Bericht Regierungsbildner Di Rupo: Beurteilung der N VA
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Bericht Regierungsbildner Di Rupo: Beurteilung der N‐VA EINLEITUNG Wie Sie wissen, haben wir den Bericht von EDR in den letzten Tagen besonders gründlich studiert. Es ist klar zu erkennen, dass an diesem Bericht hart gearbeitet wurde und das verdient auf jeden Fall Respekt. Unser Studiendienst und unsere technische Mitarbeiter haben alle Vorschläge des Regierungsbildners genau analysiert und – im Maße des Möglichen – ihre Auswirkungen beziffert. Unsere Schlussfolgerungen werde ich nun heute erläutern. Als ich die ersten Informationen über den Bericht hörte und las, war ich, das muss ich zugeben, hoffnungsvoll gestimmt. Ich dachte mir jedoch schon, dass die Wahrheit vielleicht nicht ganz so rosig sein würde, wie verschiedentlich vorgespiegelt wurde, und dass dieser Bericht vielleicht etliche doppelte Böden haben würde. Trotzdem glaubte ich, dass wir zumindest „Ja, aber“ sagen könnten. Das hoffte ich zumindest. Aber die Ernüchterung folgte. Nach gründlicher Lektüre des Berichts und nach dem Lesen der technischen Analysen meiner Mitarbeiter ist mir klar geworden, dass dieser Bericht für die N‐VA wirklich keine gute Grundlage weiterer Verhandlungen darstellt. Wie schon der Regierungsbildner vor einigen Tagen zu Recht anmerkte: Wer zu diesem Bericht Ja sage, der müsse aufrichtig daran glauben, dass Verhandlungen Erfolg haben könnten. Ich muss zugeben: Mit dem besten Willen der Welt glaube ich wirklich nicht daran, dass Verhandlungen auf der Grundlage dieses Berichts zu einem Erfolg führen können. Ich erläutere Ihnen unsere Bedenken gleich ausführlicher, aber ich fasse sie schon einmal kurz für Sie zusammen: 1. Haushalt Die Haushaltspolitik des Regierungsbildners ist tatsächlich eine massive Steuererhöhung. Sie ist ein Anschlag auf jeden, der hart arbeitet, jeden, der unternehmerisch tätig ist, und jeden, der spart. Mit diesem Bericht würden wir die zweifelhafte Ehre erlangen, das Land Europas zu werden, das am wenigsten bei den Ausgaben saniert und am meisten Mittel durch zusätzliche Einnahmen sucht. Und das, obgleich wir heute schon Meister bei staatlichen Abgaben sind und der Steuerdruck in Belgien bereits turmhoch ist. 2. Wirtschaft und Soziales Die Empfehlungen der Europäischen Kommission wurden – ebenso wie die von IWF und OECD – beinahe alle in den Wind geschlagen. Dabei geht es insbesondere um die dringend erforderlichen Reformen der sozialen Sicherheit und des Arbeitsmarkts. Der Bericht des Regierungsbildners weckte in diesem Zusammenhang sehr hohe Erwartungen, die er aber bei näherer Betrachtung nicht einlöst. Die Maßnahmen in Sachen Arbeitslosigkeit, Pensionen und Gesundheitswesen haben kaum oder sogar überhaupt keine Wirkung. 3. Finanzierungsgesetz und Steuerautonomie 1
