Hieronymus Bosch Uwe Topper

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Uwe Topper
                       Hieronymus Bosch
     Wie das frühe Christentum um 1500 in den Niederlanden sich durchsetzte

                        „Der Heuwagen“ von Hieronymus Bosch, eines der besten Bilder des großen Meisters aus Holland.

             Einleitung                       die sich sozial betätigten, aber als un-                Von Ketzerei und Heidentum ist
    Der sehr eigenwillige und wegen           christlich galten. Sie pflegten die Bil-            im Zusammenhang mit Boschs Ma-
seiner verrückten Bilder weltbekann-          dung der Jugend und sammelten Bü-                   lerei häufig die Rede. Gauffreteau-
te holländische Maler Hieronymus              cher. Bosch wird als Zunftmitglied                  Sévy (1967) beschreibt sie wie eine
Bosch hieß eigentlich Jieron Antho-           der Malergilde etwa ab 1480 schrift-                Nahtstelle: noch dem Symbolismus
niszoon oder auch Jan van Aken.               lich erwähnt, er starb in seiner Stadt              der romanischen Kunst verpflichtet
Über sein Leben weiß man fast nichts,         etwa 1516, im Jahr, als Karl V. sich in             und schon die gotische Neudeutung
als Geburtsjahr werden verschiedene           Brüssel zum König erklären ließ. Sei-               im Blick (Kap. 4; man achte auf die
Daten zwischen 1450 und 1465 an-              ne Bilder waren von hohen Personen                  chronologische Implikation, die der
gegeben. Das reiche Städtchen s’Her-          in Auftrag gegeben und wurden wie                   Kunstkenner hier unkommentiert
togenbosch in Brabant war seine Hei-          Schätze von Fürsten und Königen auf-                vornimmt: die Romanik, Ende in
mat, die er möglicherweise nie verließ.       bewahrt. (Zur Identifizierung der                   Boschs Zeit, Gotik beginne gerade
Nach diesem Ort hat sich sein Zuna-           etwa dreißig bekannten Boschbilder                  erst dann, also so, wie es die neue
me geformt. Den Zunamen van Aken              nennt man immer den heutigen Auf-                   Chronologiekritik fordert). Das be-
trug er nach seinem Vater und Groß-           bewahrungsort).                                     trifft vor allem Boschs Zeitgenossen,
vater, der vermutlich aus Aachen                  Boschs Tiergestalten, oft ganz selt-            für die er malte, denn als unverstan-
stammte.                                      sam verwachsen, hatten gewiss einen                 denes Genie, wie wir das aus der Neu-
    Hieronymus Bosch wurde später             mystischen Hintergrund, leider ent-                 zeit kennen, ist Bosch nicht abzu-
vielfach angefeindet, weil er dem Or-         zieht sich vieles davon unserem                     schieben; er arbeitete im Auftrag von
den der Brüder vom gemeinsamen                Durchblick. Der Zusammenhang mit                    Bürgern, Fürsten und sogar für Kir-
Leben angehörte, der in Herzogen-             den hybriden Gestalten der Lichtreli-               chenbauten. Darum ist die Einschät-
busch seit 1424 ansässig war. Dies            gion, dem Tierstil der romanischen                  zung der modernen Interpreten be-
war eine Vereinigung von Mystikern,           Kirchen, ist offenkundig.                           achtenswert. Kein dogmatischer

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Hieronymus Bosch
Christ hätte die phantastische Bilder-
welt Boschs schaffen können. Die
skurrilen Gestalten sind auch nicht
seiner persönlichen Psyche entsprun-
gen, sondern erhalten ihre Bedeutung
vor dem Hintergrund einer fremden
Glaubenswelt, die seinerzeit sehr le-
bendig war. Darin ist die Natur als
Ganzes die Bühne, auf der sich das
Schauspiel der Schöpfung abspielt.
Tiere, Pflanzen und der Mensch, so-
gar dessen Werkzeuge und Ge-
brauchsgegenstände, sind ineinander
umwandelbar, miteinander verwandt
und verknüpft, denn sie leben in einer
Natur, die mit ihnen das große Spiel
in Szene setzt, einer Welt der steten
Verwandlungen, sinnlos aber bedeut-
sam, unerklärlich aber erkennbar.
    Ich will die einzelnen Bosch-Ge-
stalten hier nicht ausdeuten, wir ken-
nen sie alle: das Ei und die Distel, den
Finken und die Teufel, die Ungeheu-          „Der Heuwagen“ von Hieronymus Bosch (Mittelteil, Ausschnitt): Der Christus kommt unter die Räder
er und Zwitter, Missgeburten und
Schreckensviecher, das höllische Heer
und die irdisch-schönen jungen Frau-            Die Menschen, für die Bosch mal-               feln sind anerkanntermaßen spätere
en, die Soldateska und die gierigen al-     te, müssen jedenfalls seine „Anspie-               „Kopien“, manche ein ganzes Jahr-
ten Weiber … sie sind erst verständ-        lungen“ verstanden haben, sonst wä-                hundert oder mehr später geschaffen,
lich in einem mystischen Weltbild, in       ren die Bilder freischwebend in den                vermutlich nachempfunden. Andere
das man eingeweiht werden muss.             Raum gestellt, undenkbar für seine                 Bilder sind zwar echt, aber dermaßen
Gewiss haben sie auch allgemein             Zeit. An Kleinigkeiten sieht man, dass             oft übermalt („restauriert“) worden,
Menschliches (möchte man sagen) an          sie wirklichkeitsnahe Zustände wie-                dass der Sinn, den Bosch hineingelegt
sich, und doch sind sie herausgehoben       dergeben: der gelbe Fleck auf dem                  haben mag, uns heute verborgen blei-
aus der wirklichen Welt, unwirklich         Gewand so mancher Männer zeigt                     ben muss. Die Übermalungen betref-
im reinsten Sinne. Am Beispiel des          „geheime“ Zeichen, ein A oder ein T,               fen nicht nur Köpfe und Architektur
Lebensborns im Paradies sagt Gauffre-       vergleichbar dem Judenfleck; Fahnen                oder Mobiliar, sondern es wurden
teau-Sévy (S. 74), dass die Sinnbilder      und Opfertiere tragen häufig den                   auch ganze Figuren hinzugefügt oder
Boschs eher heidnisch als christlich        Halbmond (des Islam); der Seeigel soll             weggemalt, Bildteile abgeschnitten
sind, ob aus der Alchemie oder der          ein katharisches Zeichen sein usw. Es              oder sogar bis zu zwei Drittel eines
gotischen Mystik genommen, das              gibt aber auch schon christliche Mo-               Bildes neu übergemalt, besonders die
bleibt sich gleich, da sie auf universel-   tive, so die Anbetung der Heiligen                 Grisaillen auf der Rückseite der altar-
ler Mystik beruhen. Viele Maler, be-        Drei Könige, mehrere Passionsszenen,               ähnlichen Tafeln. Nicht immer han-
sonders die großen Meister jener Zeit,      vor allem auch mehrere Bilder mit                  delt es sich bei diesen Übermalungen
vervollkommneten ständig ihre               dem Thema der Versuchung des Hei-                  um Restaurierung von abblätternder
Kenntnisse der Farbmaterialien und          ligen Antonius, und Darstellungen                  oder verblichener Farbe, sondern oft -
deren Reaktionen mit Licht, Feuch-          von Adam und Eva im Paradies,                      wie könnte es anders sein - um Verän-
tigkeit und Malgrund. Sie waren             wenngleich letztere wohl eher den                  derung des Bildinhalts aus weltan-
Chemiker und teilweise Alchemisten.         Adamiten, also einer unchristlichen                schaulichen Gründen. Aus dem heid-
Der Sprung zur Gnosis ist nicht weit.       Bewegung, zuzuschreiben sind.                      nischen Maler von s‘Hertogenbusch
Ihre Vorbilder waren die Scholastiker       Jedenfalls stehen wir durch diese Bil-             mit seiner ursprünglichen Religiosität
wie Albertus Magnus, Beauvais, Tho-         der mitten im damaligen Zeitgesche-                wurde ein linientreuer Christ mit ab-
mas von Aquin u.a., angeblich Domi-         hen: Umbruch, Übergang zu einer                    sonderlicher Traumwelt gemacht.
nikaner (ein Sammelbegriff ), vermut-       anderen Religion, wie eine Moment-                     Die meisten Übermalungen in
lich Sufis, wie ihre Schriften bezeu-       aufnahme festgehalten für die Nach-                diesem Sinne wurden schon im 16.
gen, die oft arabische Vorlagen erken-      welt – das Eindringen einer früh-                  Jahrhundert vollzogen, also zu einer
nen lassen. Als Zeitgenossen oder di-       christlichen Bilderwelt in den heidni-             Zeit, als noch wenige Personen die
rekte Vorläufer von Bosch geben sie         schen Alltag holländischer Bürger.                 Bilder mit eigenen Augen gesehen
das geistige Umfeld dieser Bilderwelt                                                          hatten, vor allem spanische Hofleute
an. Auch die Gnosis war keineswegs                    Kritischer Zugang                        und Geistliche. An einigen Beispielen
ausgestorben, sondern weit verbreitet,         Nicht alle Bilder, die dem Maler                will ich zeigen, was an vielen Bildern
ihre Verketzerung und Verlegung in          Hieronymus Bosch zugeschrieben                     noch sichtbar ist.
eine erdachte Frühzeit beruht auf spä-      werden, stammen von diesem Jieron                      Der „Heuwagen“ im Prado von
terer Übertünchung, wie so oft.             Anthoniszoon van Aaken, einige Ta-                 Madrid, eines der berühmtesten und

