Hermann Häring - Evang ...

 
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Hermann Häring

Glauben in unsicheren Zeiten.
Worauf können mündige und aufgeklärte Bürger heute noch vertrauen?
                                                                           (Ungekürzter Text)

Lesung: Jesus und der sinkende Petrus: (Mt 14, 22-33)

                                               Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
                                                                                (Mt 14, 31)

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen, liebe Mitsuchende und Mithoffende!

Einleitung:
       Gerade haben wir eine seltsam märchenhafte Geschichte von Jesus gehört. Bei
       stockdunkler Nacht geistert er über den See Genezareth und verlockt Petrus zu einem
       waghalsigen Versuch, der ihn beinahe das Leben kostete. Auch er sollte über das
       Wasser gehen. Schließlich rettete Jesus ihn ins Boot. Wer sollte diese
       Geistergeschichte noch ernst nehmen? Doch in ihr verbirgt sich ein vielschichtiges
       Geschehen, wie in verschiedenen Ausgaben des Neuen Testaments die Titel zeigen.
       Niederländische Ausgaben sprechen nüchtern von „Sturm“ und „Gegenwind auf dem
       See“. Eine französische Ausgabe erklärt triumphal: „Jesus schreitet über die Wasser
       und Petrus mit ihm.“ In deutschen Ausgaben liest man „Jesus und der sinkende Petrus
       auf dem See.“ Um diesen sinkenden Petrus geht es und mit ihm sind wir gemeint. Zur
       Diskussion steht die Kraft unseres Glaubens.

       Dabei durchziehen diese Geschichte viele Aspekte.
        Da ist die Metapher vom Boot. Auch an anderen Stellen der Evangelien verweist es
          auf die prekär schwankende Situation der Gemeinde. Sie gleicht einer hilflosen und
          vielfach bedrohten Nussschale. Sie ist alles andere als ein unsinkbares Staatsschiff,
          keine wohl etablierte und finanziell abgesicherte Großkirche.
        Da ist der unbeirrbare Schluss der Erzählung: „Wahrhaftig, Du bist Gottes Sohn.“
          Aber dieser Titel meint noch keinen sieghaften, vor aller Zeit gezeugten
          Gottessohn, vielmehr ist er der Hoffnungsträger in einer verzweifelten Situation.
        Da sind die Todesängste der Jünger; sie schreien auf: („Ein Gespenst!“) und Petrus
          teilt diese Angst. Er ist alles andere als der Schlüsselhalter des Himmelreichs oder
          der Fels, wie man ihn sich gerne in Rom vorstellt.
       In der Mitte der Geschichte aber steht die Dramatik von Todesangst und Vertrauen. Es
       geht gerade nicht um ein „Naturwunder“, das zwei Menschen über dem Wasser hält,
       sondern um das Wunder des Vertrauens, zu dem Jesus aufruft, das aber erarbeitet sein
       will, um wirklich zum Wunder zu werden.

       Dazu möchte ich Ihnen vier Grundgedanken vorlegen. Denken wir nach über
       1. Ungewissheit und Angst,
       2. den Mut zur neuen Freiheit,
       3. die konkrete Praxis des Vertrauens und
       4. das Vertrauen, das eine Heimat bekommt.
1. Ungewissheit und Angst
     Ungewissheit und Angst sind ein Zeichen unserer Zeit; wir erfahren sie täglich: in
     unserer Zeitplanung, im öffentlichen Verkehr, in den jüngsten politischen
     Entwicklungen der Bundesrepublik, im Risikospiel der großen Politik, den
     Wirtschaftsprognosen und der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich,
     in dem Problem der wachsenden Altersarmut und dem Steigen der Mieten, beim
     Klimawandel. In öffentlichen Diskussionen wird diese Angst aufgegriffen, oft
     verstärkt und noch öfter für politische Ziele missbraucht, indem man die
     Horrorszenarien verstärkt und nach den Schuldigen sucht.

     Glauben und Religion waren Jahrhunderte lang die Grundpfeiler unserer Gewissheit
     und Stabilität. Aber auch sie verlieren ihre öffentliche tröstliche Bedeutung, sie sind
     nicht mehr die Garanten einer weltanschaulichen oder moralischen Stabilität. Im
     Verlauf der kommenden zwei Jahre sinkt der Anteil von Christen in der
     Bundesrepublik vermutlich unter 50 %. Und wir fragen uns: Stimmen die alten
     Überzeugungen noch? Gehen im Strudel eines verunsicherten Zusammenlebens auch
     die alte Gewissheit und die Orientierungskraft des Glaubens unter? Kann man
     überhaupt modern und gläubig sein?

