Heinrich Schepers * 24. Dezember 1925 1. Januar 2020 - Steiner eLibrary

 
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                                                                                                 Heinrich Schepers
                                                                                       * 24. Dezember 1925    † 1. Januar 2020

                                                                                 This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries
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                                                                                                             SteinerSteiner    Verlag 2021
                                                                                                                     Verlag, Stuttgart
Studia Leibnitiana 51, 2019/1, 7–11

                                                                                 Stefano di Bella

                                                                                 Nachruf auf Heinrich Schepers
                                                                                     Obituary for Heinrich Schepers

                                                                                     Nécrologie d’Heinrich Schepers
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                                                                                     „Auch wenn Manches Manchem diesen Eindruck vermittelt: ich bin kein Leibnizianer, verehre
                                                                                     aber mit höchster Achtung sein Genie“1.

                                                                                 Heinrich Schepers fühlte sich zu dieser Präzisierung veranlasst. Denn in der Tat war es
                                                                                 für viele, die ihn kannten, offensichtlich, bei Schepers eine Art Identifizierung nicht nur
                                                                                 mit Leibniz’ Lehre, sondern mehr noch mit der Persönlichkeit des großen Denkers zu
                                                                                 vermuten, dem er einen so großen Teil seines Lebens und seiner Aktivitäten gewidmet
                                                                                 hatte und so als einer der besten (wenn nicht der beste) Kenner seines Werkes galt.
                                                                                      Schepers’ Begegnung mit Leibniz wurde zwar, wie alle Begegnungen im Leben, von
                                                                                 zufälligen Umständen und in erster Linie von Begegnungen mit anderen Persönlich-
                                                                                 keiten, wie bei ihm besonders mit Erich Hochstätter um die Mitte der fünfziger Jahre,
                                                                                 bedingt. Doch bei näherer Betrachtung erscheint diese kontingente Tatsache nicht zu-
                                                                                 fällig, sondern von tieferen Gründen bestimmt zu sein.
                                                                                      Die Studien des jungen Schepers – Philosophie und Mathematik waren seine Fä-
                                                                                 cher – und die damit einhergehende Entdeckung der mathematischen Logik in der weg-
                                                                                 weisenden Tradition von Heinrich Scholz (einem seiner akademischen Lehrer) haben
                                                                                 früh sein philosophisches Interesse hin zum objektiv wohl typisch Leibniz’schen Ideal
                                                                                 einer „Philosophie als strenger Wissenschaft“ (nach Scholz) gelenkt. Das war für Sche-
                                                                                 pers gleichbedeutend mit dem Anspruch, philosophische Probleme durch Begriffsana-
                                                                                 lyse und die Anwendung formaler Methoden rigoros zu behandeln, zugleich aber die
                                                                                 Aufmerksamkeit auf die darin enthaltenen semantischen und ontologischen Probleme
                                                                                 zu richten, um sie so gut wie möglich zu klären und zu zergliedern, nicht aber, um deren
                                                                                 irreduziblen Bestand durch diese Mittel einfach „auflösen“ zu wollen. Zudem war der
                                                                                 junge Schepers von einer anderen bedeutenden philosophiegeschichtlichen Richtung
                                                                                 geprägt, von dem sogenannten „Ritter-Kreis“ in Münster und den dort gepflegten For-
                                                                                 schungen zur Begriffsgeschichte. In diesem Rahmen stellten sich Schepers’ zahlreiche
                                                                                 Beiträge für das Historische Wörterbuch der Philosophie, das Schepers mit herausgab, wie

                                                                                 1   Heinrich Schepers: „Perzeption und Harmonie: das Viele im Einen, die Welt in der Monade“, in: Heinrich
                                                                                     Schepers: Leibniz: Wege zu seiner reifen Metaphysik, Berlin 2014, S. 232–254, S. 233.
                                                                                                         This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries
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                                                                                                                                     SteinerSteiner    Verlag 2021
                                                                                                                                             Verlag, Stuttgart
Nachruf auf Heinrich Schepers                                                                                 9

