschehen als "Fingerzeig Gottes" nimmt. tauscht, an einen privaten Horizont von Sinn und Ich erinnere mich an einen Risikokletterer, der ab- Aneignung (ähnlich Grimm 1993a, 4). stürzte und gerettet wurde - "daß man nicht immer so weitermachen kann", war sein Kommentar da- Reality-TV unterscheidet sich von anderen Gattun- nach. Das erinnert an die Endlichkeit des Lebens gen des Berichterstattens und des Erzählens von und die Realität der Gefahr [2]. Wirklichem, wie sie uns im Fernsehen vertraut sind. Für Nachrichten gilt es, den Wert von Nachrichten Die Grenze zwischen Leben und Tod ist im Alltags- abzuwägen mit Blick auf die politischen Prozesse; leben immer gefährdet. Sie muß ausgelotet werden. die "Bedeutung" einer Nachricht bemißt sich am po- Geschichten dienen auch dazu, Grenzwerte und litischen System [1]. Für Reality-TV gilt dagegen: Grenzüberschreitungen zu thematisieren. Grenzer- Eine Geschichte muß darauf befragt werden, ob sie fahrungen bilden einen unausschöpflichen Stoff für die Funktion erfüllen kann, die Gefährdetheit der das Geschichtenerzählen. Das alltägliche Leben sie- alltäglichen Normalität angemessen und eindring- delt immer an der Grenze zur Katastrophe. Meistens lich zum Thema zu machen. geht es gut. Aber es gibt zu alltäglichen Situationen einen jenseitigen Bereich, ein Feld der Vernichtung. Die Geschichten des Reality-TV sind Geschichten, Das Leben ist nie sicher. Es grenzt immer an Tod, das ist wichtig und scheidet das Reality-TV zualler- Leid und Verstümmelung. Geschichten sichern das erst von den Nachrichtengenres. Geschichten haben Wissen um diese Grenze. eine Moral von der Geschichte, sie bildet den Grund, warum man die Geschichte überhaupt er- Geschichten vom möglichen Unglück, vom tatsäch- zählt. Aus Geschichten kann man etwas lernen, und lichen Unglück, vom unabwendbar Scheinenden, Geschichtenerzählen ist eine alltägliche Praxis des von der Rettung in letzter Minute verweisen auf Beybringens. Eine Nachricht bezieht sich auf etwas, Grundbedingungen der menschlichen Existenz: Sich das die politische Lage verändert; eine Geschichte lokalisieren auf einer Gratwanderung zwischen Ab- dagegen exponiert ex negativo etwas, das im All- gründen. tagsleben Bedeutung hat. Vielleicht auch die Gratwanderung zwischen dem Nach der Moral muß also gefragt werden, weil sie Wissen, daß das Unglück immer möglich ist, und die Rückbindung der Geschichte an das Alltagsle- dem (kasuistischen) Aufatmen: Es hat nicht mich ben leistet. Reality-TV ist ein ereignisorientiertes getroffen! Die Erzählung verlagert den Punkt des Fernsehen. Das Ereignis hat Spannungscharakteris- Unglücks aus dem Individuum auf ein anderes, fin- tiken, entwickelt sich also gegen den Protagonisten. giertes, zum Thema erhobenes Individuum. Das Der Protagonist als Opfer, seiner Handlungsfähig- schafft Raum für Orientierung, schafft Distanz zum keit beraubt. Eine zweite Rolle - die des Helfers - Luftholen. kann nun hervortreten. Reality-TV handelt von Prot-
Dieses ist interessant, weil darin auch an die Tatsa- In einer Erzählung ist das szenische Nahfeld immer chen der primären Erfahrung erinnert wird. So, als auch Quelle möglicher Gefahr. Insbesondere dann, sollte versichert werden: Nicht alles ist Zirkus! Es wenn in der filmischen Auflösung ein technisches hängt eng mit den dokumentarisierenden Hinweisen Detail hervorgehoben wird, das sich als Indikator ei- dieser Texte zusammen. Auch stofflich ist oft auf all- nes drohenden Unglücks lesen läßt, öffnet sich der tägliche Erfahrungsbereiche zurückgewiesen: Die "Rand" der Situation, sie erhält einen Unterton der Geschichten spielen auf dem Jahrmarkt und anderen "Gefahr!" Das ist allgemeine Regel, kein Spezifi- Feldern des Freizeitvergnügens, Sport hat eine zen- kum des Reality-TV: Erzählungen handeln vom trale Rolle inne; vor allem aber ist immer wieder Nicht-Alltag, vom Nicht-Normalen, von Gefahren, auch von Verkehr die Rede, von Arbeitsunfällen, Dilemmata und bösen und guten Überraschungen. von Nachlässigkeiten im Haushalt, die zu katastro- Einer Erzählung zuzuhören oder zuzusehen bedeutet phalen Folgen führen. Alles dies Bereiche, die tat- auch, das Material daraufhin zu befragen, welches sächlich alltägliche Gefahren in sich bergen, Risiko- narrative Potential es eröffnet. So importiert der Zu- bereiche, auf die sich Alltagspraxis einrichten muß. hörer oder Zuschauer das Gefährliche in die Ge- Die Sensibilisierung für mögliche reale Gefahr muß schichte. Er weiß, daß es um's Ganze gehen wird. das Subjekt hinter sich haben, sonst würde es sich Ein Beispiel ist Kieslowskis DREI FARBEN: BLAU und sein soziales Nahfeld permanent gefährden. (1993) - ganz am Anfang, eine Familie im Auto; Eine der alltäglichen Techniken, das war die Aus- während einer Rast dann ein Bild des Bremszylin- gangsthese, sich gegenseitig für mögliche Gefahren- ders, von dem die Bremsflüssigkeit in dicken Trop- quellen zu sensibilisieren, ist das Erzählen von Un- fen abperlt. Der Unfall ist programmiert und kann glücks- und Rettungsgeschichten. Rein stofflich ist nicht mehr überraschen; fraglich bleibt nur, wann im Reality-TV die Rede von jenem Feld von Tätig- und wie er sich ereignen wird. Dies ist eine elemen- keiten und Risiken, in dem das Individuum sich all- tare Technik der Spannungserzeugung. täglich bewähren muß. Eine gegebene Situation steht am Rande eines Fel- Die Untersuchung von "Gewalt" im Reality-TV geht des virtueller Entwicklungsmöglichkeiten, und der an diesem alltäglichen Sinn völlig vorbei [3]. Film inszeniert natürlich auch - oder gerade - diese Übergangsstelle. Das verwundert nicht, weil hier Die Geschichten des Reality-TV folgen einem Sche- doch die Phantasie des Zuschauers ins Spiel