Das neue Finanzierungsgesetz bietet sehr wenig echte Autonomie und hat kaum einen responsabilisierenden Effekt. Eigentlich werden die bestehenden Zuführungen aus der Einkommenssteuer an die föderierten Teilgebiete einfach in Zuschlaghundertstel umgewandelt. Eine eigene Steuerpolitik lässt sich damit jedoch nicht führen, sieht man einmal von einer linearen Erhöhung oder Senkung der Einkommenssteuer ab. Darüber hinaus bleibt ein Solidaritätsmechanismus, der alle Unterschiede nivelliert. Für die Gemeinschaften bleiben die Zuführungen auf Bedarfsbasis einfach bestehen, nur werden Flandern durch das Stoppen des Lambermont‐Turbos 600 Millionen genommen. 4. Staatsreform Was die Staatsreform betrifft, enthält der Bericht wenig Neues. Er bleibt deutlich unter dem Niveau des Berichts von Vande Lanotte. Es werden zwar viele Milliarden verschoben, aber nur wenig echte politische Hebel. Es handelt sich außerdem nicht um eine Übung in Homogenisierung, sondern eher die zigste zusammengestückelte Reform, die die Effizienz der Verwaltung nicht erhöhen wird. 5. Brüssel und Brüssel‐Halle‐Vilvoorde Die Vorschläge zu Brüssel sind für die Flamen katastrophal. Die gesetzliche Zweisprachigkeit der Hauptstadt wird so gut wie abgeschafft und die politischen Garantien für die Flamen in der Regionalverwaltung werden von unten ausgehöhlt. Trotzdem erhält Brüssel jährlich beinahe 600 Millionen zusätzlich. Dem gegenüber steht keinerlei Verpflichtung, um die Verwaltung in Brüssel effizienter zu machen. Wir müssen stattdessen akzeptieren, dass Brüssel noch zusätzliche Befugnisse erhält und ein vollwertiges föderiertes Teilgebiet wird. In den sechs Randgemeinden werden die Fazilitäten de facto verstärkt. MITTELTEIL 1) Haushalt Verteilung der Sanierung laut EDR‐Bericht 4,6 Milliarden oder 20 % der Sanierungsanstrengungen werden an die Regionen und Gemeinschaften weitergereicht und obendrein müssen sie auch noch für die Pensionen 2
ihrer Beamten zahlen (ohne über ihr Pensionsalter mitbestimmen zu können) und für die Pendler in Brüssel. Das würde bedeuten, dass Flandern insgesamt mindestens 2,5 bis 3 Milliarden Euro zusätzlich sparen müsste. Das wären 10 % oder mehr des gesamten heutigen flämischen Haushalts. Und das, obgleich Flandern in den letzten zwei Jahren bereits 8 % seines Haushalts eingespart hat. Das bedeutet somit, dass Flandern für Sanierungsanstrengungen bestraft wird, die es bereits geleistet hat. Denn denjenigen, die noch nichts getan haben, wird jetzt eine Sanierung auferlegt, wobei es sehr zweifelhaft ist, ob sie die auch tatsächlich durchführen. Flandern muss dagegen eine zweite Sanierung beginnen. Anders ausgedrückt: Der gute Schüler wird für sein vorbildliches Verhalten bestraft. Was die föderale Ebene betrifft, legt der EDR‐Bericht den Schwerpunkt auf Steuererhöhungen. Der Bericht spricht von 37 % Einsparungen bei Ausgaben. In Wirklichkeit geht es um weniger als 30 % oder 6,8 Milliarden Euro von einer Summe von 22 Milliarden Euro. Das Abschaffen steuerlicher Abzugsmöglichkeiten zum Beispiel sind keine Einsparungen bei Ausgaben, sondern höhere Steuereinnahmen. Außerdem überschätzt EDR die Einsparungen, die er dem Gesundheitswesen auferlegt, weil er die neue Wachstumsnorm von 2 % künstlich mit der alten Wachstumsnorm von 4,5 % vergleicht, während das reale Wachstum 3,1 % beträgt. Die reale Einsparung beträgt dadurch nicht 3 sondern nur 2 Milliarden Euro. Außer dieser neuen Wachstumsnorm bleibt die gesamte soziale Sicherheit von Einsparungen verschont. Die dritte Kategorie von EDR, die sog. „diversen“ Maßnahmen, erweisen sich bei näherem Hinsehen auch beinahe