Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur

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Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
bulletin
 064

                     Hindernisfrei wohnen:
                     Wohnungsmarkt und Labels
                > Teilzeitjob Wohnungssuche                             2

                > Gebäudelabel: Marketing oder Hilfsmittel?             5

                > Mitteilungen / Weiterbildung                          7

                > Kolumne: Kampf mit Geräten und Lichtblicke            8

 www.hindernisfreie-architektur.ch                              August 2020
Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
>> Grundlagen

                                                          Teilzeitjob Wohnungssuche
                                                          Es braucht mehr bezahlbare hindernisfreie Wohnungen, vor allem an
                                                          gut erschlossenen Lagen. Doch in Deutschschweizer Städten sind nur
                                                          wenige der ausgeschriebenen Wohnungen rollstuhlgängig. Die Lösung
                                                          lautet: anpassbarer Wohnungsbau, ein Konzept, das die Fachstelle
                                                          schon seit den frühen 1990er-Jahren propagiert.

                                                                                der Küche liess er ein Podest bauen, damit die Höhe
                                                                                der Arbeitsfläche nicht verändert werden musste.
                                                                                Die Elemente unter Kochherd und Spüle wurden ent-
                                                                                fernt, damit er mit dem Rollstuhl darunterfahren kann.
                                                                                «Wenn ich ausziehe, ist alles einfach rückbaubar»,
                                                                                sagt Herzig. Das ist anpassbarer Wohnungsbau.

                                                                                Ein altes Konzept für zeitgemässe Lösungen
                                                                                Immer öfter vermarkten Bauträger ihre Wohnungen
                                                                                als behinderten- und altersgerecht. In Realität sind
                                                                                roll­
                                                                                    stuhlgerechte Wohnungen oft nicht verfügbar,
                                                                                wenn sie gebraucht werden. Zudem werden in Über-
                                                                                bauungen oft nur Wohnungen für Einzelpersonen be-
                                                                                hinderten- und altersgerecht gebaut. Aber vielleicht
                                                                                hat ein Betroffener ja Familie. Deshalb ist der anpass-
                                                                                bare Wohnungsbau als Konzept ideal. Die Fachstelle
                                                                                gab bereits 1992 die Richtlinien «Wohnungsbau, hin-
                                                                                dernisfrei – anpassbar» als Planungshilfe heraus.
                                                                                Da längst nicht alle Wohnbauten unter die gesetzlichen
                                                                                Bestimmungen fallen und auch die minimalen Anfor-
                                                                                derungen der SIA-Norm 500 nicht konsequent umge-
                                                                                setzt werden, ist der Bestand an effektiv anpassbaren
                                                                                Wohnungen trotz Baukonjunktur bescheiden geblie-
                                                                                ben. Während die Nachfrage nach rollstuhlgängigen
                                                                                Wohnungen wegen der medizinischen Erfolge und der
© Fachstelle

                                                                                Alterung der Gesellschaft gestiegen ist, blieb der Anteil
                                                                                der als rollstuhlgängig ausgeschriebenen Mietobjekte
               So geht anpassbarer Wohnungsbau: Um sich im Sitzen sehen         stabil bei 7 Prozent 1, in den Deutschschweizer Städten
               zu können, wird unter dem Spiegelschrank ein Spiegel             waren es nur gerade 3,4 Prozent 2.
               montiert. Zugunsten der Manövrierfläche wird das Bidet
               neben dem WC entfernt.
                                                                                «Es hapert bei Umsetzung und Kontrolle»
               «Meine Wohnungssuche wird sich länger hinziehen»,                «Die Suche nach einer passenden Wohnung ist extrem
               sagt Basil Herzig. Der Innenarchitekt ist seit einem Ver-        frustrierend», sagt Basil Herzig. Viele private Anbieter
               kehrsunfall vor 13 Jahren querschnittgelähmt. Derzeit            hätten gar keine Ahnung, was rollstuhlgängig bedeu-
               in einem Vorort von Lugano wohnhaft, sucht er aus                te. «Oft meinen sie, es reiche, wenn man ohne Stufen
               Jobgründen eine Wohnung in Zürich.                               in ein Haus kommt.» Deshalb setzt Herzig seine Such-
               Im Tessin wohnt er in einem Haus, das sein Bruder ge-            filter selbst, durchforstet die Vermietungsplattformen
               baut hat. «Das Bauen liegt in unserer Familie. Auch              etwa mit den Suchbegriffen «Neubau» und «Lift».
               mein Vater ist Architekt», erzählt er. Seine Wohnung             Beim Zugang – von der Garage zum Lift bis zur Woh-
               liess sich mit wenig Aufwand anpassen. «Im Badezim-              nung – hapere es aber oft auch bei Neubauten. Bei
               mer habe ich das Bidet rausnehmen lassen, damit ich              einer Wohnung, die Herzig besichtigte, war der Zugang
               genug Platz habe, und beim WC und der Badewanne                  von der Garage das Problem. «Auf dem stark geneigten
               Haltegriffe montiert.» Zwischen den beiden Fronten in            Garagenboden die Bremse ziehen, mit dem Schlüssel

               bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle                                  2
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>> Grundlagen

               die schwere Türe entriegeln, aufstossen und zuletzt
               noch einen Absatz überwinden, das ist für jemanden
               im Rollstuhl einfach nicht möglich», sagt der Innenar-
               chitekt.
               Auf Portalen studiert er Fotos und Grundrisse ganz ge-
               nau, besonders von Küche und Badezimmer. Bei Insel-
               küchen befänden sich Spülbecken und Kochherd oft
               auf verschiedenen Fronten. «Einen Topf Spaghetti vom
               Herd nehmen und zum Abgiessen auf die andere Front
               tragen kann ich einfach nicht.» Das sei aber auch für
               viele andere Menschen, etwa Senioren, nicht möglich.
               «So eine Küche kann man nicht einmal sinnvoll um-
               bauen», schimpft Herzig. Ähnlich sei es im Badezim-

                                                                                                                                             © Fachstelle
               mer, wo das WC oft zwischen Lavabo und Badewan-
               ne gesetzt werde statt das Lavabo in der Mitte, damit
               seitlich von WC und Badewanne Haltegriffe montiert               Ohne Stufen und Schwellen sind alle Wohnbereiche, auch
               werden könnten (siehe Tipps, S. 4). «Der anpassbare              Balkon oder Terrasse, hindernisfrei zugänglich.
               Wohnungsbau ist eine Willensfrage», stellt der Innen-
               architekt fest. Die Normen seien gut gemacht, es ha-             zept des anpassbaren Wohnungsbaus zu verankern.
               pere aber bei der Umsetzung und der Kontrolle.                   Sie will zudem Lösungen aufzeigen, die nicht nur Men-
               Diese Aussage bestätigt eine Studie von 2016 3. Es               schen mit einer Behinderung, älteren Bewohnern oder
               mangle zudem bei einer Mehrheit der Architekten, Be-             Familien mit Kindern zugutekommen, sondern den
               hörden und Bauherrinnen an Bewusstsein. Viele bau-               Komfort für alle erhöhen.
               ten, ohne sich zu fragen, wie ein Gebäude und seine
               Umgebung für Menschen mit einer Behinderung funk-                Sechser im Lotto
               tioniere. Zudem würden bei einem Umbau die Mehr-                 Als Matyas Sagi-Kiss im Frühling 2019 die Kündigung
               kosten für bauliche Anpassungen oft zu hoch einge-               für seine Wohnung erhielt, stellte auch er sich auf eine
               schätzt, sodass von den erforderlichen Massnahmen                längere Suche ein. Der Zürcher Bezirksrat, der seit sei-
               abgesehen werde. Deshalb, so das Fazit der Studie,               ner Geburt cerebral gelähmt ist und deshalb im Roll-
               sollten nicht die Gesetze verschärft, sondern Anreize            stuhl sitzt, wohnt in einer Parterrewohnung mit Garten
               geschaffen und die Gesellschaft für das Thema sensi-             in der Uetlihof-Siedlung in Zürich. Diese soll abgerissen
               bilisiert werden.                                                werden, obwohl sie erst Ende der 1980er-Jahre er-
               Die Richtlinie der Fachstelle für hindernisfreie Archi-          baut und 2011 saniert wurde. «Du übertreibst!», sag-
               tektur ist vergriffen und wird neu aufgelegt. Die über-          ten seine Nachbarn und die Eltern, die im selben Haus
               arbeitete Planungshilfe wird dazu beitragen, das Kon-            wohnen, als er gleich mit der Wohnungssuche begann.
                                                                                Denn die meisten Bewohner haben die Kündigung an-
                                                                                gefochten und rechnen damit, dass der Prozess sich
                                                                                noch eine Weile hinziehen wird. Doch Sagi-Kiss woll-
                                                                                te eine schöne Wohnung, nicht einfach ein Dach über
                                                                                dem Kopf. Zentral gelegen, damit er wenig fremde Hil-
                                                                                fe beanspruchen muss. «Ich habe gesucht wie blöd»,
                                                                                erinnert er sich. «Es war ein Teilzeitjob, deshalb wur-
                                                                                de ich relativ schnell fündig.» Dass er gute Referen-
                                                                                zen und ein stabiles Einkommen hat, habe sicher auch
                                                                                geholfen. Zudem sei er gesellig und habe ein intaktes
                                                                                Netzwerk, das ihn unterstütze.
                                                                                Er meldete sich auch bei der Baugenossenschaft Kalk-
                                                                                breite an, die an der Zollstrasse ihre zweite Siedlung
                                                                                baut. Doch grosse Chancen rechnete sich der Wirt-
© Fachstelle