     Diese Frage trifft unsere Kirchen und viele Kirchengemeinden schwer, denn sie
     werden an einem wunden Punkt getroffen, wir werden sehr schmerzlich von diesen
     Entwicklungen berührt. Kirchen und Gesellschaften driften auseinander. Damit
     entsteht eine gefährliche Diskrepanz, denn je mehr sich draußen Orientierungslosigkeit
     ausbreitet, umso dringender wird von den Kirchen Orientierung erwartet. Schon seit
     Jahrzehnten halten viele Christ/innen diese Ungewissheit nicht mehr aus und
     versteifen sich auf Schriftworte und Glaubensformeln. Sie reagieren allergisch auf
     „moderne“ Theologien und Präsentationen, in denen doch nichts mehr sicher sei. Sie
     nehmen, um es paradox zu sagen, die Bibel nicht mehr ernst, sondern wörtlich. Im
     katholischen Raum wird stärker als früher betont, dass der Glaube ein
     Glaubensgehorsam ist, im evangelischen Raum hören wir öfter als früher, dass die
     Bibel doch unfehlbar sei dies, obwohl viele traditionelle theologische Aussagen heute
     in schriller Konkurrenz zu empirisch erwiesenen Überzeugungen stehen und zu
     unserem demokratischen Freiheitsbewusstsein konkurrieren.

     So aber haben sich Glauben und Religion zu einem falschen Alibi oder einem
     verhärteten Gegensatz zum eigenen Denken und zur eigenen Freiheit entwickelt.
     Unsere Kirchen sind dabei, zum Opfer dieser Alibifunktion zu werden, die
     säkularisierte Welt zu verachten und alles besser zu wissen. Umso weniger werden sie
     ernst genommen, wenn nicht gar verlacht.

     Wie aber sollen wir dem gegenüber die tröstende Geschichte vom sinkenden und doch
     geretteten Petrus verstehen? Wo und wie können wir auf Jesus treffen, von dem wir
     Rettung erwarten? Die Geschichte vom sinkenden Petrus ist gerade keine
     Geistergeschichte und es ist nicht schwer, sie konkret in unsere Zeit hinein zu
     verlegen.

2. Vom Mut zur neuen Freiheit
     Ich mache einen Schnitt und komme kurz auf Paulus zu sprechen. Versetzen wir uns in
     die dramatische Situation des Galaterbriefs in einer Zeit, in der die Evangelien wohl
     noch nicht aufgeschrieben und zum festen Bezugspunkt der späteren Tradition
geworden sind. Paulus kämpft dafür, dass sich seine Gemeinden nicht mehr dem Joch
der Tora unterwerfen. In seiner Polemik geht er aufs Ganze. Er schreibt:

       Wie könnt ihr so unvernünftig sein! Am Anfang habt ihr auf den Geist vertraut,
       und jetzt erwartet ihr vom Fleisch die Vollendung. Habt ihr denn so Großes
       vergeblich erfahren? Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt
       Wundertaten unter euch? Weil ihr das Gesetz befolgt, oder weil ihr die
       Botschaft des Glaubens angenommen habt? (Gal 3,3-5).

Das ist eine harte, gegenüber den Juden geradezu unhöfliche Sprache. Schließlich gilt
auch die Tora – also das ganze Paket der jüdischen Lebensregeln als Gabe Gottes und
Jesus hat sich mit eng umgrenzten Ausnahmen an sie gehalten. Auch stößt sich
Paulus nicht daran, dass Juden und Judenchristen diese „Gesetze“ befolgen. Er
verlangt aber, dass sie im Geist des Vertrauens befolgt werden. Und deshalb zitiert er
die berühmte Schlüsselstelle aus der Abrahamsgeschichte (Gen 15,6), die für die
Reformation so wichtig wurde:
        „Er vertraute Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.“ (Gal
        3,6)