alle als zusätzliche Einnahmen. Dieser Tsunami an Steuererhöhungen steht vollständig im Widerspruch zu dem, was Europa uns empfiehlt. Auch der Internationale Währungsfonds, die OECD und Ratingagenturen fordern unser Land auf, angesichts des sehr hohen Steuerdrucks vor allem an der Ausgabenseite zu sanieren. Der EDR‐Bericht tut genau das Gegenteil. Wenn wir uns die Einsparungen der Föderalregierung ansehen, dann zeigt sich, dass kein anderes europäisches Land so viel Geld an der Einkommensseite einzieht wie Belgien, obgleich wir bereits heute den höchsten Steuerdruck in Europa haben. Wir sind das einzige europäische Land, wo mehr an den Einnahmen als an den Ausgaben gearbeitet wird. Unseres Erachtens ist das vollkommen verantwortungslos. 3
Europäischer Vergleich der Sanierungsanstrengungen 2014/2015 (Einnahmen/Ausgaben) Die vorgeschlagenen Maßnahmen belasten das Unternehmertum schwer (ca. 4,6 Milliarden Euro Steuererhöhungen = 43 % der Einnahmen aus der Gesellschaftssteuer), sowohl Gründer und KMU als auch Großunternehmen. Sie fügen dem Investitionsklima unwiderruflichen Schaden zu und das Vorgehen gegen den fiktiven Zinsabzug ist eine Art Vertragsbruch. Außerdem werden die Verwaltungskosten nicht sinken, sondern beträchtlich zunehmen. Mit einer Steuererhöhung um 4,3 Milliarden (= 10 % der Einnahmen aus der Einkommenssteuer) trifft der Bericht auch die Familien mitten ins Herz. Vor allem der Mittelstand und die Menschen, die arbeiten, werden am härtesten getroffen. Sie sind die Zitronen, die noch stärker ausgepresst werden, als es heute schon der Fall ist. Für eine Durchschnittsfamilie bedeutet das eine Steuererhöhung um 1.000 Euro pro Jahr! Für junge Menschen hat das zur Folge, dass sie während ihrer gesamten zukünftigen Laufbahn ein Jahreseinkommen weniger erhalten, das sie an den Staat abgeben müssen. Höherer Preis Dienstleistungsschecks + Abschaffen Steuervorteil 240 Millionen Euro Harmonisierung der Quellensteuer auf 20 % 1 160 Millionen Euro Einführung einer Mehrwertbesteuerung bei Aktien, die den 1 000 Millionen Euro kleinen Privatanleger treffen Strengere Handhabung der Vorteile bei Firmenwagen 1 200 Millionen Euro Verminderte Abzugsfähigkeit Gruppenversicherung und Bußgeld 150 Millionen Euro bei vorzeitiger Auflösung Steuersenkung niedrige Einkommen ‐500 Millionen Euro Andere (Betrug, große Vermögen usw.) 1 090 Millionen Euro GESAMTBELASTUNG DER ARBEITSBEVÖLKERUNG 4 340 Millionen Euro 2) Wirtschaft und Soziales 4
Soziale und wirtschaftliche Reformen wurden mit viel Tamtam angekündigt. Tatsächlich enthält der EDR‐Bericht nur sehr beschränkte Änderungen der bestehenden Arbeitslosigkeits‐ und Pensionssysteme. Wenn wir das mit den europäischen Empfehlungen vergleichen, dann werden nur zwei der sechs Empfehlungen befolgt. Der Regierungsbildner zeigt sich also sehr skeptisch gegenüber Europa und Belgien isoliert sich immer mehr vom europäischen Mainstream. ARBEITSLOSIGKEIT Es wird von Degressivität des Arbeitslosengelds gesprochen, aber in Wahrheit werden die Zahlungen zuerst steigen, um danach erst sehr langsam zu sinken. Es ist nicht klar, ob jemals ein Zeitpunkt kommt, zu dem das Arbeitslosengeld unter dem heutigen Niveau liegen wird, und wenn ja, wie lange