Im Schatten von Pont Neuf - Zauberberg Verlag - Alexandre de Sablé Kriminalroman

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Alexandre de Sablé

                        Im Schatten von
                            Pont Neuf
                             Kriminalroman

                          Zauberberg Verlag

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Prologue

         Es gibt für alles einen richtigen Zeitpunkt: Einen
         richtigen Zeitpunkt für die Liebe, für das Leben und
         für den Tod. Es gibt einen richtigen Zeitpunkt dafür,
         wann wir uns freuen, wann wir Trauer tragen, wann
         wir schweigen und wann wir uns erheben sollten.
         Selbst für die Belanglosigkeiten des Alltags gibt es
         den richtigen Zeitpunkt.
            Unsere innere Uhr tickt beständig, unberührt vom
         Lärm der Welt. Unbewusst spüren wir die richtige
         Zeit für unser Handeln und richten unser Leben da-
         nach: Ein Glas Wein genießt man am Abend. Einen
         Schmöker liest man im Herbst. Urlaub macht man am
         besten im Juli. Für jede Aufgabe, jede Tat und jeden
         Schicksalsschlag gibt es den perfekten Moment in un-
         serer Zeit.
            Alles auf dieser Welt hat seinen ganz bestimmten
         Augenblick.

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Für jedweden Genuss gibt es den unwiderruflichen
          Moment, der ihn zum Höchstgenuss macht. Keine Se-
          kunde früher und keine Sekunde später darf dies ge-
          schehen. Es gibt den perfekten Moment für alles – für
          jede Tat, für jedes Gefühl und für jeden Gedanken.
             Dabei spielt es keine Rolle, wie viel Zeit man für
          eine Tat braucht, wenn der richtige Zeitpunkt gekom-
          men ist. Manchmal sind es Tage, manchmal Sekun-
          denbruchteile, manchmal ist es ein Wimpernschlag.
          Die Zeit bringt dabei Veränderungen mit sich, die
          unser Bewusstsein als eine Abfolge von Ereignissen
          wahrnimmt.
             Je intensiver dies geschieht, umso größer ist das
          Gefühl, keine Zeit zu haben. So gleicht das Leben oft
          einem Rennen gegen die Zeit. Dichte Terminfolgen
          sind die Regel. Nie kehrt Ruhe ein. Gibt es keinen
          richtigen Zeitpunkt für Ruhe?
             Insgesamt steht allen Menschen unterschiedlich
          viel Zeit zur Verfügung, da zwar jeder Tag gleich viele
          Stunden hat, die einzelnen Leben aber unterschied-
          lich lang sind. Zeit ist also individuell.
             Den richtigen Zeitpunkt kann man weder vorher-
          sehen noch auswählen. Man kann nur die Spannung
          fühlen, die sich vor dem richtigen Zeitpunkt aufbaut.
          In diesem Augenblick weiß man, dass eine Entschei-
          dung ansteht.
             Die Zeit ist es, die uns zu Lebendigem macht. Tö-
          tet man einen Menschen, nimmt man ihm für immer
          die Zeit, die Lebenszeit. Man reißt ihn nicht nur aus

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seinem Alltag, man entzieht ihm alle richtigen Zeit-
         punkte. Nie wieder wird er seinen Alltag nach ihnen
         ausrichten können. Nie wieder wird er Zeit für ir-
         gendetwas haben.
            Für einen Auftragskiller ist Morden der Alltag. Er
         nimmt Menschen die Lebenszeit. Kalt und unnachgie-
         big setzt er dabei seine Zeit ein, um die Zeit anderer
         zu beenden.
            Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, der unbe-
         dingt richtige Zeitpunkt für einen Mord?

