Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels - Hindernisfreie Architektur
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
bulletin 064 Hindernisfrei wohnen: Wohnungsmarkt und Labels > Teilzeitjob Wohnungssuche 2 > Gebäudelabel: Marketing oder Hilfsmittel? 5 > Mitteilungen / Weiterbildung 7 > Kolumne: Kampf mit Geräten und Lichtblicke 8 www.hindernisfreie-architektur.ch August 2020
>> Grundlagen Teilzeitjob Wohnungssuche Es braucht mehr bezahlbare hindernisfreie Wohnungen, vor allem an gut erschlossenen Lagen. Doch in Deutschschweizer Städten sind nur wenige der ausgeschriebenen Wohnungen rollstuhlgängig. Die Lösung lautet: anpassbarer Wohnungsbau, ein Konzept, das die Fachstelle schon seit den frühen 1990er-Jahren propagiert. der Küche liess er ein Podest bauen, damit die Höhe der Arbeitsfläche nicht verändert werden musste. Die Elemente unter Kochherd und Spüle wurden ent- fernt, damit er mit dem Rollstuhl darunterfahren kann. «Wenn ich ausziehe, ist alles einfach rückbaubar», sagt Herzig. Das ist anpassbarer Wohnungsbau. Ein altes Konzept für zeitgemässe Lösungen Immer öfter vermarkten Bauträger ihre Wohnungen als behinderten- und altersgerecht. In Realität sind roll stuhlgerechte Wohnungen oft nicht verfügbar, wenn sie gebraucht werden. Zudem werden in Über- bauungen oft nur Wohnungen für Einzelpersonen be- hinderten- und altersgerecht gebaut. Aber vielleicht hat ein Betroffener ja Familie. Deshalb ist der anpass- bare Wohnungsbau als Konzept ideal. Die Fachstelle gab bereits 1992 die Richtlinien «Wohnungsbau, hin- dernisfrei – anpassbar» als Planungshilfe heraus. Da längst nicht alle Wohnbauten unter die gesetzlichen Bestimmungen fallen und auch die minimalen Anfor- derungen der SIA-Norm 500 nicht konsequent umge- setzt werden, ist der Bestand an effektiv anpassbaren Wohnungen trotz Baukonjunktur bescheiden geblie- ben. Während die Nachfrage nach rollstuhlgängigen Wohnungen wegen der medizinischen Erfolge und der © Fachstelle Alterung der Gesellschaft gestiegen ist, blieb der Anteil der als rollstuhlgängig ausgeschriebenen Mietobjekte So geht anpassbarer Wohnungsbau: Um sich im Sitzen sehen stabil bei 7 Prozent 1, in den Deutschschweizer Städten zu können, wird unter dem Spiegelschrank ein Spiegel waren es nur gerade 3,4 Prozent 2. montiert. Zugunsten der Manövrierfläche wird das Bidet neben dem WC entfernt. «Es hapert bei Umsetzung und Kontrolle» «Meine Wohnungssuche wird sich länger hinziehen», «Die Suche nach einer passenden Wohnung ist extrem sagt Basil Herzig. Der Innenarchitekt ist seit einem Ver- frustrierend», sagt Basil Herzig. Viele private Anbieter kehrsunfall vor 13 Jahren querschnittgelähmt. Derzeit hätten gar keine Ahnung, was rollstuhlgängig bedeu- in einem Vorort von Lugano wohnhaft, sucht er aus te. «Oft meinen sie, es reiche, wenn man ohne Stufen Jobgründen eine Wohnung in Zürich. in ein Haus kommt.» Deshalb setzt Herzig seine Such- Im Tessin wohnt er in einem Haus, das sein Bruder ge- filter selbst, durchforstet die Vermietungsplattformen baut hat. «Das Bauen liegt in unserer Familie. Auch etwa mit den Suchbegriffen «Neubau» und «Lift». mein Vater ist Architekt», erzählt er. Seine Wohnung Beim Zugang – von der Garage zum Lift bis zur Woh- liess sich mit wenig Aufwand anpassen. «Im Badezim- nung – hapere es aber oft auch bei Neubauten. Bei mer habe ich das Bidet rausnehmen lassen, damit ich einer Wohnung, die Herzig besichtigte, war der Zugang genug Platz habe, und beim WC und der Badewanne von der Garage das Problem. «Auf dem stark geneigten Haltegriffe montiert.» Zwischen den beiden Fronten in Garagenboden die Bremse ziehen, mit dem Schlüssel bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 2