dauert es, bis dieser Zeitpunkt erreicht sein wird. Die Kosten des Systems drohen also weiter zu steigen anstatt abzunehmen. Das Arbeitslosengeld wird auch nicht zeitlich begrenzt. In allen europäischen Ländern wird es zeitlich begrenzt geleistet, meist auf 6 Monate bis zu 2 Jahren. Nach der Finanz‐ und Wirtschaftskrise haben einige Länder diese Zahlungsdauer noch weiter beschränkt, z. B in Dänemark – einem Land mit einem starken Sozialsystem – von 4 auf 2 Jahre. Jetzt ist Belgien also tatsächlich das einzige Land der Welt, in dem man ewig Arbeitslosengeld bekommen kann. Das Wartegeld wird nicht abgeschafft. Es wird also in diesem Land auch weiterhin möglich bleiben, das ganze Leben lang Arbeitslosengeld zu erhalten, ohne jemals auch nur einen Tag gearbeitet zu haben. In diesem Bericht fehlen mit anderen Worten die nötigen Anreize für arbeitsunwillige Arbeitslose, damit sie sich eine passende Stelle suchen. Auch die Auswirkungen der zurückhaltenden Arbeitsmarktreformen auf den Haushalt sind sehr eingeschränkt. Kein anderes europäisches Land gibt derzeit mehr für Arbeitsmarktpolitik aus (u. a. Arbeitslosengeld) als Belgien. Nicht einmal Spanien, wo die 5
Arbeitslosigkeit bei über 20 % liegt. Die Vorschläge des Regierungsbildners werden daran nichts verändern. Arbeitslosenzahl (senkrecht) und Ausgaben Arbeitsmarktpolitik EU‐/OECD‐Länder in % des BIP (waagerecht) LÄNGER ARBEITEN An der Frühpension wird kaum gerüttelt. Auch bei Umstrukturierungen kann man nach wie vor 55‐Jährige in Frühpension schicken und die Kosten auf die Gesellschaft abwälzen. Auch das Anfangsalter der Vorruhestandspension wird nur sehr langsam erhöht. Jedes Jahr steigt das Anfangsalter um zwei Monate. Bei diesem Tempo steigt das tatsächliche Pensionsalter am Ende dieser Legislaturperiode von 60 auf 61 Jahre. Auf diese Weise dauert es 30 Jahre, um das Anfangsalter auf 65 Jahre festzulegen. Im EDR‐Bericht wird vorgeschlagen, ab 2013 das Alter, bis zu dem Arbeitslose für Arbeit zur Verfügung stehen müssen, von 50 Jahren auf 55 Jahre zu erhöhen. Ab 2016 (also in der nächsten Legislaturperiode) erhöht sich dieses Alter auf 58 Jahre. Aber in Flandern wird der VDAB bereits im Jahr 2012 Arbeitssuchende bis 58 Jahre aktiv bei der Arbeitssuche begleiten. BESSERES UNTERNEHMENSKLIMA Der fiktive Zinsabzug wird ungemein hart beschnitten. Ich erinnere mich allerdings daran, dass kürzlich auf der Rundreise von Premierminister Leterme bei amerikanischen Investoren die klare Forderung gestellt wurde, nichts am fiktiven Zinsabzug zu ändern und in unserem Land ein stabiles steuerliches Klima zu schaffen. Wenn diese Reform des fiktiven Zinsabzugs durchgeführt wird, erleidet unsere Glaubwürdigkeit bei ausländischen Investoren einen enormen Gesichtsverlust. Für die KMU werden einige positive Maßnahmen getroffen, aber ihnen stehen auch etliche Steuererhöhungen und zusätzliche Verwaltungskosten gegenüber: die 6