                                                                                 auch seine hervorragenden Aufsätze2 über die Geschichte der Modalbegriffe, wo Leib-
                                                                                 niz zum ersten Mal als terminus ad quem seiner Forschung hervortrat. Während seine
                                                                                 Promotionsarbeit sich mit Rüdigers Methodologie auseinandersetzte3, leistete die Habili-
                                                                                 tation (1970) einen wichtigen Beitrag zur Forschung mittelalterlicher Logik4: ein Feld,
                                                                                 das in seinen Universitäts-Vorlesungen immer zentral bleiben sollte.
                                                                                     Diese typischen Züge – die strenge logische Analyse von Begriffen, zugleich mit der
                                                                                 Fähigkeit, diese in ihren historischen Zusammenhängen und Entwicklungen zu verste-
                                                                                 hen und ihnen zu folgen –, haben Schepers’ Begegnung mit Leibniz ideell und ideal
                                                                                 vorbereitet.
                                                                                     Nach dem Tod von Erich Hochstetter leitete Schepers von 1968 bis 1997 die im Jahre
                                                                                 1956 gegründete Leibniz-Forschungsstelle an der Universität Münster und widmet in
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                                                                                 dieser Funktion vierzig Jahre seines langen Lebens der historisch-kritischen Edition des
                                                                                 Philosophischen Briefwechsels und der Philosophischen Schriften von Leibniz als Reihe II
                                                                                 und Reihe VI der Akademie-Ausgabe Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und
                                                                                 Briefe. Er hat alle seinen Kräfte hingegeben, um Leibniz auf die beste Weise, nämlich
                                                                                 durch seine Texte, zu uns sprechen zu lassen und sie der Forschung zugänglich zu ma-
                                                                                 chen. Zeugnis davon ist der 1999 erschienene, geradezu monumentale Band VI, 4 der
                                                                                 Philosophischen Schriften in vier Teilbänden von insgesamt rund 3 500 Seiten. Es ist fast
                                                                                 überflüssig, darauf hinzuweisen, dass Schepers ein Pionier in der Editionswissenschaft
                                                                                 und auf dem Gebiet der „Digital Humanities“ gewesen war. Er erinnerte gerne daran5,
                                                                                 wie die seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts begonnene Leibniz-Edition immer
                                                                                 wieder mit der beeindruckenden Entwicklung der Technik konfrontiert und gewach-
                                                                                 sen war, von den tausenden Papierzetteln des Ritter-Katalogs über die Lochkarten der
                                                                                 ersten elektronischen Ausgaben bis zum Internet unserer Tage. Dabei war Schepers nie
                                                                                 passiver Zuschauer gewesen, sondern ein höchst aktiv-innovativer Protagonist: Bereits
                                                                                 in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte er die Chancen und das Potential der
                                                                                 Informatik für die Editionsarbeit gesehen und an der Forschungsstelle Münster das „Tü-
                                                                                 binger System von Textverarbeitungsprogrammen“ (TUSTEP) eingesetzt und immer
                                                                                 weiter entwickelt.
                                                                                     Sein langes Leben hatte Schepers in den Dienst der Leibniz-Edition und der Leibniz-
                                                                                 Forschung, zu der die Mitherausgeberschaft der Studia Leibnitiana gehörte, gestellt, und

