Vergessene Vulnerabilität - Anthropologie der Verletzbarkeit
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heilpaedagogik.de 3 2021 Online-Inhalte | Vergessene Vulnerabilität Konrad Bundschuh Vergessene Vulnerabilität – Anthropologie der Verletzbarkeit Die Coronapandemie rückt die Frage der Verletzbarkeit nicht oder nicht mehr wahrnehmen wollten, gerade- des Menschen in den Vordergrund täglichen Denkens, zu verdrängten. Wir leben in einer Zeit der qualita- Fühlens und Handelns. Ständig werden wir sowohl tiven und quantitativen „Optimierungssucht“. In den durch die Medien als auch durch persönliche Begeg- Schlagworten „höher, schneller, weiter, besser“, drückt nungen, durch digitale und sonstige Kommunikation sich dies aus. Dabei gehen wir zweifellos mit einer ge- mit dieser Problematik tangiert. Hatten wir auch im wissen Wahrscheinlichkeit der Situation des Behindert Zusammenhang mit einem Perfektions- und Mach- Seins mit zunehmendem Alter entgegen. „Normalbio- barkeitsdenken sowie einer häufig vorherrschenden graphie“ kann sich auch angesichts der Coronapande- Optimierungssucht Vulnerabilität verdrängt? mie schnell aufgrund von Erfahrungen, Informationen Vom pränatalen Stadium bis zum Tod erweist sich der und eigener Betroffenheit in eine „Bruchbiographie“ Mensch als in unkalkulierbarem Maße bedroht, phy- wandeln. Manchmal leben wir in der Gegenwart mit sisch, mental und psychisch verletzbar. Das Streben dem Gefühl, uns in einer Art „Drahtseilbiographie“ zu des Menschen zielt zwar in immer stärkerem Maße bewegen. Dies alles belastet uns Menschen. Wie ge- nach Sicherheit, Strukturierung und auch Berechen- hen wir damit um? barkeit etwa in den Bereichen Gesundheit, Finanzen, Etwa 35 % aller Menschen über 65 Jahren gelten als Wohnen, Politik, Frieden, gleichzeitig werden aber mittel bis schwer behindert, bedürfen permanenter Unsicherheiten, Ängste bis zur Verzweiflung gerade in Unterstützung, ja teilweise der Pflege. der heutigen Zeit transparent wie selten zuvor. Sowohl aus der Situation von einer Behinderung be- Obgleich wir die Probleme an sich „im Griff“ zu ha- troffener Kinder, Jugendlicher und Erwachsener als ben scheinen, erweisen sich sowohl Fragen zu Aids, auch aus der Erkenntnis der Vulnerabilität während zu Krankheiten wie Krebs, Kreislauf- und Herzinsuffi- der gesamten Lebensspanne betrachtet, bedarf die zienzen, ja zu bestimmten Formen von Grippeerkran- Problematik Krankheit und Bedroht-Sein von einer kungen, Corona, die Beschäftigungssituation der Men- Krankheit einer neuen Reflexion, Betrachtung und schen, Armut, Ernährung der Weltbevölkerung, Orkane, Bewertung. Hochwasserkatastrophen bis hin zu den Finanzmärk- Jeder Mensch ist in jeder Sekunde seines Lebens von ten als auch die Fragen nach der Zukunft nicht nur Krankheit, Behinderung, ja vom Tode bedroht. Erst herausfordernd, sondern geradezu als bedrohlich. Im recht wissen wir noch viel zu wenig über das wirkliche Zusammenhang mit Vermehrung und Ernährung der Leben, über die Lebenswirklichkeit und Lebensquali- Weltbevölkerung, Weltproblemen, Umweltverschmut- tät von Menschen mit einer – schweren – Erkrankung zung, Bildungs- und Erziehungsfragen, Behinderun- oder Behinderung, über deren subjektives Empfinden, gen, Globalisierung, Atomindustrie und atomarer Be- über ihre wirklichen geistigen, emotionalen und sozi- waffnung fühlen wir uns fast schon ohnmächtig. alen Prozesse, über die Art und Weise, wie sie ihr ei- Das Streben nach Sicherheit und Funktionieren ist in genes Leben empfinden, wahrnehmen und meistern. der Vergangenheit so dominant geworden, dass die Erst jetzt beginnen WissenschaftlerInnen mehr oder meisten Menschen Vulnerabilität menschlichen Seins weniger systematisch mit der Erforschung der subjek-