                                                                                schaftsjurist nicht aus. Ein anderes Angebot konkre-
                                                                                tisierte sich schneller: in einem ehemaligen Büroge-
               Die Elemente unter Herd und Spülbecken wurden entfernt und       bäude, das zu einem Wohnbau umgenutzt wird. Doch
               der Boden mithilfe eines Podests erhöht.                         nachdem er den Vertrag bereits unterschrieben hatte,

               bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle                                    3
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>> Grundlagen

stellte sich heraus, dass ausgerechnet in seiner Woh-
nung eine fast zwei Meter hohe Treppe auf den Bal-
kon führte. «Dabei wussten die Vermieter doch, dass
ich eine rollstuhlgängige Wohnung brauche», wundert
sich Sagi-Kiss. Kaum hatte er die Hiobsbotschaft erhal-
ten, rief ihn die Vermietung der Kalkbreite Zollstrasse
an: Sie wollten ihm eine Wohnung geben. «Ich bin fast
umgefallen vor Glück», sagt Sagi-Kiss, «es war wie ein
Sechser im Lotto!» Er konnte ohne Folgen vom be-
reits unterzeichneten Vertrag der anderen Wohnung
zurücktreten. Die Wohnung an der Zollstrasse liegt
im obersten Geschoss und ist dank Fenstern auf zwei

                                                                                                                                    © SAHB / FSCMA
Seiten sehr hell. Doch auch im Paradies ist nicht alles
perfekt. Im Badezimmer war die Dusche zwischen WC
und Lavabo geplant, und ein Mäuerchen hätte deren
Nutzung mit dem Rollstuhl verunmöglicht. «Sie haben              Dank ausziehbarer Schränke stehen die Lebensmittel in greif-
es aber dann gleich für mich anders geplant und noch             barer Nähe.
weitere erforderliche Anpassungen vorgenommen.»
Sagi-Kiss erhält sogar eine Badewanne, denn cere­bral
Gelähmte frieren in der kalten Jahreszeit oft, weil sie            Tipps & Tricks
den ganzen Körper spüren, ihn aber nicht bewegen                   >> WC und Dusche je in einer Raumecke, sodass
können. Auch für die Küche konnte der Neumieter                       bei Bedarf L-Haltegriffe und Duschsitz montiert
Wünsche anbringen. Dafür hat Sagi-Kiss die Baubera-                   werden können.
tung der Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ)                  >> In der Küche Abstellfläche von min. 0,25 m und
um Hilfe gebeten. «Viele kennen dieses Angebot der                    max. 0,90 m zwischen Herd und Spüle, damit
kantonalen Fachstellen für hindernisfreies Bauen lei-                 ein Topf hin- und hergeschoben werden kann.
der gar nicht», bedauert er. Wer die Kosten für die An-            >> Kleine Räume wie WC, Duschraum, Reduit mit
passungen trägt, ist noch offen.                                      Türen, die nach aussen öffnen, um den Nutz-
Einige architektonische Konzepte der Genossenschaft,                  raum zu vergrössern und eine spätere Anpas-
die ökologisch Sinn machen, schliessen Matyas Sagi-                   sung der Tür zu vermeiden.
Kiss und andere Bewohner, die nicht gut zu Fuss sind,              >> Abstellfläche im Eingangsbereich oder Reduit
trotzdem teilweise oder ganz aus. Etwa die Gefrierfä-                 min. 1,80 m breit, damit Hilfsmittel (Zuggeräte,
cher im unterirdischen Gemeinschaftsfreezer oder die                  Sport- oder Ersatzrollstuhl) abgestellt werden
Waschküche im Nachbargebäude. «Es gibt Dinge, die                     können.
nicht perfekt sind», konstatiert Sagi-Kiss nüchtern.               >> Keine Schwellen und Stufen, damit alle Wohn-
Trotzdem fühlt er sich privilegiert und glücklich, bald in            und Nebenbereiche mit Hilfsmitteln zugäng-
der Kalkbreite Zollstrasse einziehen zu dürfen.                       lich sind und Besucher mit Rollstuhl empfangen
                                                                      werden können.
                                                                   >> Clever eingesetzte Smart-Lösungen und indivi-
                                                                      duell angepasste Bedienelemente, mittels de-
                                                                      rer sich Licht, Sonnerie, Storen oder Lüftung
                                                                      steuern lassen.