>> Grundlagen die schwere Türe entriegeln, aufstossen und zuletzt noch einen Absatz überwinden, das ist für jemanden im Rollstuhl einfach nicht möglich», sagt der Innenar- chitekt. Auf Portalen studiert er Fotos und Grundrisse ganz ge- nau, besonders von Küche und Badezimmer. Bei Insel- küchen befänden sich Spülbecken und Kochherd oft auf verschiedenen Fronten. «Einen Topf Spaghetti vom Herd nehmen und zum Abgiessen auf die andere Front tragen kann ich einfach nicht.» Das sei aber auch für viele andere Menschen, etwa Senioren, nicht möglich. «So eine Küche kann man nicht einmal sinnvoll um- bauen», schimpft Herzig. Ähnlich sei es im Badezim- © Fachstelle mer, wo das WC oft zwischen Lavabo und Badewan- ne gesetzt werde statt das Lavabo in der Mitte, damit seitlich von WC und Badewanne Haltegriffe montiert Ohne Stufen und Schwellen sind alle Wohnbereiche, auch werden könnten (siehe Tipps, S. 4). «Der anpassbare Balkon oder Terrasse, hindernisfrei zugänglich. Wohnungsbau ist eine Willensfrage», stellt der Innen- architekt fest. Die Normen seien gut gemacht, es ha- zept des anpassbaren Wohnungsbaus zu verankern. pere aber bei der Umsetzung und der Kontrolle. Sie will zudem Lösungen aufzeigen, die nicht nur Men- Diese Aussage bestätigt eine Studie von 2016 3. Es schen mit einer Behinderung, älteren Bewohnern oder mangle zudem bei einer Mehrheit der Architekten, Be- Familien mit Kindern zugutekommen, sondern den hörden und Bauherrinnen an Bewusstsein. Viele bau- Komfort für alle erhöhen. ten, ohne sich zu fragen, wie ein Gebäude und seine Umgebung für Menschen mit einer Behinderung funk- Sechser im Lotto tioniere. Zudem würden bei einem Umbau die Mehr- Als Matyas Sagi-Kiss im Frühling 2019 die Kündigung kosten für bauliche Anpassungen oft zu hoch einge- für seine Wohnung erhielt, stellte auch er sich auf eine schätzt, sodass von den erforderlichen Massnahmen längere Suche ein. Der Zürcher Bezirksrat, der seit sei- abgesehen werde. Deshalb, so das Fazit der Studie, ner Geburt cerebral gelähmt ist und deshalb im Roll- sollten nicht die Gesetze verschärft, sondern Anreize stuhl sitzt, wohnt in einer Parterrewohnung mit Garten geschaffen und die Gesellschaft für das Thema sensi- in der Uetlihof-Siedlung in Zürich. Diese soll abgerissen bilisiert werden. werden, obwohl sie erst Ende der 1980er-Jahre er- Die Richtlinie der Fachstelle für hindernisfreie Archi- baut und 2011 saniert wurde. «Du übertreibst!», sag- tektur ist vergriffen und wird neu aufgelegt. Die über- ten seine Nachbarn und die Eltern, die im selben Haus arbeitete Planungshilfe wird dazu beitragen, das Kon- wohnen, als er gleich mit der Wohnungssuche begann. Denn die meisten Bewohner haben die Kündigung an- gefochten und rechnen damit, dass der Prozess sich noch eine Weile hinziehen wird. Doch Sagi-Kiss woll- te eine schöne Wohnung, nicht einfach ein Dach über dem Kopf. Zentral gelegen, damit er wenig fremde Hil- fe beanspruchen muss. «Ich habe gesucht wie blöd», erinnert er sich. «Es war ein Teilzeitjob, deshalb wur- de ich relativ schnell fündig.» Dass er gute Referen- zen und ein stabiles