Im Dialog mit Gott Die Schicksalsgemeinschaft von Sara und Tobit (Tob 3)
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Im Dialog mit Gott Die Schicksalsgemeinschaft von Sara und Tobit (Tob 3) Von Michael Fieger Das Gebet eines alten Mannes und das einer jungen Frau stehen im Zentrum des dritten Kapitels des Tobitbuches. Tobit aus Ninive in Assyrien und Sara aus Ekbatana in Medien wenden sich, ohne etwas von einander zu wissen, gleichzeitig in ihrer Not an Gott. Wegen ihres grossen Leides beabsichtigen sie beide Selbstmord zu begehen. Sie befinden sich in einer ausweglosen Situation ohne mitmenschliche Beratung. Das von Gegensätzen, alt – jung, männlich – weiblich, Ninive – Ekbatana, geprägte dritte Kapitel des Tobitbuches wirft die Frage nach dem Sinn des Dialogs mit Gott auf. Denn sowohl für Tobit als auch für Sara ändert sich, nachdem sie ihr Gebet gesprochen haben, an ihrer Situation zunächst einmal gar nichts. Das Leben scheint wie bisher weiterzugehen. 1. Zur Textüberlieferung des Tobitbuches Eine besondere Schwierigkeit bei der Bearbeitung des Tobitbuches bereitet die Textüberlieferung, denn der Gesamttext ist nur auf griechisch überliefert. Der hebräische Text liegt in Fragmenten vor. In Höhle 4 aus Qumran wurden 1952 zahlreiche aramäische und hebräische Textfragmente aus dem Tobitbuch entdeckt. Diese Textfragmente gelten in der neueren Forschung als ein Beleg dafür, dass das Tobitbuch ursprünglich entweder auf aramäisch oder hebräisch verfasst wurde. Auch wenn eine endgültige Entscheidung nicht getroffen werden kann, kommt einer aramäischen Vorlage eine grössere Wahrscheinlichkeit zu.1 Der griechische Text des Tobitbuches lässt sich in zwei grossen Gruppen zusammenfassen, die mit GI und GII bezeichnet werden. Es handelt sich um zwei voneinander abhängige Textformen. Die längere und von Semitismen geprägte Version GII, im Gegensatz zur kürzeren Version GI, entspricht im wesentlichen der Textform der hebräischen und aramäischen Fragmente aus Qumran. GI stellt den Text aus dem Codex Vaticanus (IV. Jh.), Codex Alexandrinus (V. Jh.), Codex Venetus (VIII. Jh.) und einer Anzahl von Minuskelhandschriften dar. GII, der den Text aus dem Codex Sinaiticus (IV. Jh.) und der Minuskelhandschriften 319 (=Tob 3,6-6,16) und 910 (=Tob 2,2-8) wiedergibt, ist die originellere Version. Die Vetus Latina folgt im wesentlichen dem Text aus dem Codex Sinaiticus.2 Im folgenden wird das dritte Kapitel des Tobitbuches in der Version aus GII in der Übersetzung von Beate Ego vorgestellt.3 1 Zu den aramäischen und hebräischen Textfragmenten aus Qumran mit weiteren Literaturangaben siehe Ego, Tobit 876-881. 2 Zur Wiedergabe des Tobitbuches in der Vetus Latina und Vulgata siehe Ego, Tobit 881-883.