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Chapitre Une

         Ein ganz in Weiß gekleideter feiner Herr schritt über
         den Place du Tertre auf dem Pariser Montmartre, je-
         nem weltberühmten Hügel der französischen Haupt-
         stadt, auf dem sich seit Jahrhunderten Künstler, Ar-
         tisten und Maler tummeln. Der Montmartre war die
         Heimat von Henri de Toulouse-Lautrec und unzäh-
         liger anderer Bohemiens. Noch heute ist dies an je-
         der Straßenecke zu spüren. Der Place du Tertre war
         damals und ist heute zugleich Magnet für Touristen
         wie für Lebenskünstler, die hier dem Savoir-vivre frö-
         nen, jener französischen Lebensart, die Gelassenheit
         suggeriert und um die Frankreich von vielen beneidet
         wird. Begibt sich in Paris jemand auf die Suche nach
         Klischees der Stadt, dann wird man auf dem Place du
         Tertre fündig.
            Der feine Herr war von kleiner, aber selbstbewusst
         wirkender Gestalt. Er ging mit erhobenem Haupt

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durchs Leben, manchmal trug er dabei seine Nase so
          hoch, dass er für arrogant gehalten wurde. Sein hel-
          ler Anzug, zu dem er einen roten Sommerschal trug,
          unterstrich diesen Eindruck. Die Blicke der Touristen
          trafen ihn, ruhten auf ihm und taxierten, ob er eine
          berühmte Persönlichkeit sei. Er genoss es. Immer.
             Der Mann ging die Rue Norvins hinab. Als sich
          zwischen den Fronten der altehrwürdigen Häuser des
          Montmartre ein Blick auf die Stadt öffnete, blieb er
          stehen. Es war nicht etwa Paris, was ihn faszinierte.
          Es war das Firmament über der Stadt. Er hielt einen
          Moment inne und betrachtete das Farbenspiel am
          Himmel. Schon lange, seit den wilden Sechzigerjah-
          ren, lebte er in dieser verrückten Stadt, doch immer
          wieder erstaunten ihn die Sonnenuntergänge über
          Paris aufs Neue. Besonders schön schienen sie ihm
          im September, doch auch jetzt im Mai hatte es der
          Sonnenuntergang in sich. Heute strahlte die Sonne
          so kräftig, dass in dem Mann die Hoffnung auf einen
          schönen Sommer hochkeimte.
             Feuerrot glühte der Himmel über dem Eifelturm.
          Weit hinter dem jetzt schon dunkel in das Firmament
          ragende Wahrzeichen mischte sich ein tiefes, sattes
          Orange in das Rot, wie man es sonst nur am Abend-
          himmel Afrikas vermuten würde. Das beeindrucken-
          de Farbenspiel tauchte die gesamte Metropole in eine
          warme und dennoch düstere Atmosphäre. Schön und
          schauerlich zugleich, erinnerte diese Stimmung den
          Mann unweigerlich an Claude Monets Abendstim-

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mung in Venedig. Kein Wunder, schüttelte er insge-
         heim den Kopf, dass der Impressionismus in Frank-
         reich entstanden war. Wo sonst?
            Der Mann war fasziniert. Die Sonne wirkte auf ein-
         mal nah, beinahe zu nah. So als hätte sie sich Paris
         ausersehen. Satt und vollgesaugt schwebte das Ge-
         stirn über dem Westen der Stadt, bis es schließlich
         versinken und sich ein purpurner Streifen am ande-
         ren durch das zurückbleibende Höllenfeuer ziehen
         würde. Er war über seine Assoziation erstaunt. Die
         Hölle. Erstaunt über seinen eigenen Gedanken. Der
         zarte Wind, der über den Platz wehte, versetzte ihm
         eine Gänsehaut, die er am ganzen Körper spürte. Er
         blieb stehen und schüttelte sich. Nachdem er tief Luft
         geholt hatte, setzte er seinen Weg fort.
            Viele Gebäude der französischen Hauptstadt wa-
         ren mittlerweile in ein warmes Orange gehüllt, das
         unweigerlich den Frühling ankündigte. Besonders
         schön reflektierte der Sandstein, aus dem der Louvre
         gebaut war, die Strahlen des Sonnenuntergangs, fand
         der Mann. Er glühte wie ein Lagerfeuer, und seine
         Fenster flackerten im rötlichen Licht, was dem Gan-
         zen zusätzlich Wärme und Glanz verlieh. Dahinter,
         das wusste er nur zu gut, verbargen sich Geheimnisse,
         Rätsel und Mythen aus der Menschheitsgeschichte.
            „Das Höllenfeuer“, murmelte er vor sich hin, „wie
         passend.“ Er blieb erneut stehen. „Heute werden noch
         einige ihren ganz persönlichen Sonnenuntergang er-
         leben.“

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