Einkommen hat, habe sicher auch geholfen. Zudem sei er gesellig und habe ein intaktes Netzwerk, das ihn unterstütze. Er meldete sich auch bei der Baugenossenschaft Kalk- breite an, die an der Zollstrasse ihre zweite Siedlung baut. Doch grosse Chancen rechnete sich der Wirt- © Fachstelle schaftsjurist nicht aus. Ein anderes Angebot konkre- tisierte sich schneller: in einem ehemaligen Büroge- Die Elemente unter Herd und Spülbecken wurden entfernt und bäude, das zu einem Wohnbau umgenutzt wird. Doch der Boden mithilfe eines Podests erhöht. nachdem er den Vertrag bereits unterschrieben hatte, bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 3
>> Grundlagen stellte sich heraus, dass ausgerechnet in seiner Woh- nung eine fast zwei Meter hohe Treppe auf den Bal- kon führte. «Dabei wussten die Vermieter doch, dass ich eine rollstuhlgängige Wohnung brauche», wundert sich Sagi-Kiss. Kaum hatte er die Hiobsbotschaft erhal- ten, rief ihn die Vermietung der Kalkbreite Zollstrasse an: Sie wollten ihm eine Wohnung geben. «Ich bin fast umgefallen vor Glück», sagt Sagi-Kiss, «es war wie ein Sechser im Lotto!» Er konnte ohne Folgen vom be- reits unterzeichneten Vertrag der anderen Wohnung zurücktreten. Die Wohnung an der Zollstrasse liegt im obersten Geschoss und ist dank Fenstern auf zwei © SAHB / FSCMA Seiten sehr hell. Doch auch im Paradies ist nicht alles perfekt. Im Badezimmer war die Dusche zwischen WC und Lavabo geplant, und ein Mäuerchen hätte deren Nutzung mit dem Rollstuhl verunmöglicht. «Sie haben Dank ausziehbarer Schränke stehen die Lebensmittel in greif- es aber dann gleich für mich anders geplant und noch barer Nähe. weitere erforderliche Anpassungen vorgenommen.» Sagi-Kiss erhält sogar eine Badewanne, denn cerebral Gelähmte frieren in der kalten Jahreszeit oft, weil sie Tipps & Tricks den ganzen Körper spüren, ihn aber nicht bewegen >> WC und Dusche je in einer Raumecke, sodass können. Auch für die Küche konnte der Neumieter bei Bedarf L-Haltegriffe und Duschsitz montiert Wünsche anbringen. Dafür hat Sagi-Kiss die Baubera- werden können. tung der Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ) >> In der Küche Abstellfläche von min. 0,25 m und um Hilfe gebeten. «Viele kennen dieses Angebot der max. 0,90 m zwischen Herd und Spüle, damit kantonalen Fachstellen für hindernisfreies Bauen lei- ein Topf hin- und hergeschoben werden kann. der gar nicht», bedauert er. Wer die Kosten für die An- >> Kleine Räume wie WC, Duschraum, Reduit mit passungen trägt, ist noch offen. Türen, die nach aussen öffnen, um den Nutz- Einige architektonische Konzepte der Genossenschaft, raum zu vergrössern und eine spätere Anpas- die ökologisch Sinn machen, schliessen Matyas Sagi- sung der Tür zu vermeiden. Kiss und andere Bewohner, die nicht gut zu Fuss sind, >> Abstellfläche im Eingangsbereich oder Reduit trotzdem teilweise oder ganz aus. Etwa die Gefrierfä- min. 1,80 m breit, damit Hilfsmittel (Zuggeräte, cher im unterirdischen Gemeinschaftsfreezer oder die Sport- oder Ersatzrollstuhl) abgestellt werden Waschküche im Nachbargebäude. «Es gibt Dinge, die können. nicht perfekt sind», konstatiert Sagi-Kiss nüchtern. >> Keine Schwellen und Stufen, damit alle Wohn- Trotzdem fühlt er sich privilegiert und glücklich, bald in und Nebenbereiche mit Hilfsmitteln zugäng- der Kalkbreite Zollstrasse einziehen zu dürfen. lich sind und Besucher mit Rollstuhl empfangen werden können. >> Clever eingesetzte Smart-Lösungen und indivi- duell angepasste Bedienelemente, mittels de- rer sich Licht, Sonnerie, Storen oder Lüftung steuern lassen. Quellen: 1 «Rollstuhlgängige Wohnungen sind gefragt», Analyse des Immobilien-Marktplatzes von Comparis, www.comparis.ch, 2015 (zuletzt abgefragt: 15. 