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Hieronymus Bosch

                                  „Der Tisch der sieben Todsünden“, der in Philipps II. Privatgemach stand.

typischsten Bilder von Bosch, ist sogar      als man ihnen bisher zugeteilt hatte,                 alle Farben restauriert sind und viele
in großen gotischen Lettern im Mit-          weil sonst der Malstil wie auch die re-               Konturen nachgezogen, so fällt doch
telteil des dreiteiligen Altarbildes sig-    ligiöse Anschauung aus dem Zeitrah-                   sofort auf, dass das Gelb inmitten der
niert. Ob die Signatur vom Maler             men fallen würden. Deswegen hat                       großen Wolke über dem Heuwagen
selbst stammt oder später angebracht         man im Prado offiziell einige Gemäl-                  einfach nicht hinein passt, es ist im
wurde, besagt nichts. Die von den Pig-       de, die bisher der berühmte Roger van                 Ton „falsch“. Bei der schrägen Be-
menten her sehr schlechte, aber sonst        der Weyden (gestorben 1464) gemalt                    leuchtung im Saal des Prado sind
äußerst genaue Kopie des Bildes, die         haben sollte, nun seinem kaum be-                     sogar die Malränder erkennbar, die
im Escorial hängt, hat eine entspre-         kannten Schüler van der Stockst (ge-                  dieses fremde Gelb umgeben (Boschs
chende Unterschrift auf dem linken           storben 1495) zuerkannt, also um                      Maltechnik ist ‚geleckt‘, da gibt es kei-
Flügel, weshalb man annehmen                 glatt eine Generation verjüngt. Das                   ne Ränder). Und der Christus, der
muss, dass beide Bilder zunächst kei-        reicht zwar bald wieder nicht mehr                    mit schüchtern ausgebreiteten Armen
ne Signatur trugen, sonst hätte der          aus, wenn neuere Erkenntnisse ge-                     halb aus dem Gelb herausschaut,
Kopist die Signatur gewiss an der rich-      wonnen werden, aber es zeigt dem                      passt noch weniger zum Bild, er wur-
tigen Stelle mitkopiert. Mit den Un-         unbedarften Betrachter, wie hier ge-                  de offensichtlich von einem Stümper
terschriften und Datierungen der be-         mogelt wird: statt Roger van der Wey-                 hinzu gemalt. Der süße Engel auf
rühmten Gemälde großer Meister in            den um ein Jahrhundert heranzuho-                     dem Heuwagen hinter den Musikan-
den öffentlichen Museen ist ohnehin          len, was das Problem ein für alle Mal                 ten, der als einziges Wesen im gesam-
nicht viel anzufangen. Nicht weit von        lösen würde, überträgt man diese                      ten Bild den Christus wahrnimmt
Boschs Bildern im Prado hängen eini-         Meisterwerke einem anderen Maler,                     und zu ihm aufschaut, ist an Flügeln
ge von Marinus van Reymerswaele,             um die geheiligte Chronologie nicht                   und Faltenwurf, natürlich auch am
darunter ein Alterswerk von etwa             zu verwirren.                                         Gesicht, als Fremdgut erkennbar.
1560 von ihm, eine sehr schöne stil-             Bosch soll sogar von einem Werk                   Und das war es dann schon an katho-
lende Maria, datiert und signiert            van der Weydens inspiriert worden                     lischen Hinweisen - zwei Figuren
A(lbrecht) D(ürer) 1511, was offen-          sein. Vermutlich war es umgekehrt.                    sind hinein gemogelt. Hat man sie
sichtlich unsinnig ist.                          Zurück zu Bosch und seinem                        aussortiert, dann bleibt in diesem
    Gar manche Bilder mussten in-            „Heuwagen“.                                           Bild nur niederländisches Heidentum
zwischen spätere Daten bekommen,                 Wenn auf diesem Bild auch längst                  von der Art der Brüder und Schwes-

