Hermann Häring - Evang ...
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Hermann Häring Glauben in unsicheren Zeiten. Worauf können mündige und aufgeklärte Bürger heute noch vertrauen? (Ungekürzter Text) Lesung: Jesus und der sinkende Petrus: (Mt 14, 22-33) Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? (Mt 14, 31) Liebe Mitchristinnen und Mitchristen, liebe Mitsuchende und Mithoffende! Einleitung: Gerade haben wir eine seltsam märchenhafte Geschichte von Jesus gehört. Bei stockdunkler Nacht geistert er über den See Genezareth und verlockt Petrus zu einem waghalsigen Versuch, der ihn beinahe das Leben kostete. Auch er sollte über das Wasser gehen. Schließlich rettete Jesus ihn ins Boot. Wer sollte diese Geistergeschichte noch ernst nehmen? Doch in ihr verbirgt sich ein vielschichtiges Geschehen, wie in verschiedenen Ausgaben des Neuen Testaments die Titel zeigen. Niederländische Ausgaben sprechen nüchtern von „Sturm“ und „Gegenwind auf dem See“. Eine französische Ausgabe erklärt triumphal: „Jesus schreitet über die Wasser und Petrus mit ihm.“ In deutschen Ausgaben liest man „Jesus und der sinkende Petrus auf dem See.“ Um diesen sinkenden Petrus geht es und mit ihm sind wir gemeint. Zur Diskussion steht die Kraft unseres Glaubens. Dabei durchziehen diese Geschichte viele Aspekte. Da ist die Metapher vom Boot. Auch an anderen Stellen der Evangelien verweist es auf die prekär schwankende Situation der Gemeinde. Sie gleicht einer hilflosen und vielfach bedrohten Nussschale. Sie ist alles andere als ein unsinkbares Staatsschiff, keine wohl etablierte und finanziell abgesicherte Großkirche. Da ist der unbeirrbare Schluss der Erzählung: „Wahrhaftig, Du bist Gottes Sohn.“ Aber dieser Titel meint noch keinen sieghaften, vor aller Zeit gezeugten Gottessohn, vielmehr ist er der Hoffnungsträger in einer verzweifelten Situation. Da sind die Todesängste der Jünger; sie schreien auf: („Ein Gespenst!“) und Petrus teilt diese Angst. Er ist alles andere als der Schlüsselhalter des Himmelreichs oder der Fels, wie man ihn sich gerne in Rom vorstellt. In der Mitte der Geschichte aber steht die Dramatik von Todesangst und Vertrauen. Es geht gerade nicht um ein „Naturwunder“, das zwei Menschen über dem Wasser hält, sondern um das Wunder des Vertrauens, zu dem Jesus aufruft, das aber erarbeitet sein will, um wirklich zum Wunder zu werden. Dazu möchte ich Ihnen vier Grundgedanken vorlegen. Denken wir nach über 1. Ungewissheit und Angst, 2. den Mut zur neuen Freiheit, 3. die konkrete Praxis des Vertrauens und 4. das Vertrauen, das eine Heimat bekommt.