5. 2020). 2 «Kaum eine Stadtwohnung ist rollstuhlgängig», Comparis- Analyse zu barrierefreien Wohnungen, www.comparis.ch, 2016 (zuletzt abgefragt: 12. 5. 2020). 3 Eva-Christiane Debatin, «Die Bereitstellung von hindernis- freiem Wohnraum – Einflussfaktoren auf dem Immobili- enmarkt», Abschlussarbeit MAS in Real Estate, Universität Zürich, 2016. bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 4
>> Grundlagen Gebäudelabel: Marketing oder Hilfsmittel? Helfen Labels Menschen mit einer Behinderung bei der Wohnungssu- che, beim Reisen, in der Freizeit? Was können Bauherren, Gemeinden und Organisationen tun, um möglichst grossen Nutzen zu generieren? Ein Blick auf Nachhaltigkeitslabels und ein Projekt von Pro Infirmis, das als Anregung dienen könnte. Ein neues Wohnhaus oder ein Bürogebäude ist in Pla- Platin – wird aufgrund der erreichten Durchschnitts nung. Da taucht die Frage auf, ob man mit einem Label note ausgestellt. Und hier liegt das Problem: Ein Durch- oder Zertifikat dokumentieren möchte, wie nachhaltig schnittswert aus 120 Parametern gibt keine Auskunft und hindernisfrei man baut. Nicht bloss als Marketing- darüber, wie die Hindernisfreiheit konkret umgesetzt instrument, sondern auch, um Menschen mit Behinde- wurde. Möglicherweise wurde genau das eine Element rungen anzusprechen. nicht berücksichtigt, das für einen bestimmten Men- Derzeit gibt es in der Schweiz zwei Labels, die expli- schen mit seiner individuellen Behinderung elementar zit die Hindernisfreiheit im Hochbau bewerten: den ist, sei es eine Schwelle, die Grösse des Lifts oder die «Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz» SNBS sowie Platzierung der Toilette in der Nasszelle. Die Vergleich- das Label des Vereins «Living Every Age» (LEA). Wäh- barkeit, die das Label verspricht, hilft den Wohnungs- rend das LEA-Label ausschliesslich für einzelne Woh- suchenden somit kaum. nungstypen oder Wohnungen vergeben wird, können Bei LEA melden Betroffene ebenfalls Vorbehalte an, mit dem SNBS auch Büro- und Verwaltungsgebäude denn auch «Living Every Age» ermittelt einen Durch- zertifiziert werden. Bildungseinrichtungen und Infra- schnitt, um Bronze bis Platin zu verleihen. Der Verein strukturbauten sollen folgen. verspricht zwar: «Den unmittelbarsten Nutzen vom Label haben (…) ältere Menschen sowie Menschen mit Behinderungen oder körperlichen Einschränkungen.» Doch um Gold zu erhalten, müssen nur 75 Prozent der Kriterien erfüllt sein – wie weiss ich, ob die für mich entscheidenden dabei sind oder nicht? Für das Platin- Label müssen zudem gegen tausend Anforderungen erfüllt sein. Ob das eine realistische Vorgabe ist, darf © insor.ch, Entwickler der LEA-Label-App bezweifelt werden – und würde sie eingehalten, wären die Wohnungen wohl für viele unerschwinglich. Im Wohnungsbau wenig hilfreich Für Menschen mit einer Behinderung sagen die La- bels also nicht viel mehr aus, als dass sich ein Bauherr grundsätzlich mit dem Thema Hindernisfreiheit be- schäftigt hat. Auch ist Behinderung nicht gleich Behin- Label sagen oft nicht viel mehr aus, als dass sich ein Bauherr derung: Betroffene haben sehr unterschiedliche Be- mit dem Thema Hindernisfreiheit beschäftigt hat. Doch Betrof- dürfnisse bezüglich Hindernisfreiheit. fene haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Und bei der Wohnungssuche sind Kriterien wie Distanz zum Arbeitsort, Lage und Umgebung ebenso wichtig. Durchschnittswerte sind nicht aussagekräftig Deshalb müssen Menschen mit einer Behinderung in «Labels machen Nachhaltigkeit messbar respektive jedem Fall vor Ort abklären, ob eine Wohnung für sie vergleichbar», heisst es auf der Website des Netzwerks funktioniert. Nachhaltiges Bauen Schweiz. Der Schwerpunkt des Labels sind also primär Marketinginstrumente, ihr Nut- SNBS-Labels liegt historisch auf ökologischer Nach zen für die Betroffenen ist gering. Dazu kommt, dass haltigkeit; heute ist das Einhalten der SIA-Norm 500 es Private sind, die die Labels vergeben und somit die eines von rund 120 Kriterien, die für die Zertifizierung Hindernisfreiheit beurteilen. Betroffene hätten mehr bewertet werden. Das Zertifikat – in Silber, Gold und davon, wenn Bauherren auf eine Zertifizierung verzich- bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 5
>> Grundlagen teten und stattdessen in wirklich gute hindernisfreie dann das passende Piktogramm zuordnet. Die Pikto- Lösungen gemäss SIA 500 oder – noch besser – gemäss gramme sind ein erster Hinweis. Sie werden ergänzt Richtlinien der Fachstelle (siehe Beitrag, S. 2) inves- mit Fotos und Massen der Örtlichkeit sowie Bemer- tierten – und sich bei Fragen von einer kantonalen Be- kungen der Erhebenden, um so viele und so genaue ratungsstelle unterstützen liessen. Die Erfahrung zeigt, Informationen wie möglich bereitzustellen. Die Part- dass viele Mängel verhindert werden können, wenn nerorganisationen können die Informationen über eine sich Architekten in einem frühen Planungsstadium an Schnittstelle direkt auf ihren Websites einbinden. eine Fachstelle wenden. Guter Ansatz, aber … Die Idee, so konkrete Angaben zur Nutzung wie mög- lich zu machen, wird von der Fachstelle grundsätzlich sehr begrüsst. Allerdings ist der Aufwand, sie zu sam- meln und stets à jour zu halten, immens. Und da vie- le verschiedene Menschen die Daten erfassen, bleibt Unterstützung beim Reisen und in der Freizeit eine gewisse Unsicherheit für Nutzerinnen und Nutzer. Für Restaurants, Hotels, den öffentlichen Verkehr, Mu- Auch wird es noch lange dauern, bis alle circa 150 000 seen oder Arztpraxen gibt es bis heute keine vergleich- öffentlich zugänglichen Bauten der Schweiz erfasst baren Labels – was nicht weiter schlimm ist angesichts und die Informationen dazu leicht auffindbar sind. ihres eingeschränkten Nutzens. Doch Menschen mit einer Behinderung brauchen Informationen zur Hin- dernisfreiheit, wenn sie sich auf unbekannte Wege begeben oder ein neues Lokal besuchen. Heute bleibt ihnen in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als vorgängig anzufragen, ob etwa das WC im Restaurant rollstuhlgängig oder der Lift im Hotel gross genug ist. Fazit Dabei variieren die Bedürfnisse: Geht es um ein Hotel Menschen mit einer Behinderung brauchen so de- für eine Nacht, ist für eine Rollstuhlfahrerin die Nähe taillierte Informationen wie möglich. Labels sind ein zum Bahnhof vielleicht wichtiger als der schwellenlo- möglicher Weg, aber nur dann, wenn sie sich auf we- se Zugang zum Balkon; für einen kurzen Mittagslunch nige, wesentliche