heilpaedagogik.de 3 2021 Online-Inhalte | Vergessene Vulnerabilität tiven Befindlichkeit von Krankheit und Behinderung Wegen, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in betroffener Menschen. Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig ab- Wir Menschen existieren und als solche sind wir viel- brechen (vgl. Bundschuh 2010, 19–32). seitig, ja in unkalkulierbarer Weise in mehr oder we- Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische niger hohem Maße im körperlichen, geistigen, emo- Sinnorientierung (Palfi-Springer 2019) von Kindern tionalen und auch sozialen Bereich verletzbar oder und Jugendlichen, die in vor-, außer- und nachschu- vulnerabel. Diese Erkenntnis dürfen wir nicht aus lischen Handlungsfeldern aufgrund von Behinderung, unserem Bewusstsein verdrängen, vielmehr sollte sie Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und auch in den Wissenschaftsbereichen Medizin, Psycho- Druck in eine Problemsituation geraten sind. logie, Anthropologie, Theologie, Heilpädagogik etc. Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Ge- eine größere Rolle spielen. schichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein Im Zusammenhang mit Corona gibt es Anzeichen da- behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes für, dass Vulnerabilität auch zu einem neuen Verste- in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen hen von Menschen führen, Impulse zu mehr Hilfsbe- Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmensch- reitschaft, sozialer Fürsorge, gegenseitiger Achtung, licher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und Respektierung des Soseins anderer, Achtung der Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und sei- Menschenwürde, speziell auch zu einem neuen Ver- ne Realisierung in der dialogisch-helfenden Bezie- stehen von Menschen mit einer Krankheit und einer hungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi 2010). Im Behinderung freisetzen kann, weil wir uns über un- Kontext Heilpädagogik handelt es sich um eine ver- ser Bewusstsein, d. h. gedanklich in der heutigen Zeit stehende Haltung und Erziehung, die auf der Basis doch stärker mit dem Phänomen Vulnerabilität aus- von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in qualitativer, einandersetzen und auch als möglichen Bestandteil, teilweise auch in quantitativer Hinsicht bedeuten. als wahrscheinliche Situation unseres eigenen Lebens Darüber hinaus zeichnet Heilpädagogen und Heilpäd- betrachten müssen. Vulnerabilität gehört im Zusam- agoginnen eine innere Haltung aus, die das Tun und menhang mit der Erkenntnis der Verletzbarkeit des Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Menschen und der prinzipiellen Bedrohung zu einem Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff immanenten Bestandteil unseres Lebens. Dies mag Heilpädagogik wird hier auch verwendet im Sinne von zunächst zur existentiellen Verunsicherung führen, ,,kinderorientierter Pädagogik”. Dazu gehört ein Men- kommt aber der Wahrheit näher als das Denken in schenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Ein- vermeintlichen Sicherheiten, wie sie die Werbung und zigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine der Perfektionsgedanke suggerieren. In diesem Kon- pädagogisch-philosophische Orientierung, die, aus- text ist Leben im Sinne von Hineinfinden in die eigene gehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten Menschlichkeit und des Erlebens und Erfahrens von sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes, vor Grenzen, die freilich auch teilweise überwunden und allem auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotio- erweitert werden können, notwendig. nen, Ressourcen, Kompetenzen unterstützt sowie för- Das Heil im Hedonismus und auch im Pluralismus zu dert und nicht – nur – Anpassungsverhalten. Es geht suchen, wäre fatal und gefährlich. Dies könnte alles dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Men- und nichts bedeuten, also brauchen wir neue Zielvor- schenbild, wie es z. B. Religionen, staatliche Systeme, stellungen darüber, wie wir als mögliche und tatsäch- vielleicht auch manche LehrerInnen an Gymnasien lich Betroffene mit der Vorstellung und Erfahrung von vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kin- Krankheiten sowie Behinderungen und Bedrohungen des kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin bzw. an sich umgehen, vielleicht auch diese Situationen ein Erzieher, die/der ein Kind nach einem bestimm- und Wahrnehmungen erträglicher machen. Vor allem ten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre/ Menschen im Krankheitszustand, aber auch die Ge- seine „Vollmacht“ zu erziehen (vgl. Möckel 2019, 101). sunden dürfen wir nicht ausschließen und wegsper- Urs Haeberlin hebt die „Gefahren von nicht-bewuss- ren bzw. fast schon total isolieren, vielmehr müssen ten Menschenbildern“ (1994, 18ff.) hervor und skizziert wir ihnen auch durch Verstehen, Kommunikation und diese anhand von Beispielen im Kontext „Alltagsthe- Handeln die Gewissheit geben, dass sie nicht verges- orien“. sen werden. Wir müssen psychisches und physisches Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen Unwohlsein, Ängste und Probleme von Menschen sehr und von Menschengruppen, aber wir müssen uns ernst nehmen. immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine Menschenbild habe ich und welches Bild von diesem Heilpädagogik als dialogisch-helfende oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen. Beziehungsgestaltung Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinde- stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung. rung, einer Lernproblematik, ein Kind, das vielleicht Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen unter behindernden sozialen und materialen Bedin-
heilpaedagogik.de 3 2021 Online-Inhalte | Vergessene Vulnerabilität gungen aufgewachsen ist und von seinen LehrerInnen emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher als „lerngestört“ oder „verhaltensgestört“ bezeichnet Behinderungen und behindernder Bedingungen – in wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann. den Vordergrund der Wahrnehmung eines/einer Kli- Auch die im Arbeitsfeld Heilpädagogik tätigen Perso- enten/Klientin zu stellen. nen unterliegen der Gefahr, dass sie durch Theorien Welche Assoziationen sind mit dem Begriff Verstehen oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissen- rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bund- schaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigen Begrün- schuh 2019a, 47–51), auch durch Geschriebenes wie z. den unsichere Begriffe wie beispielsweise ‚pädagogi- B. Schülerakte und Gutachten, zu Meinungen kom- scher Bezug‘, ‚heilpädagogische Beziehung‘ und auch men, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar ‚Verstehen‘ ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Ge- offenes Menschenbild ist notwendig. genüber, vom Du (Buber 2006). Einen Menschen ver- stehen heißt, seinen bisherigen Weg gedanklich und Wahrnehmen, Verstehen und Handeln empathisch nachvollziehen und ihn in seinem So-Sein annehmen – ihn also in seinem Werden und in den Heilpädagogik steht gleichermaßen im Dienste der Bedingungen des Werdens verstehen (vgl. Bundschuh Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und 2008, 71ff., 2010, 126–130). Es geht auch um eine Ein- auch Unterricht traditioneller Art in eine Problemsi- stellung, die das Verhalten des Anderen und sein So- tuation geraten sind. Es geht der Heilpädagogik vor Sein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Pro- Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter blemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjek- einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunah- tivität impliziert, dass Heilpädagogen und Heilpäda- me realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendli- goginnen die Welt des Anderen in seiner individuellen chen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen Lebenssituation begreifen oder zumindest bereit sind, Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzun- in einen Prozess des Verstehenwollens und –lernens gen, der Kampf um elementare Menschenrechte und einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen –, jede Handlung, jede Art von Verhalten als sinn-voll. diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen Insofern heißt Verstehen auch Achtung vor der Uner- bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachden- schließbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl. kens über Lebensbedingungen von Kindern und Ju- Bundschuh 2019a, 91-96). Heilpädagogisches Denken gendlichen mit Behinderung, Lernstörungen und