Wichtiger als das schwierige jüdische Regelwerk ist nach Paulus ein grundlegendes
Vertrauen auf Gott. Es können durchaus Situationen eintreten, in denen dieses
Regelwerk unsere Vertrauenshaltung nicht mehr schützt, sondern behindert, dann
nämlich, wenn ein anderer Kulturraum den Zugang zu diesem Lebensstil versperrt.
Denn für Paulus muss das Christentum auch im griechisch-hellenistischen
Lebensraum eine Freiheitsgeschichte bleiben. Sobald er diese in Christus gewonnene
Freiheit bedroht sieht, reagiert er allergisch. Er hat den christlichen Glauben also
genau in dem Augenblick von der jüdischen Tora gelöst, als sich Nichtjuden (man
nannte sie „Heiden“ oder „Proselyten“) der Sache Jesu annäherten, mit den alten
Regeln aber nur wenig anfangen konnten. Sie behinderten die neue Vertrauenshaltung.

Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen: Wir befinden uns heute in einer
vergleichbaren Lage. Wie damals die Juden ihre Tora befolgen, so halten wir Christen
uns heute wiederum an eine überreiche Tradition der Glaubensregeln und des
Lebensstils. Wirklich verstehen kann sie nur, wer über Jahre in sie hineingewachsen
ist, vielleicht einige Jahre Theologie studiert hat. Daneben gibt es zahllose Menschen,
die – innerhalb und außerhalb der Kirchen auf der Suche nach einer neuen
Orientierung, nach einem „tieferen Sinn“ ihres Lebens und nach einem Ort der inneren
Freiheit sind. Es sind die „Heiden“ und die „Proselyten“ unserer Tage, für die Paulus
heute leidenschaftlich kämpfen würde.

Damals, in einer neuen Epoche also, hat Paulus Jesus neu verstehen müssen und auch
verstanden. Was würde er heute sagen? Er würde seinen Befreiungsschlag wohl
wiederholen. Denn er würde dies erkennen: Heute sind wir nicht nur konfrontiert mit
glaubenslahmen, vom Wohlstand überfütterten Menschen, sondern auch mit zutiefst
orientierungslosen Mitbürgern, die Fragen über Fragen stellen. Wir stehen in einem
tiefgreifenden Kulturwandel und in einem Paradigmenwechsel, der seinesgleichen
sucht. Wir haben die Botschaft Jesu grundlegend zu erneuern und wie Paulus Ballast
von Bord zu werfen.

Nichts gegen die Christuslehre der allen Kirchen gemeinsamen Tradition, aber in
   ihrem antiken Sprachgewand wird sie heute kaum mehr verstanden.
Nichts gegen unser Glaubensbekenntnis, aber es klammert alle Erinnerungen an das
   Leben des Jesus von Nazareth aus.
Nichts gegen unseren Glauben an den dreifaltigen Gott, aber die vorgegebenen
   Formulierungen führen mehr in die Irre, als dass sie uns Gott näherbringen; wir
   sehen es an den unnötigen Auseinandersetzungen mit dem Islam.
Nichts gegen den traditionellen Schöpfungsglauben, aber vor dem Hintergrund der
   Naturwissenschaften ist er neu durchzubuchstabieren; wir können ihn nicht mehr
   einfach als den „Machergott“ verehren.
Nichts gegen die Rechtfertigungslehre, aber in ihrer gegenwärtigen Formulierung
   macht sie uns zu Sündern, bevor sie uns Heil zuspricht. Viele erfahren das als
   Demütigung.
Nichts gegen die vielen Regeln einer christlichen Moral, aber ohne ein großes
   Reinemachen – etwa in Fragen der Sexualmoral kommen wir mit diesem System
   nicht weiter.

Ich verstehe, dass solche Behauptungen manchen von uns Unbehagen bereiten. Auch
mir persönlich waren sie lange Zeit fremd. Aber vergessen wir nicht, dass damals in
Jerusalem genau dasselbe passiert ist. Paulus ließ sich vor die Altapostel zitieren und
der Kompromiss, den sie schlossen, war beispielhaft: Die Jerusalemer und die
palästinensischen Gemeinden blieben ihrer judenchristlichen Tradition treu und Paulus
hatte nichts dagegen einzuwenden. Aber die neuen hellenistischen Gemeinden im
übrigen Asien und im späteren Europa trennten sich in ihrem Kulturraum von der
Tradition, die sie nicht mehr verstanden; dagegen hatte Jerusalem nichts einzuwenden.