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Hieronymus Bosch

                „Der Garten der Lüste“, ein farbiger Hymnos auf die Macht der Erotik, Zeugnis für Tierstil und Wiedergeburt in einem.

tern vom gemeinsamen Leben oder                  grund. Er hat ein Weltbild gemalt,                    völlig anderen Religion zugehörende
freien Geiste: ein herrliches Fest von           eine Vision von ewiger Gültigkeit, wo                 Bild, uns wenigstens ein Teil des
urwüchsiger Art, das die ganze Welt              Liebende, Sänger und Narren, Kaiser,                  Meisterwerkes von Bosch erhalten
als Bühne hat, mit fantastischen Ein-            Mönch und Papst, Betrüger, Gauner                     blieb. Zwar kann das jeder sehen,
zelszenen, die ganze Geschichten er-             und Mörder gleichwert nebeneinan-                     denn die Aureole des Christus ist
zählen, Sinnbilder mystischer Art,               der stehen. Bosch fällt kein Urteil, son-             reinstes Barock, das Lendentuch viel
eine Gnosis in höchster Vollkommen-              dern zeigt die Welt in allen ihren                    zu groß, eine Keuschheit vermittelnd,
heit. Da braucht auch das Passions-              Spielarten. Er malt sein Weltbild.                    die erst später so empfunden wurde,
spiel nicht völlig zu fehlen, im Gegen-                                                                und der Altar (oder Marmorsarg) völ-
teil; wenn man schon den Nazarener                       Boschs Weltanschauung                         lig unpassend; aber gerade diese Stil-
in diesem Bild sucht: er ist offensicht-             Betrachten wir den „Tisch der sie-                fremdheit erleichtert uns das Aussor-
lich „unter die Räder gekommen“,                 ben Todsünden“ (im Prado), der einst                  tieren und den Einblick in das Wesen
nämlich die Gestalt, die vor dem Vor-            im Zimmer des mächtigsten aller ge-                   der Brabanter Malerei vor fünfhun-
derrad des riesigen Wagens gestürzt              krönten Kunstliebhaber, Philipp II.,                  dert Jahren. Gewiss, Frau Stolz (su-
ist, typisch in der Stellung des ge-             stand. Die sieben Todsünden sind                      perbia) steht zu weit vor dem Spiegel-
stürzten Jesus auf dem Bild „Die                 wie ein tibetisches Mandala angeord-                  tisch, man sieht noch an der darunter
Kreuztragung“ (in Wien). Sogar ein               net, aus sieben ungleich großen Teilen                liegenden Farbschicht, wo hier verän-
symbolisches Ersatzkreuz liegt neben             im Kreis harmonisch ineinander ver-                   dert wurde, und hinzugefügt sind die
dem Gestrauchelten am Heuwagen:                  keilt. Offensichtlich sind die Obertei-               beiden knallroten Rosenkränze in der
eine Leiter, genau wie die neben dem             le der Einzelbilder später abgeschnit-                Hand und in der Kiste, Hinweise auf
mitverurteilten Schächer auf dem an-             ten durch die darüber gemalten Son-                   eine spätere Frömmigkeit. Bedauerli-
deren Bild. Das Gesicht des gestürz-             nenstrahlen, in deren Mitte ein sehr                  cherweise sind drei der vier Medail-
ten Erlösers ähnelt schon der genorm-            neuer Christus in falschem Blau steht.                lons, die das Mittelteil umgeben, völ-
ten Ikone, etwa wie auf dem „Ecce                Der innere Kreis wird den selben Ra-                  lig übermalt; aber das eine, das Höl-
Homo“ (von Frankfurt am Main).                   dius gehabt haben wie die vier äuße-                  lengericht, zeigt doch den echten
    Die Moralisierung, die von Inter-            ren Medaillons. Schade um das gute                    Bosch, und das ist unser Glücksfall.
preten hier gerne herausgelesen wird             Bild! möchte ich ausrufen, aber                       Niemand außer ihm konnte eine sol-
(„Seht die Schlechtigkeit der Mensch-            zugleich wird mir klar, dass durch die-               che Hölle erfinden. Ob einst ein Dra-
heit, sie strebt dem eitlen Heu                  se Collagentechnik, das Hineinmalen                   chen im innersten Kreis des Manda-
nach!“), ist aber nicht Boschs Beweg-            eines Christus in das ansonsten einer                 las thronte?