2 2. Übersetzung von Tob 3,1-17 1. Und ich wurde sehr betrübt in der Seele und seufzend weinte ich und begann unter Klagen zu beten: 2. „Gerecht bist du, Herr, und alle deine Werke sind gerecht, und alle deine Wege sind Barmherzigkeit und Wahrheit. Du richtest die Welt. 3. Und nun, Herr, gedenke du meiner und sieh (mich an) und strafe nicht meine Sünden und meine unwissentlichen Vergehen noch die meiner Väter, mit denen sie vor dir gesündigt haben. 4. Und ich habe deine Satzungen nicht befolgt, und du gabst uns dahin zu Plünderung und Gefangenschaft und Tod und zu Vorwurf, zu Gerede und zum Spott vor allen Völkern, unter die du uns zerstreut hast. 5. Und nun sind deine vielen Gerichte wahr, die du aufgrund meiner Sünden an mir tust, weil wir deine Gebote nicht getan haben und nicht in Wahrheit vor dir gewandelt sind. 6. Und nun, nach deinem Wohlgefallen tue mit mir und befiehl, dass mein Geist von mir weggenommen werde, dass ich erlöst werde vom Angesicht der Erde und (wieder) Erde werde. Denn es ist besser für mich zu sterben als zu leben, weil ich falsche Schmähungen hören muss und grosse Betrübnis in mir ist. Herr, befiehl, dass ich erlöst werde von dieser Not, erlöse mich zum ewigen Ort und wende nicht dein Angesicht, Herr, von mir. Denn es ist besser für mich zu sterben als grosse Not zu sehen in meinem Leben und (somit) keine Schmähungen (mehr) zu hören.“ 7. Am selben Tag widerfuhr es Sara, der Tochter Raguels aus Ekbatana in Medien, dass auch sie Schmähungen von einer der Mägde ihres Vaters hören musste. 8. Sie war nämlich sieben Männern (zur Frau) gegeben worden, aber der böse Dämon Asmodäus hatte sie getötet, ehe sie zu ihr eingehen konnten, wie man es bei Frauen üblicherweise tut. Und die Magd sagte zu ihr: „Du bist es, die deine Männer tötet. Siehe, du wurdest schon sieben Männern gegeben, und nicht nach einem von ihnen wurdest du benannt. 9. Was züchtigst du uns wegen dieser deiner Männer, da sie gestorben sind? Geh doch mit ihnen, und wir wollen in Ewigkeit nicht Sohn oder Tochter von dir sehen!“ 10. An jenem Tag wurde sie betrübt in ihrer Seele und weinte und stieg hinauf in das Obergemach ihres Vaters und wollte sich erhängen. Aber wiederum dachte sie bei sich und sagte: „Niemand soll schmähen meinen Vater und zu ihm sagen: Du hattest nur eine einzige, geliebte Tochter, und die hat sich aus Unglück erhängt. Und ich bringe die grauen Haare meines Vaters mit Schmerz in die Unterwelt. Es ist besser für mich, mich nicht zu erhängen, sondern den Herrn zu bitten, dass ich sterbe und niemals mehr in meinem Leben Schmähungen hören werde.“ 11. In diesem Augenblick streckte sie die Hände aus zum Fenster und betete und sprach: „Gepriesen bist du, barmherziger Gott, und gepriesen (ist) dein Name in Ewigkeiten, und es sollen dich preisen alle deine Werke in Ewigkeit. 3 Tobit 935-944. Beate Ego bietet die Übersetzung von GII und GI. In den Fussnoten werden die Vetus
3 12. Und nun hebe ich mein Angesicht und meine Augen zu dir auf. 13. Befiehl, dass ich von der Erde erlöst werde und dass ich nicht länger Schmähungen hören muss. 14. Du weisst, Herrscher, dass ich rein bin von jeder Verunreinigung mit einem Mann, 15. und dass ich weder meinen Namen noch den Namen meines Vaters im Lande meiner Gefangenschaft befleckt habe. Ich bin die einzige (Tochter) meines Vaters, und er hat kein anderes Kind, dass es ihn beerben könnte, noch hat er einen nahen Bruder oder Verwandten, dass ich mich ihm als Frau erhalten müsste. Schon sieben sind mir umgekommen. Und wozu dient mir noch das Leben? Und wenn es dir nicht gefällt, mich sterben zu lassen, Herr, so höre nun hin auf meine Schmach.