Quellen:
1 «Rollstuhlgängige Wohnungen sind gefragt», Analyse des
  Immobilien-Marktplatzes von Comparis, www.comparis.ch,
  2015 (zuletzt abgefragt: 15. 5. 2020).
2 «Kaum eine Stadtwohnung ist rollstuhlgängig», Comparis-
  Analyse zu barrierefreien Wohnungen, www.comparis.ch,
  2016 (zuletzt abgefragt: 12. 5. 2020).
3 Eva-Christiane Debatin, «Die Bereitstellung von hindernis-
  freiem Wohnraum – Einflussfaktoren auf dem Immobili-
  enmarkt», Abschlussarbeit MAS in Real Estate, Universität
  Zürich, 2016.

bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle                                          4
Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
>> Grundlagen

                                                                                      Gebäudelabel: Marketing
                                                                                      oder Hilfsmittel?
                                                                                      Helfen Labels Menschen mit einer Behinderung bei der Wohnungssu-
                                                                                      che, beim Reisen, in der Freizeit? Was können Bauherren, Gemeinden
                                                                                      und Organisationen tun, um möglichst grossen Nutzen zu generieren?
                                                                                      Ein Blick auf Nachhaltigkeitslabels und ein Projekt von Pro Infirmis, das
                                                                                      als Anregung dienen könnte.

                                           Ein neues Wohnhaus oder ein Bürogebäude ist in Pla-              Platin – wird aufgrund der erreichten Durchschnitts­
                                           nung. Da taucht die Frage auf, ob man mit einem Label            note ausgestellt. Und hier liegt das Problem: Ein Durch-
                                           oder Zertifikat dokumentieren möchte, wie nachhaltig             schnittswert aus 120 Parametern gibt keine Auskunft
                                           und hindernisfrei man baut. Nicht bloss als Marketing-           darüber, wie die Hindernisfreiheit konkret umgesetzt
                                           instrument, sondern auch, um Menschen mit Behinde-               wurde. Möglicherweise wurde genau das eine Element
                                           rungen anzusprechen.                                             nicht berücksichtigt, das für einen bestimmten Men-
                                           Derzeit gibt es in der Schweiz zwei Labels, die expli-           schen mit seiner individuellen Behinderung elementar
                                           zit die Hindernisfreiheit im Hochbau bewerten: den               ist, sei es eine Schwelle, die Grösse des Lifts oder die
                                           «Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz» SNBS sowie                 Platzierung der Toilette in der Nasszelle. Die Vergleich-
                                           das Label des Vereins «Living Every Age» (LEA). Wäh-             barkeit, die das Label verspricht, hilft den Wohnungs-
                                           rend das LEA-Label ausschliesslich für einzelne Woh-             suchenden somit kaum.
                                           nungstypen oder Wohnungen vergeben wird, können                  Bei LEA melden Betroffene ebenfalls Vorbehalte an,
                                           mit dem SNBS auch Büro- und Verwaltungsgebäude                   denn auch «Living Every Age» ermittelt einen Durch-
                                           zertifiziert werden. Bildungseinrichtungen und Infra-            schnitt, um Bronze bis Platin zu verleihen. Der Verein
                                           strukturbauten sollen folgen.                                    verspricht zwar: «Den unmittelbarsten Nutzen vom
                                                                                                            Label haben (…) ältere Menschen sowie Menschen mit
                                                                                                            Behinderungen oder körperlichen Einschränkungen.»
                                                                                                            Doch um Gold zu erhalten, müssen nur 75 Prozent der
                                                                                                            Kriterien erfüllt sein – wie weiss ich, ob die für mich
                                                                                                            entscheidenden dabei sind oder nicht? Für das Platin-
                                                                                                            Label müssen zudem gegen tausend Anforderungen
                                                                                                            erfüllt sein. Ob das eine realistische Vorgabe ist, darf
© insor.ch, Entwickler der LEA-Label-App

                                                                                                            bezweifelt werden – und würde sie eingehalten, wären
                                                                                                            die Wohnungen wohl für viele unerschwinglich.