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Hieronymus Bosch
    Philipp II. war ganz vernarrt in       Boschs in den Niederlanden schleier-              pönte Sache, dass Galgen, Schwert
dieses Gemälde; erst nach seinem           haft geblieben, trotz aller Versuche,             und Scheiterhaufen darauf stand, in
Tode konnte man es schrittweise            in die „sektiererischen“ Geheimkulte              aller Unbedenklichkeit entschleiert:
übermalen. Wenn die Biographen von         der Vereinigungen in Brabant zu                   diese Paradoxie gibt dem Gemälde sei-
Philipps düsterer Religiosität schrei-     Boschs Zeit hinein zu leuchten. Das               ne singuläre Spannung ...“
ben – unverständlich für Christen, die     dennoch nicht geringe Verdienst ei-               Allerdings besteht diese Spannung
die vorherige Religion nicht mehr an-      ner neuen Sicht auf Boschs Glauben            und Paradoxie nur für die heutige
erkannten – dann meinen sie eigent-        soll nicht übergangen werden, es              Kunstbetrachtung, weil sie von fal-
lich diese Vorliebe für die frühere Re-    muss nur heute, nach einem halben             schen Voraussetzungen ausgeht. Und
ligion, in der die irdische Katastrophe    Jahrhundert und den neuen Erkennt-            dieser kleine Schritt ist Fraenger nicht
(„Das Jüngste Gericht“) noch eine          nissen der Geschichtskritiker, zurecht        gelungen. Er konnte nicht erkennen,
gnadenlose Vernichtung des Lebens          gerückt werden.                               dass es sich nicht um Geheimnisver-
auf der Erde bedeutete. Um nun die             Fraenger hat also - um ein Beispiel       rat unter Todesdrohung gehandelt
Nachwelt nicht merken zu lassen,           zu nennen - trotz aller Scharfsicht           haben kann - geradezu absurd für ei-
dass dieser mächtigste aller Kaiser im     nicht gemerkt (1950, S. 11), dass die         nen Maler, der auf öffentlichen Beifall
Grunde heidnisch dachte, wie auch          vier Medaillons „Sicut erat in diebus         angewiesen ist - sondern um das frei-
seine Urgroßmutter Isabella von Kas-       Noe“ (Rotterdam) postum sind, etwa            mütige Bekenntnis einer anderen Re-
tilien noch heidnisch geboren war,         ein halbes Jahrhundert nach Boschs            ligionszugehörigkeit, die noch voll
fügte man in die Bilder, die Philipp       Tod gemalt. Und das, obgleich er              geachtet war.
verehrt hatte, einige christliche Attri-   ganz klar sieht, dass „die empusa- oder           Fraenger versucht, diesen unlösba-
bute ein. Es war allerdings völlig         satyrartigen Gestalten ... kein zweites       ren Kontrast durch einen – erfunde-
überflüssig, die lateinischen Bezeich-     Mal in seinem Katalog der Teufel figu-        nen – Lebensweg Boschs zu begrün-
nungen der sieben Sünden unter die         rieren.“ (S. 13) Bosch hat gewiss kei-        den, der eine innere Wandlung vom
jeweiligen Bilder zu malen (so auch        ne stereotypen Teufel gemalt, sondern         Ketzer zum gläubigen Christen
Bosing S. 25), und die beiden              reichlich Phantasie walten lassen bei         durchgemacht haben soll. Das liest er
Spruchbänder sind ebenfalls viel spä-      der Abbildung dieser Engel der Dun-           aus den vier Medaillons heraus, die
ter hinzugefügt worden. Bei der            kelheit. Aber wenn in einem Bild ganz         angeblich diesen seelischen Wandel
„Trägheit“ (oder Faulheit) ist eine        andere Teufelsgestalten auftreten,            wiedergeben. Dabei erkennt er jedoch
ganze Figur hinzugekommen: die we-         dann stammt dieses Bild eben nicht            auch, dass dieses Thema der sich läu-
der inhaltlich noch raummäßig pas-         von ihm.                                      ternden Seele echt barock ist (S. 19),
sende fromme Frau mit Bibel und                An vielen Symbolen und Gestal-            keineswegs zur Zeit um 1500 gehö-
Rosenkranz, fast eine Mariengestalt.       ten erkennt Fraenger das Fortleben des        rig, sondern „pietistisch, 17. Jh.“. Nun
    Im Gegensatz zu manchen Kriti-         ägyptischen Isiskultes im Holland des         denn – alle Stilmerkmale und Ge-
kern, die diesen Tisch nur als „Werk-      beginnenden 16. Jahrhunderts - er-            schichtskenntnisse weisen Fraenger
stattarbeit“ einstufen, weil sie die       staunlich auch für ihn: Sollten diese         darauf hin, dass diese vier Medaillons
boschfremden Elemente verwirren,           Kulte nicht spätestens mit den Ver-           postum sein müssen, aber die Er-
möchte ich nach den eben vorge-            folgungen durch die christlichen              kenntnis bleibt aus. Die „Große Ak-
brachten Korrekturen doch Boschs           Mächte ein Jahrtausend früher völlig          tion“ hat dermaßen hart gearbeitet,
eigene Hand darin erkennen.                ausgerottet worden sein? Wo ist der           dass auch die besten Köpfe (Fraenger
                                           unterirdische Gang, auf dem sie bis           gehörte zum Georgekreis) nicht
       Wilhelm Fraenger,                   nach Holland gelangten und dreißig            durchblickten.
   „Das Tausendjährige Reich“              Generationen lang heimlich weiterge-              Was von Fraengers tiefschürfender
   Einige Jahre nach dem 2. Welt-          geben wurden?                                 Interpretation der Boschwerke übrig
krieg erschienen einige Bücher von             Das Bild „Die Hochzeit zu Kana“           bleibt, ist sein Einblick in die so völ-
dem Kunsthistoriker Wilhelm Fraen-         (Rotterdam) bringt im zentralen Hin-          lig andersgeartete Religion dieses
ger, die endlich klarstellten, dass        tergrund einen heidnischen Altar mit          Mannes (und der seiner Vereinsbrü-
Boschs fantastische Gestalten un-          Kultgerät, das diese gnostischen und          der und seiner Auftraggeber). Da
christlich sind und eine andere Reli-      ägyptischen Religionen zum Inhalt             wird der Frosch als zentrales Sinnbild
gion als Hintergrund haben müssen          hat (Fraenger 1950, S. 58). Offen-            der Fruchtbarkeit und damit verbun-
oder zumindest eine ketzerische Rich-      sichtlich begeht Bosch hier „Mysteri-         denen Auferstehung gefeiert. Fraenger
tung verraten. Fraengers durchaus          enverrat“, meint Fraenger, denn               bildet eine Öllampe ab, die einen
neue und seinerzeit als Skandal emp-       Bosch stellt                                  Frosch in der seltsamen, aber immer
fundene Ansicht über Boschs Welt-             „die Weihehandlung in so voller Of-        gleichen Haltung wie auf den Felsbil-
bild krankt an mehreren Leiden                fenheit zur Schau, als ob es sich um ei-   dern Andalusiens oder den Granitre-
zugleich. Erstens hat er trotz aller          nen regulären und erlaubten Kult,          liefs von Urfa in Anatolien zeigt, dazu
Vorsicht und Kennerschaft nicht ge-           statt um verbotene Abgöttereien han-       die griechischen Worte: Ich bin die
merkt, was an einem Boschbild echt,           deln würde. Was sich den Spüraugen         Unsterblichkeit (ego eimi anastasis).
was übermalt und was gefälscht ist.           der Inquisition entzog, und was selbst     So konnte später im Kirchenchristen-
Zweitens hat er das chronologische            ihre Folter schwerlich einem Ange-         tum nur noch der Gottessohn selbst
Problem, die späte Entstehung des             klagten abgerungen hätte, wird hier        sprechen, kein Frosch und keine
Christentums, nicht erkannt. Und              von einem Eingeweihten freiwillig          Schlange, kein Engel oder Teufel durf-
drittens ist ihm die so völlig anders         und freimütig an das Tageslicht ge-        te das wagen. Wer hier von Ketzer-
geartete - die unchristliche - Umwelt         stellt. Eine geheime und so schwer ver-    tum oder Synkretismus redet, ver-