“ 16. In diesem Augenblick wurde das Gebet der beiden vor der Herrlichkeit Gottes erhört, 17. und Rafael wurde ausgesandt, die beiden zu heilen: Tobit, indem er die weissen Flecken von seinen Augen löste, damit er mit den Augen das Licht Gottes sähe, und Sara, (die Tochter) des Raguel, indem er sie Tobias, dem Sohn des Tobit, zur Frau gäbe und den bösen Dämon Asmodäus von ihr löse. Denn Tobias hatte ein Recht darauf, sie zu erben, mehr als alle anderen, die sie ehelichen wollten. In jenem Augenblick kehrte Tobit vom Hof zurück in sein Haus, und auch Sara, (die Tochter) Raguels, stieg aus dem Obergemach herab. 3. Sara und Tobit Zu Beginn von Tob 3,7 wird auf eine Gleichzeitigkeit hingewiesen. Am selben Tag als Tobit in Ninive sein Gebet an Gott richtet (Tob 3,1-6), wendet sich auch Sara mit ihrem Anliegen an Gott. Sara (=Fürstin) stammt aus der Hauptstadt des Mederreiches Ekbatana und ist die Tochter Raguels (=Freund Gottes). Eine Magd (Sklavin) ihres Vaters verschmäht sie. Das Stichwort „Schmähungen“ verbindet das Schicksal des Tobit mit dem der Sara. Von Schmähungen ist auch im Gebet des Tobit die Rede (vgl. Tob 3,1-6). Auffallend ist in diesem Zusammenhang die sicherlich nicht unbeabsichtigte Parallele zu Gen 16,4: Sarai, die Frau Abrams, wird von ihrer Magd Hagar gering geschätzt, nachdem diese Abram einen Sohn gebar. Das Leid der Sarai liegt darin, dass sie keine Kinder gebären kann. Auch Hanna aus 1 Sam 1,6f muss sich Schmähungen anhören, weil sie keine Kinder bekommen kann. Schmerzhafte Erfahrungen kennzeichnen auch das Leben der Sara aus dem Buch Tobit. Sie war mit sieben Männern verheiratet, doch ein jeder starb, bevor er mit ihr die erste Nacht verbrachte. Die eine Ganzheit anzeigende Zahl sieben bringt die Abgeschlossenheit der Leiderfahrungen von Sara zum Ausdruck.4 Denn ihr achter Ehemann Tobias, der Sohn des Tobit, wird in der Hochzeitsnacht am Leben bleiben (vgl. Tob 8,1-9). 4. Das Agieren von guten und bösen Kräften Latina, die Vulgata und die anderen Übersetzungen berücksichtigt.
4 Der erste Teil von Tob 3,8 nennt den Grund warum die ersten sieben Männer der Sara sterben mussten.5 Ein böser Dämon mit dem Namen Aschmodai6 (Asmodäus) raffte sie alle dahin. In Tob 6,8 ist davon die Rede, dass ein Mann oder eine Frau von einem Dämon oder einem bösen Geist gequält werden kann. Der Ursprung des Namens Aschmodai vielleicht persischer Herkunft (vgl. Schumpp, Tobias 64f) lässt sich mit Sicherheit nicht herleiten, könnte aber die Bedeutung „Verderber“(vgl. 2 Sam 24,16; Weish 18,25; Offb 9,11) haben. Im Buch Tobit jedenfalls ist er der Feind der Eheleute. Beim Betreten des Brautgemaches der Sara mussten die ersten sieben Ehemänner sterben. Der Grund warum dies geschah, wird in Tob 6,15 (GI) angegeben. Der Dämon ist in Sara verliebt und bringt deshalb alle Männer um, die dieser Frau nahekommen.7 Folgende Vorstellung wird dabei deutlich: Der Mensch wird von guten und bösen Kräften (Dämonen/Engel) umgeben, diese können unter Umständen auf positive oder wie im Fall der Sara, auf negative Weise in die Lebensgeschichte des Menschen einwirken. Die Dämonen sind fähig, Gefühle dem Menschen gegenüber zu manifestieren. Durch List kann sie der Mensch aber bekämpfen. Im Fall des Tobias wird der böse Dämon Aschmodai durch den Räuchergeruch eines verbrannten Herz- und Leberstückes eines Fisches für alle Ewigkeit verbannt (Tob 6,17). Nach Tob 8,3 flieht der Dämon beim Spüren des Brandgeruches in den hintersten Winkel Ägyptens, dort wird er von dem Engel, einem bestimmten Engel, dessen Name nicht genannt wird, gefesselt. Das Böse, in diesem Fall Aschmodai, kann fallweise eliminiert werden, aber nicht vernichtet. Der Kampf zwischen gut und böse, dem der Mensch ausgesetzt ist, kann der Mensch mit Hilfe des Guten