Kriterien konzentrieren – die für ein kommt auch ein Restaurant in Betracht, bei dem das Schulhaus, ein Hotel oder Bahnwagen natürlich jeweils WC noch nicht angepasst wurde, für ein Abendessen andere sind. Ergänzend ist es zu begrüssen, wenn öf- auswärts jedoch nicht. Ein schweizweites Projekt von fentlich zugängliche Einrichtungen Angaben zur Hin- Pro Infirmis will daher Menschen mit einer Behinde- dernisfreiheit auf ihren Websites publizieren – und rung aufzeigen, wie gut öffentliche Einrichtungen für zwar möglichst genau. Manchmal kommt es auf Zen- sie nutzbar sind. timeter an. Behindertenorganisationen können dabei unterstützen. Wirkungsvoll sind Bewertungsprozesse ausserdem, wenn durch die Auseinandersetzung damit bei allen Erneuerungen oder kleineren, auch nicht bewilligungs- pflichtigen Umbauten Hindernisse entfernt werden. Das darf dann gerne auch auf der Website publik ge- Kein Label, aber konkrete Nutzerhinweise macht werden! Pro Infirmis verwendet eine Reihe von Piktogram- men, die einzelne, für Menschen mit Behinderungen entscheidende Elemente zeigen, etwa ob ein Verwal- tungsgebäude, Hotel, Restaurant, Museum oder Kino vollständig rollstuhlgängig ist oder nur eingeschränkt, ob auch eine rollstuhlgängige Toilette oder eine Induk- tionsanlage für Hörbehinderte vorhanden ist. Um mög- lichst viele Gebäude zu erfassen, arbeitet Pro Infirmis mit Kommunen, Tourismusorganisationen und Verbän- den zusammen. Die Objekteigenschaften werden von Freiwilligen mithilfe einer App strukturiert erfasst, die bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 6
>> Mitteilungen >> Weiterbildung Ferienwohnungen – absatzlosen Fenstertürschwellen 17. / 18. 9. 2020, 9.30 – 17 Uhr, Zürich nutzbar für alle auf den Grund. Dem Austausch Zweitägiger Einführungskurs Im Auftrag der Stiftung Denk an zwischen Podiumsgästen, Herstel- «Grundkenntnisse des mich hat die Fachstelle eine lern und Publikum wird an dem hindernisfreien Bauens» für Checkliste für Ferienwohnungen halbtägigen Anlass grosses Ge- Planende, Behörden, Interessierte erarbeitet. Die Liste führt einer- wicht beigemessen, was sich im Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 650.–, seits die Mindestanforderungen Programm widerspiegelt (Details Gönner Fr. 350.– nach Norm SIA 500 auf und zu Anlass und Anmeldung siehe andererseits eine «Qualitätsstufe «Weiterbildung»). 21. 9. 2020, 13.15 – 17.30 Uhr, Denk an mich» mit Massnahmen, Museum für Gestaltung, Zürich die das Angebot an geeigneten Position der Fachstelle zur Symposium «Fenstertür- Wohnungen in einer Ferienanlage Umsetzung hoher Haltekanten schwellen» Austausch mit Urs für die verschiedenen Nutzer Warum macht die Schweizer Spuler, Präsident Kommission massgeblich verbessern sollen. Fachstelle Einsprachen und SIA 271, Roman Brantschen, Adrian Es geht nicht um mehr Komfort, Rekurse bei Projekten für Bushal- Streich Architekten AG, Remo Petri, sondern darum, Wohnungen testellen? Wie beurteilt sie die Procap, GU / Bauträger (noch verfügbar zu machen, die Men- Machbarkeit von hohen Haltekan- offen), Podiumsleitung: Joe Manser schen im Rollstuhl einerseits ten? Welche Ausnahmen sind in Rahmenprogramm: Produktaus- selbstständig nutzen können und welchen Situationen möglich? – stellung; Kosten: Nicht-Mitglieder die es andererseits Angehörigen Hindernisfreie Architektur kommu- Fr. 120.–, Gönner Fr. 70.