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Hieronymus Bosch
harmlost die Tatsachen. Hier liegt eine
andere Religion vor, ein anderes Welt-
bild. Nicht die Menschlichkeit der
Christen, sondern die Tierheit der
Heiden ist hier abgebildet. Abgötte-
rei im besten Sinne des Wortes.
     Oder die erotischen Orgien im
„Garten der Lüste“ (der im Prado in
Madrid hängt): Die altjüdischen Pro-
pheten wetterten gegen „Hurerei und
Unzucht“, wenn sie den Götzendienst
verurteilen wollten; auch bei Paulus
wird die sexuelle Freiheit noch als
Deckbegriff der Abgötterei und des
Abfalls vom einzigen Gott gebraucht,
behaupten die Theologen. Der Hin-
tergrund war jedoch ganz wirklich: In
den heidnischen Tempeln des Orients
lebten die Hierodulen, hochgeachte-
te Huren, die sich den Anbetern der
Gottheit hingaben. Und bei Orgien
(„Nacht der Wiedergeburt“) wurden
alle Teilnehmer zu möglichen Sexpart-
nern, denn niemand sollte später sa-
gen können, wessen Kinder es sind. Sie
gehörten allen gemeinsam, denn der
in jener Nacht herabgestiegene Gott
hatte sie gezeugt. Das war mit „Hure-
rei und Unzucht“ gemeint, ein ganz
wirklicher Dienst an heidnischen
Göttern in ihren Tempeln.
     Das galt den Monotheisten als ver-
werflich, ohne dass ein Grund ge-
nannt würde. Man hat verschiedent-
lich eine Geschlechtskrankheit ange-
nommen, Syphilis, die die „alten
Griechen“ ausgerottet habe, und das
könnte die Ursache zur Verurteilung
freier Sexpraktiken gewesen sein.
Andererseits ist man sich heute sicher,
dass die Syphilis erst durch die Spani-
er aus Amerika eingeschleppt worden
                                                    „Der Weg des Lebens“, oder „Der Landstreicher“, jedenfalls nicht „Der verlorene Sohn“.
ist, was nun bestens zu den neuen Er-
kenntnissen der Chronologiekritiker
passt, die das Ende der griechischen          Außergewöhnliche dieser Werke er-                  sor auch ansetzen sollen? Er konnte
Antike erst um 1500 sehen. Das ist            gab.                                               das Bild nur als Ganzes wegschaffen,
jedoch nur ein Entwurf, der weiterer             So sieht auch Wilhelm Fraenger                  und das wird wohl längere Zeit hin-
Erforschung durch Geschichtsmedi-             (1947) den „Garten der Lüste“ als                  durch der Fall gewesen sein, wovon
ziner bedarf.                                 Kultbild dieser Logen der religiösen               die gute Erhaltung der Farben herrüh-
     Bosch jedenfalls stellt sexuelle Frei-   Freiheit, die damals in den Niederlan-             ren mag. Doch auch dieses Bild hat
heit noch in bejahender, lebensfroher         den den Ton angaben. Eros war die                  seine beiden Flügel – Schöpfung und
Weise dar, er ist noch Heide im anti-         oberste Gottheit, Wiedergeburt das                 Endgericht – die ja die kirchliche Leh-
ken Sinn. Im „Garten der Lüste“ rei-          Weltgesetz. Wer diese herrlichen Rei-              re enthalten. Wirklich die katholische
ten nackte Männer auf vielen verschie-        gen und höchst erotischen Szenen als               Lehre? Oder hat nicht vielmehr die
denen Tieren um den Teich, in dem             Verteufelung der Liebe und Verurtei-               Kirche diese Vorstellungen aus frem-
nackte Frauen baden. Wiedergeburt             lung der Sexualität bezeichnet, muss               dem Glaubensgut übernommen?
und Tierstil reichen sich die Hände.          total verdreht sein, denn schönere,                Das sogenannte „Letzte Gericht“
     Alle Kunstkenner geben zu, dass          glühendere Verehrung wurde Eros                    (rechter Flügel) jedenfalls, das Bosch
Bilder wie dieses in jener Zeit und ge-       gewiss nirgends zuteil als in Boschs               darstellt, hat weder mit der kirchli-
ographischen Region durchaus nor-             Bildern.                                           chen Auffassung noch mit der Offen-
mal waren, und dass nur die Meister-             Dieser „Lustgarten“ ist eines der               barung des Johannes zu tun, es zeigt
schaft Boschs und eventuell der               besterhaltenen Bilder von Bosch, fast              kein Fegefeuer und kein himmlisches
Reichtum seiner Auftraggeber das              gar nicht übermalt. Wo hätte der Zen-              Jerusalem. Die von Bosch herauf be-

