Heßler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.): Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden 2020, 592 Seiten

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Heßler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.):
Technikanthropologie. Handbuch für
Wissenschaft und Studium,
Baden-Baden 2020, 592 Seiten

Nadine Mooren und Christian Bauer

Was wären die Menschen ohne ihre Werkzeuge? Was erzählen die unterschied-
lichen Werkzeuge, technisch gestützten Praktiken (alias: Kulturtechniken) und
extensions des Menschen ins Unabsehbare über die menschliche Lebensform?
Und wie verändert sich das menschliche Selbstverständnis unter dem Eindruck
der zunehmenden Durchdringung und Gestaltung des Lebens durch Technik? Dies
sind Fragen, die sich – wie öffentliche Diskurse über ‚autonomes Fahren‘, digita-
les Lernen oder den Fluch und Segen von Smartphones, Apps und Smartwatches
zeigen − offenkundig nicht erst im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchun-
gen des Mensch-Technik-Verhältnisses stellen. Mithin bieten Kunst und Literatur
einen reichen Fundus an menschlichen Selbstentwürfen, Techno-Utopien und
Science Fiction, in denen mal realistischere, mal spekulativere Szenarien des
Menschseins durchgespielt werden.
    Zu den eindrücklichsten Beispielen der Filmgeschichte gehört sicherlich eine
der Schlüsselszenen aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker 2001: Odys-
see im Weltraum (vgl. dazu den Artikel Science Fiction von Thomas Walach), in
der ein unerwarteter Akt der Selbst-Initiation dargestellt wird. Eine Gruppe von
Hominiden streift durch die Ursavanne. Ein Hominide ergreift den Knochen eines
Landtiers und trommelt damit zunächst ziel- und planlos auf der Erde herum. Fast
möchte man meinen, der Hominide spiele. Als eine andere,Urhorde‘ auftaucht

N. Mooren (B)
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster, Deutschland
E-Mail: nadine.mooren@uni-muenster.de
C. Bauer
Lehrgebiet Designtheorie und Designgeschichte, Hochschule der Bildenden Künste Saar,
Saarbrücken, Deutschland
E-Mail: c.bauer@hbksaar.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021              243
G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdiszipli-
näre Anthropologie,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-34029-2_14
244                                                          N. Mooren und C. Bauer

und um den Zugang zu einem Wasserloch konkurriert, eskaliert die Situation. Es
kommt zum Austausch aggressiver Gesten. Unter dem Eindruck der Bedrohung
erhebt der Affenmensch den Knochen, mit dem er soeben noch gespielt hat und
in diesem Moment begreifen die Zuschauer, dass sie nicht nur den womöglich
ersten Hammer der Evolution erblicken, sondern auch das erste Mordinstrument.
Was die Szene ebenfalls bedeuten könnte ist: Dieses Lebewesen erkennt sich erst-
malig kraft seines Werkzeugs als ein eigenmächtiges und selbstbestimmtes Wesen.
Kubricks cineastische Form einer „primatologischen Archäologie“ (S. 227) ver-
anschaulicht damit Walach zufolge zugleich, was Philosophen wie Ernst Cassirer
bewegte, wenn sie nach der „menschheits- und kulturhistorischen Bedeutung des
Werkzeuggebrauchs“ (S. 146) fragten. Die elementarsten Formen des Werkzeug-
gebrauchs fungieren darin als Wendepunkt zu einem neuen Wirklichkeits- und
Selbstverhältnis. Technik ermögliche so nach Cassirer einen „erste[n] Gewinn
von Objektivität, zugleich die erste Initiation in die Medialität, ein[en] […] Ent-
wicklungsschub zur Ausprägung von Distanz gegenüber den Eindrücken durch
Reflexion auf die Mittelbarkeit allen Tuns“ (S. 147).
    Nachdem der Fachdiskurs über Technik viele Jahre lang von der Technikso-
ziologie, Technikethik und Technikfolgenabschätzung dominiert wurde, scheint
die Zeit reif zu sein für eine Erweiterung des Diskurses, die der zentralen Rolle
des menschlichen Selbstverständnisses unter dem Eindruck einer technisierten
Lebenswelt Rechnung zu tragen versucht. Die Forschungslücke, die es hier zu
füllen gilt, haben die Herausgeber des vorliegenden Bandes, Martina Heßler
und Kevin Liggieri, mit dem Stichwort „Technikanthropologie“ markiert. „Offen-
sichtlich berühren die jüngsten technologischen Entwicklungen das menschliche
Selbstverständnis“ (S. 11), stellen die Herausgeber in ihrer Einleitung mit dem
Titel Technikanthropologie im digitalen Zeitalter als eine generelle Diagnose her-
aus, was fast schon etwas zu zaghaft formuliert ist. Denn immerhin gehe es,
wie sie selbst schreiben, um „Vorstellungen über menschliche, soziale Bezie-
hungen, über die Position des Menschen in der Arbeitswelt oder die Frage,
ob Menschen rein quantitativ zu beschreiben seien, wie es mit neuen Selbst-
vermessungstechniken geschieht, bis hin zur Frage, wie weit eine technische
Verbesserung der Menschen gehen soll und darf.“ (S. 11 f.) Während Techni-
kethik im heutigen akademischen Verständnis einen „Teilbereich Angewandter
Ethik“ (oder auch eine sogenannten Bereichsethik) ausmacht und vor allem
zur „normative[n] Orientierung in Kontroversen und Debatten um Technik“ (S.
69) diene, setze die Technikanthropologie auf einer methodisch vorgeordneten
Ebene an. „Technikanthropologie“ könne dann verstanden werden als diejenige
wissenschaftliche Disziplin, die vor allem mit ethischen Fragen versucht, „tief-
greifende Verschiebungen in Mensch-/Technik-Verhältnissen“ selbst zum Thema
Heßler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.): Technikanthropologie …                245