1. Ungewissheit und Angst Ungewissheit und Angst sind ein Zeichen unserer Zeit; wir erfahren sie täglich: in unserer Zeitplanung, im öffentlichen Verkehr, in den jüngsten politischen Entwicklungen der Bundesrepublik, im Risikospiel der großen Politik, den Wirtschaftsprognosen und der auseinanderdriftenden Schere zwischen Arm und Reich, in dem Problem der wachsenden Altersarmut und dem Steigen der Mieten, beim Klimawandel. In öffentlichen Diskussionen wird diese Angst aufgegriffen, oft verstärkt und noch öfter für politische Ziele missbraucht, indem man die Horrorszenarien verstärkt und nach den Schuldigen sucht. Glauben und Religion waren Jahrhunderte lang die Grundpfeiler unserer Gewissheit und Stabilität. Aber auch sie verlieren ihre öffentliche tröstliche Bedeutung, sie sind nicht mehr die Garanten einer weltanschaulichen oder moralischen Stabilität. Im Verlauf der kommenden zwei Jahre sinkt der Anteil von Christen in der Bundesrepublik vermutlich unter 50 %. Und wir fragen uns: Stimmen die alten Überzeugungen noch? Gehen im Strudel eines verunsicherten Zusammenlebens auch die alte Gewissheit und die Orientierungskraft des Glaubens unter? Kann man überhaupt modern und gläubig sein? Diese Frage trifft unsere Kirchen und viele Kirchengemeinden schwer, denn sie werden an einem wunden Punkt getroffen, wir werden sehr schmerzlich von diesen Entwicklungen berührt. Kirchen und Gesellschaften driften auseinander. Damit entsteht eine gefährliche Diskrepanz, denn je mehr sich draußen Orientierungslosigkeit ausbreitet, umso dringender wird von den Kirchen Orientierung erwartet. Schon seit Jahrzehnten halten viele Christ/innen diese Ungewissheit nicht mehr aus und versteifen sich auf Schriftworte und Glaubensformeln. Sie reagieren allergisch auf „moderne“ Theologien und Präsentationen, in denen doch nichts mehr sicher sei. Sie nehmen, um es paradox zu sagen, die Bibel nicht mehr ernst, sondern wörtlich. Im katholischen Raum wird stärker als früher betont, dass der Glaube ein Glaubensgehorsam ist, im evangelischen Raum hören wir öfter als früher, dass die Bibel doch unfehlbar sei dies, obwohl viele traditionelle theologische Aussagen heute in schriller Konkurrenz zu empirisch erwiesenen Überzeugungen stehen und zu unserem demokratischen Freiheitsbewusstsein konkurrieren. So aber haben sich Glauben und Religion zu einem falschen Alibi oder einem verhärteten Gegensatz zum eigenen Denken und zur eigenen Freiheit entwickelt. Unsere Kirchen sind dabei, zum Opfer dieser Alibifunktion zu werden, die säkularisierte Welt zu verachten und alles besser zu wissen. Umso weniger werden sie ernst genommen, wenn nicht gar verlacht. Wie aber sollen wir dem gegenüber die tröstende Geschichte vom sinkenden und doch geretteten Petrus verstehen? Wo und wie können wir auf Jesus treffen, von dem wir Rettung erwarten? Die Geschichte vom sinkenden Petrus ist gerade keine Geistergeschichte und es ist nicht schwer, sie konkret in unsere Zeit hinein zu verlegen. 2. Vom Mut zur neuen Freiheit Ich mache einen Schnitt und komme kurz auf Paulus zu sprechen. Versetzen wir uns in die dramatische Situation des Galaterbriefs in einer Zeit, in der die Evangelien wohl noch nicht aufgeschrieben und zum festen Bezugspunkt der späteren Tradition