Aushöhlung des fiktiven Zinsabzugs, die Indexierung wird beibehalten und nicht – wie Europa fordert – reformiert, Arbeitgeberbeiträge für Frühpensionen steigen, höhere Quellensteuer, Mehrwertbesteuerung – alles das sind höhere Lasten, die das Beschäftigungsklima verschlechtern. Der Regierungsbildner will 250.000 Stellen schaffen, aber auf diese Weise wird das sicher nicht gelingen. Ferner enthält der Bericht noch eine Reihe ärgerlicher Maßnahmen für Unternehmen: o Ist es Sache des Staates, festzulegen, dass börsennotierte Gesellschaften nur 30 % des Lohns variabel machen dürfen? o Ist es Sache des Staates, festzulegen, dass börsennotierte Gesellschaften den Unterschied zwischen den höchsten und den niedrigsten Löhnen vermindern müssen? o Ist es Sache des Staates, festzulegen, dass Unternehmen bei Massenentlassungen Personen aus jeder Altersgruppe wählen müssen? Etliche schwierige Entscheidungen werden auf die Sozialpartner abgeschoben (seit dem Solidaritätspakt zwischen den Generationen wissen wir, dass dann alles wahrscheinlich beim Alten bleibt): o Evaluation Frühpension o Ausarbeitung eines allgemeinen zweiten Pfeilers und Konsolidierung des ersten Pfeilers o Beschäftigungsplan für ältere Arbeitnehmer o Einführung eines Mechanismus, mit dem die föderal gebliebenen Einstellungsanreize an die tatsächliche Schaffung oder den Erhalt von Arbeitsplätzen gekoppelt werden können o Qualität der Beschäftigung im Zeitarbeitssektor verbessern 3) Finanzierungsgesetz und Steuerautonomie Das von EDR vorgestellte Finanzierungsgesetz enthält sehr wenig Autonomie und Responsabilisierung. Faktisch erhalten die Regionen nicht mehr Autonomie, als die Gemeinden heute bereits haben: Sie können Zu‐ oder Abschlagshunderstel auf die föderale Basis erheben, aber sie haben keine echte Tarifautonomie, denn sie müssen streng innerhalb des bestehenden Progressivitätsrahmens operieren. Abzüge für Personen zu Lasten und Ersatzeinkommen bleiben exklusiv föderal. Eigentlich läuft das auf eine steuerliche Dotation hinaus. Auch die Höhe der Übertragung ist sehr eingeschränkt: nur ein Viertel des heutigen Ertrags der Einkommenssteuer. Es bleibt eine Form von Übersolidarität bei der Finanzierung der Regionen bestehen. Die Verteilung der Mittel entwickelt sich auch langfristig nicht hin zu einer Verteilung gemäß steuerlicher Leistungsfähigkeit, sondern hauptsächlich nach Bedürfnissen und Bevölkerungszahlen. Der neue Solidaritätsmechanismus ist in Zukunft für Wallonien und Brüssel noch vorteiliger als das heutige System. Bei der Finanzierung der Gemeinschaften bezahlt Flandern außerdem einen hohen Preis, weil der Lambermont‐Turbo abgeschafft wird (600 Millionen Euro im Jahr 2030). 7
Kurz: Hiermit führen wir keine Kultur finanzieller Verantwortlichkeit ein, sondern die föderierten Teilgebiete erhalten noch immer unzureichende Anreize, um sich nach der eigenen Decke zu strecken. Der Konsumföderalismus bleibt unverändert bestehen. 4) Staatsreform Was den Arbeitsmarkt angeht, bestätigt der EDR‐Bericht das, was bereits im Vermittlungsversuch von Johan Vande Lanotte und Wouter Beke erreicht wurde: Eine Übertragung vor allem der Zielgruppenkürzungen und der Dienstleistungsschecks im Wert von ungefähr 4,4 Milliarden Euro. Ich höre und lese regelmäßig, dass damit die „komplette“ Arbeitsmarktpolitik übertragen würde. Selbstverständlich ist nichts weniger wahr. Hiermit wird nur ein Drittel des gesamten Arbeitsmarktbudgets übertragen. Von den 10 Milliarden Euro des LfA‐Budgets werden nur 0,5 Milliarden Euro übertragen. Und