zu machen und – wie Armin Grunwald im Beitrag über Ethik und Technik
formuliert – „hermeneutisch“ aufzuklären (S. 89).
    In ihrer Einleitung spannen die Herausgeber die gegenwärtige Diskussion
über die Folgen technologischer Entwicklungen als eine Auseinandersetzung zwi-
schen den beiden Extrempolen eines humanistischen und transhumanistischen
Standpunktes auf: Die sogenannten Posthumanisten wollen die Fortschritte in
Medizin, Technologie und Wissenschaft in den Dienst einer ‚Verbesserung‘ des
Menschen stellen und sehen in menschlicher Bedürftigkeit, Leidensträchtigkeit,
Anfälligkeit für Krankheiten und menschlicher Sterblichkeit lediglich Begren-
zungen, die zu überwinden sind. Dagegen positionieren sich auf der anderen
Seite Autoren, die − angetrieben von einem humanistischen Impetus − nicht
nur davor warnen, dass die Kategorie des „Menschen“ aus dem wissenschaft-
lichen Theorierepertoire verschwindet, sondern technologische Entwicklungen
auch mit Blick auf mögliche bzw. bereits existierende „Enthumanisierungsten-
denzen“ (S. 11) befragen und kritisieren wollen. Während das humanistische
Lager das Betreiben von anthropologischen Untersuchungen und Bestimmungen
der conditio humana für ein unhintergehbares Projekt ansieht, erklärt das trans-
humanistische Lager die traditionelle Disziplin der Anthropologie für tendenziell
überflüssig, weil sie Eigenschaften als menschliche Wesensmerkmale deklariere,
die ohnehin zu überwinden seien und den Menschen auf eine fragwürdige Art und
Weise ins Zentrum alles Seienden stelle. In der Einleitung geht es den Herausge-
bern darum, „einen sich erst langsam entwickelnden Problematisierungsdiskurs“
(S. 14) nachzuzeichnen, dessen Beginn sie in der Frühen Neuzeit bei René
Descartes‘ anthropologisch motivierten Überlegungen zum „Differenz-Problem
zwischen Mensch, Tier und Maschine“ (S. 13) ansetzen. Neben einer „Kartie-
rung“ (S. 13) unterschiedlicher technikanthropologischer Ansätze, schlagen die
Herausgeber zudem mit dem Projekt der „Historischen Technikanthropologie“
einen eigenen technikanthropologischen Ansatz vor (vgl. S. 19–24).
    Das Handbuch gliedert sich nach der Einleitung der Herausgeber in acht
Kapitel und versammelt Beiträge vieler namhafter Autoren. Das erste Kapitel
enthält grundlegende Erläuterungen zu den Stichworten Philosophische Anthropo-
logie, Humanismus, Antihumanismus, Posthumanismus, Ethik und Technik sowie
Science Fiction. Im zweiten Kapitel finden sich insgesamt 16 Artikel, in denen
die Überlegungen von Erkenntnistheoretikern (Descartes), klassischen philoso-
phischen Anthropologen (Arnold Gehlen und Helmuth Plessner), Technikphilo-
sophen (Ernst Kapp, Ernst Cassirer), Technikkritikern (Martin Heidegger und
Günther Anders), Medienanthropologen (Marshall McLuhan), aber auch neuere