– und Begleitpersonen erleichtern, niziert im neuen Positionspapier, eine hilfsbedürftige Person zu nach welchen Kriterien die Fach- 29. 10. 2020, 9.30 – 17 Uhr, Zürich unterstützen. Die Checkliste, stelle die einzelnen Projekte Weiterbildung «Hindernis- die die Stiftung speziell für Reka- evaluiert. Die Ausführung hoher freie Architektur im Feriendörfer entwickeln liess, Haltekanten, die als einzig brauch- Baubewilligungsverfahren» wird die Fachstelle davon losgelöst bare Lösung für den autonomen für Baubehörden und mit dem als Planungshilfe für alle Ferien- Einstieg mit Hilfsmitteln in den Bus Vollzug der baugesetzlichen wohnungen und Ferienanlagen gilt, hat eine besondere Bedeutung Bestimmungen Beauftragte publizieren. für die Umsetzung der Gleich Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 350.–, stellung im öffentlichen Verkehr. Gönner Fr. 200.– SIA 271 «Abdichtungen im Dies gilt insbesondere bei Bus- Hochbau» bahnhöfen. Auf der Website der 26. 11. 2020, 9 – 16.15 Uhr, Zürich Die Norm SIA 271 Abdichtungen Fachstelle finden Sie das Positions- Vertiefungskurs «Sehbehin- im Hochbau ist in Revision. Der papier unter «Aktuell». dertengerechte Bauten» für Entwurf von 2019 stiess in der Fachpersonen in Orientierung, Mo- Vernehmlassung auf viel Kritik und Mutationen bilität oder hindernisfreiem Bauen Ablehnung. Auch die Kommission >> Nadine Kahnt, dipl. Ing. FH / Inhalt: bauliche Anforderungen, SIA 500 meldete Bedenken an. MAS ETH, verstärkt seit Juni Signaletik, Beleuchtung, Kontraste Nach wie vor werden in der 2020 das Team der Schweizer Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 420.–, revidierten Ausgabe rollstuhlge- Fachstelle für hindernisfreie Gönner Fr. 320.– rechte Schwellen nur als Abwei- Architektur. Mit ihrer breiten chung vom Regelfall thematisiert. Erfahrung als Architektin und 3. 12. 2020, 9 – 16.15 Uhr, Zürich Neu eingeführte Anforderungen Publizistin ergänzt sie die Vertiefungskurs «Sehbehinder- führen zudem dazu, dass eine Fachstelle bestens. tengerechter Verkehrsraum» rollstuhlgerechte Schwelle mit >> Eva Bühlmann, Architektin mit für spezialisierte Fachpersonen Holzrahmen oder Holz-Metall- mehrjähriger Erfahrung als in Orientierung und Mobilität oder Rahmen nur unter erheblichen Bauverwalterin, ergänzt das hindernisfreiem Bauen Einschränkungen möglich ist. Team der Fachstelle «Hinder- Inhalt: bauliche Anforderungen, Die Problematik ist brisant, und nisfrei Bauen Luzern». Abgrenzungen, Querungen, die neue Regelung hätte weit Leitliniensysteme reichende Folgen. Deshalb geht Kosten: Nicht-Mitglieder Fr. 420.–, das Symposium der Fachstelle Gönner Fr. 320.– vom 21. September der Proble matik von rollstuhlgerechten, Anmeldung: fachstelle@hindernis- freie-architektur.ch bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 7
>> Kolumne Kampf mit Geräten und Lichtblicke Wie sehr meine eigene Wohnung auf meine Bedürfnisse als Sehbe- hinderte eingerichtet ist, wird mir meist dann bewusst, wenn ich bei Freunden zu Gast bin und ihre Küche anschaue. Mein Ceran-Kochherd ist in die Jahre gekommen, doch Manchmal kommt uns die technische Entwicklung zu ich mag ihn, denn seine Drehknöpfe rasten ein, die Hilfe, etwa durch sprachgesteuerte Haustechnik (Be- Icons zu den verschiedenen Programmen des Back- leuchtung, Rollläden) oder Unterhaltungselektronik. ofens sind gut sichtbar. Daher zögere ich einen Ersatz Bei Freunden sehe ich: Wenn die Dinge mal installiert