darin stecken natürlich die wirklich großen Hebel, mit denen sich Politik machen lässt. So werden auch weiterhin die Kriterien komplett föderal festgelegt, was ein passender Arbeitsplatz ist und welche Arbeitssuchenden für Arbeit verfügbar sein müssen. Dass wir diese Zielgruppenkürzungen erhalten, ist schön (siehe frühere Interessenkonflikte), aber es handelt sich nicht um die kopernikanische Wende, die sich die meisten flämischen Parteien wünschen. Was das Gesundheitswesen betrifft, sieht der EDR‐Bericht eine Übertragung von etwa 5 Milliarden Euro an Befugnissen vor, aber sie führt zu einer enormen Zersplitterung, die der Politik nicht zugutekommen wird. Altenpflege VORGESEHEN: Seniorenheime und Ähnliche NICHT VORGESEHEN: Pflege zu Hause ERGEBNIS: Es ist unmöglich eine eigene Politik zu führen, um Menschen, die wollen, so lange wie möglich zu Hause wohnen zu lassen. Behinderte VORGESEHEN: Eingliederungsbeihilfe und Beihilfe für die Unterstützung von Betagten NICHT VORGESEHEN: einkommensersetzende Beihilfe ERGEBNIS: Behinderte müssen sich weiterhin an zwei Behörden wenden, um zu bekommen, worauf sie Recht haben. Medizinische Grundversorgung VORGESEHEN: Praxisunterstützung NICHT VORGESEHEN: Honorare der Pflegeerbringer und ihre Anzahl FOLGE: Die Attraktivität des Hausarztberufs kann nicht verbessert werden und der zukünftige Mangel an Hausärzten wird nicht bekämpft. 8
Die Übertragung des Kindergelds finden wir selbstverständlich positiv, aber weil es in Brüssel an die Gemeinsame Gemeinschaftskommission geht, handelt es sich de facto um eine Regionalisierung. Dasselbe gilt für die Mittel des Gesundheitswesens, die ebenfalls über die Gemeinsame Gemeinschaftskommission nach Brüssel fließen. Justiz und Sicherheit: Die Übertragung des Jugendstrafrechts ist positiv. Die föderierten Teilgebiete können administrative Rechtsprechungsorgane einrichten und erhalten ein positives Erlassrecht auf dem Gebiet ihrer eigenen Befugnisse, aber die Organisation und Funktion des Gerichtswesens wird nicht auf die föderierten Teilgebiete übertragen. Es soll keine Einheitsgerichte geben und auch keine Rationalisierung der Polizeizonen. Alles in allem ein ärmliches Ergebnis. Zusammenfallende Wahlen: Das wendet sich vollkommen gegen die Logik immer autonomer werdender Teilstaaten. Soll in Kürze wieder auf föderaler Ebene entschieden werden, welche flämischen Parteien in der flämischen Regierung sitzen dürfen? Es kommt ein föderaler Wahlkreis, aber ohne die Logik eines solchen föderalen Wahlkreises zu respektieren, nämlich mit einer garantierten Vertretung von Französischsprachigen. Entweder sind wir 10 Millionen Belgier und bilden einen einzigen Wahlkreis oder dieses Land besteht aus einer Flämischen und einer Französischen Gemeinschaft – dann sind das zwei Wahlkreise. 