Vor diesem Hintergrund blicken wir noch einmal auf die Erzählung vom
verzweifelnden, sinkenden Petrus zurück. Lassen Sie es mich so hart sagen, weil es
genau unseren Gesamtzustand nachzeichnet. Den verunsicherten Petrus rettete kein
Sünden- und kein Glaubensbekenntnis, auch nicht der Glaubensballast seiner
Tradition, sondern einzig und allein sein Mut zum Vertrauen. Es war dieser Entschluss,
sich Jesus unmittelbar zuzuwenden. Es war diese Selbstverständlichkeit, mit der sich
ein Vertrauender vorbehaltlos auf seine neue, bis zum Tod bedrohliche Situation
einließ.

Diese fundamentale Vertrauenshaltung preist auch Paulus im Galaterbrief, diesem
revolutionären Glaubensdokument, und wir könnten dieselbe Erfahrung auch in
anderen Geschichten entdecken, etwa im Durchzug Israels durch das Rote Meer. Auch
dort handelt es sich um kein Naturwunder, sondern um eine grandiose Metapher, die
vom unbesiegbaren Vertrauen der Nachkommen Israels zeugt, die noch keine Tora
kannten, wie auch den frühen Christen noch keine Christus- und keine
Rechtfertigungslehre vertraut war.

Das gibt uns Grund und Recht dazu, dass wir uns selbst und alle zum Vertrauen
aufrufen, die heute zweifeln und verzweifeln. Wir müssen und wir können Vertrauen
wagen. Hans Küng berichtet einmal von seinen Zweifeln: Als junger Theologiestudent
wollte er in Berlin einem jungen Mann die Wahrheit des Glaubens „beweisen“, was
ihm natürlich nicht gelang. Er grübelte, ging bei Sachkundigen zu Rat (zu ihnen
gehörte auch Karl Barth), bis ihn unmittelbar eine wichtige Erkenntnis durchfuhr:
Vertraue den Menschen und der Wirklichkeit, die dich umgeben. Und der junge
Schweizer erinnerte sich an seine Jugendjahre, wie er im Sempacher See schwimmen
lernte. Schwimmen, so seine Erfahrung, lernt man nicht mit Trockenübungen, nicht
indem man ängstlich und sorgfältig bestimmte Regeln auswendig lernt, sondern indem
man sich ins Wasser wagt und erfährt: Das Wasser trägt mich und trägt mich wieder,
     und ich gehe nicht unter, wenn ich mich nur richtig bewege. Es beginnt mit einem
     Wagnis, gewiss, aber dieses Wagnis ist, wie der Erfolg zeigt, nicht unvernünftig.

3. Von der Praxis des Vertrauens
     Mit Recht könnten Sie mir erwidern, diese pathetischen Ermunterungen seinen Ihnen
     bekannt. Es reicht aber nicht, zu behaupten: „Habe Mut!“ Wer gibt uns diesen Mut und
     wie sollen dieser Mut und dieses Vertrauen konkret aussehen?

     Für die Kirchengemeinde Weilimdorf gibt es dafür keinen besseren Zeugen als
     Dietrich Bonhoeffer, der seine große Theologie mit einer tiefen zeitgemäßen
     Frömmigkeit verbunden hat. Ich erinnere hier an die prophetischen Gedanken, mit
     denen er sich in der Gefangenschaft wenige Wochen vor seinem Tod beschäftigte.
     Denn Bonhoeffer sah genau die Situation voraus, in der wir heute leben. Von K. Barth
     hatte er schon gelernt, dass man auch die Religion kritisieren kann, wenn nicht gar
     kritisieren muss, sobald sie unseren Zugang zu Gott verhindert. Alle Religionen
     beginnen, wenn sie nicht achtsam sind, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen.

     Doch Bonhoeffer geht noch ein Stück weiter. Er sieht voraus, dass auch die christliche
     Religion an ihrer Selbstverliebtheit zerbrechen kann. Deshalb denkt er über ein
     religionsloses Christentums nach. Ist das nicht ein hölzernes Eisen, ein Widerspruch in
     sich? Irgendwie schon, denn jeder lebendige Glaube sucht seine Formen, seine
     Frömmigkeit, seine Gebete, seine Liturgie. Und doch erleben heute viele von uns
     diesen unerträglichen Widerspruch. Wir sagen dann:
      Wir möchten ja glauben, aber es gelingt uns nicht.
      Wir möchten Gott erfahren, aber er ist weit weg.
      Wir suchen nach dem Sinn unseres Lebens, wo aber ist er?
      Wer ertrinken in den tosenden Wellen unserer Herausforderungen und keine Hand
        bietet sich, der wir vertrauen könnten.