gerät. ma, das in diversen Variationen ausgearbeitet ist. Ei- Es ist nicht mehr allein das Darstellen des Vorfilmi- ner Vorbereitungsphase, in der "normaler Alltag" schen, sondern vielmehr die Instruierung eines vorgestellt wird, folgt die Katastrophe und die Ret- Phantasieprozesses, um die es nun geht. Jede Ab- tung. Das Hereinbrechen der Katastrophe ist oft mit bildtheorie des Fernsehens greift hier fehl, läuft ins Strategien der Spannungserzeugung (Verlangsa- Leere: Das Mögliche kann nicht abgebildet, es kann mung und Retardation, Verengung des Raums etc.) nur nahegelegt, evoziert, vorbereitet werden. Eine vorgetragen. Diese drei Elemente sind berechenbar, Analyse, die das Kräftefeld des Textes ausloten will, immer da. "Brutaler Exzeß" und "Erlösung" seien muß die Hinweise, die Indizien verfolgen, mit denen die Gegenstände, die man erwarten könne, schrei- auf das Verstehen des Zuschauers eingewirkt wird. ben Baum und Muser (1992, 5). Eine ähnliche Großgliederung in die makrostrukturellen Teiltexte Es gibt diverse Kniffe, mit denen Erwartungen ge- Unfall, Rettung und Fazit schlägt Grimm (1993a, 6) weckt und in gewisse Richtungen gesteuert werden vor, die in allen NOTRUF-Beiträgen aufträten. Diese können. Und manche filmische Mittel sind ganz die- drei Teile bildeten ein "dynamisches Beziehungs- sen Zwecken untergeordnet. Musik gehört wesent- dreieck", schreibt der Autor weiter (10), und er lich dazu. Darum lohnt die Analyse des Musikein- konnte insbesondere feststellen, daß das Ausbleiben satzes im Reality-TV, weil sie, vermittelt über Gen- des "Fazits" zu einer Abschwächung der prosozialen rekonventionen, die Existenz der Gefahr im Be- Effekte führte, die er mit großer Regelmäßigkeit be- wußtsein hält, die virtuelle Katastrophe nicht ent- obachtete. Das spricht dafür, daß die Bauformen der schwinden läßt. Beiträge des Reality-TV zugeschneidert sind auf einen funktionalen Rezeptionsrahmen, in dem die Das Mögliche ist weder anschaulich zu machen Geschichten als Alltagserzählungen aufgeschlossen noch einzuholen. Man kann das Potential der Mög- werden. lichkeiten einschränken, das ist wichtig, und es wird zu fragen sein, warum im Reality-TV solche Ein- schränkungen gemacht werden. Wenn also das Un-
fallopfer in einem voice-over eingespielten Inter- eine umfaßt "Geschichten" im engeren Sinne, die view erzählt, wie es ihm gegangen ist: Dann kann das Ineinanderhaken von Ursache und Folge, von die schlimmste der Katastrophen schon nicht mehr Handlung und Effekt zum zentralen Mittel der Dar- eintreten. stellung machen. Der andere Typus produziert Kau- salität erst auf Seiten des Rezipienten: Gezeigt wird Wie die Gefahr entsteht, wird im Feld dieser Überle- eine gegebene Gefahrensituation, und die Spannung gungen zur leitenden Frage. Zwei elementare Typen entsteht daraus, daß sie sich möglicherweise in eine scheinen am ausgeprägtesten zu sein: Katastrophensituation verwandelt. Aus einer lang- (1) Immer wieder sind es die technischen Bedingun- weiligen Bergungsaktion auf der Autobahn wird so gen des Arbeits- und Alltagslebens, die auftreten. die Androhung eines "flammenden Infernos", wie es Straßenverkehr, Maschinen am Arbeitsplatz, im Kommentar heißt - die im Dunstkreis der mögli- Brücken, Gebäude. chen Situationen auch schlummernde schlimmste (2) Und es ist menschliches Versagen, Unachtsam- Situation kann so benannt werden, im Rückverweis keit, Dummheit und Unvernunft - Gruppen, die in auf eine schon medialisierte Erfahrung. den Bergen bei Nebel wandern gehen; Amateurseg- ler, die trotz Windstärke 10 zu segeln versuchen; Die Dramaturgie des Reality-TV basiert auf einem etc. Spiel um die Tragweite, die Schwere und die Einlö- Beides läßt sehr verschiedene Schlüsse und Fragen sung von Vorverweisen, möchte man resümieren. zu. Die Beiträge wirken auf einen Raum des Möglichen ein, der vom Zuschauer als zeitlich offener Horizont Es deutet manches darauf hin, daß es ein Wissen einer gegebenen Lage entworfen und gefüllt werden über die technischen Konditionen unseres Lebens muß - und die Arbeit am Horizont scheint der we- gibt, das im Reality-TV umgesetzt ist. Das Vertrau- sentlichste Beteiligungsmodus zu sein, der am Text en in die Technik als problematisches Verhältnis, als selbst festgestellt werden kann. Eine gegebene Lage Bruchstelle. Dem wohnt ein Moment von statisti- fortzuschreiben, in das Feld der möglicherweise fol- schem Realismus inne - die Gefahr könnte auch an genden Lagen zu verlängern, kann nicht geschehen einem Baum, der zu stürzen droht, auftreten, könnte ohne Wissen - und dies ist der Ort, an dem einer der auf einen natürlichen Feind (aber welchen?) hinwei- Lerneffekte ansetzt, der im Reality-TV auftritt. sen und dergleichen mehr. Aber wir sind häufiger in Autos und Aufzügen einer technisch bedingten Si- tuation ausgesetzt, die einen unmittelbaren Rand mit *** der Gefahr teilt! Christiane von Wahlert bringt Bilder der Nachrich- Ambivalent ist die technische Bedingung aber alle- ten und des Reality-TV mit der Heiß-Kalt-Skalie- mal: Denn auch die Retter und Helfer rücken natür- rung zusammen und schreibt: lich mit großem technischen Aufwand an, und man- che Technik rettet so Leben. Die technische Ausrüs- Die weltweite Medienkonkurrenz um die 'heißes- tung wird in den Filmen immer auch ausgestellt, als ten Bilder', also um diejenigen Bilder, die den eine besondere exponiert und besprochen. Und wie- realen Tod oder zumindest der realen Todesge- der geraten die möglichen Verläufe der Situation in fahr am zeitnahesten liegen, ist gigantisch. Stich- den Blick, weil Technik möglichen Katastrophen wort: Reality TV. Was macht nun diese Bilder so vorbeugt, deren Existenz aber auch anzeigt. begehrt, daß sie zum