5) Brüssel‐Halle‐Vilvoorde und Brüssel Brüssel‐Halle‐Vilvoorde wird geteilt, aber die Kompensationen gehen viel weiter, als akzeptabel ist. Außerdem wird das Ziel nicht erreicht, die sprachkulturellen Konflikte im flämischen Rand rund um Brüssel dauerhaft zu beenden. Die N‐VA wollte eine definitive Befriedung, aber die wird es jetzt nicht geben. Dieser Bericht löst keine Probleme. Die Ursache von Konflikten bleibt bestehen: o Das Peeters‐Rundschreiben wird nicht im föderalen Recht verankert, im Gegenteil. Anstelle des Staatsrates soll der Verfassungsgerichtshof bei allen Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf die Fazilitätengemeinden zuständig sein. Der Staatsrat stellte sich ausdrücklich hinter die flämische Interpretation des Sprachenrechts. Deshalb wollen die Französischsprachigen die Richter ersetzen, weil sie Urteile fällen, die ihnen nicht gefallen. Man hofft, der Verfassungsgerichtshof würde sich gegen das Peeters‐Rundschreiben aussprechen, was unvermeidlich erneut zu Konflikten führen würde. Diese Regelung löst also keine Probleme, sondern schafft neue. o Auch das Bürgermeisterkarussell wird nicht gelöst, aber die flämische Regierung verliert letztlich die Aufsicht. Der Verfassungsgerichtshof kann künftig Bürgermeister in Randgemeinden gegen den Beschluss der flämischen Regierung ernennen. 9
Brüssel wird mehr und mehr zu einer dritten Gemeinschaft, denn es bekommt jetzt schon die Befugnisse für Tourismus, Berufsausbildung, Sportinfrastruktur, Kindergeld, Gesundheitswesen usw. Alles, was darüber hinaus zu den föderierten Teilgebieten wandert, geht für Brüssel an die Gemeinsame Gemeinschaftskommission. Folge: Flandern hat in Bezug auf Brüssel im Laufe der Zeit immer weniger zu sagen. Die Errichtung einer Metropolgemeinschaft mit der Möglichkeit für Gemeinden, sich daran anzuschließen, macht den Weg für eine künftige Ausbreitung von Brüssel frei. Die Wallonische Region und die Region Brüssel‐Hauptstadt werden auch für den kompletten Ring rund um Brüssel zuständig – zu 90 % flämisches Grundgebiet. Der Octopus‐Bericht dagegen stellt klar: „Die Flämische Regierung weist daher jede Initiative zurück, die sich gegen unsere Forderung wendet, Rücksicht auf den niederländischsprachigen Charakter des Rands rund um Brüssel und die Integrität von Flandern zu üben.“ Zählt man alle Zugeständnisse zusammen, werden die 6 Fazilitätengemeinden de facto von Flandern losgelöst. Die Einwohner können für Brüsseler Kandidaten Stimmen, Gerichtsverhandlungen erfolgen auf Französisch, ebenso alle Kontakte mit den Gemeindeverwaltungen. Die Einwohner werden an nichts mehr erkennen, dass sie in Flandern wohnen. Im Gegenzug dafür, dass Flandern in Brüssel immer weniger zu sagen hat, dürfen wir jedoch immer mehr für dasselbe Brüssel bezahlen. EDR spricht von 461 Millionen Euro, doch des Weiteren werden die 125 Millionen Euro des Beliris‐Fonds definitiv im Besonderen Finanzierungsgesetz verankert, während dafür aktuell jährlich eine politische Zustimmung erfolgen muss. Erhalten wir im Austausch für die gigantische Haushaltserhöhung von Brüssel (auf insgesamt etwa 3 Milliarden Euro) eine bessere Verwaltung, zum Beispiel eine Integration der 6 Polizeizonen? Keinesfalls. Erhalten wir eine bessere Einhaltung des Sprachenrechts in Brüssel? Im Gegenteil, das Sprachenrecht wird weiter abgeschwächt. Wir erhalten eine Zweisprachigkeit des Dienstes anstelle des Beamten. Und auch dann gibt es keinerlei Garantie, dass sogar dieses abgeschwächte Sprachrecht befolgt wird. Es kommen sogar einsprachige gemeindliche Dienste und Vertragsbedienstete (heute in vielen Gemeinden die Hälfte aller Neueinstellungen) werden vollkommen von jeder Kenntnis des Niederländischen freigestellt. Der Octopus‐Bericht dagegen stellt klar: „Eine noch weiter gehende Flexibilisierung des Sprachenrechts in Brüssel lehnen wir daher entschieden ab.