geworden sind. Paulus kämpft dafür, dass sich seine Gemeinden nicht mehr dem Joch der Tora unterwerfen. In seiner Polemik geht er aufs Ganze. Er schreibt: Wie könnt ihr so unvernünftig sein! Am Anfang habt ihr auf den Geist vertraut, und jetzt erwartet ihr vom Fleisch die Vollendung. Habt ihr denn so Großes vergeblich erfahren? Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt Wundertaten unter euch? Weil ihr das Gesetz befolgt, oder weil ihr die Botschaft des Glaubens angenommen habt? (Gal 3,3-5). Das ist eine harte, gegenüber den Juden geradezu unhöfliche Sprache. Schließlich gilt auch die Tora – also das ganze Paket der jüdischen Lebensregeln als Gabe Gottes und Jesus hat sich mit eng umgrenzten Ausnahmen an sie gehalten. Auch stößt sich Paulus nicht daran, dass Juden und Judenchristen diese „Gesetze“ befolgen. Er verlangt aber, dass sie im Geist des Vertrauens befolgt werden. Und deshalb zitiert er die berühmte Schlüsselstelle aus der Abrahamsgeschichte (Gen 15,6), die für die Reformation so wichtig wurde: „Er vertraute Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.“ (Gal 3,6) Wichtiger als das schwierige jüdische Regelwerk ist nach Paulus ein grundlegendes Vertrauen auf Gott. Es können durchaus Situationen eintreten, in denen dieses Regelwerk unsere Vertrauenshaltung nicht mehr schützt, sondern behindert, dann nämlich, wenn ein anderer Kulturraum den Zugang zu diesem Lebensstil versperrt. Denn für Paulus muss das Christentum auch im griechisch-hellenistischen Lebensraum eine Freiheitsgeschichte bleiben. Sobald er diese in Christus gewonnene Freiheit bedroht sieht, reagiert er allergisch. Er hat den christlichen Glauben also genau in dem Augenblick von der jüdischen Tora gelöst, als sich Nichtjuden (man nannte sie „Heiden“ oder „Proselyten“) der Sache Jesu annäherten, mit den alten Regeln aber nur wenig anfangen konnten. Sie behinderten die neue Vertrauenshaltung. Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen: Wir befinden uns heute in einer vergleichbaren Lage. Wie damals die Juden ihre Tora befolgen, so halten wir Christen uns heute wiederum an eine überreiche Tradition der Glaubensregeln und des Lebensstils. Wirklich verstehen kann sie nur, wer über Jahre in sie hineingewachsen ist, vielleicht einige Jahre Theologie studiert hat. Daneben gibt es zahllose Menschen, die – innerhalb und außerhalb der Kirchen auf der Suche nach einer neuen Orientierung, nach einem „tieferen Sinn“ ihres Lebens und nach einem Ort der inneren Freiheit sind. Es sind die „Heiden“ und die „Proselyten“ unserer Tage, für die Paulus heute leidenschaftlich kämpfen würde. Damals, in einer neuen Epoche also, hat Paulus Jesus neu verstehen müssen und auch verstanden. Was würde er heute sagen? Er würde seinen Befreiungsschlag wohl wiederholen. Denn er würde dies erkennen: Heute sind wir nicht nur konfrontiert mit glaubenslahmen, vom Wohlstand überfütterten Menschen, sondern auch mit zutiefst orientierungslosen Mitbürgern, die Fragen über Fragen stellen. Wir stehen in einem tiefgreifenden Kulturwandel und in einem Paradigmenwechsel, der seinesgleichen sucht. Wir haben die Botschaft Jesu grundlegend zu erneuern und wie Paulus Ballast von Bord zu werfen. Nichts gegen die Christuslehre der allen Kirchen gemeinsamen Tradition, aber in ihrem antiken Sprachgewand wird sie heute kaum mehr verstanden.
Nichts gegen unser Glaubensbekenntnis, aber es klammert alle Erinnerungen an das Leben des Jesus von Nazareth aus. Nichts gegen unseren Glauben an den dreifaltigen Gott, aber die vorgegebenen Formulierungen führen mehr in die Irre, als dass sie uns Gott näherbringen; wir sehen es an den unnötigen Auseinandersetzungen mit dem Islam. Nichts gegen den traditionellen Schöpfungsglauben, aber vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften ist er neu durchzubuchstabieren; wir können ihn nicht mehr einfach als den „Machergott“ verehren. Nichts gegen die Rechtfertigungslehre, aber in ihrer gegenwärtigen Formulierung macht sie uns zu Sündern, bevor sie uns Heil zuspricht. Viele erfahren das als Demütigung. Nichts gegen die vielen Regeln einer christlichen Moral, aber