festen Bestandteil jeder Nachrichtensendung geworden sind? Sie unter- Die gegebene Lage ist mit dem Potential der mögli- streichen die Glaubwürdigkeit und Authentizität chen und wahrscheinlichen Verläufe im Modus der einer Nachricht bzw. einer Information... (1993, Kausalität verbunden. Für die narrative Verfaßtheit 22). des Reality-TV ist die Frage des Ortes der Kausali- tät äußerst zentral, ist doch die kausale Verbindung Ein "heißes Bild" ist glaubwürdig, weil es auf eine zwischen Handlungen eines der Kernstücke narrati- "heiße Realität" verweist? Oder hat es zu tun mit ver Strukturiertheit. Manche Wissenschaftler gehen dem Akt des Bildermachens und seinen Bedingun- sogar so weit anzunehmen, daß die kausale Kette gen? Dann wären die Medien im Spiel, sie bildeten zwischen Handlungen bzw. Ereignissen die narrati- den Bedingungsrahmen, außerhalb dessen wäre es ve Struktur überhaupt ausmache. Im Reality-TV las- sinnlos, von "heißen Bildern" zu sprechen. sen sich zwei verschiedene Typen ausmachen: Der
Nehmen wir diesen Standpunkt ein, eröffnen sich tionalität" des Materials allein schon dem Stil abzu- ganz neue Gesichtspunkte der Analyse: Vor uns liegt lesen. Man kann solches Material fälschen, also ein Feld der Reflexivität, in dem die Bilder auf ihre falsche Fakten schaffen. Man läuft aber in eine se- kommunikationsethischen Voraussetzungen verwei- miotische Falle, wenn man derartiges Material als sen. In der Aneignung von Bildern ist diese Rekursi- fingiert-fiktionales ausgibt: Weil dann ein Wider- on notwendiger Bestandteil (und zugleich Element spruch entsteht, in dem die Unzulänglichkeiten des von ganz anderen Prozessen der Selbstvergewisse- Materials nicht dadurch entschuldigt werden kön- rung). Gerade das Grenzgängerische der "heißen" zu nen, daß die Bedingungen der Aufnahme es nicht den "verbotenen" Bildern, gerade die Fragwürdig- anders gestattet hätten. Grimm hat Recht, wenn er keit des Materials zeichnet es aus, es fordert den Zu- behauptet, Glaubwürdigkeitsdefizite förderten "die schauer zur Auseinandersetzung in den Ring. Nicht Reflexion auf das mediale Gemachtsein" (1993b, nur die Bilder werden betrachtet, sondern sie wer- 24); aber er greift zu kurz, das reflexive Verhältnis den auch geprüft, evaluiert, auf ihre Zulässigkeit hin von filmischem Stil und den Attribuierungen, die befragt. Wenn nun die Bilder mit Grenzwerten spie- der Zuschauer am Material vornimmt, zu beschrän- len, involvieren sie den Zuschauer, weil der über ken auf den Fall, daß Widersprüche auftreten. Schon Bilder nachdenkt - die Stoffe sind nur der Anlaß für die Zuweisung der Eigenschaften der "Dokumenta- den Rekurs auf die Bilder. rizität" fußt auf einem reflexiven Bezug zwischen dem Gegenstand der Darstellung, den verwendeten Niemand würde vermuten, daß das Vorfilmische Mitteln und Prinzipien der Repräsentation und dem nicht geschähe, wenn die Bilder verboten oder nicht Vorwissen des Zuschauers. gemacht würden, das wäre naiv (und etwas für die Pathologie). Die rezeptive Bewegung folgt einem Hier nun sind es einzelne Elemente der Gestaltung, ganz anderen Muster: Sensationelle Bilder sind An- die dazu beitragen, den Zuschauer in die Lage zu laß, über die eigene moralische Verfaßtheit nachzu- versetzen, jene besondere Art der Teilnahme aufzu- denken, sie richten die Aktivität des Zuschauers auf bauen, die auf die Geschichten des Reality-TV ge- jenen selbst, auf seine kulturellen Verstrickungen, richtet ist. Insbesondere die Charakteristiken des auf seine Wert- und Normenwelten. Das Stoffliche Bildes tragen dazu bei, daß der Eindruck einer un- tritt dabei in den Hintergrund. verfälschten Nähe zum Geschehen entsteht. Dabei scheint die Tatsache, daß das Bild verwackelt ist, ein *** wichtiger Hinweis dafür zu sein, daß die Kamera bzw. der Kameramann am Ort des Geschehens ge- Reality-TV ist angesiedelt in einem Grenzfeld zwi- wesen ist, so daß die Hektik und Panik der vorfilmi- schen Fiktion und Wirklichkeit. Die Realität dessen, schen Situation sich auf das Bild überträgt. wovon die Rede ist, wird immer wieder beteuert, expressis verbis wie in der Verwendung mancher fil- Baum und Muser ist wohl zuzustimmen, wenn sie mischer Mittel. Gegen die Dokumentarisierungshin- die Unsicherheit des Bildes als eine besondere Dra- weise stehen Fiktionalisierungshinweise. Die Lektü- matisierungstechnik des Reality-TV annehmen: re muß ausbalanciert werden zwischen Fiktivität und Dokumentation. Aussagekräftig werden die Videos nur in den Momenten, wo der Kamerablick versagt. Wenn Die Nomination von Personen, Firmen, Zeitanga- der Vater seine Familie inmitten der Sturmböen ben, das schlechte Spiel der Laien, die Imperfektheit eines Tornados aus dem Sucher verliert, dann des Films: Hinweise auf den Reportage-Charakter, kündet das fassungslose Zittern und Wackeln der auf den Zeitdruck und andere Bedingungen, unter vernachlässigten Kamera - als Geste mehr denn denen er entstand, auch auf den ökonomischen Rah- als Bild - von echter Panik und Verzweiflung men. Die Szenenauflösung, die Raumrepräsentation, (1992, 3). Spannungsdramaturgien, das Spiel mit Vorverwei- sen und anderem, die Musik, die das Geschehen Insbesondere dann, wenn das Verhalten der Kamera dramatisiert, die Technik der voice-over-narration: mit dem inneren Erleben einer beteiligten Person Hinweise auf die Erzählung, auf eine "authentische (wie hier der des Vaters) verbunden werden kann, Fiktion". dann kann man das Bild psychologisieren, mit Moti- vation und Emotion aufladen. Das Bild thematisiert Die Bildwelten des fiktionalen Fernsehens kontras- sich gewissermaßen selbst, weil es als Bild einer be- tieren dieser Stilistik deutlich. Darum ist die "Fak- teiligten Person lesbar gemacht wird. Oft ist es der