                                                                                 2   Vgl. das Schriftenverzeichnis von Heinrich Schepers in: Gerhard A. Biller / Klaus D. Dutz: Heinrich Sche-
                                                                                     pers. Annotata ad personam cum bibliographia 1959–2006/2019, 3. überarb. u. erw. Aufl., Münster 2020, S. 16–
                                                                                     33 (http://www.uni-muenster.de/Leibniz/biller/schepers.pdf).
                                                                                 3   Heinrich Schepers: Andreas Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen. Ein Beitrag zur Geschichte der
                                                                                     deutschen Schulphilosophie im 18. Jahrhundert (= Kantstudien. Ergänzungshefte 78), Köln 1959.
                                                                                 4   Heinrich Schepers: „Holkot contra dicta Crathorn. I: Quellenkritik und biographische Auswertung der
                                                                                     Bakalaureatsschriften zweier Oxforder Dominikaner des XIV. Jahrhunderts“, in: Philosophisches Jahrbuch
                                                                                     77 (1970), S. 320–354; Heinrich Schepers: „Holkot contra dicta Crathorn. II: Das ‚significatum per pro-
                                                                                     positionem‘. Aufbau und Kritik einer nominalistischen Theorie über den Gegenstand des Wissens“, in:
                                                                                     Philosophisches Jahrbuch 79 (1972), S. 106–136, und „Holkot contra dicta Crathorn. Corrigenda zu Teil II“,
                                                                                     ebd., S. 361.
                                                                                 5   Siehe Heinrich Schepers und Wenchao Li: „‚Herzblut‘ – Gespräche über die Leibniz-Edition“, in: Wen-
                                                                                     chao Li (Hrsg.): Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition,
                                                                                     Berlin 2012, S. 115–143.
                                                                                                      This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries
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                                                                                                               as well as storage and processing in electronic systems.
                                                                                                                          © FranzFranz
                                                                                                                                  SteinerSteiner    Verlag 2021
                                                                                                                                          Verlag, Stuttgart
10                                                                                               stefano di bella

                                                                                 er hatte dabei gelegentlich darauf verzichten müssen, „seinen“ Leibniz selbst ausführlich
                                                                                 darzustellen und mitzuteilen. Die Aufsätze, die er von Zeit zu Zeit veröffentlichte, so
                                                                                 zum Beispiel über Leibniz’ Modalbegriffe, über Scientia generalis, über die Kategoriale
                                                                                 Analyse oder über einen seiner Lieblingstexte De affectibus, sind dennoch Meilensteine
                                                                                 der Leibniz-Forschung. Es ist für die Forschung ein unverzichtbarer Gewinn, dass diese
                                                                                 zerstreuten Beiträge 2014 in dem Sammelband Leibniz. Wege zu seiner reifen Metaphy-
                                                                                 sik erschienen sind, um uns einen Überblick von „Schepers’ Leibniz“ zu geben, den er
                                                                                 selbst sicherlich einfach den „wahren Leibniz“ genannt hätte6.
                                                                                     So wie Leibniz nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges darum be-
                                                                                 müht war, zur Wiederherstellung der deutschen Länder und von Europa beizutragen,
                                                                                 politische und religiöse Streitigkeiten zu überwinden, Reformen des Sozialwesens und
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                                                                                 der Lebensbedingungen anzustoßen und die Weiterentwicklung von mancherlei Tech-
                                                                                 niken zu verbessern, so gehört Schepers zu der Generation von Wissenschaftlern, die
                                                                                 nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, die Schepers persönlich erfah-
                                                                                 ren musste, rationale Forschung und die eigene Leistung dazu als konkreten Beitrag
                                                                                 zum Frieden und zu menschlichem Fortschritt begriffen haben. Darin lag vermutlich
                                                                                 der Grund, dass Schepers in Leibniz „ein[en] eminent politische[n] Philosoph[en]“
                                                                                 sah, dessen „Denken und Handeln […] einzig darauf gerichtet“ war, „die Welt, in der
                                                                                 er lebte, mit den Mitteln der Vernunft und mit festem Glauben an die geoffenbarten
                                                                                 Wahrheiten zum Besseren zu führen“7. In diesem Sinne hatte Schepers Leibniz nicht
                                                                                 nur als universelles Genie „verehrt“, sondern ihn gleichermaßen wegen seiner morali-
                                                                                 schen Haltung geschätzt und sich davon inspirieren lassen. Leibniz ist nicht nur der un-
                                                                                 erschütterliche, die rationalen Folgen von Vernunftprinzipien ableitende Rationalist. Er
                                                                                 ist zugleich ein Mann, der, fern von jeder Isolierung im akademischen Elfenbeinturm,
                                                                                 Theorie und Praxis immer zu verbinden bestrebt war: nicht einfach Wissen, sondern
                                                                                 „Glück durch Wissen“ (wie ein Aufsatz von Schepers aus dem Jahre 1982 lautet8) war
                                                                                 sein Ideal. So war Schepers das Gegenteil eines Akademikers im reduktiven Sinne des
                                                                                 Wortes: wer mit ihm in Kontakt kam, fand – bis in seine letzten Jahre hinein – einen
                                                                                 freien, frischen und wachsamen Geist, der leidenschaftlich im Leben stehend über den
                                                                                 Gegenstand seiner Arbeit immer offen und ermutigend für Generationen von Leibniz-
                                                                                 Forschern über Münster hinaus wirkte. Seine Aktivitäten an der Leibniz-Edition boten
                                                                                 ihm immer wieder eine Gelegenheit, sein Wissen mit Forschern aller Länder großmütig
                                                                                 zu teilen, Dialoge zu fördern und Wissen so weit wie möglich zu verbreiten. Viele von
                                                                                 uns Nachkommenden können dankbar zurückblicken, wie er als Leiter der Forschungs-
                                                                                 stelle immer Zeit fand, sich auch nach einem langen Arbeitstag mit jungen Forscherin-
                                                                                 nen und Forschern zu unterhalten und sie in die Geheimnisse des Leibniz-Nachlasses
                                                                                 einzuführen; oder wenn er, mittlerweile mehr als neunzig Jahre alt, alltäglich noch in
                                                                                 seine Forschungsstelle kam, um Handschriften zu entziffern oder mit den neuen Res-