ohne ein großes Reinemachen – etwa in Fragen der Sexualmoral kommen wir mit diesem System nicht weiter. Ich verstehe, dass solche Behauptungen manchen von uns Unbehagen bereiten. Auch mir persönlich waren sie lange Zeit fremd. Aber vergessen wir nicht, dass damals in Jerusalem genau dasselbe passiert ist. Paulus ließ sich vor die Altapostel zitieren und der Kompromiss, den sie schlossen, war beispielhaft: Die Jerusalemer und die palästinensischen Gemeinden blieben ihrer judenchristlichen Tradition treu und Paulus hatte nichts dagegen einzuwenden. Aber die neuen hellenistischen Gemeinden im übrigen Asien und im späteren Europa trennten sich in ihrem Kulturraum von der Tradition, die sie nicht mehr verstanden; dagegen hatte Jerusalem nichts einzuwenden. Vor diesem Hintergrund blicken wir noch einmal auf die Erzählung vom verzweifelnden, sinkenden Petrus zurück. Lassen Sie es mich so hart sagen, weil es genau unseren Gesamtzustand nachzeichnet. Den verunsicherten Petrus rettete kein Sünden- und kein Glaubensbekenntnis, auch nicht der Glaubensballast seiner Tradition, sondern einzig und allein sein Mut zum Vertrauen. Es war dieser Entschluss, sich Jesus unmittelbar zuzuwenden. Es war diese Selbstverständlichkeit, mit der sich ein Vertrauender vorbehaltlos auf seine neue, bis zum Tod bedrohliche Situation einließ. Diese fundamentale Vertrauenshaltung preist auch Paulus im Galaterbrief, diesem revolutionären Glaubensdokument, und wir könnten dieselbe Erfahrung auch in anderen Geschichten entdecken, etwa im Durchzug Israels durch das Rote Meer. Auch dort handelt es sich um kein Naturwunder, sondern um eine grandiose Metapher, die vom unbesiegbaren Vertrauen der Nachkommen Israels zeugt, die noch keine Tora kannten, wie auch den frühen Christen noch keine Christus- und keine Rechtfertigungslehre vertraut war. Das gibt uns Grund und Recht dazu, dass wir uns selbst und alle zum Vertrauen aufrufen, die heute zweifeln und verzweifeln. Wir müssen und wir können Vertrauen wagen. Hans Küng berichtet einmal von seinen Zweifeln: Als junger Theologiestudent wollte er in Berlin einem jungen Mann die Wahrheit des Glaubens „beweisen“, was ihm natürlich nicht gelang. Er grübelte, ging bei Sachkundigen zu Rat (zu ihnen gehörte auch Karl Barth), bis ihn unmittelbar eine wichtige Erkenntnis durchfuhr: Vertraue den Menschen und der Wirklichkeit, die dich umgeben. Und der junge Schweizer erinnerte sich an seine Jugendjahre, wie er im Sempacher See schwimmen lernte. Schwimmen, so seine Erfahrung, lernt man nicht mit Trockenübungen, nicht indem man ängstlich und sorgfältig bestimmte Regeln auswendig lernt, sondern indem
man sich ins Wasser wagt und erfährt: Das Wasser trägt mich und trägt mich wieder, und ich gehe nicht unter, wenn ich mich nur richtig bewege. Es beginnt mit einem Wagnis, gewiss, aber dieses Wagnis ist, wie der Erfolg zeigt, nicht unvernünftig. 3. Von der Praxis des Vertrauens Mit Recht könnten Sie mir erwidern, diese pathetischen Ermunterungen seinen Ihnen bekannt. Es reicht aber nicht, zu behaupten: „Habe Mut!“ Wer gibt uns diesen Mut und wie sollen dieser Mut und dieses Vertrauen konkret aussehen? Für die Kirchengemeinde Weilimdorf gibt es dafür keinen besseren Zeugen als Dietrich Bonhoeffer, der seine große Theologie mit einer tiefen zeitgemäßen Frömmigkeit verbunden hat. Ich erinnere hier an die prophetischen Gedanken, mit denen er sich in der Gefangenschaft wenige Wochen vor seinem Tod beschäftigte. Denn Bonhoeffer sah genau die Situation voraus, in der wir heute leben. Von K. Barth hatte er schon gelernt, dass man auch die Religion kritisieren kann, wenn nicht gar kritisieren muss, sobald sie unseren Zugang zu Gott