     Auch Bonhoeffer weiß dafür kein Rezept. Er erklärt nur, dass wir diese Situation zu
     ertragen haben. Denn vom Gott unserer Gewohnheitsreligion, die ihre ursprüngliche
     Höhe verlor, erwarten wir etwas Falsches, nämlich die Reparatur unserer Defizite, als
     ob Gott nach Belieben und auf unsere Bitten hin von außen her in unsere Defizite
     eingreifen könnte. Bonhoeffer formuliert es so:
             „Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in
             der Welt, Gott ist der deus ex machina.“ Dagegen verweise die Bibel „den
             Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott
             kann helfen“. (Widerstand und Ergebung, 192). Schärfer noch: „Vor und mit
             Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans
             Kreuz.“ (191) Deshalb müssten wir leben „etsi deus non daretur“, „auch wenn
             es keinen Gott gäbe.“ (190)

     Der prophetische Dietrich Bonhoeffer kann also akzeptieren und damit umgehen, dass
     wir in einer säkularisierten Zeit, also in einer Gesellschaft leben, in der Gott kein
     öffentliches Thema mehr ist. Dies fordert unsere Ergebung heraus. Doch zu dieser
     Ergebung, die wie Unterwerfung klingt, kommt eine positive Kehrseite, die uns wieder
     an Paulus erinnert. Der Titel des entscheidenden Buches lautet ja: „Widerstand und
     Ergebung“, denn der Verlust dieses mächtigen Gottes zwingt uns zu einer letzten
     Freiheit.
Wir müssen diese Freiheit ergreifen, denn wir können auf kein Jenseits, auf kein
        Übernatürliches und auf keine Transzendenz mehr ausweichen, nicht mehr die Hände
        in den Schoß legen, damit Gott an unserer Stelle handelt. Der Verlust des
        traditionellen, übermächtigen, alles lenkenden und vorherbestimmenden Gottesbildes
        zwingt uns dazu und gibt uns die Möglichkeit, mündig zu werden,
        selbstverantwortlich gemäß unserem eigenen Gewissen zu handeln. Ein
        autoritätsgläubiges Christentum ist endgültig abgelaufen. Und so besteht der Kern des
        christlichen Glaubens darin, dass wir auf niemanden und auf nichts mehr ausweichen,
        das uns im Grunde von unserer Wahrheitssuche ablenkt oder uns sagt, was wir zu tun
        haben.

        Warum ist diese neue Entdeckung unsere Freiheit so wichtig? Sie ist wichtig,
         weil wir uns in einem unerhörten kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch
        befinden,
         weil die gewohnten Orientierungsmarken ohnehin zu wanken beginnen,
         und weil wir uns auf den lebenswichtigen und entscheidenden Kern unseres Glaubens
        besinnen müssen. Er aber lautet – was Glaube ja ursprünglich besagt – Vertrauen,
        Hingabe (lateinisch: fides, griechisch: pistis, arabisch: islam). Wir sollten also, so
        Bonhoeffer, die Chance der Säkularisierung und des aktuellen Religionsverlusts
        ergreifen. Sie schaffen uns eine neue Freiheit zu Gott hin. Im Augenblick des Falls,
        sobald alle Sicherheit verschwindet, bleibt uns die vorbehaltlose Tat des Vertrauens.
        Säkularisierung und Religionsverlust zeigen uns den Weg, sie zwingen uns geradezu,
        uns darauf zurückzuziehen, worauf es letztlich ankommt.