voice-over von Erzähler oder Kameramann, manch- hier ist der zukünftige Ereignisverlauf wichtig, die mal auch die Erlebnisschilderung eines Geretteten, Möglichkeit der Katastrophe ist im zeitlichen Hori- der die Bilder überhaupt erst als Bilder eines Ge- zont des Ereignisses immer vorgesehen. Aber der schehens lesbar macht. Man sieht aufgewühlte See, Ereignisverlauf ist in den Beiträgen des Reality-TV hoher Wellengang, darin ein winziges Boot; es ist unter Kontrolle, das Geschehen eigentlich abge- kaum zu identifizieren; dazu erzählt "Billy", daß das schlossen, der Bericht ist nachzeitiger Bericht. Viel- Boot umgeschlagen sei und die Kabine langsam vol- leicht aus diesem Grunde ist die Zeitbehandlung in laufe, die Luft werde knapp... In einem derartigen Beiträgen des Reality-TV so gleichmäßig: Fast im- Bericht ist das Bild einerseits Spielmaterial für die mer wird auch ein Zeitpunkt konstruiert, der nach Phantasie, andererseits eine indexikalische Spur in dem verhängnisvollen und bedrohlichen Ereignis lo- die Realität. Spielmaterial kann es sein, weil es so kalisiert ist. Die Gefahr ist also nicht akut, schon wenig zeigt, so wenige Information tatsächlich ex- überstanden. poniert; diese muß hinzuerfunden werden, dann läßt sie sich dem Bild auch ansehen. Interessanter ist die Vielleicht ist dadurch die Rezeption entlastet. Denn indexikalische Qualität derartiger Bilder. Würde wenn der Zuschauer dem Kommunikator vertraut, man nur mit dem argumentieren, was die Bilder zei- dann darf er annehmen, daß er ihm nicht das gen und einzelne dazu äußern, ergäbe sich immerhin Schreckliche zumutet, sondern von Rettung und Er- schon ein Gerüst von Hinweisen und gegenseitigen lösung erzählt. Vielleicht waren die bürgerlichen Bezugnahmen, das die Bilder als Spuren realen Ge- Kritiker des Reality-TV deshalb so empört, weil die- schehens ausweisen könnte. ses Vertrauen sich angeblich als trügerisch erwies - viele Beiträge, in denen das Reality-TV problemati- Es tritt aber noch hinzu die Tatsache, daß die Bilder siert und kritisiert wurde, gingen ja darauf, den überhaupt im Fernsehen verwendet werden - weil Journalisten oder gleich dem ganzen Fernsehen die das Geschehen so wichtig sein muß, daß es die Ein- Frage zu stellen, was es denn zeigen dürfe [4]. gangsbedingungen ins Reality-TV erfüllt. Gerade schlechte Bilder, auf denen fast nichts zu erkennen Eine eigenartige Argumentation im übrigen: Mein ist, verweisen auf das Fernsehen und das Genre Vertrauen ist enttäuscht, und ich weise mein Gegen- selbst und tragen deshalb die Legitimation, warum über auf seine Pflichten hin. "Du hast mich hinter- sie im Fernsehen sind, in sich selbst. Eine paradox- gangen, und das darfst Du nicht!" - nach einem sol- zirkuläre Doppelung von Voraussetzung und Folge chen Modell werden auch stehlende Kinder er- also, deren Schluß-Charakter auf dem Verhältnis mahnt. von Regel und Fall basiert: (1) Im Fernsehen sind Bilder, die wichtig und von Interesse für das Publi- *** kum sind; (2) diese Bilder sind im Fernsehen, also (1). In der Untersuchung strikt voneinander zu trennen sind der Repräsentations- und der Lerneffekt. Das Augenzeugenschaft ist im Reality-TV ganz funda- eine betrifft die Frage nach dem Zustandekommen mental, es ist ein heliographisches Genre. Die Nähe eines Verweises auf äußere Realität. Ganz etwas an- des Berichterstatters zum Ort des Unglücks nennt deres ist das Effektivwerden einer Geschichte in Er- Meierding als besonders auffallende Charakteristik fahrungsweisen, und auch die Kanonisierung von des Reality-TV: "Mit Reality-TV ist der Zuschauer Angstanlässen darf nicht mit dem "Realismus" einer direkt am Unglücksort" (1993, 127). Hautnah dabei- Erzählung verwechselt werden. sein und sich doch in sicherer Distanz befinden: Ge- nau dieser Widerspruch gehört zur ästhetischen Reality-TV ist in aller Regel lehrhaftes Fernsehen. Grundverfassung der Ereignisberichterstattung vom Da geht es nicht um lebendige Teilnahme, um ge- Typ Reality-TV dazu. Meierding nimmt das Gei- schlossene Illusion, um Perfektheit der Illusionsbil- seldrama von Gladbeck als einen "ausgedehnten dung. Der Zweck der Übung bleibt immer greifbar: Fall" von Reality-TV, eine Live-Geschichte, in der Die einzelne Geschichte wird erzählt zum Nutz und sich das Medium natürlich mit allen Konsequenzen Frommen der Zuschauer. Mögen sie etwas davon auf das Risiko einlassen mußte, daß sich die Ge- lernen! Die Teilnahme am Reality-TV bleibt wach, schichte katastrophal entwickeln könnte. rational, kalt. Es ist vor allem Neugierde, die die Zuwendung reguliert. In manchen Schriften war die An diesem Punkt unterscheidet sich das Geiseldra- Rede vom Voyeurismus der Zuschauer (vgl. z.B. ma indes von den Beiträgen zum Reality-TV: Auch Gangloff 1993, 18; Wegener 1994, 63). Ich zweifele
daran, daß diese Annahme Aufschluß geben könnte dies ist wichtig - in welche Aktivität kann eine Sen- über irgendwas. Denn der Blick ist nicht gerichtet dung münden, was schließt sich an, wie kann der auf Verbotenes; zumeist sind es Blicke auf Gesche- Zuschauer etwas tun? Es gilt also, das Potential der hen, das eigentlich öffentlich ist. Die Häuserfront, Folgetätigkeiten abzustecken. AKTENZEICHEN ruft auf an der die Feuerwehr löscht: Die Kameras stehen in zur Hatz. Sehr pointiert vertritt Claus-Dieter Rath aller Regel dort, wo auch die beobachtenden die These, daß die polizeiliche Exekutive in Passanten stehen. Öffentliches Unglück, in der Art AKTENZEICHEN: XY... UNGELÖST an die einzelnen Bür- dargestellt, wie man es vor Ort auch besichtigen ger abgetreten werde, die zu Zwecken der Strafver- könnte. folgung instrumentalisiert und ideologisch zu einer neuen Form von "Volksgemeinschaft" zusammenge- Wo ist der Ort der Kamera? Eine wichtige Frage, schlossen würden: weil sie Aufschluß darüber gibt, welche Rolle die Opfer innehaben. Kameras dort, wo Passanten ste- Der Staat löst sich in die Fernseh-Bürger auf: hen, am Rande der Straße, im Gegenüber brennt's Der Bürger zeigt 'Hilfsbereitschaft' im Interesse und arbeiten die Feuerwehren. Kameras dort, wo die 'gesellschaftlicher Wohlfahrt'. Zugleich: Der Bür- Helfer arbeiten, ein Blick aus dem Hubschrauber, ger als Spitzel, Fernsehen als Medium des Spit- aus dem sich gerade jemand abseilt, ganz unten die zelwesens, Spitzel-Öffentlichkeit. Die elektroni- Opfer, die im Gebirge von Nebel überrascht wurden. schen Medien machen einen Teil des traditionel- Kameras am Ort der Opfer - gibt es gar nicht oder len Spitzelwesens überflüssig. Sie beschleunigen sind sehr selten. Das wäre auch nicht schlüssig: das Verhältnis von Denunziation und polizeili- Denn erst muß das Opfer seine Handlungsfähigkeit cher Aktion (Rath 1984, 44). verlieren, zu einer "gefährdeten Sache" gemacht werden, bevor der Auftritt der Helfer erfolgt. Helfer Doch ist AKTENZEICHEN (die meisten anderen Krimi- retten Opfer ohne deren Dazutun - es ist auffallend, nalmagazine sind ähnlich gelagert, auch wenn sie wie wenig Raum der Aktivität der Opfer gegeben moderater argumentieren) ein eigener Fall und läßt wird. sich nicht auf das ganze Genre hin generalisieren. NOTRUF zeigt heldische Helferfiguren, auch solche, Die Helden des Genres sind ganz eindeutig die Hel- die kühlen Kopf bewahrt haben und darum das fer. Reality-TV ist Helfer-Propaganda. Feuerwehr- Richtige tun konnten. DER SIEBTE SINN ist gleich ein leute, Krankenwagenbesatzungen, manchmal auch Ratgeber, gibt Tips, appelliert an die Verantwortung Polizisten und Zivilisten als Alltagshelden, auf die des Fahrers und gibt solche der Lächerlichkeit preis, sich Tugenden bündeln: Mut, Selbstlosigkeit, Opfer- die glauben, mit Sommerreifen auf Schnee sicher bereitschaft, Überlegtheit, Professionalität etc. fahren zu können. Daß man etwas lernen kann, verwundert nicht. Das Die "Moral von der Geschichte" ist nur eine Mani- Geschichtenerzählen ist eine der elementarsten päd- festation des Übergangs von einer Geschichte in das agogischen Techniken überhaupt. Lernen am erzähl- Potential der Folgetätigkeiten. Aus der "Moral" muß ten Beispiel ist in Gang gesetzte Kasuistik. Doch kognitiv eine Brücke gebaut werden, die sich als was läßt sich lernen? Regel eigenen Verhaltens möglicherweise sedimen- tieren kann. Aufforderungen kann man befolgen Normalerweise enden Reality-TV-Geschichten mit oder es lassen. Einen Ratschlag kann man anneh- happy endings. Eine Ausnahme bilden die krimino- men, zumal es sehr materielle Gründe sind, die für logischen Sendungen: AKTENZEICHEN-Geschichten en- eine Verhaltensänderung sprechen. Jürgen Grimm den (fast) immer mit bad endings. Dies könnte ein beobachtete "prosoziale Effekte" der Besichtigung Differenzierungskriterium sein. Und auch: Ereignis- einer NOTRUF-Sendung. Das verwundert eigentlich se mit unglücklichem oder gar katastrophalem Aus- nicht, denn wie wollte man ein gegenteiliges Ergeb- gang gehören in die Nachrichten. Rettungen werden nis wohl begründen? Derartige Effekte basieren dar- nur berichtet, wenn sie ganz und gar außergewöhn- auf, daß Geschichten zu Folgetätigkeiten hin geöff- lich sind. net sind - und es ist der Text selbst, der die Richtung weist, das Handlungsmodell vorgibt oder das Mate- Meierding weist auf eine andere Differenz hin: Rea- rial liefert, aus dem der Rezipient eine Ableitung lity-TV basiere auf der Schaulust des Publikums [5]; vornehmen kann. Immer vorausgesetzt, daß über- AKTENZEICHEN dagegen auf der "gewalttätigen Lust haupt Modulationen vorgenommen werden, viel- an der Denunziation" (Meierding 1993, 127). Auch leicht ist eine Geschichte ja so verstanden worden,
daß sie bestätigte, was einer sowieso schon wußte Geht man von diesem Beispiel weg, stellt sich aber und als Richtlinie des Handelns beachtete. das Protagonisten-Problem mit aller Schärfe. Wer ist denn eigentlich der Held? Vom Ende der Geschichte In der Art der anschließbaren Folgetätigkeiten unter- her gedacht doch der Helfer, der Retter, der Feuer- scheiden sich also die einzelnen Genres des Reality- wehrmann. Eigenartig bleibt es, daß die Filme die TV. Darum ist es wichtig, nicht pure Inhaltsbe- Opfer als Ankerpunkte der Inszenierung setzen. Ei- schreibung zu betreiben, sondern das kommunikati- genartiger Bruch, der den Fall von der Katastrophe ve Geschehen und die interpretativen Prozesse in ei- her aufbaut. Also von der Schnittstelle zum Alltags- nem weiteren Sinne zu untersuchen, in denen Reali- leben des Zuschauers und den darin verborgenen Ri- ty-TV rezipiert und verwertet wird. siko-Potentialen. Erst nach dem Unglück, wenn al- les verloren scheint, treten die Helfer auf, dadurch *** nur um so heldischer sich gebärdend. Wie schüch- tern-pathetisch geben sich die Feuerwehrleute, die Ein Wirkungs- und Verstehensparadox: Es hat nicht am Unglücksort interviewt werden! Sie wissen na- mich, es hat einen anderen getroffen! Der "andere" türlich um die Rolle, die sie einnehmen, und um den als Stellvertreter? Als Platzhalter? Als Prototyp der Glanz, den ihr Einsatz hat. eigenen Person? Spiegelbild? Der Grund für ihr Selbstbewußtsein mag zusam- Oder ist das Verhältnis viel komplizierter: Daß es es menhängen mit einer Figur, die in der Rezeption mehrere Typen von Beziehungen gibt, die das Sub- durch den Zuschauer zählt: "Ich bin lebendig und jekt vor dem Schirm mit den abgebildeten Personen ein anderer ist tot", schreibt Christiane von Wahlert hat oder haben kann. Das eine ist Sympathie und (1993, 22), und sie