verhindert. Alle Religionen beginnen, wenn sie nicht achtsam sind, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Doch Bonhoeffer geht noch ein Stück weiter. Er sieht voraus, dass auch die christliche Religion an ihrer Selbstverliebtheit zerbrechen kann. Deshalb denkt er über ein religionsloses Christentums nach. Ist das nicht ein hölzernes Eisen, ein Widerspruch in sich? Irgendwie schon, denn jeder lebendige Glaube sucht seine Formen, seine Frömmigkeit, seine Gebete, seine Liturgie. Und doch erleben heute viele von uns diesen unerträglichen Widerspruch. Wir sagen dann: Wir möchten ja glauben, aber es gelingt uns nicht. Wir möchten Gott erfahren, aber er ist weit weg. Wir suchen nach dem Sinn unseres Lebens, wo aber ist er? Wer ertrinken in den tosenden Wellen unserer Herausforderungen und keine Hand bietet sich, der wir vertrauen könnten. Auch Bonhoeffer weiß dafür kein Rezept. Er erklärt nur, dass wir diese Situation zu ertragen haben. Denn vom Gott unserer Gewohnheitsreligion, die ihre ursprüngliche Höhe verlor, erwarten wir etwas Falsches, nämlich die Reparatur unserer Defizite, als ob Gott nach Belieben und auf unsere Bitten hin von außen her in unsere Defizite eingreifen könnte. Bonhoeffer formuliert es so: „Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina.“ Dagegen verweise die Bibel „den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen“. (Widerstand und Ergebung, 192). Schärfer noch: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz.“ (191) Deshalb müssten wir leben „etsi deus non daretur“, „auch wenn es keinen Gott gäbe.“ (190) Der prophetische Dietrich Bonhoeffer kann also akzeptieren und damit umgehen, dass wir in einer säkularisierten Zeit, also in einer Gesellschaft leben, in der Gott kein öffentliches Thema mehr ist. Dies fordert unsere Ergebung heraus. Doch zu dieser Ergebung, die wie Unterwerfung klingt, kommt eine positive Kehrseite, die uns wieder an Paulus erinnert. Der Titel des entscheidenden Buches lautet ja: „Widerstand und Ergebung“, denn der Verlust dieses mächtigen Gottes zwingt uns zu einer letzten Freiheit.
Wir müssen diese Freiheit ergreifen, denn wir können auf kein Jenseits, auf kein Übernatürliches und auf keine Transzendenz mehr ausweichen, nicht mehr die Hände in den Schoß legen, damit Gott an unserer Stelle handelt. Der Verlust des traditionellen, übermächtigen, alles lenkenden und vorherbestimmenden Gottesbildes zwingt uns dazu und gibt uns die Möglichkeit, mündig zu werden, selbstverantwortlich gemäß unserem eigenen Gewissen zu handeln. Ein autoritätsgläubiges Christentum ist endgültig abgelaufen. Und so besteht der Kern des christlichen Glaubens darin, dass wir auf niemanden und auf nichts mehr ausweichen, das uns im Grunde von unserer Wahrheitssuche ablenkt oder uns sagt, was wir zu tun haben. Warum ist diese neue Entdeckung unsere Freiheit so wichtig? Sie ist wichtig, weil wir uns in einem unerhörten kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch befinden, weil die gewohnten Orientierungsmarken ohnehin zu wanken beginnen, und weil wir uns auf den lebenswichtigen und entscheidenden Kern unseres Glaubens besinnen müssen. Er aber lautet – was Glaube ja ursprünglich besagt – Vertrauen, Hingabe (lateinisch: fides, griechisch: pistis, arabisch: islam). Wir sollten also, so Bonhoeffer, die Chance der Säkularisierung und des aktuellen Religionsverlusts ergreifen. Sie schaffen uns eine neue Freiheit zu Gott hin. Im Augenblick des Falls, sobald alle Sicherheit verschwindet, bleibt uns die vorbehaltlose Tat des Vertrauens. Säkularisierung und Religionsverlust zeigen uns den Weg, sie zwingen uns geradezu, uns darauf zurückzuziehen, worauf es letztlich ankommt. Vor