        Vor einigen Wochen nannte sich Robert Habeck in einem Interview einen „säkularen
        Christen“. Zwar gehöre er keiner Kirche an, aber er teile „die Werte des
        Christentums“.1 Was aber sind wohl seine Werte und welche Werte bleiben bei diesem
        letzten Vertrauensakt übrig? Auch darüber machte sich Bonhoeffer schon seine
        Gedanken, die auch uns naheliegen. In Jesus verschwindet nicht einfach alle
        Erfahrung und das Vertrauen auf Jesus verkommt nicht zu einer irrationalen Ergebung.
        Im Gegenteil, in Jesus kehrt sich alle menschliche Erfahrung um, weil Jesus „für
        andere da ist“ (205). Damit bekommt das Vertrauen sein neues, spezifisch jesuanisches
        Thema. Auch wenn wir alle antrainierte und fragwürdige Gotteserfahrung verloren
        haben, gerade dann entdecken wir ein anderes Jenseits, eine andere Transzendenz, das
        ist das Hinüberschreiten zum Nächsten, zum Mitmenschen und zur Gemeinschaft, die
        uns umgibt.
                „Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein für andere‘.“

        Das bedeutet: Ein religionsfreies Christentums endet nicht im Nichts, sondern in einer
        mündigen, freien und selbstverantwortlichen Solidarität. Dieses Dasein für andere
        heilt uns von unserem Egoismus, befreit uns von unseren frommen Tricks und macht
        uns nach außen glaubwürdig. Wir brauchen „säkulare Christen“. Denn noch einmal:
        Der Sprung in diese neue Haltung hat durchaus seinen Preis. Es geht nicht einfach um
        die Befreiung von allen frommen Verpflichtungen und es reicht nicht zu sagen, alles
        Bisherige sei überholt, wir bräuchten nicht mehr in die Kirche und könnten das Gebet
        vergessen. Eine solche Religionskritik hätte nur wenig mit einer neuen Freiheit zu tun;
        sie ließe uns im Sturm der Wellen ertrinken.

1 Interview vom 19.06.2019 in Christ und Welt.
Dieser Übergang gelingt nur, wenn wir uns zugleich in ein bedingungsloses Vertrauen
     einüben. Ich nenne es hier: Vertrauen in das Leben, Vertrauen in das Gute, Vertrauen in
     die Nächsten und in ihre Gemeinschaft. Wir haben im Vorfeld von Etty Hillesum
     gesprochen, einer völlig säkularen jüdischen jungen Frau, die in den 1940 Jahren in
     die Niederlande zog und über die Umwege der Psychologie zu einer Bekehrung fand.
     Bekehrung wozu? Sie fand Gott in der Liebe. Im Namen dieser Liebe zehrte sie sich
     im niederländischen Sammellager „Westerborg“ in der Sorge für ihre todgeweihten
     Mitjüdinnen und Mitjuden auf und fuhr mit einem der letzten Züge mit in die östlichen
     Todeslager, wo sich ihre Spur verlor. Sie persönlich wusste nicht mehr, ob sie Jüdin,
     Christin oder einfach eine religiöse Frau ist, denn in all diesen Strömungen fand sie
     den Weg zur Solidarität mit ihren Mitmenschen, in der sie ihre Versöhnung fand.

     Genauso könnten wir Gott in der Nähe zu zahllosen Menschen wahrnehmen, indem
     wir „für andere da sind“, auch wenn sie sich Atheisten, Agnostiker oder Humanisten
     nennen. Wir könnten zusammen mit ihnen diese wortlose Glaubensmitte entdecken,
     die sich exemplarisch in Jesus verwirklicht hat. Letztlich ist das ein enorm politisches
     Programm.

4. Dem Vertrauen eine Heimat geben
     Die Kraft des Vertrauens erwächst aus dem Leben mit anderen und dem Dasein für sie.
     Vertrauen ist also keine innere Stimmung oder Gestimmtheit, sondern die Dynamik,
     die praktische Ausrichtung eines Handelns. Ich kümmere mich um ihn oder um sie.
     Diese oder die andere Sache ist mir wichtig. Ich arbeite in der Schule mit den Kindern
     oder ich kümmere mich um eine Familie. Das Zeichen eines gesunden Vertrauens ist
     immer diese „weltliche“ Dimension. Auch die Stimme des Gewissens ist ja kein
     abstraktes Leitungsorgan. Es wirkt immer bei konkreten Entscheidungen. Ich spüre:
     Da habe ich einzugreifen, und hier müsste ich helfen, an dieser sozialen Situation ist
     zu arbeiten und ich tue es, weil es gut ist.