bestehen. Nach Tob 6,1-5 überwindet Tobias einen Fisch aus dem Tigris, der ihn verschlingen wollte, mit Hilfe des Schutzengels Rafael. Diesem gefährlichen Fisch, bedrohlich und heilsam zugleich, entnimmt der Protagonist die inneren Organe Herz, Leber und Galle, um sie aufzubewahren und um den Rest des Fisches zu braten und schliesslich zu verzehren. Die zentralen inneren Organe des Fisches benötigt Tobias um später sowohl den Dämon Aschmodai zu vertreiben (Tob 8,1- 3) als auch um dem blinden Vater Tobit wieder das Augenlicht zu schenken (Tob 11,10- 13). Dabei wird die Auffassung des Verfassers des Tobitbuches deutlich, dass das Böse schliesslich dem Guten dient. 4 Anders Schüngel-Straumann, Tobit 84f. Für sie hat die Zahl sieben in diesem Zusammenhang keine grosse Bedeutung. 5 Eine Parallele zu Sara stellt Tamar aus Gen 38 dar. Tamar verliert zweimal ihren Ehemann. Einen Vergleich zwischen Tamar und Sara aus der Sicht feministischer Theologie liefert Schüngel-Straumann in ihrem Exkurs: Tamar und Sara. Die Gefährlichkeit der Frau als „Killer Wife“, Tobit 82-85. Für sie repräsentiert der Dämon aus dem Buch Tobit eine letztlich irrationale Sexualangst der Männer (85). 6 Der Name Aschmodai begegnet im Buch Tobit nur an zwei Stellen: 3,8.17. Ansonsten ist nur vom Dämon ohne nähere Bezeichnung die Rede. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass der Name später hinzugefügt wurde, siehe Miller, Tobias 52. 7 Dass der Dämon Sara liebt, attestieren der Qumrantext 4QTob und die griechische Übersetzung GI - Codex Alexandrinus (A) und Codex Vaticanus (B). GI stellt die kürzere Tobit Handschrift dar. GII dagegen - Codex Sinaiticus (S), die längere Tobit Handschrift - nennt diesen Grund nicht. In manchen Übersetzungen kommt diese Begründung deshalb nicht vor. Siehe weitere Anmerkungen dazu bei Moore, Tobit 205.
5 5. Die Magd der Sara Die Verse Tob 3,8b+9 stellen die Rede der Magd dar. Die Magd bleibt anonym, ihr Name wird nicht angegeben. Die Magd behauptet, dass es Sara sei, die ihre Männer tötet. Sara wird als Mörderin hingestellt. In der Vulgata fragt die Magd sogar: „Willst du etwa auch mich töten, so wie du schon sieben getötet hast?“ Die dramatische Zuspitzung ist offensichtlich. Es erfolgt eine klare Schuldzuweisung. Wie die Magd zu diesem Wissen gelangt ist, wird nicht gesagt. Aufgrund ihrer Aussage möge Sara zugeben, dass sie Recht hat. Mit der Aussage ist ein Bekenntnis intendiert. Die Magd spiegelt mit ihrer Behauptung das Reden der Menschen über Sara wider.8 An ihrer Misere kann nur Sara Schuld sein. Eine andere Erklärung leuchtet nicht ein. Genauso wie Sara erkennt auch die Magd nicht das Agieren des Dämon Aschmodai. Auf die Behauptung der Magd erfolgt von Seiten der Sara keine Antwort. Stattdessen fährt die Magd fort, indem sie Sara daran erinnert, dass sie sieben Männer gehabt hat, die nun alle tot sind. Auf eine beleidigende Art und Weise wird die Protagonistin mit ihrem tragischen Schicksal konfrontiert. Die Magd fragt Sara, mit welchem Recht die Mägde wegen ihrer Männer von ihr so hart behandelt werden. Wenn Sara ihre Männer einen nach dem anderen tötet, wie die Magd das behauptet, so darf Sara ihre Mägde wegen des Todes ihrer Männer nicht quälen. Den Mägden geht es um ihre eigene Situation. Mit zwei Verwünschungen schliesst die Rede der Magd. Sara möge in alle Ewigkeit nicht nur keine Kinder gebären, sondern genauso wie ihre Männer sterben. 