einigen Wochen nannte sich Robert Habeck in einem Interview einen „säkularen Christen“. Zwar gehöre er keiner Kirche an, aber er teile „die Werte des Christentums“.1 Was aber sind wohl seine Werte und welche Werte bleiben bei diesem letzten Vertrauensakt übrig? Auch darüber machte sich Bonhoeffer schon seine Gedanken, die auch uns naheliegen. In Jesus verschwindet nicht einfach alle Erfahrung und das Vertrauen auf Jesus verkommt nicht zu einer irrationalen Ergebung. Im Gegenteil, in Jesus kehrt sich alle menschliche Erfahrung um, weil Jesus „für andere da ist“ (205). Damit bekommt das Vertrauen sein neues, spezifisch jesuanisches Thema. Auch wenn wir alle antrainierte und fragwürdige Gotteserfahrung verloren haben, gerade dann entdecken wir ein anderes Jenseits, eine andere Transzendenz, das ist das Hinüberschreiten zum Nächsten, zum Mitmenschen und zur Gemeinschaft, die uns umgibt. „Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein für andere‘.“ Das bedeutet: Ein religionsfreies Christentums endet nicht im Nichts, sondern in einer mündigen, freien und selbstverantwortlichen Solidarität. Dieses Dasein für andere heilt uns von unserem Egoismus, befreit uns von unseren frommen Tricks und macht uns nach außen glaubwürdig. Wir brauchen „säkulare Christen“. Denn noch einmal: Der Sprung in diese neue Haltung hat durchaus seinen Preis. Es geht nicht einfach um die Befreiung von allen frommen Verpflichtungen und es reicht nicht zu sagen, alles Bisherige sei überholt, wir bräuchten nicht mehr in die Kirche und könnten das Gebet vergessen. Eine solche Religionskritik hätte nur wenig mit einer neuen Freiheit zu tun; sie ließe uns im Sturm der Wellen ertrinken. 1 Interview vom 19.06.2019 in Christ und Welt.
Dieser Übergang gelingt nur, wenn wir uns zugleich in ein bedingungsloses Vertrauen einüben. Ich nenne es hier: Vertrauen in das Leben, Vertrauen in das Gute, Vertrauen in die Nächsten und in ihre Gemeinschaft. Wir haben im Vorfeld von Etty Hillesum gesprochen, einer völlig säkularen jüdischen jungen Frau, die in den 1940 Jahren in die Niederlande zog und über die Umwege der Psychologie zu einer Bekehrung fand. Bekehrung wozu? Sie fand Gott in der Liebe. Im Namen dieser Liebe zehrte sie sich im niederländischen Sammellager „Westerborg“ in der Sorge für ihre todgeweihten Mitjüdinnen und Mitjuden auf und fuhr mit einem der letzten Züge mit in die östlichen Todeslager, wo sich ihre Spur verlor. Sie persönlich wusste nicht mehr, ob sie Jüdin, Christin oder einfach eine religiöse Frau ist, denn in all diesen Strömungen fand sie den Weg zur Solidarität mit ihren Mitmenschen, in der sie ihre Versöhnung fand. Genauso könnten wir Gott in der Nähe zu zahllosen Menschen wahrnehmen, indem wir „für andere da sind“, auch wenn sie sich Atheisten, Agnostiker oder Humanisten nennen. Wir könnten zusammen mit ihnen diese wortlose Glaubensmitte entdecken, die sich exemplarisch in Jesus verwirklicht hat. Letztlich ist das ein enorm politisches Programm. 4. Dem Vertrauen eine Heimat geben Die Kraft des Vertrauens erwächst aus dem Leben mit anderen und dem Dasein für sie. Vertrauen ist also keine innere Stimmung oder Gestimmtheit, sondern die Dynamik, die praktische Ausrichtung eines Handelns. Ich kümmere mich um ihn oder um sie. Diese oder die andere Sache ist mir wichtig. Ich arbeite in der Schule mit den Kindern oder ich kümmere mich um eine Familie. Das Zeichen eines gesunden Vertrauens ist immer diese „weltliche“ Dimension. Auch die Stimme des Gewissens ist ja kein abstraktes Leitungsorgan. Es wirkt immer bei konkreten Entscheidungen. Ich spüre: Da habe ich einzugreifen, und hier müsste ich helfen, an dieser sozialen Situation ist zu arbeiten