Beiträge zur Technikforschung, etwa von Donna Haraway und Lucy Suchman
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als Beiträge zur Technikanthropologie rezipiert und dargestellt werden. Leserin-
nen und Leser finden hier übersichtlich aufgebaute Einzelporträts einschlägiger
Autoren, die durch das Interesse an der wechselvollen Dynamik des Mensch-
Technik-Verhältnisses in einen gemeinsamen problemgeschichtlichen Kontext
eingerückt werden. Man vermisst hier allerdings eine Einzelstudie zu Vilém
Flusser, der zu Unrecht zumeist lediglich als Medien- und Kommunikationswis-
senschaftler rezipiert wurde und ein großes, noch unausgeschöpftes Reservoir an
technikanthropologischen Überlegungen zu bieten hat. Seine eigenwilligen phä-
nomengesättigten Studien zur durch Technik vermittelten Wahrnehmung, zum
dialektischen Verhältnis von Technik und Haptik (vor allem zum Tasten), seine
Texte zu Dingen und Nichtdingen und vor allem die Theorie der „Menschwer-
dung“ in seinem Werk Vom Subjekt zum Projekt,1 in welcher der Mensch selbst
als „Projekt“ aufgefasst wird, drängen den Gedanken auf, dass Anthropologie
eigentlich nur als Technikanthropologie denkbar ist, weil „wir uns Abwesenheit
von Technik nicht einmal vorstellen können […]. Technik und Menschen schei-
nen einander gegenseitig zu implizieren“.2 Im Handbuch taucht Flusser leider nur
am Rande in anderen, systematisch orientierten Artikeln auf, etwa in einer Sei-
tenbemerkung des Artikels Mensch von Matthias Herrgen, in der es kurz, aber
treffend heißt, dass Flusser „den Menschen nicht mehr als Subjekt [beschreibt],
sondern […] als (technisches) Projekt frei[gibt]“ (S. 229) − eine Bemerkung, die
auf einen ausführlichen Flusser-Artikel in einer erweiterten Folgeauflage hoffen
lässt.
    Das dritte und vierte Kapitel informieren über zentrale Konzepte techni-
kanthropologischen Denkens, wie Mensch, Anthropozentrismus, Anthropozän,
Automaten, Maschinen etc. sowie über technisierte Konzepte des Menschen vom
Homo Faber bis zu Cyborgs und Mensch-Maschine-Welten (S. 319), die eine
Vielzahl an künftig noch zu bearbeitenden Problemfeldern sichtbar machen, zu
denen ethische Fragen der Zuschreibung von Verantwortlichkeit genauso gehören,
wie definitorisch-semantische Fragen etwa nach der Bedeutung von „Autonomie“
und „Entscheidung“, die angesichts der Rede von ‚autonom entscheidenden und
agierenden Systemen‘ eine echte Herausforderung darstellen (vgl. S. 314 und S.
321). Das fünfte Kapitel Technisierte MenschenModelle in den Wissenschaften
verdeutlicht die interdisziplinäre Ausrichtung des Projekts „Technikanthropolo-
gie“ und legt die (mehr oder weniger impliziten) Menschenbilder von Disziplinen
wie der Kybernetik, der Künstlichen Intelligenz und Arbeitswissenschaft, aber
auch den Ingenieur- und Sozialwissenschaften sowie der Medizin, Psychiatrie,