Ver- erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle haltensproblemen, die häufig auch zusätzlich unter Möglichkeiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage Herausforderungen generieren die Impulse zukünfti- zu stellen. Für Heilpädagoginnen und -pädagogen ist ger heilpädagogischer Theorie- und Praxisentwicklun- dieses „Auf-dem-Wege-Sein“ (Moor 1974) wichtiger gen. als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein trivia- Einerseits bedeutet Wahrnehmen die Aufmerksamkeit les, allgemeines Ziel ableiten: die besondere Situation auf das So-Sein eines Menschen zu richten, ihn zu be- eines Klienten/einer Klientin in einer Problemsituation achten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf. betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus ei- mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektie- ner äußeren manifesten Aktivität und einem inneren ren. kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales Andererseits steht der Begriff ‚Wahrnehmung‘ für die Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess, eine wichtige Rolle. Der Heilpädagogik geht es um durch den sich der Mensch in Form von Informations- Handeln und um die Handlungsfähigkeit im Rahmen aufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbei- emotionaler, sozialer und geistiger Entwicklungen tung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wo- im Kontext ganzheitlicher Prozesse des Kindes und bei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Hand- im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh lungsfähigkeit, Lebensgestaltung, Lebensqualität und 2019b, 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet sei- so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis ne Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise entsteht (ebd. 2003, 111ff., 147–152). strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt, Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Be- die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem gegnung mit der Person- und Sachumwelt sowie dem prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung eigenen Selbst auf der Basis nahezu ständiger Bewer- der Heilpädagogik. Sie trägt eine große Verantwortung tungen. Neuwahrnehmung heißt hier Möglichkeiten, und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung, Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Ju-
heilpaedagogik.de 3 2021 Online-Inhalte | Vergessene Vulnerabilität gendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch welt ergibt sich nicht aus der bloßen Abbildung der die objektiven und physikalischen Gegebenheiten be- Umwelt, sondern sie muss erst vom Gehirn konstruiert sitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die werden. Jede Sekunde unseres Lebens impliziert die handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine große Möglichkeit einer Veränderung und eines Neuanfangs, Herausforderung für die Heilpädagogik, die häufig be- d. h. wir werden die Vulnerabilität menschlichen Seins stehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und nicht besiegen, aber wir können lernen, besser und Handeln im Sinne der ihr anvertrauten Personen zu ehrlicher damit umzugehen. Dabei dürfen wir auch schließen, zumindest zu verringern. die Hoffnung auf eine Geborgenheit spendende und verstehende Gesellschaft bzw. Gemeinschaft – auch Heilpädagogik im Dienste außerhalb der Heilpädagogik – nicht aufgeben. Es von Kindern und Eltern ist wichtig, dass es bei aller Unberechenbarkeit un- serer Zeit noch einige, besser viele Haltepunkte gibt, Gerade die Heilpädagogik muss Unwohlsein, insbe- die wir als „sicher“, „wahr“, „echt“ und „natürlich“ sondere Ängste und Probleme von Kindern und Ju- – im Gegensatz zu fassadenhaft und äußerlich – be- gendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und zeichnen können. Ich denke, hoffe und wünsche, dass sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse wir Menschen es uns „leisten“ können, echt zu sein. der Pädagogik und vor allem der Heilpädagogik sind Denken und Handeln bilden auf der Basis eines wer- aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems und torientierten Menschenbildes die