                                                                                 6    Siehe Michel Fichant: „Célébration du 90ème anniversaire du Professeur Dr. Heinrich Schepers, Hanovre,
                                                                                      18 février 2016 – Laudatio“, in: Studia Leibnitiana 48/1 (2016), S. 2–5.
                                                                                 7    Einleitung zum Band A VI, 4, XLVII.
                                                                                 8    Vgl. Schepers: Leibniz: Wege zu seiner reifen Metaphysik (vgl. Anm. 1), S. 42–50.
                                                                                                          This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries
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                                                                                                                              © FranzFranz
                                                                                                                                      SteinerSteiner    Verlag 2021
                                                                                                                                              Verlag, Stuttgart
Nachruf auf Heinrich Schepers                                                                                11

                                                                                 sourcen der elektronischen Dateien froh zu „spielen“ oder seine Leibniz-Interpretation
                                                                                 lebendig und kämpferisch zu verteidigen. Für nicht wenige unter uns war er über viele
                                                                                 Jahrzehnte ein wahrer Meister und Freund. Die Lücke, die er nun hinterlassen hat, füh-
                                                                                 len wir schmerzlich.
                                                                                     Wir können aber nicht umhin, uns vorzustellen, dass er seinen „iter rationis“, diese
                                                                                 wunderbare Reise, zu der er bis in seine letzten Jahre nie müde wurde uns einzuladen9,
                                                                                 in die Welt der Vernunft und der Liebe, der Möglichkeit und der Wahrheit mit „seinem“
                                                                                 Leibniz noch fortsetzt.

                                                                                     prof. dr. stefano di bella
                                                                                     Dipartimento di Filosofia, Università degli Studi di Milano, via Festa del Perdono 7,
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                                                                                     20122 Milano, Italia, stefano.dibella@unimi.it

                                                                                 9   Siehe Heinrich Schepers: „Iter rationis. Reise der Vernunft in Leibniz’ Welt der Monaden“, in: Studia Leib­
                                                                                     nitiana 49/1 (2017), S. 2–27.
                                                                                                      This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries
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                                                                                                                          © FranzFranz
                                                                                                                                  SteinerSteiner    Verlag 2021
                                                                                                                                          Verlag, Stuttgart
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