erinnert an Canettis Analysen Mitleid - welch' furchtbares Unglück, so jung, und dazu - jeder Anblick eines Toten verleiht dem Le- die armen Kinder! benden, dem Überlebenden, neben Angst, Schre- cken, Entsetzen und Trauer auch ein Gefühl der Doch schon der sympathische, attraktive, einsichtige Überlegenheit und des Triumphes: Ich bin lebendig und nachdenkliche fünfundzwanzigjährige Risiko- und ein anderer ist tot. Die Frage, ob das Zuschauen kletterer - entsteht nicht auch Distanz? Abstand von der einen beim Untergang der anderen reflexiv sei jemandem, der das Schicksal versucht hat? Kann ei- oder nicht, ist in der abendländischen Geschichte ner, der sich in Gefahr begibt und dann fast darin schon sehr alt. So wollte Voltaire den Neugier-Im- umkommt, als Identifikationsfigur dienen? Oder ist puls so generell fassen, daß er ihm jede Ambivalenz der Auftrag, pfleglich mit dem eigenen Leben um- absprach und ihn als die alleinige Leidenschaft an- zugehen, so stark, so dominant, daß sich sofortige sah, die "Menschen dazu [treibe], auf Bäume zu Skepsis einstellt, Skepsis, vermehrt um das Gefühl: steigen, um sich das Gemetzel einer Schlacht oder Du hast es selbst herausgefordert! Sturz und eine öffentliche Hinrichtung anzusehen. Es sei [so Schmerz und Schaden gehen für ein unterschwelli- Voltaire] eben nicht eine menschliche, sondern dem ges, distanziertes Verstehen schon in Ordnung, weil Menschen mit Affen und jungen Hunden gemeinsa- im Sturz des Protagonisten etwas von einer göttli- me Leidenschaft" (Blumenberg 1979, 36f). Dagegen chen Weltordnung spürbar wird. Der Sturz ist die steht die andere Position, die annimmt, daß das Un- Quittung für eine Unachtsamkeit. So, wie manche glück der anderen eine Reflexion auf die eigene Un- den Krebs als eine Sühne für ein sündiges Leben an- betroffenheit impliziere. Dagegen steht aber auch sehen. Das Beispiel verweist in moralisch-sakrale Voltaires Einwand, daß man den Neugierigen, die Modellvorstellungen von Verhalten und Lebenslauf, einer Hinrichtung zusehen, Boshaftigkeit unterstel- in denen die Verantwortung für das eigene Leben len müsse, versicherten sie sich doch im Tod des wahrscheinlich das Komplement einer Verpflichtung Delinquenten ihrer eigenen Unversehrtheit. zur Hilfeleistung ist, was im Beispiel aber nicht ex- poniert wird: Hier geht es darum, am einzelnen Fall Wenn es wirklich darum geht, den kompetenten und die Kette "Versuchung Gottes", "Strafe" und "Ret- souveränen Umgang mit der latenten Gefährlichkeit tung" zu demonstrieren, zum Nutzen des Zuschau- von gewissen Situationen zum Thema zu machen; ers. Hier treten denn auch die Helferfiguren in den wenn es darum geht, Ereignisse in einem Feld von Hintergrund, das Leben des Opfers selbst ist das anderen potentiellen Ereignissen zu lokalisieren; Objekt, an dem die demonstratrio ad oculos vorge- wenn es darum geht, die Möglichkeiten des bedach- nommen werden kann. ten Umgangs mit Situationen, des Eingreifens, der selbstlosen Pflichterfüllung zu umzirkeln: Dann
geht es im Reality-TV nicht nur um Risikobewußt- ausfilterte, das würdig war, berichterstattet zu wer- sein und um die Reflexion auf die eigene Unver- den. Im Selektieren äußert sich kommunikative sehtheit (ob sie boshaft ist oder nicht, sei dahinge- Macht, und es ließe sich Reality-TV ganz übera- stellt), sondern auch um elementare ethische Kon- schenderweise auch so auffassen, daß es Ausdruck zepte, die am Beispiel vorexerziert werden. In den einer "Demokratisierung von Medienkultur" (ebd.) Ableitungsprozessen, in denen die Moral von der ist - der Zugänglichkeit von Ereignissen ins Medium Geschichte abgesteckt wird, geschieht etwas Eigen- zunächst, sodann aber natürlich auch der Kriterien, artiges und sehr Wichtiges: Gegenüber dem un- die jene kontrollieren. glücklichen Verlauf, den das Beispiel zeigt, wird der Rezipient als "überlegen" aufgebaut, als einer, der So steht nicht nur die Art, wie ein Ereignis darge- die Gefahr durchschaut und der die Unglücksge- stellt und erzählt wird, gegen die üblichen Usancen schichte besprechen kann, um an ihr zu demonstrie- des Fernsehens, sondern auch die Art des Ereignis- ren, daß er das Katastrophenpotential einer Situation ses selbst ist etwas, das durch die Raster üblichen kennt und sich dementsprechend verhalten würde. Fernsehberichterstattens durchfallen würde. Sowohl stofflich wie darstellungsmäßig kontrastiert Reality- Ob das mit den Realitäten immer zu tun hat? Oder TV dem Umfeld. ob aus dem Schluß aus dem Gesagten auch folgert, daß der Rezipient entlastet ist und mit einer gefähr- Eine ganz andere Seite der Medium-Zuschauer-Di- lichen Praxis (schnelles und riskoreiches Autofahren stanz basiert auf der Fiktionalität bzw. Faktionalität z.B.) fortfahren kann - ist er doch gegenüber den des Materials. Ich hatte oben schon behauptet, daß drohenden Gefahren bewußt, wach und aufmerk- aus der Zentralität der "Moral von der Geschichte" sam? folgere, daß die Teilnahme nicht auf Illusionsbil- dung ausgerichtet sei, sondern auf Informationsauf- *** nahme und Evaluation der Beiträge in Hinsicht auf die für eigenes Verhalten effektive "Botschaft". Ein anderer Aspekt, an dem eine Analyse der rezep- Über der oft drastischen Realistik (nicht nur des Ge- tionsästhetischen Qualitäten des Reality-TV anset- schehens, sondern auch der Art der filmischen Dar- zen kann, ist der Umgang mit der Distanz zwischen stellung) baut sich ein ganz eigener Zuwendungs- Medium und Zuschauern: "Der reduzierte Standard und Erfahrungsmodus auf. Ähnliche Beobachtungen der ausgestrahlten Augenzeugenvideos ermutigt machte Jürgen Grimm (1993b), der einen Bericht zum Mitmachen", schreibt Meierding (1993, 133). über Lynchjustiz in Brasilien (entnommen