IM ZEITGESPRÄCH: DR. FRAUKE HÖNTZSCH

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IM ZEITGESPRÄCH: DR. FRAUKE HÖNTZSCH
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                                                                   DR. FRAUKE HÖNTZSCH
                                                                   ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
                                                                   am Lehrstuhl Politikwissenschaft,
                                                                   Politische Theorie an der Universität
                                                                   Augsburg.

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IM ZEITGESPRÄCH: DR. FRAUKE HÖNTZSCH
In der Demokratie
                                                                   geht die Herrschaft
                                                                   vom Volk aus.

/// Wir sind das Volk!

DEMOKRATIE IN GEFAHR?
48,4 % der Weltbevölkerung leben in einer Demokratie. Diese Herrschafts-
form hat sich seit der Antike gehalten und erfolgreich bewährt. Globalisierung
und andere Herausforderungen wirken sich aber zunehmend destabilisierend
aus und stellen somit ernsthafte Gefahren für Demokratien dar. Wir haben
dazu die Politikwissenschaftlerin Frauke Höntzsch befragt.

                                                          497/2021 // POLITISCHE STUDIEN   7
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

         Politische Studien: Frau Dr. Höntzsch,         tiert. Umgekehrt soll die demokrati-
         Sie forschen über Demokratie. Kurz ge-         sche Teilhabe die gleiche individuelle
         sagt: Was ist eine Demokratie?                 Freiheit schützen. Die Herausforde-
                                                        rung liegt in der Balance: Eine einsei-
            Frauke Höntzsch: Demokratie be-             tig individualistisch verstandene
            deutet zunächst einmal „Herrschaft          Freiheit stört das fragile Gleichge-
            des Volkes“, das heißt, das Volk wird       wicht. Aufgrund der Unterschiede
            nicht nur beherrscht, es herrscht zu-       im Gebrauch erzeugt individuelle
            gleich. Das zentrale Prinzip der De-        Freiheit zwangsläufig ökonomische
            mokratie ist folglich die Gleichheit,       und gesellschaftliche Ungleichheit.
            aus der die Freiheit erwächst, nach         Übersetzt sie sich in politische Un-
            dem selbstgegebenen Gesetz zu le-           gleichheit, gerät auch die Freiheit in
            ben. Während diese Grundprinzipi-           Gefahr. Deshalb muss nicht nur das
            en über die Zeit Bestand hatten, wa-        Individuum vor staatlicher und ge-
            ren die Fragen, wer zum Volk gehört         sellschaftlicher Willkür geschützt
            und wie seine Herrschaft als Herr-          werden, sondern auch die demokra-
            schaft der Gleichen und Freien orga-        tische Zusammenarbeit vor individu-
            nisiert wird, historischen Verände-         eller Willkür in Gestalt mächtiger
            rungen unterworfen.                         Einzelinteressen.

         Demokratie ist also eine Herrschaftsform,    In der Demokratie entscheidet der Wille
         die allen Bürgern gleiche Mitsprache und     der Mehrheit. Alexis de Tocqueville be-
         dadurch Freiheit garantiert. Inwieweit ist   zeichnete dies als Diktatur der Mehrheit.
         das mit dem individualistischen Liberalis-   Wird hier also die Minderheit unterdrückt
         mus vereinbar?                               und wie verträgt sich das mit dem demo-
                                                      kratischen Gleichheitsprinzip?
            Die Verbindung von Liberalismus
            und Demokratie ist der Versuch,             Gleichheit befördert die Freiheit des
            Gleichheit und Freiheit unter den Be-       Einzelnen nicht nur, sie kann sie auch
            dingungen moderner Gesellschaften           gefährden. Das bringt die „Tyrannei
            zu ermöglichen. Individuelle Freiheit       der Mehrheit“ zum Ausdruck. Toc-

                „
            wird hier als Voraussetzung gleicher        queville denkt dabei zunächst an die
            politischer Teilhabe rechtlich garan-       gesellschaftliche Dimension, an Kon-

                               Demokratie bedeutet zunächst einmal ‚Herrschaft
                               des VOLKES‘.