EFODON-SYNESIS Nr. 1/2003                                                                                                                    21
Hieronymus Bosch
schworene Katastrophe ist Wahnsinn        so weit wir die Bilder mit entspre-            Wir tappen im Dunkel, aber nicht,
und Vernichtung, Durchbruch durch         chenden Szenen als seine eigenen           weil wir so unfähig sind, uns die kaum
den Zeitablauf und Leid in seinen viel-   Spätwerke anerkennen wollen und            500 Jahre vergangene Zeit zurück zu
fältigsten Gestalten, aber kein Gericht   aus den vielen Übermalungen das            rufen, sondern weil wir bewusst irre-
Gottes und keine Christusherrschaft,      Original herauslösen können, ist doch      geführt wurden.
sondern die Hölle des Hier und Jetzt.     noch ganz undogmatisch. Der Naza-              Angeblich gab es eine „spätmittel-
Christlich wäre gewesen, das „neue        rener ist bei ihm immer bartlos, also      alterliche Tendenz, die biblische Ge-
Jerusalem“ anzukündigen, den „neu-        keineswegs nach dem „nicht von             schichte im zeitgenössischen Milieu vor-
en Himmel und die neue Erde“, auch        Menschenhand geschaffenen Bildnis          zustellen“ (Bosing, S. 69). Aber das ist
die Rettung der Gläubigen. Nichts         Christi“, der ewigen Ikone, gestaltet,     nicht der Fall, bei keinem dieser Ma-
davon finden wir in diesem Bild.          sondern ein Jüngling von zwanzig           ler, schon gar nicht bei Bosch, denn
    Und sein „Garten Eden“, das Para-     Jahren höchstens, im Gegensatz zur         Christus, seine Mutter und die Jünger
dies, die Schöpfung (linker Flügel)?      kirchlichen Auffassung, die ihn in der     werden in stilfremde, archaische Ge-
Der kritische Blick enthüllt die Über-    Passion als über dreißig, meist um die     wänder gehüllt, nur die Randperso-
malung: Gottvater zwischen dem            vierzig Jahre alt beschreibt (geboren 7    nen und die Landschaft sind zeitge-
nackten Urmenschenpaar ist nicht          v. Ztr., hingerichtet 29 oder 33 n.        nössisch, orientalisch oder heimat-
vom Meister gemalt, Faltenwurf und        Ztr., „noch keine fünfzig“ im Joh.         lich. Der Stilbruch ist dermaßen auf-
Kopf stammen von fremder Hand.            Evgl.), und wir wollen ja nicht an-        fällig, dass der Charakter einer Thea-
Das Rot des Mantels Gottes stimmt         nehmen, dass Bosch einen Christus          teraufführung nicht übersehen wer-
nicht und die Hautfarbe ist bräunlich,    propagierte, der sich rasierte. Boschs     den kann und allen Interpreten be-
während sonst Boschs Figuren weiße        bartloser Heiland ist typisch für die      wusst ist: Auf einer Bühne heute und
(oder schwarze) Haut haben. Als Ma-       frühe Ikonographie der Christen, wie       hier spielt sich das religiöse Drama ab,
ler sieht man das sogleich. Und wenn      auf den (chronologisch gefälschten)        das „irgendwann“ früher, zeitlos und
man einmal den Blick dafür geschärft      Mosaiken in Ravenna usw., also zu          ortlos, gedacht wird.
hat, wird einem auch allmählich klar,     den Anfängen christlicher Darstel-             Mit anderen Worten: wir haben es
dass ein so menschlicher Gott inmit-      lung gehörend. Auffällig dasselbe          hier nicht mit Historienmalerei, son-
ten dieser Natur nicht in Boschs Kon-     auch beim Lieblingsjünger Johannes,        dern mit der Wiedergabe von Pass-
zept passen kann. Sogar die Füße          den Bosch bartlos mit wallendem rot-       ions- und Krippenspielen zu tun.
Gottes sind falsch gesetzt, der rechte    blondem Haar und mädchenhafter                 Es gibt eine ganze Reihe von Ge-
Fuß verliert sich unter Adams Zehen-      Gebärde darstellt (Beispiel: die           mälden zum Thema „Versuchung des
spitzen.                                  „Kreuzigung“ im Museum Brüssel,            Heiligen Antonius“, das über die
    Wie diese Szene ursprünglich aus-     die einige für sein Jugendwerk, ande-      ägyptische Zwischenstufe direkt aus
sah, muss leider offen bleiben, so wie    re für ein Alterswerk halten, die meis-    dem buddhistischen Indien stammen
man auch beim Heuwagenbild nicht          ten aber für einen echten Bosch).          dürfte (Baltrushaitis 1960). Die mit
mehr rückerschließen kann, was an-            Die beiden Grisaillen auf den          Abstand beste Bearbeitung des The-
stelle des Christus in der Wolke          Außenflügeln des „Jüngsten Ge-             mas durch Bosch hängt in Lissabon.
thronte. Kompositorisch könnte die        richts“ (in Wien) zeigen St. Jakob von
                                          Compostela und St. Bavon von Gent.         Die Schönheit dieses Werkes ist un-
Gottesfigur ganz entfallen, ohne dass                                                vergleichlich, ich habe viele Stunden
etwas fehlen würde.                       Letzterer ist (obwohl heute ins 7. Jh.
                                          datiert) als ritterlicher Jüngling mit     davor verbracht. Dieses großartige
         Bosch als Christ?                Sporen an den Stiefeln und Jagdfalken      Bild mit zwei Flügeln enthält nur ei-
    Auf den beiden Außenseiten der        auf dem linken Handschuh darge-            nen einzigen, noch dazu winzigen
Flügel des „Heuwagens“ ist ein Land-      stellt, also eher zeitgenössisch; Jakob    Hinweis auf die christliche Religion:
streicher dargestellt, erbarmungswür-     aber wirkt antik, und das Erstaunli-       im Mittelteil in einem dunklen Turm
dig arm und furchtsam, dessen Ge-         che: sein Gesicht ist wie das genorm-      sieht man ein Kruzifix mit einem seg-
sicht als Selbstportrait Boschs gilt.     te Christusgesicht dargestellt, denn       nenden Christus davor. Diese beiden
Das Bild, von dem es eine zweite Ver-     zu jenem Zeitpunkt hielten viele den       Figuren wirken inhaltlich dermaßen
sion in Rotterdam gibt, heißt heute       Jakob noch für den (Zwillings-) Bru-       fremdartig, dass ich sie als späterer
„Der Weg des Lebens“, und das ist         der des Erlösers.                          Zufügung einstufen muss. Eine mal-
wohl passend. Bisher wurde es meist           Das Kreuz, an dem Christus hängt       technische Untersuchung bestätigt
als „Der verlorene Sohn“ bezeichnet,      oder das er schleppt, ist stets ein T-     das.
nach einem Gleichnis, das Jesus in        Kreuz, nie gekreuzt! Das gehört einer          Das Gemälde „Der hl. Christo-
den Evangelien erzählt. Diese Bezie-      frühen Stufe der Christenmission an.       phorus“ (in Rotterdam) hat viele Ei-
hung ist an den Haaren herbeigezo-            Es gibt bei Bosch sogar einen          genarten, die auf Bosch hinweisen,
gen und zeigt uns nur, dass man mit       weiblichen Christus am T-Kreuz: die        aber die beiden Gewänder der Haupt-
aller Gewalt versuchte, aus Boschs Bil-   sogenannte Heilige Julia in Venedig        personen sind stark übermalt und
dern Illustrationen zu christlichen       (nach Julius Cäsar so benannt?). Das       übertrieben vergrößert. Sie verdecken
Texten zu machen.                         Altarbild hat Rundbögen, ungewöhn-         offensichtlich andere Figuren. Das
    Natürlich wird Bosch den damals       lich für Bosch, und ist auch stark über-   Rot des Umhangs des Riesen ist
aufkommenden christlichen Glauben         arbeitet. Vor dem Barock gibt es kei-      schlechter im Pigment als das ur-
gekannt haben und auch für die Kir-       nen weiblichen Heiland außer die-          sprüngliche Rot, von dem am linken
che Aufträge ausgeführt haben. Aber       sem. Zeugt das für Boschs Freiheit         Arm und Bein noch Reste erhalten
Boschs Auffassung vom Christentum,        oder für Fälschung?                        sind. Hier kann man auch die unter-