6. Der beabsichtigte Selbstmord Tiefe Trauer mit Tränen in den Augen bestimmt den Gemütszustand der Sara (Tob 3,10a). Der Kontrast zu Tobit ist unübersehbar. Auch Tobit richtet sein Gebet an Gott voller Trauer mit Tränen in den Augen (Tob 3,1). Die Rede der Magd ruft starke Leidgefühle in Sara hervor. Diese intensiven Gefühle führen zu einer inneren Überreaktion. Sara möchte sich im Obergemach ihres Vaters aufhängen. Dieser inneren Überreaktion entgegnet sie indes auf reflektive Weise. Es folgt ein Selbstgespräch. Im Mittelpunkt steht ihr Vater. Sie möchte nicht, dass ihr Vater sich Schmähungen anhören muss und ihm vorgeworfen wird, dass seine einzige geliebte Tochter wegen ihres Unglücks Selbstmord begangen habe. Sara ist wie ihr späterer Ehemann Tobias ein Einzelkind (Tob 6,15). Das ist auffallend, denn normalerweise stellen Einzelkinder für fromme Juden eher eine Seltenheit dar. Vielleicht hängt das im Fall der Eltern von Sara und Tobias mit der Situation ihrer Gefangenschaft 8 Schüngel-Straumann, Tobit 84, hält dazu fest: „Gemeinsam in den Aussagen von Gen 38 ist damit, dass die jeweilige Frau mit dem Tod der Männer nichts zu tun hat, sowohl Sara wie auch Tamar sind daran völlig unschuldig. Das sieht der biblische Text so, nicht aber das Umfeld. Sowohl Juda wie auch die Mägde Saras haben den Verdacht, dass es sich bei der Frau um ein gefährliches Wesen handelt. Die biblischen Texte stellen jedoch in beiden Fällen klar: Ursache für den Tod der Männer ist nicht eine Frau.“
6 zusammen. Als Jude in einer nicht jüdisch geprägten Gesellschaft mehrere Kinder zu haben, wäre nicht opportun gewesen. Sara möchte ihrem alten Vater keinen Kummer verursachen, der ihn ins Totenreich führen würde.9 Ihre Mutter Edna (Tob 7,15), Raguels Frau, die am Tod ihrer Tochter sicherlich auch leiden würde, gerät nicht in den Blickwinkel. Die Absicht sich zu erhängen gibt Sara auf. Stattdessen wendet sie sich im Gebet an Gott mit der Bitte ihrem Leben ein Ende zu bereiten, damit sie von ihren Mitmenschen keine Schmähungen mehr hören muss. Die Entscheidung über ihr Leben möchte nicht sie treffen. Gott möge entscheiden. 7. Gebete im Buch Tobit Gebete mit ihrem poetischen Gewand setzen sich deutlich von der Prosa-Form ab. Sara spricht im Tobitbuch nur ein einziges Gebet (Klagegebet Tob 3,11-15). Tobit dagegen spricht neben dem Gebet aus 3,1-6 (Klagegebet) noch zwei weitere und einen Segensspruch. Tob 5,17 beinhaltet den Segensspruch des Tobit über seinen Sohn Tobias und seinem Reisegefährten Asarja zu Beginn der Reise von Ninive nach Medien. Tob 11,14f stellt das Dankgebet des Tobit am Ende der Reise des Tobias dar, nachdem Tobit wieder sehen kann. In den Versen Tob 13,1-14,1 befindet sich ein gross angelegtes und wie von Tobit selbst angegeben (13,1), schriftlich formuliertes Lobgebet. In diesem langen Gebet preist Tobit Gott, nachdem er erfahren hat, dass der Reisegefährte seines Sohnes Asarja der Engel Rafael ist (12,15). Die Gebete spielen im Tobitbuch eine besondere Rolle. Sie stellen Knotenpunkte dar und markieren jeweils einen Themawechsel.10 8. Das Gebet der Sara Während sich Sara im Obergemach ihres Vaters befindet (Tob 3,11), breitet sie ihre Hände am Fenster aus vermutlich in Richtung Jerusalem und beginnt zu beten. Die Verse Tob 3,11-15 geben das Gebet der Sara wieder. Das Gebet weist einen zweigliedrigen Aufbau auf. Einer Lobpreisung, in der Gott vorgestellt wird, folgt eine ausführlich angelegte Bitte. Sara spricht Gott mit „Du“ an. Diese Anrede in der zweiten Person Singular bringt den Glauben der Sara zum Ausdruck. Sara ist der ewige Gott vertraut. Zunächst preist sie seine Barmherzigkeit, danach werden sein Name und schliesslich seine Werke für die Ewigkeit gepriesen. Sara erhebt ihr Angesicht und ihre Augen zu Gott, um ihr Anliegen vorzutragen. Gott möge den Befehl geben, damit sie von der Erde verschwinde, denn sie kann sich die Schmähungen ihrer Mitmenschen ihr gegenüber nicht mehr anhören. Nicht sie möchte Selbstmord begehen, sondern Gott soll dafür sorgen, dass sie stirbt. Sie blendet ihre Lebensgeschichte dadurch ein, indem sie Gott daran erinnert, dass sie mit keinem Mann Geschlechtsverkehr gehabt habe. Sie ist sich keiner Sünde bewusst. Sara, die sich mit ihren Eltern im Exil befindet, hat weder ihren Namen noch den ihres Vaters verunehrt. Wie 9 Ähnliche Wendungen, in denen vom Hinabsteigen ins Totenreich die Rede ist, begegnen auch in der Josephserzählung: Gen 37,35; 42,38; 44,29.31