der Die Beziehung zwischen Medium und Zuschauern RTL+-Sendung EXPLOSIV) im voice-over-Teil mani- ändert sich, sie wird durchlässiger, die beiden Ak- pulierte und einmal als Tatsachenbericht, einmal als teure gleichberechtigter. Zuschauer bedienten sich erfundenen Bericht ausgab. Grimm konnte zeigen, des Medienangebots zur narzißtischen Selbstdarstel- daß die Beteuerung der Glaubwürdigkeit nicht nur lung, lautet eine These, die die Bereitschaft von die Glaubwürdigkeit des Beitrags, sondern auch die Kandidaten in Shows erklärbar machen soll. Im Einschätzung des "Realismus" der Darstellung deut- Reality-TV manifestiere sich also eine Beziehung, lich erhöhte; damit ging einher, daß der für doku- die auf der massenhaften Praxis des Amateur-Videos mentarisch erklärte Beitrag sowohl als angsterregen- aufbaue. Damit eröffne sich eine Chance und biete der wie aber auch als interessanter genommen wur- sich ein Fundament an, auf dem der Zuschauer aktiv de als die fiktionalisierte Fassung: am Medium teilnehmen kann. Ob dem tatsächlich so ist und das Reality-TV an einer grundsätzlichen Die kognitive Etikettierung des Films als "Wirk- Veränderung der Beziehung des Publikums zum lichkeit" beeinflußt demnach die Zuwendungsat- Fernsehen hängt, will ich hier nicht entscheiden. traktivität; sie forciert das Interesse und das emo- tionale Involvement bei der Rezeption (Grimm Mich interessiert die zweite Seite der Behauptung, 1993b, 24). die mit der Auflösung des Politischen (die Frage auch bei Grimm 1993a, 4) ebenso zusammenhängt Fiktionalisierung schützt vor Angsterleben, möchte wie mit dem Sinken der Entfernung zwischen Fern- man schlußfolgern, setzt aber auch das Interesse so sehen und Zuschauern: Tendenziell jedes Alltagser- stark herab, daß kaum noch Zuwendung erfolgt - eignis kann so interessant werden, daß es telegen dazu wäre wohl auch eine andere Stilistik des Films wird. Die Schärfe der Selektion hat an Schärfe ein- erforderlich, eine weniger schlichte narrative Struk- gebüßt, die aus dem täglichen Geschehen jenes her- tur und eine Spannungsdramaturgie, die eine wie-
derum andere Zuwendung des Zuschauers organi- daß Nachrichten das Wichtige zu berichten hätten, sierte. teilen aber auch die Medien der Gegenöffentlichkei- ten. *** Nicht politische Gegenbewegung, sondern die Quo- Wessen Geschichten sind es, die im Reality-TV er- tenregulierung privaten Rundfunks bringt Bewe- zählt werden? "Lower class stories", sagte uns ein gung in die Nachrichtengenres: Die ganz anderen Reporter von 'Bild'-Hannover. Und die Lügen, die Inhalte der Reality-TV-Shows, die Abwendung vom durchsichtige Ideologie? Politischen und die gleichzeitige Hinwendung zu den Risikopotentialen des Alltagslebens, die Neu- Generisch ist das Reality-TV gelegentlich unter dem aufkunft eines Kanons von Tugenden und das Aus- Rubrum "Boulevardisierung des Fernsehens" ge- stellen dieser Tugenden in narrativen Formaten, die nannt worden (z.B. in Baum/Muser 1992, 5f): Brüchigkeit der Grenze zwischen Fiktion und Be- richt: Das sind semiotische Tendenzen im Reality- Reality TV ist im Grenzbereich zwischen Doku- TV, die man auch als implizit vollzogene Auseinan- mentation und Fiktion zuzuordnen, wobei sich dersetzung mit den bislang vorherrschenden Formen die Macher der Bildsprache von Informations- der Berichterstattung auffassen kann. sendungen und dem [!] Vokabular des Sensati- onsjournalismus bedienen (Bleicher et alii 1993, Politische Nachrichten als distante Formen stehen 45). dann gegen die Nahformen des Reality-TV - gleich in doppeltem Sinne: Zum einen entstammen die Re- Tatsächlich sind die Berührungspunkte und Ähn- gister der Berichterstattung im einen Fall der "öf- lichkeiten mit der Ereignisberichterstattung gewis- fentlichen Verlautbarung", im anderen Fall dem Er- ser Boulevardzeitungen nicht von der Hand zu wei- zählen im sozialen Nahfeld. Zum anderen behandelt sen. die eine Form Stoffe, die wenig erfahrungsrelevant sind, während die andere gerade die Nähe des Be- Allerdings sollte im Auge behalten werden, daß die richteten zur Erfahrungswelt der Adressaten auf- "Boulevardisierung" eine Gattungsbezeichnung für sucht. Prozesse einsetzt, in denen es um ganz etwas ande- res geht. Das weist zurück auf die Entscheidungen, Es gibt noch mehr gewichtige Differenzen zwischen die getroffen werden müssen, bis eine Nachricht, beiden Formen, die in Bezug aufeinander gesehen eine Meldung, eine Geschichte es tatsächlich werden können: Die Nachrichten sind sprachdomi- schafft, in den Medien aufzutreten: Einer der ver- nierte Formen, setzen elaboriertes Sprechen in ei- deckten Orte von Macht, die sich in den Medien nem komplizierten Formel-Wortschatz voraus, wäh- manifestiert, ist die Definitionsmacht darüber, was rend das Reality-TV eher handlungsdominiert ist "nachrichtenwürdig" ist. Der "Nachrichtenwert" be- und die sprachlichen Mittel wiederum eher der Er- mißt sich nicht an objektiven Eigenschaften von Er- zählung als dem Kommentar zugehören. Während eignissen, wie manche Theorien annehmen, sondern die Nachrichten zu einem großen Teil ritualisierte fußt auf Interpretation und damit auf der Macht, Re- Auftritte und formale Umgebungen präsentieren, levanz und Bedeutsamkeit zuzuteilen. Öffentlichkeit selbst ungeregeltes Geschehen in ein formales Prä- ist die Öffentlichkeit der gesellschaftlichen Institu- sentationsformat von Kommentar und Bildbericht tionen, die ihre Rolle und die an ihnen hängende zwingen, gibt das Reality-TV dem Einbruch des Un- Macht, das festzulegen, was wichtig ist, mittels der geregelten und Unkontrollierten einen eigenen Medien ausüben. Erst dann, wenn neue Gruppen Raum (eine genauere Analyse zeigt allerdings, daß auftreten und