1   Flusser 1994.
2   Flusser 1994, S. 136.
Heßler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.): Technikanthropologie …                247

Physiologie und Genetik offen. Die Kapitel 6 bis 8 schließlich handeln von
technisierten Praktiken: Sie setzen Schwerpunkte im Bereich von Vermessungs-
und Körpertechniken (Kap. 6), von sozialen Praktiken, die in einem weiter
gefassten Sinne als technik-gestützt gelten können (Kapitel 7) und technisierter
Wahrnehmung (Kapitel 8). Die letzten beiden Kapitel muten mit Artikeln zu
Stichworten wie Arbeit/en, Spiel/en, Lieben oder auch Fühlen/Tasten vom For-
schungszuschnitt regelrecht flusserianisch an und verstärken nur die Vermutung,
dass eine detaillierte Beschäftigung mit Flusser für die weitere Ausarbeitung der
technikanthropologischen Forschung lehrreich, wenn nicht gar unabdingbar sein
könnte.
   Wie bereits angedeutet, kennzeichnet es den Anspruch, den die Herausge-
ber mit dem vorgelegte Handbuch verfolgen, nicht nur eine Übersicht über
zentrale Konzepte und mögliche Theoriemodelle zu bieten, sondern zugleich
die Grundzüge und die grundlegende Ausrichtung eines eigenen systematischen
Programms – eine „historisch orientierte Technikanthropologie“ (S. 19) − aus-
weisen zu wollen, „die auch dieses Handbuch angeleitet haben“ (S. 19). Die
historisch ausgerichtete Technikanthropologie gehe, so wie Heßler und Liggieri
in der Einleitung des Handbuchs schreiben, „von einer historischen Variabilität
der Menschen jenseits ontologischer und universalistischer Feststellungen“ (S.
21) aus. „Was jeweils als menschlich gilt, wird stets neu verhandelt.“ (ebd.)
Ebendies zu untersuchen, soll eine der „Prämissen“ des Projekts sein, das die
Herausgeber auch über die Grenzen des Handbuchs hinaus beforschen.3 Was
das generelle methodische Selbstverständnis dieses Projekts betrifft, so lassen
sich Verwandtschaften zur Paragrana, der Internationalen Zeitschrift für His-
torische Anthropologie entdecken, deren Herausgeber den programmatischen
Anspruch verfolgen, „nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthro-
pologischen Norm weiterhin Phänomene und Strukturen des Menschlichen im
Spannungsfeld zwischen Geschichte, Humanwissenschaft und Anthropologie-
Kritik zu erforschen und für neuartige paradigmatische Fragestellungen fruchtbar
zu machen“.4 Das Alleinstellungsmerkmal des Handbuchs Technikanthropolo-
gie ist demgegenüber ohne Frage der durchgängige Fokus, der auf die soziale
Rolle, die Funktion und den herausragenden kulturellen Stellenwert von Tech-
nik gelegt wird. Der Befund, dass der Mensch jenes Wesen sei, das durch
Technik auf sich selbst formend einzuwirken verstehe, ist dabei kein rein tech-
nikphilosophischer. Es ist das große Verdienst dieses Bandes, die Pluralität der
Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen und die je eigenen Schlüsse,

