Herausfordernde Vorbeugen - die YOGAREI
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WISSEN | GESUNDHEIT Herausfordernde Vorbeugen Manche Yoga-Positionen schrecken viele vom Üben ab. Die Vorbeuge ist sehr intensiv, gilt aber als Jungbrunnen und stärkt das Immunsystem. Sie dehnt von den Fersen bis zum Kopf die gesamte Körperrückseite. Außerdem regt sie zur inneren Ruhe und zum Rückzug an. Herabschauender Hund 84 FORUM | 26. Juni 2020
GESUNDHEIT | WISSEN ch bin zu unbeweglich, ich kann ja verbreitet in Yoga-Kreisen sind sogar zu tief in eine Position hineingehen. Es noch nicht mal meine Zehen berüh- Entzündungen an den Sitzhöckern – braucht eine Weile, bis das Gehirn sig- ren“ – die mit Abstand beliebteste durch Überdehnung. nalisiert, dass keine Gefahr droht, und Ausrede, nicht mit Yoga zu beginnen. Um das Verletzungsrisiko zu minimie- der Muskeltonus gibt etwas nach. Der Anhand keiner anderen Übungskatego- ren, brauchen Vorbeugen ein achtsames Zeitaspekt ist die zweite wesentliche Di- rie wie den Vorbeugen wird so schnell Üben innerhalb der körpereigenen Gren- mension. Geduld ist eine Tugend. über die Biegsamkeit des eigenen Kör- zen. Eine ganze Kette von Muskeln dür- Erst wenn wir uns zutrauen, diesen pers geurteilt. Doch was, wenn es gar fen sich entspannen, von der Sehnenplat- „Schmerz“ auszuhalten, sei er körperli- nicht darum geht, mit den Fingern die te der Fußsohle über die Waden, hintere cher oder auch emotionaler Art, kön- Füße zu berühren? Oberschenkel- und Gesäßmuskultur, nen Vorbeugen wirklich ihre wohltu- Ob Yoga wirkt oder nicht, weiter über die Lendenwir- ende Wirkung entfalten. Das Loslassen hängt auch damit zusam- belsäule bis zu den großen geschieht dann ganz beiläufig. Wir men, ob Sie für Ih- Rückenstreckern. Ja, können unseren Blick achtsam und ren Körper passende sogar die Augenbrau- wertfrei nach innen richten. Was uns Übungen finden. en sind Teil dieses dort erwartet? Nun, das ist eine sehr Vorbeugen sind he- sogenannten dorsa- individuelle Erfahrung und eine äußert rausfordernde Hal- len Faszienzugs. Es private Angelegenheit. tungen, die eine braucht Geduld, bis Ob ein heftiger Dehnungsreiz oder große Portion Ge- sich die harte Kör- eine größere Lebenskrise, Fakt ist: Es duld und Demut perrückseite allmäh- geht wieder vorbei. Aus der Perspek- erfordern. Doch lich entspannt. Diese tive des Yoga sind beide Erfahrungen auch für schwierigere Seite ist unsere starke eine Einladung, hin zu spüren und sich Übungen gibt es eine und gleichzeitig ver- selbst zu erforschen. Aus der Sicht von Vielzahl an Varianten, um wundbare Seite. So halten Max Frisch: „Krise kann ein produk- es dem Körper bequemer zu wir anderen den Rücken frei, tiver Zustand sein. Man muss ihr nur machen. Und selbst wenn Sie sich wenn wir sie beschützen möchten. In den Beigeschmack der Katastrophe nur einen halben Zentimeter nach vor- einer Vorbeuge fallen wir quasi ins Un- nehmen.“ Liegt doch ziemlich nah zu- ne verneigen, kann das der Anfang einer gewisse. Denn unsere Rückseite sehen sammen. Verbeugen und verneigen wir echten Veränderung sein. wir mit den eigenen Augen nur schwer, uns zum Abschluss vor unserer mensch- So unspektakulär dann eine Vorbeu- sie liegt hinter uns. lichen Fähigkeit, uns selbst zu beobach- ge vielleicht auch aussehen mag, so tief Auf einer subtilen Ebene beschäfti- ten, zu fühlen und zu erkennen, dass ist doch die Wirkung. Es heißt, Vor- gen sich Vorbeugen daher mit der Ver- wir selbst entscheiden können, wie viel beugen öffnen das Herz nach innen. Sie ziehen uns in die innere Welt mit ihrer gangenheit, mit dem berühmten alten Ballast, den man nur allzu gerne loslas- Drama wir wollen. • Sinah Müller ganz eigenen Mystik und Dynamik. sen würde. Aber wie? Egal ob es um ei- Der Körper faltet sich quasi zusammen, nen Job, eine Wohnung, eine Freundin und wir können eine tiefe Selbstbe- oder Partner geht, um eine schmerzhaf- trachtung vornehmen. te Erfahrung oder ein nicht mehr dien- Je nachdem, wie wir uns gerade füh- liches Gedankenmuster wie „Ich kann len und wo wir im Leben stehen, kann das nicht“ – Loslassen ist eine Kunst. das allerdings wirklich hart sein. Die Es ist vor allem deshalb eine Herausfor- Realität in den Yogastudios schaut in derung, weil es ein passiver Prozess ist, der Regel so aus: frustrierte Gesich- der nicht willentlich beeinflusst werden ter, leidvolles Stöhnen, ungeduldiges kann. Das Motto „Wenn ich mich nur Nachjustieren und schmerzhaft ziehen- anstrenge, schaffe ich es, loszulassen“ de Beinrückseiten. Ja, der Weg ist