“ Als Krönung des Ganzen werden die zweisprachigen Listen in Brüssel dafür sorgen, dass künftig die Französischsprachigen bestimmen können, welche Flamen einen (schönen) Platz auf der Liste bekommen werden. Anders ausgedrückt müssen flämische Kandidaten sich fügen. SCHLUSSBEMERKUNG Sie werden sich vielleicht fragen: „Ist die N‐VA nicht zu kritisch? Wäre es nicht besser, sich an einen Tisch zu setzen und diese Kritikpunkte bei Verhandlungen anzusprechen?“ Wir denken, dass es nicht so ist. Wer den Bericht des Regierungsbildners als Ausgangsbasis akzeptiert, kann nicht zu einem 10
ehrenhaften Kompromiss gelangen. Und diese Einschätzung beruht noch nicht einmal auf dem N‐VA‐ Programm. Ich stelle fest, dass der Octopus‐Bericht, über den sich so gut wie alle flämischen Parteien einig sind, in seiner Substanz nur zu einem Drittel umgesetzt wurde. Und außerdem wurde gegen etliche seiner Passagen verstoßen, zum Beispiel in Bezug auf Brüssel. Ich stelle fest, dass den europäischen Empfehlungen für eine Reform unserer sozialen und wirtschaftlichen Struktur überhaupt nicht oder kaum entsprochen wird. Ich stelle fest, dass dieser Bericht auf Gemeinschaftsebene schlechter ist, als der Bericht von Johan Vande Lanotte. Was wir damals an diesem Bericht gut fanden, ist jetzt oftmals verwässert. Was wir damals nicht gut fanden, ist jetzt oftmals noch um Einiges schlechter geworden. Und es ist kaum etwas zum Ausgleich dafür hinzugekommen. Es wäre besonders inkonsequent, würden wir heute Ja sagen, während wir damals Nein gesagt haben. „Wir sind der Ansicht, dass es ehrlicher ist, deutlich Nein zu diesem Bericht zu sagen, als ein taktisches Ja auszusprechen, um dann in Verhandlungen zu gehen, die dann mit Sicherheit scheitern werden.“ Wer braucht nach einem Jahr noch ellenlange Verhandlungen ohne Chance auf Erfolg? Lassen Sie mich eines sehr deutlich sagen: Die N‐VA bleibt verfügbar, um zu versuchen, eine Regierung zu bilden, aber nur, wenn unseren grundsätzlichen Bedenken umfassend Rechnung getragen wird. Ich überlasse es der Einschätzung des Regierungsbildners, ob er das für möglich hält oder nicht. Ich glaube nicht an das Projekt des Regierungsbildners. Es ist ein schlechtes Geschäft für alle Einwohner dieses Landes. Und es ist ein ganz besonders schlechtes Geschäft für die Flamen. Denn vor allem wir werden die Rechnung präsentiert bekommen. In meinem politischen Handeln richte ich mich jedoch nach einer Goldenen Regel: Wenn ich mich selbst nicht davon überzeugen kann, dass etwas gut ist, dann kann ich auch niemand anderen davon überzeugen. „Dieser Text wurde von einem externen Übersetzungsbüro sorgfältig aus dem Niederländischen übersetzt. Der Autor des niederländischen Ausgangstexts ist nicht für eventuelle Fehler oder unterschiedliche Nuancen im übersetzten Text verantwortlich. Wenn die Bedeutung des übersetzten Texts vom Ausgangstext abweicht, dann enthält der Ausgangstext die korrekte Information.“ 11
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