3   Vgl. etwa Heßler 2019.
4   Kamper/Ternes 1999, S. 4.
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die Vertreter der Kybernetik, AI-Forschung, Ingenieurwissenschaften, Arbeits-
wissenschaften, Sozialwissenschaften, Medienwissenschaften, Technikgeschichte,
Medizin, Psychiatrie, Physiologie und Genetik daraus ziehen, zur Sprache zu brin-
gen. Auf diese Weise wird nicht nur ein ungemein breites Spektrum an Modellen
des technikanthropologischen Diskurses sichtbar, sondern auch auf empirischer
Grundlage die Unmöglichkeit demonstriert, dass Menschen jene Wesen sind, die
nicht nicht auf sich selbst einwirken können. Das für Studierende dieser Fächer
inspirierende Moment dürfte sein, die eigene Disziplin in einem interdisziplinären
Kontext reflektiert zu sehen.
    Was bedeutet es mit Blick auf den philosophischen Anteil der Technikanthro-
pologie, das „[w]as jeweils als menschlich gilt, […] stets neu [zu] verhandel[n]“
(S. 21)? Die Historische Technikanthropologie frage, so heißt es an einer anderen
Stelle auch, „nach der sich historisch wandelnden conditio humana“ (S. 19). Was
bedeutet es für die inhaltliche Bestimmung der conditio humana, wenn gesagt
wird, dass diese sich historisch im steten Wandel befinde? Benötigt man nicht die
conditio humana als eine stabile und Kontinuität gewährende Größe, wenn man
Technikanthropologie betreiben will, weil man mit ihr den Gegenstandsbereich
absteckt, den man zu erforschen gedenkt? Kann es wirklich die conditio humana
selbst sein, die sich wandelt? Hören nicht diejenigen, welche die conditio humana
hinter sich lassen wollen, auch auf, Anthropologie zu treiben?
    Von einer conditio humana zu sprechen, setzt voraus, dass man bestimmte
Erfahrungen ansetzt, die für menschliche Erfahrungen und Lebensvollzüge über-
haupt kennzeichnend sein sollen und in diesem Sinne mit Blick auf das
Menschsein unhintergehbar sind. Zu solchen konstitutiv menschlichen Erfah-
rungen gehört, dass Menschen altern, dass sie vulnerable Wesen sind, dass sie
sterblich sind und dass sie wissen, dass sie eines Tages sterben werden. Solche
Erfahrungen als Teil der conditio humana zu veranschlagen, bedeutet – anders als
Heßler und Liggieri anzunehmen scheinen – nicht, dass man den Wandel techno-
kultureller Rahmenbedingungen leugnet. Die eigene Sterblichkeit wird heute, in
einer Zeit, in der es Patientenverfügungen und umfassende medizinische Versor-
gungsmöglichkeiten gibt, sicherlich anders erfahren als vor 500 Jahren, als es
all dies noch nicht gab. Obwohl sich die techno-kulturellen Rahmenbedingun-
gen verändert haben, ist die Sterblichkeit unverändert Teil der conditio humana.
Die historische Variablität, die Heßler und Liggieri zu Recht betonen, ist die,
die es heute – bedingt durch Fortschritte in Medizin, Wissenschaft und Technik
– etwa ermöglicht, (früher unheilbare) Krankheiten zu kurieren, das Altern zu ver-
langsamen und dazu geführt hat, dass die menschliche Lebenserwartung deutlich
gestiegen ist. Dies hat jedoch nichts daran geändert, dass Menschen weiterhin
altern, krank werden, leiden können und eines Tages sterben. Die gehaltvolle
Heßler, Martina/Liggieri, Kevin (Hg.): Technikanthropologie …               249