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Hieronymus Bosch
schiedliche Bearbeitung des Falten-
wurfs studieren. Bosch malte nie ste-
reotyp, er beobachtete und übertrug.
Das niedliche Köpfchen des Christus-
knaben ist sehr spät im Stil; wie das
Kind früher aussah, ist nicht mehr zu
ahnen.
   Durchaus passend zu Bosch ist je-
doch der Drachen, der aus der Burg-
ruine herauslugt und die Szene beob-
achtet, die sich am Flussufer abspielt:
Ein Vogel wie ein Schwan versucht,
ein junges nacktes Mädchen zu errei-
chen, das schreiend vor ihm davon-
rennt. Leda auf holländisch.
    Technische und stilistische
            Kriterien
    Man hat versucht, mit Hilfe von
Baumringdatierung festzustellen, ob
ein Bosch echt sein kann oder ganz si-
cher später sein muss. So wurde die
„Dornenkrönung“ (im Escorial) als
postum aussortiert, weil das Holz
nach den Baumringen zu urteilen
nach 1530, also lange nach Boschs
Tod, erst gefällt worden sei. Aber da
liegen so viele Kurzschlüsse vor, dass
derartige Aussagen keinen Wert ha-
ben. Man kann nicht einmal bei ei-
nem einzigen Baum sicher sein, wann
er wuchs, da sich die Nordseite von
der Südseite des selben Stammes
schon zu stark unterscheidet. Und die
Außenringe (Splint) des Holzes, die ja
erst das endgültige Alter erkennen las-
sen, wurden ganz sicher nicht für
Holztafeln benützt, sondern nur das
Kernholz. Es ist wie mit den Perga-
menten: Wer geschickt fälschte, stell-
te vermeintliche Originale her. Aber
die Echtheit ist nur am Text selbst er-
kennbar, am Inhalt und Gehalt. Das                 „Zurschaustellung Christi“, die Wiedergabe eines Passionsspiels, kein Historienbild.
selbe gilt für Bilder: Technik und Stil
und Thematik entscheiden über die          unterscheiden könnte, seien folgende                   in Beziehung zueinander, sie sind
Echtheit eines Bosch-Werkes.               vier Punkte angeführt:                                 nicht lose in den Bildraum hinein-
    Die Übermalungen sind nämlich                                                                 gesetzt, so dekorativ das auch wir-
                                           1) Boschs Kenntnis der Farbe, ihrer                    ken mag. Sie haben immer einen
oft ganz unsinnig, so etwa die baro-          Haltbarkeit und Wirkung, ist un-
cken Hunde, die auch auf Bildern von          gewöhnlich meisterhaft, vor allem                   geistigen Zusammenhang unterei-
Boschs Zeitgenossen auftauchen. Na-           im Vergleich mit späteren Werk-                     nander, der in der Bildaufteilung
türlich sieht man es sofort, und nicht        stätten. Bosch war Alchemist im                     zum Ausdruck kommt. Das gilt
nur, weil der Fußboden noch durch             reinsten Sinne. Seine Farben verbli-                nicht für die Zeichnungen, wo
die Hundeleiber hindurch schaut               chen nicht, und sie stimmen                         skizzenhaft auf einem Blatt Figu-
(wie auf der „Hochzeit von Kana“),            immer im „Ton“: Feuer, Himmel,                      ren zusammengestellt sind, wie sie
sondern weil diese Tiere in anderem           Gewänder - nie stereotyp, aber                      gerade Platz fanden. Ein solches
Malstil und unpassend eingefügt               immer naturnah. Diese Nächte                        Skizzenblatt zum Bild ausgearbei-
sind. Die Absicht ist ebenfalls für jene      sind nicht dunkel und die Fernen                    tet ist das Fragment eines „Jüngs-
Arbeiten überdeutlich: Wer Hunde              nicht diesig. Die Bilder aber, die                  ten Gerichts“ (in München), das
in einer Synagoge einfügt, der will           starke Renovierungen über sich er-                  nicht von Bosch selbst stammen
verunglimpfen.                                gehen lassen mussten, sind meist                    kann, aus dem eben genannten
    Als Faustregeln, wie man einen            nicht von ihm.                                      Grund.
echten Bosch von einem unechten            2) Alle Gegenstände im Bild stehen                  3) Bosch beobachtete die Natur wie