und ich tue es, weil es gut ist. Doch hat diese weltliche Dimension auch eine Gegenseite. Wenn ich nämlich mit der Welt, mit Menschen, mit konkreten Situationen konfrontiert bin, dann muss ich in bestimmten Abständen auch Zeit gewinnen, um wieder zu mir zu kommen. Ich denke über das Geheimnis der Menschen, über das Geheimnis unserer Gesellschaft und unserer Natur nach. Ich frage mich, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Dies ist, wie mir scheint, der unaufgebbare Sinn der Kirchengemeinde. Wir brauchen eine Gemeinschaft, um diese Spannung aufrecht zu erhalten. Der Schweizer Religionspädagoge Max Feigenwinter schrieb kürzlich, er wünsche sich „eine Gemeinschaft, eine Kirche, in der die Menschen … wohlwollend füreinander da sind, in der die Menschen glaubwürdig einander sagen können: ‚Erschrecke nicht‘, Du darfst vertrauen.“ Die Gemeinden, die sich auf diesen Weg der Solidarität machen, können nach Bonhoeffer eine Kraft ausstrahlen, die er Geborgenheit nennt. Wir kennen alle sein Gedicht von den guten Mächten, das zum Kirchenlied wurde. Diese Geborgenheit lebt für ihn im Alltag. Die erste Strophe lautet so: Von guten Mächten treu und still umgeben behütet und getröstet wunderbar – so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Es knüpft also an die vielen, uns umgebenden Alltagserfahrungen von Geborgenheit an. Erst in der letzten Strophe rückt Gott ins Blickfeld: Von guten Mächten wunderbar geborgen Erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganze gewiss an jedem neuen Tag. (219) Dieser getröstete Gotteslaube ergibt sich wie selbstverständlich aus der hier und jetzt erfahrenen Gemeinschaft. Gott ist immer der Zukunft vorbehalten. Fassen wir zusammen: Kurz vor seinem Tod machte sich Dietrich Bonhoeffer Gedanken über ein Buch, das er leider nie mehr schreiben konnte. Es sollte beginnen mit dem Thema: „Das Mündigwerden des Menschen“. Er fand, dass wir dieses vorbehaltlose, zugleich mündige Vertrauen in einer säkularisierten Gesellschaft neu lernen müssen, indem wir unser Gewissen konsequent in die Erwartungen der Gemeinschaft, der anderen, eintauchen. (204) Vielleicht wurde uns in den vergangenen Minuten auch klar, dass wir dieses tiefe, in Mündigkeit begründete Vertrauen neu einüben müssen: Vertrauen muss gelerntes, praktiziertes und immer neu justiertes Vertrauen sein. Deshalb ist die Praxis so wichtig. Sie kann heute stagnieren und uns morgen beflügeln. Diese Praxis mit ihren Höhen und Tiefen macht uns auch klar: Unsere Glaubensformeln können uns stützen, aber nur dann, wenn wir sie als Ermutigung zu diesem Vertrauen verstehen. Ansonsten sollten wir uns von ihnen lösen. Gott ist immer mehr als das Bekenntnis zu Gott, Vertrauen immer mehr als der genau formulierte Glaube. Gott ist immer einer – so Bonhoeffer – der uns verlässt, weil er uns vorangeht. Wir brauchen regelmäßig die Kraft, um das Wagnis der kommenden Woche unbeschädigt durchzustehen. Die Geschichte vom sinkenden Petrus, liebe Anwesende, ist keine erbauliche Wundergeschichte, sondern bringt uns unsere bedrohliche Situation vor Augen. Wer sich auf dieses Vertrauen einlassen und es mündig bewältigen will, muss sich klar machen: Letztlich geht es um das Gelingen oder Versagen unseres Lebens Wer sich dieser Alternative stellt, bewegt sich auf die große mündige Freiheit zu, von der Paulus gesprochen hat: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit. So seht zu, dass keiner von euch falle.“ Wenn wir unsere Lebensmitte in diese solidarische, vom Vertrauen zu Anderen getragene Praxis der Freiheit setzen, haben wir es verstanden, was mit dem Vertrauen auf Gott gemeint ist.
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