Rede von einer conditio humana hängt an solchen stabilen Grundparametern des
Menschseins. Demgegenüber zeichnen sich transhumanistische Projekte dadurch
aus, solche konstitutiv menschlichen Erfahrungen als bloß kontingente Erfahrun-
gen anzusehen und überwinden zu wollen. Transhumanisten wollen aber nach
eigener Auskunft auch keine Anthropologie mehr betreiben (vgl. dazu etwa den
Artikel von Janina Loh, Transhumanismus und technologischer Posthumanismus,
S. 277 ff.). Sie sind insofern nur konsequent in der Annahme, dass die Wesen,
welche die conditio humana hinter sich gelassen hätten, auch keine Menschen
mehr wären. Die Aufgabe für die Historische Technikanthropologie besteht darin,
ihr Projekt so zu definieren, dass man eindeutig unterscheiden kann zwischen
dem Studium der conditio humana einschließlich des historischen Wandels der
damit bezeichneten menschlichen Erfahrungen und einem transhumanistischen
Projekt, das gerade kein anthropologisches Projekt mehr ist, weil es als externe
Kritik der conditio humana diese als lediglich kontingenten Bezugsrahmen hinter
sich zurückgelassen hat und damit unseres Erachtens den Rahmen eines anthro-
pologischen Projekts insgesamt in Frage zu stellen trachtet. Die Abwehr der
Herausgeber, bestimmte Aspekte des Menschseins (z. B. auch dessen Fehler-
haftigkeit) als anthropologische Konstanten anzuerkennen, droht jedoch zuweilen
genau diese Unterscheidung zu unterwandern (vgl. dazu auch S. 303). Historizität
aber ist mit der Annahme einer anthropologischen Konstante sehr wohl vereinbar.
    Die künftige Fortentwicklung des technikanthropologischen Diskurses ist
wichtig und wünschenswert. Aufgrund der genannten methodischen Unschärfen
sollte dabei vor allem die anthropologische Dimension des Projekts eingehendere
Beachtung finden und seine Positionierung zwischen traditioneller ‚anthropozen-
tristischer‘ Anthropologie und Transhumanismus klarer gefasst werden.
    Die Rezensentin und der Rezensent wünschen diesem überaus lehrreichen
und verdienstvollen Handbuch, dass viele deutschsprachige Bibliotheken den
Band einer breiten studentischen Leserschaft zur Verfügung stellen. Vielleicht
ergibt sich ja dann bald die Chance, in einer ergänzten zweiten Auflage noch
einige Theoriepositionen zu stärken, die mit dem bereits erwähnten Vilém Flus-
ser zusammenhängen. Im anthropotechnischen Kontext wären darüber hinaus die
Arbeiten von Peter Sloterdijk und auch des jüngst verstorbenen Bernard Stieg-
ler zur Geltung zu bringen. Eine sachgemäße Würdigung käme nicht umhin,
gerade diese Autoren als Gewährsleute einer technotheologischen Lesart des
Problemzusammenhangs Mensch-Maschine zu interpretieren. Wenn die „his-
torische Perspektive“, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung schreiben, „in
Phasen beschleunigter technologischer Entwicklung und angesichts diagnostizier-
ter Wandlungsprozesse des Humanum von hoher Relevanz [ist], gerade wenn es
um das Verständnis der Gegenwart und um Zukunftsentwürfe geht“ (S. 19), dann
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muss es auch darum gehen, zu zeigen, dass viele wichtige Leitbegriffe nicht
nur ursprünglich einem theologischen Kontext entstammen, sondern bis heute
von diesem Kontext zehren. Das gilt für Gedanken der Optimierung und Per-
fektionierung des Menschen wie auch für die Rede von seiner Fehlerhaftigkeit
und Fehlbarkeit. Nicht zuletzt sollte die Untersuchung theologischer (und hier
v.a. gnostischer) Motive ihren Platz im Rahmen einer hermeneutisch-kritischen
Untersuchung transhumanistischer Visionen einer ‚Verbesserung‘ und ‚Überwin-
dung‘ des Menschen haben. In diesem Sinne ist zu wünschen, dass der mit
dem Handbuch angestoßene technikanthropologische Diskurs auch dazu beiträgt,
den Sinn und Unsinn transhumanistischer Projekte kritischer zu befragen. Bei
aller transhumanistischer Zukunftsspekulation ist nicht zu vergessen, dass anthro-
pologische Bemühungen kein Luxus sind, sondern wie Odo Marquard einmal
festhielt, als kompensatorische Leistung entstanden, um „jenes am Menschen
geltend [zu] machen, was die traditionell etablierten Altphilosophien nicht oder
nicht mehr zureichend auszusagen vermochten“.5 Erfahrungen der „Bedürftig-
keit“, der „Störanfälligkeit“ und der „Sterblichkeit“ sind konstitutiv menschliche
Erfahrungen und „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“ überhaupt, wie
der Technikphilosoph und Ethiker Carl Friedrich Gethmann zu verstehen gibt,
um damit anzudeuten, dass die „historisch-kulturelle Variabilität dieser Erfahrun-
gen“ keineswegs ausschließt, dass es sich um Erfahrungen der conditio humana
handelt.6

Literatur

Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, herausgegeben von Stefan
   Bollmann und Edith Flusser, Bensheim und Düsseldorf 1994.
Gethmann, Carl F.: Person und Kontingenz, in: Der Begriff der Person in systematischer
   und historischer Perspektive. Ein deutsch-japanischer Dialog, herausgegeben von Michael
   Quante et al., Paderborn 2020, S. 131-–44.
Heßler, Martina: Menschen – Maschinen – MenschMaschinen in Zeit und Raum. Perspekti-
   ven einer Historischen Technikanthropologie, in: Provokationen der Technikgeschichte,
   herausgegeben von Martina Heßler und Heike Weber, Paderborn 2019, S. 35–68.
Kamper, Dietmar/Ternes, Bernd (Hg.): Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische
   Anthropologie 8 (1999), Heft 2.
Marquard, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18.
   Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 2010, S. 39–67.

5   Marquard 2010, S. 40.
6   Gethmann 2020, S. 138.
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