                                                                                                            Im Wohnungsbau wenig hilfreich
                                                                                                            Für Menschen mit einer Behinderung sagen die La-
                                                                                                            bels also nicht viel mehr aus, als dass sich ein Bauherr
                                                                                                            grundsätzlich mit dem Thema Hindernisfreiheit be-
                                                                                                            schäftigt hat. Auch ist Behinderung nicht gleich Behin-
                                           Label sagen oft nicht viel mehr aus, als dass sich ein Bauherr   derung: Betroffene haben sehr unterschiedliche Be-
                                           mit dem Thema Hindernisfreiheit beschäftigt hat. Doch Betrof-    dürfnisse bezüglich Hindernisfreiheit.
                                           fene haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse.
                                                                                                            Und bei der Wohnungssuche sind Kriterien wie Distanz
                                                                                                            zum Arbeitsort, Lage und Umgebung ebenso wichtig.
                                           Durchschnittswerte sind nicht aussagekräftig                     Deshalb müssen Menschen mit einer Behinderung in
                                           «Labels machen Nachhaltigkeit messbar respektive                 jedem Fall vor Ort abklären, ob eine Wohnung für sie
                                           vergleichbar», heisst es auf der Website des Netzwerks           funktioniert.
                                           Nachhaltiges Bauen Schweiz. Der Schwerpunkt des                  Labels sind also primär Marketinginstrumente, ihr Nut-
                                           SNBS-Labels liegt historisch auf ökologischer Nach­              zen für die Betroffenen ist gering. Dazu kommt, dass
                                           haltigkeit; heute ist das Einhalten der SIA-Norm 500             es Private sind, die die Labels vergeben und somit die
                                           eines von rund 120 Kriterien, die für die Zertifizierung         Hindernisfreiheit beurteilen. Betroffene hätten mehr
                                           bewertet werden. Das Zertifikat – in Silber, Gold und            davon, wenn Bauherren auf eine Zertifizierung verzich-

                                           bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle                                  5
Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
>> Grundlagen