abweichende Definitionen des Wirkli- es auch hier Strategien der Bedeutungskontrolle chen bzw. des Wichtigen in das Konzert der gesell- gibt). schaftlichen Stimmen einzubringen versuchen, wird die Definitionsmacht der Alteingesessenen in Frage Reality-TV ist im Horizont der Genres des Fernse- gestellt. Die verschiedenen Versuche, Gegenöffent- hens verortet. Dabei sind die Unterschiede im Ver- lichkeiten zu bilden, sind weniger deshalb inter- hältnis zu anderen Formen der Fernsehberichterstat- essant, daß sie "andere Nachrichten" produzierten, tung eigene Qualitäten, die von Zuschauern dazu be- als vielmehr, weil sie "von den etablierten Medien nutzt werden können, Reality-TV als soziale Be- unterdrückte Nachrichten ins Licht der Öffentlich- zugsgröße zu setzen und dadurch die Stoffe, Erzähl- keit zerren" (Mikos 1993, 50). Die Übereinkunft, weisen und Interpretationsmuster des Reality-TV als
"eigene", mit der eigenen Klassenlage und -identität journalismus-ethischen Aspekt, der in der Nachrichten- eng verbundene Tatsache anzusehen. Die These, der praxis anderer Mediensysteme - insbesondere der USA - so überhaupt nicht eingelöst sein oder auch nur in Gel- ich hier zu folgen versuche, besagt, daß die Diffe- tung stehen müßte. renz der Darstellungsweisen und der Stoffe zum normalen Angebot des Fernsehens in der Aneignung [2] Und folgt im übrigen den Konventionen des Berg- des Reality-TV produktiv ist. Das gemeine Fernse- films: Der Mensch spottet gegen die Allmacht der Natur hen verfügt über einen Kanon von Techniken, Reali- und wird eines Besseren belehrt, sich am Ende der höhe- ren Macht beugen. tät zu repräsentieren bzw. besondere Modelle von Wirklichkeit zu konstituieren. Dabei spielen Ge- [3] Vgl. dazu exemplarisch Wegener 1994, 63. sichtspunkte der Relevanz, der Auswahl von The- men, der Gewichtung von Ereignissen usw. eine [4] Es sollte vermerkt sein, daß viele derjenigen, die über Rolle. Das sogenannte Reality-TV wendet sich ge- das Reality-TV geschrieben haben, wohl nur sehr kursori- sche Textkenntnis hatten. gen dieses Prinzip, setzt andere Realitäten gegen das, was normalerweise im Fernsehen dargestellt [5] Ich habe oben schon gezeigt, daß die "Arbeit am Ho- wird. Und es greift auf die Darstellungsmittel der rizont" der primäre Rezeptionsmodus des Reality-TV ist Alltagserzählung und der lehrhaften Erzählung zu- und nicht eine aus dem Voyeurismus entspringende rück, um seine Sujets zu exponieren. Es unterschei- Schaulust, zumal der voyeuristische Gestus selbstgenüg- sam ist und nicht in Folgetätigkeiten einmündet - ein se- det sich von seinem Fernseh-Umfeld, weil es sich mantisch-alltagspraktischer Rahmen der Rezeption, um durch andere Stoffe und andere Modalitäten der den es mir hier geht. Mitteilung auszeichnet. Deshalb schert es aus dem hegemonialen Diskurs des Fernsehens nicht aus, wie manche meinen (z.B. Mikos 1993): Denn es trägt Literatur keine Gegenöffentlichkeit. Aber die Beiträge des Reality-TV erweitern das kommunikative Feld des Baum, Achim / Muser, Martin (1992) Die Wirklichkeit Fernsehens um Register des Sprechens und um Gat- als Lüge. Reality TV: Bestandsaufnahme eines angeblich tungen des Sich-Äußerns, die in der öffentlich- neuen Fernsehgenres. In: Funkkorrespondenz 46, S. 3-6. rechtlichen Phase des deutschen Fernsehens eher Bleicher, Joan [et alii] (1993) Deutsches Fernsehen im randständig oder sogar ausgespart gewesen sind. Wandel. Perspektiven 1985-1992. In: Arbeitshefte Bild- schirmmedien 40, S. 3-78. Fernseh-Genres sind "soziale Bezugsgrößen", an de- nen sich Klassenlagen und Erfahrungsweisen orien- Blumenberg, Hans (1979) Schiffbruch mit Zuschauer. Pa- tieren lassen: Wenn man dieser Annahme folgen radigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt: Suhrkamp. will, dann muß sich das Interesse auf die Sinn-Hori- Gangloff, Tilmann (1993) Dabeisein ist alles. Warum das zonte richten, die am Reality-TV greifbar werden. Realitätsfernsehen eine spekulative Fälschung ist. In: Der medienethische Diskurs, der das Besprechen Medium 23,2, S. 18-19. des Wirklichkeitsfernsehens dominiert hat und der meist auch dazu gedient hat, das kontrollierte Pro- Grimm, Jürgen (1993a) Opfer, Retter, Sensationen. Er- gebnisse empirischer Untersuchungen zu Reality TV. Vor- gramm der öffentlich-rechtlichen Anbieter gegen die tragsmanuskript, 13. Bundeskongreß Rettungsdienst, 4.- privaten "Hasardeure" zu verteidigen, erfaßt diese 6. Juni 1993. Dimension keineswegs. Vielmehr läßt er sich lesen als Indiz dafür, wie fragil und gefährdet das Fernse- --- (1993b) Vom wahren Schrecken. Schockerlebnisse in hen als soziale Tatsache ist - als sozialer Ort ebenso der Mediengesellschaft. In: Medien praktisch, 1, S. 22- 27. wie als soziale Institution. Mit den ästhetischen Qualitäten, den argumentativen Mustern und den di- Meierding, Gabriele (1993) Psychokiller. Massenmedien, daktischen Strategien des Reality-TV hat diese De- Massenmörder und alltägliche Gewalt. Reinbek: Ro- batte aber kaum etwas zu tun. wohlt. Lothar Mikos (1993) Im Zweifel für die Betroffenen. In: Medien Concret, 1, S. 48-51. Anmerkungen Rath, Claus-Dieter (1984) Das unsichtbare Netz. In: [1] Ich spreche hier ausschließlich über das deutsche Kursbuch 66, S. 39-45. Fernsehen. "Nachrichten", wie ich sie hier idealtypisch gegen das Wirklichkeitsfernsehen setze, entspringen einer öffentlich-rechtlichen Vorstellung, was "Nachrichten" sein sollten, und umfassen deutlich einen normativen,
Wahlert, Christiane von (1993) Die dunkle Kammer. Prä- liminarien zu "Film und Tod". In: Arnoldshainer Filmge- Wegener, Claudia (1994) Reality-TV - konkret. In: GMK- spräche 10, S. 17-24. Rundbrief, 36, pp. 59-64.
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