7 bereits in Tob 3,10 angedeutet, ist Sara die einzige Tochter ihres Vaters, nur sie kann ihn beerben. Es gibt weder einen Stammesbruder noch einen Verwandten, dessen Ehefrau sie werden könnte. Somit würde ihr Vater keine weiteren Nachkommen haben. Sie hat schon sieben Ehemänner verloren, und daher stellt sie nun Gott die Frage nach dem Sinn ihres Lebens überhaupt. Wenn Gott aber sie nicht sterben lassen will, so möge er doch ihre Klage erhören und in ihrem Leben etwas ändern. 9. Das Gebet des Tobit Die Lobpreisung Gottes durch Tobit beginnt mit der Feststellung, dass Gott und seine Werke gerecht sind. Gott zeichnet sich durch Barmherzigkeit und Wahrheit aus. Schliesslich ist er es, der die Welt richtet (Tob 3,2). Hat die Lobpreisung einen theologisch informativen Charakter, so weist Tob 3,3 auf die Situation des Tobit hin. Gott wird aufgefordert, sich an Tobit zu erinnern, auf ihn zu schauen und ihn wegen seiner Sünden nicht zu bestrafen, auch nicht wegen derer seiner Väter. Auch die unwissentlich begangenen Sünden des Tobit werden im Sündenbekenntnis mit einbezogen. Die moralische Unterscheidung zwischen wissentlich und unwissentlich begangenen Sünden ist auffallend. Tobit und seine Väter haben die Gebote Gottes missachtet. Deshalb wurden sie geplündert, gefangengenommen und getötet. Gespött11 und üble Nachrede unter den Völkern, unter denen sie zerstreut sind, haben sie erfahren. In 3,3 wurde Gott aufgefordert nicht zu strafen, 3,5 aber stellt Tobit fest, dass Gott ihn zu Recht wegen seiner Sünden richtet. Das zugezogene Gericht hat er selbst zu verantworten. Konkrete Sünden, die nur Tobit begangen hat, werden nicht erwähnt. Im folgenden dagegen ist erneut auf stereotype Weise von den kollektiven Sünden die Rede. Mehrmals wechselt das Subjekt zwischen Singular (Tobit) und Plural (Väter). Tobit und seine Väter haben die Gebote nicht eingehalten und die Treue zu Gott ausserachtgelassen. Die konkrete persönliche Situation des Tobit leuchtet im Sündenbekenntnis nicht auf. Das Sündenbekenntnis des Tobit wird im Gegensatz zum persönlich gefärbten Gebet der Sara allgemein-formelhaft gehalten. Dem frommen Juden – Tobit und seinen Vätern – wird entsprechend der deuteronomistischen Tradition die Sünde Israels vor Augen geführt. Die Anerkennung der eigenen Schuld dient der Vergangenheitsbewältigung. Die Folgen der Gebotsübertretung sind: Plünderung, Gefangenschaft und Tod. V 3,6 bittet Tobit Gott ihn sterben zu lassen, nicht wegen seiner begangenen Sünden, wie zu erwarten wäre, sondern wegen seiner Not. Sowohl wegen der zahlreichen Lügen und Schmähungen, die er hören muss, als auch wegen seiner überaus grossen Trauer. Neben dem Spott der Nachbarn und der Ehefrau kommen auch noch seine Blindheit und seine geringen Mittel zum Leben dazu. Gott möge den Befehl erteilen, dass seine Lebenskraft von ihm weiche, um vom Angesicht der Erde12 zu verschwinden und zur Erde 10 Vgl. Schüngel-Straumann, Tobit 76f: „Die Gebete sind die eigentlichen Wendepunkte im Tob.“(76) 11 Spott, als eine schmerzliche Erfahrung, begegnet mehrfach in den Psalmen und bei den Propheten: Ps 22,7f; 31,12; 35,16; Jes 28,14ff; Jer 20,8. 12 Der Semitismus „vom Angesicht der Erde“ findet sich auch in: Gen 2,6; 1 Kön 9,7; Ez 38,20.