8   POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
„            Der demokratische Lackmustest liegt in der AKZEPTANZ der
               mangelnden Mehrheitsfähigkeit der eigenen Position.

  formismus und Gleichmacherei, die             ausgeht, die versucht, die Mehrheit
  der politischen Unterdrückung den             von ihrem Anliegen zu überzeugen –
  Boden bereiten. Auch das Mehrheits-           das ist Ausdruck gelebter Demokra-
  prinzip als Verfahrensregel kann nie-         tie. Von Willkür kann man erst spre-
  mals absolut gelten, weil anderenfalls        chen, wenn die Interessen einer Min-
  die Möglichkeit bestünde, dass sich           derheit gewaltsam oder am demokra-
  die Demokratie selbst abschafft. Das          tischen Prozess vorbei durchgesetzt
  heißt: Genauso wie die demokrati-             werden sollen. Der demokratische
  sche Entscheidung vor dem Einfluss            Lackmustest liegt gewissermaßen in
  mächtiger Einzelinteressen geschützt          der Akzeptanz der mangelnden
  werden muss, so muss umgekehrt die            Mehrheitsfähigkeit der eigenen Posi-
  Garantie individueller Freiheitsrechte        tion. Die Behauptung vieler Populis-
  dem Zugriff der demokratischen Ver-           ten, sie verträten eine „schweigende“
  fügungsgewalt entzogen sein. Die li-          Mehrheit, ist in dieser Hinsicht ent-
  berale Rahmung der Demokratie ist             larvend.
  unverzichtbar.

                                             Wie steht es mit dem Gemeinwohl und der
Umgekehrt können und dürfen aber indi-       individuellen Freiheit in einer Volkssouve-
vidualistische Einzelinteressen wie z. B.    ränität? Wie verträgt sich das mit der poli-
bei Stuttgart 21, Klimaschützern oder        tischen Realität?
Gegnern von Corona-Maßnahmen nicht
über den gesamtstaatlichen stehen und           Theoretisch basiert unser politisches
zur individuellen Willkür einzelner Inter-      System auf der Annahme, dass der
essensgruppen werden. Wie kann man              freiheitliche Ausgleich individueller
dem entgegenwirken und doch allen −             Interessen zum Gemeinwohl führt.
demokratisch − Mitsprache geben?                In der Praxis aber funktioniert das in
                                                den meisten Fällen nicht. Und das ist
  Ob es sich nur um Einzelinteressen            nicht wirklich überraschend: Weil
  handelt, das gilt es im demokrati-            Freiheit ein Recht ist, das wir uns
  schen Willensbildungsprozess her-             wechselseitig zugestehen, lässt sie
  auszufinden. Es ist nicht ungewöhn-           sich nicht durch die rücksichtslose
  lich, dass Protest bis hin zu zivilem         Verfolgung der eigenen Interessen
  Ungehorsam von einer Minderheit               garantieren. Die Garantie gleicher
                                                                  497/2021 // POLITISCHE STUDIEN   9
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             Freiheit ist die Grundvoraussetzung        Grundlage unserer aller Freiheit. Ein
             liberaler Demokratie und liegt als         Verbot erscheint mir dadurch ge-
             solche in unser aller Interesse. Indi-     rechtfertigt. Die Behauptung „alter-
             viduelle Interessen sind so verstan-       nativer Fakten“ und der Vorwurf der
             den nicht irrelevant, ihre Berücksich-     „Lügenpresse“ setzen den demokrati-
             tigung müsste aber im demokrati-           schen Diskurs außer Kraft. Leugnet
             schen Aushandlungsprozess stets            man die Existenz einer geteilten
             unter dem Vorbehalt dieses funda-          Wirklichkeit, leugnet man die
             mentalen gemeinschaftlichen Inter-         Grundlage, auf der sich widerstrei-
             esses stehen.                              tende Meinungen überhaupt erst bil-
                                                        den können, und damit zuletzt auch
                                                        der Demokratie.
          In einer Demokratie herrscht ja Mei-
          nungsfreiheit. Muss es hier nicht auch
          Grenzen geben, wenn man z. B. an Phäno-     Die Stabilität von Demokratien wird zu-
          mene wie „Hate Speech“, „alternative        nehmend bedroht. Populismus und Pro-
          Fakten“ oder den Vorwurf der „Lügen-        testbewegungen sind auf dem Vormarsch
          presse“ denkt?                              und werfen die Frage auf, wie weit Pro-
                                                      test und Widerstand gehen dürfen und
             Diese Phänomene sind durch die be-       wann es ein Angriff auf und damit eine
             reits existierenden Beschränkungen,      Gefahr für den Staat ist. Ereignisse wie
             etwa im Falle von Beleidigung oder       vor dem Reichstag in Berlin und dem Ka-
             Verleumdung, nur teilweise abge-         pitol in Washington haben das ja ganz
             deckt; zugleich hat sich die Frage       drastisch gezeigt.
             durch ihre digitale Verbreitung ver-
             schärft. Hassrede stellt einen Angriff     Es ist wichtig, zwischen demokrati-
             auf das Prinzip demokratischer             schem Protest und Bewegungen, die
             Gleichheit dar, weil sie Mitgliedern       die Demokratie letztlich infrage stel-
             einer durch ihre Herkunft bestimm-         len, zu unterscheiden. Während neue-
             ten Gruppe, indem sie sie öffentlich       re transnationale Protestbewegungen
             diffamiert, die gleiche Zugehörigkeit      Liberalismus und Demokratie mit

                 „
             zur politischen Gemeinschaft ab-           Blick auf undemokratische globale
             spricht. Sie gefährdet dadurch die         Entscheidungsprozesse neu ausbalan-

                                Es ist wichtig, zwischen demokratischem Protest und
                                Bewegungen, die die Demokratie letztlich infrage stellen,
                                zu UNTERSCHEIDEN.