teten und stattdessen in wirklich gute hindernisfreie            dann das passende Piktogramm zuordnet. Die Pikto-
Lösungen gemäss SIA 500 oder – noch besser – gemäss              gramme sind ein erster Hinweis. Sie werden ergänzt
Richtlinien der Fachstelle (siehe Beitrag, S. 2) inves-          mit Fotos und Massen der Örtlichkeit sowie Bemer-
tierten – und sich bei Fragen von einer kantonalen Be-           kungen der Erhebenden, um so viele und so genaue
ratungsstelle unterstützen liessen. Die Erfahrung zeigt,         Informationen wie möglich bereitzustellen. Die Part-
dass viele Mängel verhindert werden können, wenn                 nerorganisationen können die Informationen über eine
sich Architekten in einem frühen Planungsstadium an              Schnittstelle direkt auf ihren Websites einbinden.
eine Fachstelle wenden.
                                                                 Guter Ansatz, aber …
                                                                 Die Idee, so konkrete Angaben zur Nutzung wie mög-
                                                                 lich zu machen, wird von der Fachstelle grundsätzlich
                                                                 sehr begrüsst. Allerdings ist der Aufwand, sie zu sam-
                                                                 meln und stets à jour zu halten, immens. Und da vie-
                                                                 le verschiedene Menschen die Daten erfassen, bleibt
Unterstützung beim Reisen und in der Freizeit                    eine gewisse Unsicherheit für Nutzerinnen und Nutzer.
Für Restaurants, Hotels, den öffentlichen Verkehr, Mu-           Auch wird es noch lange dauern, bis alle circa 150 000
seen oder Arztpraxen gibt es bis heute keine vergleich-          öffentlich zugänglichen Bauten der Schweiz erfasst
baren Labels – was nicht weiter schlimm ist angesichts           und die Informationen dazu leicht auffindbar sind.
ihres eingeschränkten Nutzens. Doch Menschen mit
einer Behinderung brauchen Informationen zur Hin-
dernisfreiheit, wenn sie sich auf unbekannte Wege
begeben oder ein neues Lokal besuchen. Heute bleibt
ihnen in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als
vorgängig anzufragen, ob etwa das WC im Restaurant
rollstuhlgängig oder der Lift im Hotel gross genug ist.          Fazit
Dabei variieren die Bedürfnisse: Geht es um ein Hotel            Menschen mit einer Behinderung brauchen so de-
für eine Nacht, ist für eine Rollstuhlfahrerin die Nähe          taillierte Informationen wie möglich. Labels sind ein
zum Bahnhof vielleicht wichtiger als der schwellenlo-            möglicher Weg, aber nur dann, wenn sie sich auf we-
se Zugang zum Balkon; für einen kurzen Mittagslunch              nige, wesentliche Kriterien konzentrieren – die für ein
kommt auch ein Restaurant in Betracht, bei dem das               Schulhaus, ein Hotel oder Bahnwagen natürlich jeweils
WC noch nicht angepasst wurde, für ein Abendessen                andere sind. Ergänzend ist es zu begrüssen, wenn öf-
auswärts jedoch nicht. Ein schweizweites Projekt von             fentlich zugängliche Einrichtungen Angaben zur Hin-
Pro Infirmis will daher Menschen mit einer Behinde-              dernisfreiheit auf ihren Websites publizieren – und
rung aufzeigen, wie gut öffentliche Einrichtungen für            zwar möglichst genau. Manchmal kommt es auf Zen-
sie nutzbar sind.                                                timeter an. Behindertenorganisationen können dabei
                                                                 unterstützen.
                                                                 Wirkungsvoll sind Bewertungsprozesse ausserdem,
                                                                 wenn durch die Auseinandersetzung damit bei allen
                                                                 Erneuerungen oder kleineren, auch nicht bewilligungs-
                                                                 pflichtigen Umbauten Hindernisse entfernt werden.
                                                                 Das darf dann gerne auch auf der Website publik ge-
Kein Label, aber konkrete Nutzerhinweise                         macht werden!
Pro Infirmis verwendet eine Reihe von Piktogram-
men, die einzelne, für Menschen mit Behinderungen
entscheidende Elemente zeigen, etwa ob ein Verwal-
tungsgebäude, Hotel, Restaurant, Museum oder Kino
vollständig rollstuhlgängig ist oder nur eingeschränkt,
ob auch eine rollstuhlgängige Toilette oder eine Induk-
tionsanlage für Hörbehinderte vorhanden ist. Um mög-
lichst viele Gebäude zu erfassen, arbeitet Pro Infirmis
mit Kommunen, Tourismusorganisationen und Verbän-
den zusammen. Die Objekteigenschaften werden von
Freiwilligen mithilfe einer App strukturiert erfasst, die

bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle                                6
Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
>> Mitteilungen                                                                          >> Weiterbildung
Ferienwohnungen –                          absatz­losen Fenstertürschwellen              17. / 18. 9. 2020, 9.30 – 17 Uhr, Zürich
nutzbar für alle                           auf den Grund. Dem Austausch                  Zweitägiger Einführungskurs
Im Auftrag der Stiftung Denk an            zwischen Podiumsgästen, Herstel-              «Grundkenntnisse des
mich hat die Fachstelle eine               lern und Publikum wird an dem                 hindernisfreien Bauens» für
Checkliste für Ferienwohnungen             halbtägigen Anlass grosses Ge-                Planende, Behörden, Interessierte
erar­beitet. Die Liste führt einer-        wicht beigemessen, was sich im                Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 650.–,
seits die Mindestanforderungen             Programm widerspiegelt (Details               Gönner Fr. 350.–
nach Norm SIA 500 auf und                  zu Anlass und Anmeldung siehe
andererseits eine «Qualitätsstufe          «Weiterbildung»).                             21. 9. 2020, 13.15 – 17.30 Uhr,
Denk an mich» mit Massnahmen,                                                            Museum für Gestaltung, Zürich
die das Angebot an geeigneten              Position der Fachstelle zur                   Symposium «Fenstertür-
Wohnungen in einer Ferienanlage            Umsetzung hoher Haltekanten                   schwellen» Austausch mit Urs
für die verschiedenen Nutzer               Warum macht die Schweizer                     Spuler, Präsident Kommission
massgeblich verbessern sollen.             Fachstelle Einsprachen und                    SIA 271, Roman Brantschen, Adrian
Es geht nicht um mehr Komfort,             Rekurse bei Projekten für Bushal-             Streich Architekten AG, Remo Petri,
sondern darum, Wohnungen                   testellen? Wie beurteilt sie die              Procap, GU / Bauträger (noch
verfügbar zu machen, die Men-              Machbarkeit von hohen Haltekan-               offen), Podiumsleitung: Joe Manser
schen im Rollstuhl einerseits              ten? Welche Ausnahmen sind in                 Rahmenprogramm: Produktaus-
selbstständig nutzen können und            welchen Situationen möglich? –                stellung; Kosten: Nicht-Mitglieder
die es andererseits Angehörigen            Hindernisfreie Architektur kommu-             Fr. 120.–, Gönner Fr. 70.–
und Begleitpersonen erleichtern,           niziert im neuen Positionspapier,
eine hilfsbedürftige Person zu             nach welchen Kriterien die Fach-              29. 10. 2020, 9.30 – 17 Uhr, Zürich
unterstützen. Die Checkliste,              stelle die einzelnen Projekte                 Weiterbildung «Hindernis-
die die Stiftung speziell für Reka-        evaluiert. Die Ausführung hoher               freie Architektur im
Feriendörfer entwickeln liess,             Haltekanten, die als einzig brauch-           Baubewilligungsverfahren»
wird die Fachstelle davon losgelöst        bare Lösung für den autonomen                 für Baubehörden und mit dem
als Planungshilfe für alle Ferien-         Einstieg mit Hilfsmitteln in den Bus          Vollzug der baugesetzlichen
wohnungen und Ferienanlagen                gilt, hat eine besondere Bedeutung            Bestimmungen Beauftragte
publizieren.                               für die Umsetzung der Gleich­                 Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 350.–,
                                           stellung im öffentlichen Verkehr.             Gönner Fr. 200.–
SIA 271 «Abdichtungen im                   Dies gilt insbesondere bei Bus-
Hochbau»                                   bahnhöfen. Auf der Website der                26. 11. 2020, 9 – 16.15 Uhr, Zürich
Die Norm SIA 271 Abdichtungen              Fachstelle finden Sie das Positions-          Vertiefungskurs «Sehbehin-
im Hochbau ist in Revision. Der            papier unter «Aktuell».                       dertengerechte Bauten» für
Entwurf von 2019 stiess in der                                                           Fachpersonen in Orientierung, Mo-
Vernehmlassung auf viel Kritik und         Mutationen                                    bilität oder hindernisfreiem Bauen
Ablehnung. Auch die Kommission             >> Nadine Kahnt, dipl. Ing. FH /              Inhalt: bauliche Anforderungen,
SIA 500 meldete Bedenken an.                  MAS ETH, verstärkt seit Juni               Signaletik, Beleuchtung, Kontraste
Nach wie vor werden in der                    2020 das Team der Schweizer                Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 420.–,
revidierten Ausgabe rollstuhlge-              Fachstelle für hindernisfreie              Gönner Fr. 320.–
rechte Schwellen nur als Abwei-               Architektur. Mit ihrer breiten
chung vom Regelfall thematisiert.             Erfahrung als Architektin und              3. 12. 2020, 9 – 16.15 Uhr, Zürich
Neu eingeführte Anforderungen                 Publizistin ergänzt sie die                Vertiefungskurs «Sehbehinder-
führen zudem dazu, dass eine                  Fachstelle bestens.                        tengerechter Verkehrsraum»
rollstuhl­gerechte Schwelle mit            >> Eva Bühlmann, Architektin mit              für spezialisierte Fachpersonen
Holzrahmen oder Holz-Metall-                  mehrjähriger Erfahrung als                 in Orientierung und Mobilität oder
Rahmen nur unter erheblichen                  Bauverwalterin, ergänzt das                hindernisfreiem Bauen
Einschränkungen möglich ist.                  Team der Fachstelle «Hinder-               Inhalt: bauliche Anforderungen,
Die Problematik ist brisant, und              nisfrei Bauen Luzern».                     Abgrenzungen, Querungen,
die neue Regelung hätte weit­                                                            Leitliniensysteme
reichende Folgen. Deshalb geht                                                           Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 420.–,
das Symposium der Fachstelle                                                             Gönner Fr. 320.–
vom 21. September der Proble­
matik von rollstuhlgerechten,                                                            Anmeldung: fachstelle@hindernis-
                                                                                         freie-architektur.ch

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Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
>> Kolumne

                         Kampf mit Geräten
                         und Lichtblicke
                         Wie sehr meine eigene Wohnung auf meine Bedürfnisse als Sehbe-
                         hinderte eingerichtet ist, wird mir meist dann bewusst, wenn ich bei
                         Freunden zu Gast bin und ihre Küche anschaue.