nicht funktioniert hier nicht. immer leicht. Im Gegenteil: Loslassen bedeutet Dehnbarkeit alleine bringt nichts. erstmal zu akzeptieren, etwa den in- Es braucht genauso Kraft. Übermäßig tensiven Dehnungsschmerz. Diese gedehnte Beinrückseiten können sogar radikale Akzeptanz kommt einer Er- Sinah Müller ist zertifizierte Rückenschmerzen auslösen, weil in der laubnis gleich, man gestattet dem un- ganzheitliche Yogalehrerin und Folge die Hüftbeuger verkürzen und angenehmen Gefühl oder der negativen Entspannungstrainerin. Seit 2017 das Becken zu stark nach vorne kippt. Erfahrung ein Daseinsrecht. Das un- unterrichtet sie in Saarbrücken. Es braucht eine gesunde Mischung aus terscheidet Loslassen von Verdrängen. Im gleichen Jahr schloss sie ihre Dehnbarkeit und Kraft. Dennoch gel- Dahinter steht die Annahme, dass alles, Grundausbildung in München ab, FOTOS: CHRISTIAN HELL (2) ten die berühmten „Hamstrings“, die wirklich alles, für irgendetwas gut ist die verschiedene Yogastile integ- Beinrückseiten, für viele Yoga-Übende und wir daraus lernen. So schützt uns rierte. Ein undogmatischer Ansatz, als erstrebenswertes Ideal. Daran sieht ein Dehnungsreiz vor Verletzungen, die der Yoga für alle zugänglich macht, man auch, wie schnell und unbemerkt muskuläre Anspannung ist ein Schutz- ist ihr besonders wichtig. die Ego-Falle zuschnappen kann. Weit mechanismus, der verhindert, dass wir 26. Juni 2020 | FORUM 85
WISSEN | GESUNDHEIT Übungsanleitungen Teil 5: Übungen, mit denen wir Hingabe und Demut lernen ÜBUNG 1: Der Stocksitz „Dandasana“ (circa 1 Minute halten) Die Stockhaltung ist eine gute Vorübung für die Vor- beuge. Sie streckt die Wir- belsäule und hintere Ober- schenkelmuskulatur. Sie sitzen aufrecht, eventuell auf einer Decke und strecken die Beine nach vorne aus. Lassen Sie Ihre Sitzbeinkno- chen weit werden und schie- ben Sie sie an den Boden. Ihre Fußballen schieben sich nach vorne, während Sie die Zehen zu sich heranziehen. Die Hände ruhen neben dem Gesäß. Saugen Sie den Na- bel sanft zur Wirbelsäule, aber atmen Sie. Ebenso zie- hen Sie die Schultern sanft zur Wirbelsäule. Ihr Kinn senken Sie leicht zum Brust- bein, damit der Nacken lang wird. Der Blick bleibt weich, die Atmung ruhig. ÜBUNG 3: Das Kind „Balasana“ (bis zu 5 Minuten) Eine sanfte Variante, die Kraft gibt und mentales sowie emotionales Gleich- gewicht wiederherstellt. Legen Sie Ihren Oberkörper auf oder zwischen den Beinen ab. Lassen Sie Ihre Schultern und Ihr Becken nach un- ten sinken. Legen Sie gegebenenfalls ein Kissen unter die Stirn, Sie sollten den Kopf ablegen können. Sie können auch Kissen oder Decken zwischen die Beine legen, damit Ihr Oberkörper FOTOS: CHRISTIAN HELL (6) oder Ihr Gesäß darauf abgelegt werden können. Bei Schmerzen in den Füßen, polstern sie auch diese. Atmen Sie ru- hig und großzügig ein und lassen Sie die Ausatmung in Ihr Becken fließen. 86 FORUM | 26. Juni 2020
GESUNDHEIT | WISSEN ÜBUNG 2: Die Vorbeuge „Paschimottanasana“ (circa 1 Minute halten) Die Vorbeuge gilt als Jungbrunnen und stärkt das Immunsystem. Sie dehnt von den Fersen bis zum Kopf die gesamte Kör- perrückseite. Sie regt zu innerer Ruhe und Rückzug an. Strecken Sie im Sitzen die Beine lang nach vorne aus. Lassen Sie Ihre Sitzbeinknochen weit werden und schieben Sie sie an den Boden. Ihre Fußballen schieben nach vor- ne, während Sie die Zehen zu sich heran- ziehen. Saugen Sie den Nabel sanft zur Wir- belsäule. Mit der Einatmung heben Sie den Brustkorb, mit der Ausatmung strecken Sie sich aus den Hüftgelenken heraus lang nach vorne. Ziehen Sie sich nicht mit den Armen nach vorne, sondern arbeiten Sie behutsam mit Ihrer Atmung. Einatmend Brust wieder heben und Flanken längen, ausatmend las- sen Sie sich allmählich tiefer sinken. Halten Sie diese aktive Vorbeuge mit gera- dem Rücken circa eine Minute. Dann können Sie den Rücken runden und den Kopf locker hängen lassen. Ziehen Sie nicht nach, son- dern akzeptieren Sie Ihre Position. Bleiben Sie eine weitere Minute, atmen Sie ruhig. So geht es leichter: Beugen Sie die Knie und öffnen Sie die Füße etwas. Legen Sie eine Decke unter das Gesäß. Gehen Sie nur so tief, wie Sie keinen Druck im unteren Rü- cken spüren. Legen Sie die Hände auf die Oberschenkel oder die Knie. Halten Sie in jedem Fall den Rücken gerade. TIPPS: Kuh Katze Praktizieren Sie Vorbeu- gen nicht unaufgewärmt. Mobilisieren Sie Ihre Wir- belsäule zuerst mit der „Katze-Kuh“-Übung und dem „Herabschauenden Hund“ (siehe Teil 2). 26. Juni 2020 | FORUM 87
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