10   POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
„             Freiheit und Gleichheit sind Forderungen, die an
               NATIONAL staatlichen Grenzen nicht Halt machen.

  cieren wollen, fordern Populisten eine        sche Ungleichheit befördert – inner-
  „illiberale Demokratie“: keine Ord-           halb einzelner Staaten wie im Ver-
  nung, die gleiche Freiheit gewährleis-        hältnis der Staaten untereinander.
  tet, sondern eine, in der eine Elite          Die transnationalen Protestbewegun-
  herrscht, die den wahren Volkswillen          gen reagieren wie die populistischen
  zu kennen vorgibt. Davon zeugen               Bewegungen auf diese Zuspitzung,
  auch die eingesetzten Mittel: Protest         die einen mit der Forderung nach ei-
  kann und muss den Bereich des Lega-           ner (Re-)Demokratisierung auch der
  len auch im demokratischen Rechts-            globalen Zusammenarbeit, die ande-
  staat bisweilen verlassen, um Verän-          ren mit Abschottung und Nationalis-
  derungen anzuregen, etwa in Form              mus. Ob Letzteres möglich ist, daran
  zivilen Ungehorsams. Gewalt gegen             lässt sich nicht erst angesichts der
  Personen aber missachtet die gleiche          Corona-Pandemie zweifeln.
  Freiheit als Grundvoraussetzung der
  Demokratie und kann im Rahmen ei-
  nes intakten demokratischen Rechts-         Hat die Demokratie auch in einer globalen
  staats niemals legitim sein.                Welt mit all ihren neuen Herausforderun-
                                              gen noch eine Zukunft?

Ist die Demokratie als Herrschaftsform          Das hoffe ich! Wir sollten versuchen,
vielleicht auch in der Krise, weil sie sich     die Herausforderungen als Chance zu
selbst überfordert, indem sie nicht mehr        sehen. Auf globaler Ebene dominie-
halten kann, was sie verspricht?                ren in noch viel höherem Maße als
                                                innerhalb liberaler Demokratien ein-
  Auch die liberale Demokratie selbst           flussreiche Einzelinteressen politi-
  ist mit sich wandelnden Erfordernis-          sche Entscheidungen – auch hier
  sen konfrontiert und muss sich die-           langfristig zum Schaden aller. Das
  sen anpassen. Wie das 19. Jahrhun-            Überleben nationaler Demokratien
  dert mit der sozialen Frage konfron-          wird sich nicht zuletzt daran entschei-
  tiert war, so sind wir heute mit einer        den, ob es gelingt, auf globaler Ebene
  „globalen Frage“ konfrontiert. Die            Formen der Zusammenarbeit zu etab-
  Globalisierung führt stärker denn je          lieren, die den Werten der liberalen
  vor Augen, dass eine rein individua-          Demokratie gerecht werden. Freiheit
  listisch verstandene Freiheit politi-         und Gleichheit sind Forderungen, die
                                                                 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN   11
„
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

                                DEMOKRATIE ist nicht selbstverständlich und muss
                                aktiv gestaltet und erneuert werden.

             an nationalstaatlichen Grenzen nicht
             Halt machen. Die Finanz-Krise, die
             Klima-Krise, die Corona-Krise – all
             das führt uns vor Augen, dass die na-
             tionalen Demokratien über ihre Gren-
             zen hinaus denken müssen, wollen sie
             Bestand haben.

          Welche Rolle spielt hier das Demokratie-
          verständnis und wie kann man es bewir-
          ken und fördern?

             Wir müssen uns bewusst sein, dass
             Demokratie nicht selbstverständlich
             ist und mehr noch, dass wir sie aktiv
             gestalten und erneuern können und
             müssen. Hier spielen auch die Politi-
             schen Stiftungen als Orte der Begeg-
             nung und des Austausches eine wich-
             tige Rolle: indem sie uns Bürger über
             zentrale politische Fragen unserer
             Zeit miteinander ins Gespräch brin-
             gen, uns in unseren Vorstellungen he-
             rausfordern und dadurch politische
             Teilhabe, auch in Form demokrati-
             schen Widerspruchs, aktiv fördern.

          Die Fragen stellte Verena Hausner, Stv.
          Leiterin des Referats „Publikationen“,
          Hanns-Seidel-Stiftung, München. ///

12   POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
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