heraus, so lange es geht. Die neuen, smarten Geräte sind, ist die Benutzung eine Entlastung. Nur eben, die sind in den Kontrasten meist nobel sparsam gehal- Angst vor Pannen und der damit verbundenen Abhän- ten. Die Induktionskochfläche hat diskrete Aufdrucke gigkeit von Fachleuten lässt zögern. vorne auf der Kochplatte, nicht tastbar. So müsste ich Zum Schluss noch zu einem Thema, bei dem ich in dann wohl jedes Mal eine kleine Verbeugung vor mei- Rage geraten kann: der Lift. Es ist mir unverständlich, nem Kochherd machen, um auch ja am richtigen Ort zu warum Aufzüge so benutzerunfreundlich sein müssen. tippen. Immerhin habe ich das Privileg, in den eigenen Sofern nicht Touchscreen, liegt es meistens nicht an vier Wänden zu wohnen und so selbst entscheiden zu den Tasten. Doch die Beschriftungen, schwarz auf Me- können, welches Modell Backofen oder Waschmaschi- tall, liefern null Kontrast. Und um die Bedienung gänz- ne ins Haus kommt. lich unmöglich zu machen, hat es neben dem Tableau Wie sehr man sich aber auch an schlechte Bedingungen ein Lichtband, das die Knöpfe in keiner Weise beleuch- gewöhnen kann, machte mir die Beleuchtung im Ein- tet, dafür die Benutzerin blendet. Eine diskrete Stock- gangsbereich deutlich. Als wir vor zwei Jahren die Re- werkansage wäre auch kein Luxus, bald jedes noch so novation von Badezimmer und WC in Angriff nahmen, billige Kinderspielzeug kann sprechen. lag es nahe, das Entree miteinzubeziehen. Seither wird Bei der Gestaltung im Innenbereich und von Geräten der ganze Bereich mit eingebauten LED-Deckenspots erlebe ich oft einen Gegensatz zwischen Design und gut und blendfrei ausgeleuchtet. Kein Vergleich zu vor- Funktionalität, und mein Eindruck ist, dass dem Design her, das Hereinkommen ist jedes Mal eine Freude. der Vorzug gegeben wird. Oder Spezialanfertigungen Kontraste und Beleuchtung sind das A und O. Kommen sind potthässlich. Aber so wie ein brillanter Koch sich taktile Elemente dazu, die auch ohne Hingucken die dadurch auszeichnet, auch aus einfachsten Zutaten ein Bedienung eines Geräts erleichtern, ist mir das eine raffiniertes Gericht zu zaubern, so würde sich für mich grosse Hilfe. Immer alles aus nächster Nähe anschauen intelligentes Design dadurch auszeichnen, dass es die zu müssen, führt bei Sehbehinderten nicht selten zu Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer – auch seh- Haltungsschäden und schmerzhaften Verspannungen behinderter und blinder – integriert, ohne dass man es im Nackenbereich. dem Gebäude oder dem Gerät am Ende ansieht. Gummierte Klebepunkte helfen, Haushaltgeräte taktil Erwarte ich zu viel? nachzurüsten oder im Wohnblock den eigenen Klingel- knopf für sehbehinderte Freunde zu markieren, sofern Bettina Gruber Haberditz dies geduldet wird. Was in Wohnblocks jedoch meist fehlt: gut sichtbare Stufen im Treppenhaus. Kantonale Beratungsstellen Impressum Beraterinnen und Berater für Ihr Projekt mit spezifischem Titelbild: © Christopher Kelemen / Wings for Life Inter- Know-how für den jeweiligen Kanton: national, Salzburg (A) www.hindernisfreie-architektur.ch / beratungsstellen Herausgeberin: Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle, Kernstrasse 57, 8004 Zürich Auflage: 1500 Ex. deutsch, 500 Ex. französisch Druck: Alder Print und Media AG, 9245 Oberbüren bulletin Nr. 64 – August 2020 | Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle 8
Sie können auch lesen