Mein Ceran-Kochherd ist in die Jahre gekommen, doch              Manchmal kommt uns die technische Entwicklung zu
ich mag ihn, denn seine Drehknöpfe rasten ein, die               Hilfe, etwa durch sprachgesteuerte Haustechnik (Be-
Icons zu den verschiedenen Programmen des Back-                  leuchtung, Rollläden) oder Unterhaltungselektronik.
ofens sind gut sichtbar. Daher zögere ich einen Ersatz           Bei Freunden sehe ich: Wenn die Dinge mal installiert
heraus, so lange es geht. Die neuen, smarten Geräte              sind, ist die Benutzung eine Entlastung. Nur eben, die
sind in den Kontrasten meist nobel sparsam gehal-                Angst vor Pannen und der damit verbundenen Abhän-
ten. Die Induktionskochfläche hat diskrete Aufdrucke             gigkeit von Fachleuten lässt zögern.
vorne auf der Kochplatte, nicht tastbar. So müsste ich           Zum Schluss noch zu einem Thema, bei dem ich in
dann wohl jedes Mal eine kleine Verbeugung vor mei-              Rage geraten kann: der Lift. Es ist mir unverständlich,
nem Kochherd machen, um auch ja am richtigen Ort zu              warum Aufzüge so benutzerunfreundlich sein müssen.
tippen. Immerhin habe ich das Privileg, in den eigenen           Sofern nicht Touchscreen, liegt es meistens nicht an
vier Wänden zu wohnen und so selbst entscheiden zu               den Tasten. Doch die Beschriftungen, schwarz auf Me-
können, welches Modell Backofen oder Waschmaschi-                tall, liefern null Kontrast. Und um die Bedienung gänz-
ne ins Haus kommt.                                               lich unmöglich zu machen, hat es neben dem Tableau
Wie sehr man sich aber auch an schlechte Bedingungen             ein Lichtband, das die Knöpfe in keiner Weise beleuch-
gewöhnen kann, machte mir die Beleuchtung im Ein-                tet, dafür die Benutzerin blendet. Eine diskrete Stock-
gangsbereich deutlich. Als wir vor zwei Jahren die Re-           werkansage wäre auch kein Luxus, bald jedes noch so
novation von Badezimmer und WC in Angriff nahmen,                billige Kinderspielzeug kann sprechen.
lag es nahe, das Entree miteinzubeziehen. Seither wird           Bei der Gestaltung im Innenbereich und von Geräten
der ganze Bereich mit eingebauten LED-Deckenspots                erlebe ich oft einen Gegensatz zwischen Design und
gut und blendfrei ausgeleuchtet. Kein Vergleich zu vor-          Funktionalität, und mein Eindruck ist, dass dem Design
her, das Hereinkommen ist jedes Mal eine Freude.                 der Vorzug gegeben wird. Oder Spezialanfertigungen
Kontraste und Beleuchtung sind das A und O. Kommen               sind potthässlich. Aber so wie ein brillanter Koch sich
taktile Elemente dazu, die auch ohne Hingucken die               dadurch auszeichnet, auch aus einfachsten Zutaten ein
Bedienung eines Geräts erleichtern, ist mir das eine             raffiniertes Gericht zu zaubern, so würde sich für mich
grosse Hilfe. Immer alles aus nächster Nähe anschauen            intelligentes Design dadurch auszeichnen, dass es die
zu müssen, führt bei Sehbehinderten nicht selten zu              Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer – auch seh-
Haltungsschäden und schmerzhaften Verspannungen                  behinderter und blinder – integriert, ohne dass man es
im Nackenbereich.                                                dem Gebäude oder dem Gerät am Ende ansieht.
Gummierte Klebepunkte helfen, Haushaltgeräte taktil              Erwarte ich zu viel?
nachzurüsten oder im Wohnblock den eigenen Klingel-
knopf für sehbehinderte Freunde zu markieren, sofern                                            Bettina Gruber Haberditz
dies geduldet wird. Was in Wohnblocks jedoch meist
fehlt: gut sichtbare Stufen im Treppenhaus.

Kantonale Beratungsstellen                                       Impressum
Beraterinnen und Berater für Ihr Projekt mit spezifischem        Titelbild: © Christopher Kelemen / Wings for Life Inter-
Know-how für den jeweiligen Kanton:                              national, Salzburg (A)
www.hindernisfreie-architektur.ch / beratungsstellen             Herausgeberin: Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer
                                                                 Fachstelle, Kernstrasse 57, 8004 Zürich
                                                                 Auflage: 1500 Ex. deutsch, 500 Ex. französisch
                                                                 Druck: Alder Print und Media AG, 9245 Oberbüren

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