Grundlage für posi- mancher Heime im Hinblick auf Nichtbeachtung und tive Entwicklungen und für eine gute Lebensqualität. Vernachlässigung der Probleme betroffenen Kinder Vulnerabilität, Krisen und Scheitern geben aus heilpä- und deren Eltern, hervorgegangen. dagogischer Sicht und aus der Analyse behindernder Krisen können auch zu entscheidenden Neuorientie- Bedingungen Impulse zu einem neuen Wahrnehmen, rungen führen. Gerade in der Gegenwart erweisen Verstehen und Handeln. sich Frühe Hilfen, d. h. Erkennen und Diagnose von – häufig system- und umfeldbedingten – Problemen und prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche als Konrad Bundschuh dringend notwendig. Konrad Bundschuh, Univ.-Prof. em. Ordinarius Dr. Die häufig so gepriesene pluralistische Gesellschaft phil. habil., geht einher mit den Erscheinungen Hedonismus, Wer- Diplom-Psychologe, Allgemeinpädagoge und Son- teverfall sowie Bindungslosigkeit und impliziert für die derpädagoge soziale und emotionale sowie für die geistige Entwick- Ludwig-Maximilians-Universität München lung vor allem von Kindern und Jugendlichen, aber Fakultät für Psychologie und Pädagogik, auch von Erwachsenen, leider auch Bedrohungen und Lehrstuhl für Verhaltensgestörten- und Geistigbe- Verletzungen unbekannten Ausmaßes. Insofern müs- hindertenpädagogik. sen Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforde- Kontakt: k.u.p.bundschuh@t-online.de rungen und Verletzbarkeiten der Gegenwart und Zu- kunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet werden. Dies geschieht auch durch Neuorientierung Literatur hin zu einer verstehenden Einstellung und Haltung Menschen gegenüber, die zu einer besseren Lebens- Buber, M. (2006): Das dialogische Prinzip (10. Aufl.). bewältigung und damit mehr Lebensqualität führen Heidelberg: Schneider. kann. Bundschuh, K. (2000): Wahrnehmen – Verstehen – Die Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komple- Handeln. Perspektiven für die Sonder- und Heilpäd- xität und Vielfalt der Möglichkeiten und Reize unserer agogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Zeit auf ein für alle und für jeden einzelnen Menschen Bundschuh, K. (2003): Emotionalität, Lernen und Ver- verträgliches und erträgliches Maß zu reduzieren. halten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Manchmal kann weniger mehr sein! Bundschuh, K. (2008): Heilpädagogische Psychologie (4. Aufl.). München: Reinhardt. Ziele könnten darin liegen, unsere Möglichkeiten in Bundschuh, K. (2010): Allgemeine Heilpädagogik. Richtung Gesundheit, Bewahrung und Neuwahrneh- Stuttgart: Kohlhammer. mung der Natur, gegenseitigem Verstehen und Res- Bundschuh, K. (2019a): Förderdiagnostik konkret. pektieren zu erweitern, Neugierde und Freude selbst Theorie und Praxis für die Förderschwerpunkte Ler- wieder und neu wahrzunehmen bzw. zu entdecken, nen, geistige, soziale und emotionale Entwicklung (2. mehr auf die Pflege von Emotionen zu achten und Per- Aufl.). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. spektiven zu entwickeln. Vertreter des Konstruktivis- Bundschuh, K./Winkler, C. (2019b): Einführung in die mus gehen davon aus, dass jeder Mensch ein autopoi- sonderpädagogische Diagnostik (9. Aufl.). München: etisches selbstreferentielles System, also – absoluter Reinhardt. – Gestalter seiner Welt sei. Die Vielfalt der Erfahrungs-
heilpaedagogik.de 3 2021 Online-Inhalte | Vergessene Vulnerabilität Haeberlin, U. (1994): Das Menschenbild für die Heilpä- dagogik. Haupt, 3. Aufl. Kobi, E. E. (2003): Diagnostik in der heilpädagogischen Arbeit (5. vollst. überarb. Edition). Luzern: Verlag der Schweizerischen Zentralstelle für Sonderpädagogik. Kobi, E. E. (2010): Personale Heilpädagogik. Kulturan- thropologische Perspektiven. Berlin: BHP Verlag. Möckel, A. (2019): Das Paradigma der Heilpädagogik. Würzburg: Bentheim. Moor, P. (1974): Heilpädagogik. Ein Pädagogisches Lehrbuch (3. Aufl.). Bern: Huber. Palfi-Springer, Sandra (2019): Paul Moor – Impulsge- ber einer Sinnorientierten Heilpädagogik. Berlin: BHP Verlag. Prof. Dr. phil. habil. Konrad Bundschuh Allgemein- und Sonderpädagoge; Dipl.-Psych.
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