8 zurückzukehren. Tobit ist überzeugt und deshalb versucht er auch Gott davon zu überzeugen, dass es für ihn besser sei zu sterben, zum Ort der Ewigkeit befreit zu werden, als zu leben. Mit dem Ort der Ewigkeit ist sein Grab gemeint. Gott möge nicht sein Antlitz von ihm wenden. 10. Saras und Tobits Gebet im Vergleich Die Bitte vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, kommt im Alten Testament verhältnismässig selten vor. Die klassisch gewordenen Beispiele sind Elija und Jona. Sowohl Elija (1 Kön 19,4) als auch Jona (4,3) bitten Gott sie sterben zu lassen. Auch Sir 30,17 ähnelt der Bitte des Tobit. Ijob wird von seiner Frau aufgefordert, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Die Gebete Saras und Tobits stellen gattungsmässig eine Klage dar. Am gleichen Tag (3,7) als Sara ihr Gebet spricht, wendet sich auch Tobit an Gott (3,1-6). Wie Sara spricht auch Tobit Gott vertrauensvoll mit „Du“ an. Sowohl Tobit als auch Sara (3,10) sind von tiefer Traurigkeit mit Tränen in den Augen geprägt. Sara musste sich Schmähungen von ihrer Magd anhören (3,7), Tobit dagegen wurde von seinen Nachbarn (2,8) und seiner Ehefrau Hanna verspottet (2,14). Auch das Unvermögen zu sehen stimmen den Tobit traurig (2,10). In dieser Situation sucht Tobit das Gespräch mit Gott. Das Gebet des Tobit setzt sich aus drei Teilen zusammen: Aus einer Lobpreisung Gottes (3,2), einem formelhaft-stereotypen Sündenbekenntnis des Tobit (3,3-5) und einer abschliessenden Bitte (3,6). Lobpreisung und Bitte haben sowohl das Gebet der Sara als auch das des Tobit gemeinsam. Ein Sündenbekenntnis kennt das Gebet der Sara nicht. Tobit dagegen erkennt sich in den Sünden seines Volkes wieder. Sara weist die Schuldzuweisung der Magd ab. Ihr Gebet ist persönlich geprägt. Dass Gott barmherzig ist, haben die Lobpreisungen beider Gebete gemeinsam. Auch die Bitte an Gott sie sterben zu lassen, um keine Schmähungen mehr sich anhören zu mussen, haben beide Gebete gemeinsam, wobei Sara die Entscheidung ganz Gott überlässt. Wenn Gott sie nicht sterben lässt, so möge er doch etwas in ihr Leben verändern. Dieser Aspekt fehlt in der Bitte des Tobit. Tobit möchte Gott überzeugen, dass es für ihn besser sei zu sterben, als zu leben. Sara im Gegensatz zu Tobit denkt auch an die Folgen, die ein Selbstmord verursachen würde. Sara denkt an ihrem Vater. Tobit verliert keinen Gedanken darüber, wie sein Selbstmord sich auf seine Frau oder seinem Sohn auswirken würde. Sara als Frau blickt mit ihrem Gebet auf ihre persönlichen-familiären Beziehungen, Tobit als Mann dagegen auf sein Volk. Die Frage der Volks- und Religionszugehörigkeit spielt für Sara überhaupt keine Rolle. Es handelt sich folglich um zwei geschlechterspezifische Gebete. 11. Zur Gottesbezeichnung in den beiden Gebeten Die griechische Gottesbezeichnung Kyrios bzw. die Anrede Kyrie, die den hebräischen Gottesnamen JHWH wiedergibt, findet sich viermal im Gebet Saras (Tob 3,10-15) und dreimal im Gebet Tobits (Tob 3,1-6). Helen Schüngel-Straumann hält dazu aus