     Doch hat diese weltliche Dimension auch eine Gegenseite. Wenn ich nämlich mit der
     Welt, mit Menschen, mit konkreten Situationen konfrontiert bin, dann muss ich in
     bestimmten Abständen auch Zeit gewinnen, um wieder zu mir zu kommen. Ich denke
     über das Geheimnis der Menschen, über das Geheimnis unserer Gesellschaft und
     unserer Natur nach. Ich frage mich, was diese Welt im Innersten zusammenhält.

     Dies ist, wie mir scheint, der unaufgebbare Sinn der Kirchengemeinde. Wir brauchen
     eine Gemeinschaft, um diese Spannung aufrecht zu erhalten. Der Schweizer
     Religionspädagoge Max Feigenwinter schrieb kürzlich, er wünsche sich „eine
     Gemeinschaft, eine Kirche, in der die Menschen … wohlwollend füreinander da sind,
     in der die Menschen glaubwürdig einander sagen können: ‚Erschrecke nicht‘, Du
     darfst vertrauen.“

     Die Gemeinden, die sich auf diesen Weg der Solidarität machen, können nach
     Bonhoeffer eine Kraft ausstrahlen, die er Geborgenheit nennt. Wir kennen alle sein
     Gedicht von den guten Mächten, das zum Kirchenlied wurde. Diese Geborgenheit lebt
     für ihn im Alltag. Die erste Strophe lautet so:

            Von guten Mächten treu und still umgeben
            behütet und getröstet wunderbar –
            so will ich diese Tage mit euch leben
            und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Es knüpft also an die vielen, uns umgebenden Alltagserfahrungen von Geborgenheit
an. Erst in der letzten Strophe rückt Gott ins Blickfeld:

       Von guten Mächten wunderbar geborgen
       Erwarten wir getrost, was kommen mag.
       Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
       und ganze gewiss an jedem neuen Tag. (219)

Dieser getröstete Gotteslaube ergibt sich wie selbstverständlich aus der hier und jetzt
erfahrenen Gemeinschaft. Gott ist immer der Zukunft vorbehalten.

Fassen wir zusammen:
Kurz vor seinem Tod machte sich Dietrich Bonhoeffer Gedanken über ein Buch, das er
leider nie mehr schreiben konnte. Es sollte beginnen mit dem Thema: „Das
Mündigwerden des Menschen“. Er fand, dass wir dieses vorbehaltlose, zugleich
mündige Vertrauen in einer säkularisierten Gesellschaft neu lernen müssen, indem wir
unser Gewissen konsequent in die Erwartungen der Gemeinschaft, der anderen,
eintauchen. (204)

Vielleicht wurde uns in den vergangenen Minuten auch klar, dass wir dieses tiefe, in
Mündigkeit begründete Vertrauen neu einüben müssen: Vertrauen muss gelerntes,
praktiziertes und immer neu justiertes Vertrauen sein. Deshalb ist die Praxis so
wichtig. Sie kann heute stagnieren und uns morgen beflügeln. Diese Praxis mit ihren
Höhen und Tiefen macht uns auch klar: Unsere Glaubensformeln können uns stützen,
aber nur dann, wenn wir sie als Ermutigung zu diesem Vertrauen verstehen. Ansonsten
sollten wir uns von ihnen lösen. Gott ist immer mehr als das Bekenntnis zu Gott,
Vertrauen immer mehr als der genau formulierte Glaube. Gott ist immer einer – so
Bonhoeffer – der uns verlässt, weil er uns vorangeht.

Wir brauchen regelmäßig die Kraft, um das Wagnis der kommenden Woche
unbeschädigt durchzustehen. Die Geschichte vom sinkenden Petrus, liebe Anwesende,
ist keine erbauliche Wundergeschichte, sondern bringt uns unsere bedrohliche
Situation vor Augen. Wer sich auf dieses Vertrauen einlassen und es mündig
bewältigen will, muss sich klar machen: Letztlich geht es um das Gelingen oder
Versagen unseres Lebens Wer sich dieser Alternative stellt, bewegt sich auf die große
mündige Freiheit zu, von der Paulus gesprochen hat: „Zur Freiheit hat euch Christus
befreit. So seht zu, dass keiner von euch falle.“ Wenn wir unsere Lebensmitte in diese
solidarische, vom Vertrauen zu Anderen getragene Praxis der Freiheit setzen, haben
wir es verstanden, was mit dem Vertrauen auf Gott gemeint ist.
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