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Hieronymus Bosch
   ein Naiver, er kopierte nicht be-      Endgerichts, sondern der jetzigen,                   Zeitströmungen
   kannte Muster. Wolken fasern zwar      der augenblicklichen Welt Boschs.              Will man Boschs Zeit noch genau-
   aus, aber sie haben immer scharf           Auch der rechte Flügel dieses „Al-     er bestimmen, dann ist wiederum
   geschnittene Ränder vor dem            tars“ stellt die gegenwärtige Hölle dar,   eine weltanschauliche Betrachtung
   Himmelhintergrund, sind nicht          vermutlich im Augenblick der Ver-          hilfreich. Der Meister hatte nämlich
   diffus, gehen nicht im Himmel          nichtung. Ein Katastrophenbild -           Nachfolger, und diese sind nicht bei
   auf. Dasselbe gilt für Bäume, Ber-     aber kein jenseitiges, sondern eine        ihrem Vorbild stehen geblieben, son-
   ge, Städte. Statt sich der typisch     ganz realistisch auf das Jetzt und Hier    dern haben selbstverständlich ihre ei-
   „gotischen“ Manier des Falten-         bezogene Vision.                           gene Zeit dargestellt. Am bekanntes-
   wurfs zu bedienen, malt Bosch je-          Nur der linke Flügel fällt etwas aus   ten ist der Bauernbreugel, Pieter Bru-
   desmal die Gewänder neu, schaut        dem Rahmen: das Paradies am Anfang         eghel d. Ä., geboren 1525 bei Breda
   genau hin, malt vom Gegenstand         der Zeit. Es ist wiederum im obersten      und gestorben 1569 in Brüssel. Er hat
   ab. Das ist gewiss nicht einfach,      Teil übermalt mit einem thronenden         viele Elemente von seinem großen
   unterscheidet ihn aber grundsätz-                                                 Vorbild übernommen, vor allem die
                                          Gottvater, könnte aber sonst echt sein,
   lich von seinen Nachahmern.                                                       Gestalten und ihre bildhafte Bezie-
                                          und das ist nun wirklich verwunder-
4) Für Bosch war Christus keine his-      lich. Warum bringt der Künstler hier       hung zueinander. Aber was nun - zwei
   torische Gestalt, sondern die          eine orientalische Schöpfungssage in       Generationen nach Bosch - in den
   Hauptperson in einem Drama, das        drei Phasen, 1. Erschaffung der Eva        Niederlanden geglaubt und gefürch-
   auf offener Bühne gespielt wurde.      durch Gott persönlich in Gestalt des       tet wird, ist eine ganz neue Welt. Die
   Seine Darstellungen biblischer Er-     Erlösers, 2. Verführung des ersten         weisen Frauen sind vernichtet, ihre
   eignisse beziehen sich auf Mysteri-    Menschenpaares durch eine men-             Ausübung der Geburtenregelung
   enspielszenen, keine vermeintli-                                                  durch Empfängnisverhütung, Abtrei-
                                          schengestaltige Schlange, und 3. Ver-
   chen geschichtlichen Geschehnis-                                                  bung und Kindstötung ist grausamst
   se. Daher die oft fantastisch wir-     treibung des Paares durch einen wü-
                                          tenden Engel mit Schwert? Die drei         durch die mächtig gewordene Kirche
   kenden Gewänder der umstehen-                                                     unterbunden worden. Die Bevölke-
   den Personen, die erdachten Turba-     Szenen sind ganz realistisch und hu-
                                          morvoll dargestellt, sogar mit der bei     rungszahl nimmt rasant zu, wie die
   ne und Hüte, die Theaterrequisi-                                                  Kirche geplant hat. „Die Weiber wer-
   ten statt echter Waffen, die karne-    Bosch üblichen aufdringlichen Ero-
                                          tik, besonders in der Art, wie der         fen wie die Karnickel“. Denn der
   valsartigen Kostüme, die fratzen-                                                 mächtige Eros, den Bosch noch feier-
   haften Gesichter. Selbstverständ-      Schöpfergott die erregend schöne Eva
                                          anpreist, während Adam offensicht-         te, ist nicht zu unterdrücken. Da
   lich tragen die heiligen Personen in                                              greift eine neue Mode um sich: die
   den echten Bildern Boschs nie ei-      lich einen schwülen Traum hat. Auch
                                          wenn die Malweise des Gartens Eden         Männer lassen sich kastrieren, beson-
   nen Heiligenschein, ebenso wenig
                                          nicht ganz zu Bosch passen will, ist       ders die einfachen Bauern, die ja ihr
   wie auf den Bildern seiner gleichge-
                                          doch offensichtlich ein wichtiger Teil     kleines Eigentum nicht unbegrenzt
   sinnten Kollegen; die Aureole wird
   erst nach 1530 obligat.                des Bildes von seiner Hand, nämlich        oft aufteilen können. Breugel nimmt
                                          der Engelsturz im Himmel über dem          diese Mode in einem Kupferstich aufs
         Glaubensinhalte                  Garten. Hier haben wir die ganze           Korn, in seiner derben Art, wie er
    Das „Jüngste Gericht“ (in Wien)       Weltanschauung des genialen Man-           auch andere ländliche Szenen anriss:
hat wiederum diesen völlig unpassen-                                                 „Die Hexe von Malleghem“. Fraenger
                                          nes, der den Titanensturz in seiner
den süßlichen Zusatz im mittleren                                                    (1950, S. 84-89) hat das in scharfer
                                          Weise sah, unbestechlich persönlich
Oberteil, einen blauen Himmel mit                                                    Weise formuliert. Allerdings bezieht
                                          und keineswegs christlich.
Christus im barocken Ornat, über (!)                                                 er das Breugelsche Bild immer wieder
                                              Im selben Zusammenhang wer-            auf Boschs „Kurpfuscher“ (auch „Der
ihm links die Gottesmutter, bis zum       den meist die vier Tafeln von Venedig
Schoß in den Wolken versunken, und                                                   Steinschneider“ genannt, im Prado),
                                          besprochen, weil sie ebenfalls den Pa-     dessen Operation ebenfalls als Kastra-
rechts Petrus bäuchlings auf eine Wol-    radiesgarten (boschartig, jedenfalls
ke gestützt, dazu zwei Gruppen von                                                   tion aufzufassen sei. Sehr zu unrecht,
                                          ohne einen Gott) und drei Nachtod-         denn bei Bosch hat die Darstellung
Erlösten (Heilige und Märtyrer) und
                                          Visionen bringen. Die zweite Tafel ist     des chirurgischen Eingriffs nur einen
die vier Erzengelchen mit fadendün-
nen langen Trompeten. Einfach lä-         eine besondere Erwähnung wert:             hintergründigen Sinn: Wer sich dem
cherlich und nicht einmal organisch       Man sieht die Seelen der Gestorbenen       Arzt anvertraut, der lässt sich geistig
eingefügt. Aber der Rest des Bildes ist   von Engeln geleitet auf dem Weg zum        kastrieren. Mit einer Sterilisation hat
zweifelsfrei ein echter Bosch! Da er-     wahren Licht, und dieses Licht er-         das noch nichts zu tun. Das ist aus
klärt sich manches Bild von selbst: so    reicht den Betrachter durch einen          dem Bild selbst so offensichtlich, dass
trägt der Drachen, der eine Jungfrau      kreisrunden Tunnel, wie er in man-         man eben daran erkennen kann, wie
begehrt, eine lange brennende Kerze;      chen „Fasttoderlebnissen“ beschrie-        groß der zeitliche Abstand ist, der
er ist ja Luzifer, der Lichtträger. Ein   ben wird. Dieses Bild ist so typisch für   zwischen den beiden Malern liegt.
Weibmann wird von einem gepanzer-         die Einweihungslehren, dass man            Und das wollte ich hier herausstellen:
ten Frosch geritten, ein Mann schuf-      hieran ersehen kann, zu welcher reli-      Wir können recht gut ausmachen,
tet in der Tretmühle, ein anderer wird    giösen Form sich Bosch bekannte: zur       wann Boschs Maltätigkeit endet: vor
gerade durchgemahlen ... usw. - das       östlichen Mystik, die sich in Tibet am     der endgültigen Machtübernahme
ist keine Darstellung des zukünftigen     reinsten manifestiert hatte.               der Kirche.

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Hieronymus Bosch
              Nachtrag
    Nachdem ich diesen Artikel ver-
fasste, reiste ich noch einmal nach
Madrid und Rotterdam, um die
wichtigsten Bilder Boschs unter die-
sen neuen Gesichtspunkten kritisch
zu prüfen. Könnte meine von der üb-
lichen Interpretation so stark abwei-
chende Meinung bestehen? Da fand
ich im Museumsladen das gerade er-
schienene Buch von Carmen Garrido
und Roger Van Schoute, in dem die
Boschbilder des Prado in naturwis-
senschaftlicher Weise untersucht wer-
den: dendrochronologisch und per
Röntgenanalyse. Die Arbeitsergebnis-
se geben mir weitgehend Recht, so-
weit es meine Aussagen hinsichtlich
der Übermalungen betrifft. Besonders
gefreut hat mich, dass die Röntgen-
untersuchung zweifelsfrei ergab, dass
der Gottvater im Paradies, den ich für
spätere Zutat hielt, farblich nicht un-
terlegt ist, sondern im Gegensatz zur
Malweise von Bosch direkt auf die
Oberfläche aufgetragen ist (S. 26).
Der St. Antonius des Prado ist das
„einzige Bild ohne Vorzeichnung, aus
unbekanntem Grund“ (S. 27). Der
Grund ist ganz einfach: Wenn man
eine Kopie malt, braucht man nicht
vorzuzeichnen. In einer Kopie kann
man aber – und man tat es gern, wie
zahlreiche Boschkopien zeigen – ge-
wisse Dinge ändern, wenn sie aus
weltanschaulichen Gründen verlangt
werden und das Original verschwin-
det.
    Die vier Medaillons auf dem Tisch
der Todsünden – zumindest drei, wie
ich oben sagte – sind völlig übermalt;
man hat sogar die alte Farbschicht bis
auf den Holzgrund abgetragen und
neu grundiert in orangefarbenem Ton,
während das zentrale Bild grau unter-
legt ist (S. 34). Man ahnte ja damals
noch nicht, dass der Betrug durch
Röntgenfotos herauskommen würde.

              Literatur                           „Das Paradies“, mit Adam und Eva und einem übermalten Gottvater dazwischen.

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   sendjährige Reich, Triptychon von                                                       Bosch (Basel)
                                            Bosch (Paris; span. Version Barce-
   Hieronymus Bosch (Coburg)                lona 1973)

EFODON-SYNESIS Nr. 1/2003                                                                                                       25
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