9 feministisch-theologischer Sicht folgendes fest: „Die Übersetzung mit Herr, wie sie die LXX (Septuaginta) bringt, ist eine Einschränkung und Verfälschung der ursprünglichen Bedeutung von JHWH, wie sie in der Hebräischen Bibel als Gottesname, nicht als Herrschaftsbezeichnung vorkommt. JHWH bedeutet: Ich bin da (für euch); in diesem Gottesnamen ist weder das Moment der Herrschaft noch das Männliche betont wie in der Übersetzung der Herr. Die LXX hat im übrigen auch nicht von Anfang an JHWH mit Kyrios wiedergegeben, sondern zunächst als Tetragramm. Erst die christlichen LXX- Handschriften bringen dann durchgehend die Übersetzung mit Kyrios, was sich bis heute in so gut wie allen Bibelübersetzungen auswirkt und für ein ausgewogenes Gottesbild, vor allem für Frauen, zunehmend unerträglich wird.“ (Tobit 171) 12. Die verheissungsvolle Wende Tob 3,16 konstatiert auf lapidare Weise, dass sowohl das Gebet Tobits als auch das Gebet Saras erhört wird. Alter, Geschlecht und geographische Entfernungen spielen für Gott keine Rolle. In erzählerischer Form wird die Leserin und der Leser des Tobitbuches aufgefordert, unerschrocken den Dialog mit Gott zu suchen. Tobit und Sara wissen noch nicht, dass ihre Gebete bereits erhört wurden. Das Gebet der beiden hat nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Dimension. Das Gebet wird „vor der Herrlichkeit Gottes erhört“. Hinter dieser Aussage steht die Vorstellung, dass die Gebete der Menschen durch Vermittlung zu Gott gelangen.13 Nach Tob 3,17 wird der Engel Rafael (= Gott heilt) damit beauftragt, für die Heilung der beiden zu sorgen. Der Engel Rafael, der im Alten Testament nur im Buch Tobit erscheint, spielt in der frühjüdischen Apokalyptik eine hervorragende Rolle. Im äthiopischen Henochbuch gilt er als Dämonenvertreiber (vgl. äthHen 10,4-7). Tobit soll von seinen weissen Flecken auf den Augen geheilt werden, damit er das Licht sehe. Dieses Licht wird näher bestimmt durch den Genitiv Gott. Tobit wird das Licht Gottes sehen, das mehr ist als das Licht, das nur mit den Augen wahrnehmbar ist. Tobit wird sehen – und damit ist auf das „Happy End“ des Tobitbuches hingewiesen – wie Gott sich in seiner Lebensgeschichte und in der Saras auf wunderbarer Weise bemerkbar macht. Sara soll vom bösen Dämon Aschmodai erlöst werden, um Tobits Sohn Tobias heiraten zu können. Die Loslösung von Aschmodai, der in Sara verliebt ist (Tob 6,15: GI), gleicht einer Scheidung.14 Das aramäische Wort für „lösen“ war bei den Juden aus Babylonien ein feststehender Ausdruck für die Scheidung. Tob 3,17 hält fest, ohne an dieser Stelle eine Begründung zu geben, dass es Tobias sei, der mehr als alle anderen Männer ein Anrecht hätte, Sara zu heiraten. Denn Tobias ist nicht nur wie Sara ein Jude, sondern, wie sich herausstellen wird, auch ihr Verwandter (Tob 7,1-13). In jenem Augenblick, also nachdem sowohl Tobit als auch Sara ihr Gebet auf Erden verrichtet haben und ihr Gebet im Himmel vor der Herrlichkeit Gottes folgenreich erhört 13 Weitere Belege dazu, siehe bei Ego, Tobit 942, Anm. 3,16 b.
10 wurde, kehrt Tobit vom Hof zurück in sein Haus und Sara steigt aus dem Obergemach ihres Vaters herab. Zum letzten Mal im Buch Tobit wird an dieser Stelle auf die Schicksalsgemeinschaft von Tobit und Sara hingewiesen. Weiterführende Literatur Ego Beate, Buch Tobit, in: Unterweisung in erzählender Form (JSHRZ II), Gütersloh 1999, 869-1007. Miller Athanasius, Das Buch Tobias übersetzt und erklärt (HSAT), Bonn 1940. Moore Carey A., Tobit: A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 40A) New York 1996. Schüngel-Straumann Helen, Tobit (HThKAT), Freiburg i.B. 2000. Schumpp Meinrad M., Das Buch Tobias übersetzt und erklärt (EHAT 11), Münster 1933. 14 So Ego, Tobit 943, Anm. 3,17d, die vom aramäischen Wort für „lösen“ ausgeht: „Dieser Ausdruck erscheint bei den Juden Babyloniens als ein Terminus technicus für die Scheidung.“(943).
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