IM ZEITGESPRÄCH: DR. FRAUKE HÖNTZSCH
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Quelle: iStock.com/robertmandel /// IM ZEITGESPRÄCH: DR. FRAUKE HÖNTZSCH ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politikwissenschaft, Politische Theorie an der Universität Augsburg. 6 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
In der Demokratie geht die Herrschaft vom Volk aus. /// Wir sind das Volk! DEMOKRATIE IN GEFAHR? 48,4 % der Weltbevölkerung leben in einer Demokratie. Diese Herrschafts- form hat sich seit der Antike gehalten und erfolgreich bewährt. Globalisierung und andere Herausforderungen wirken sich aber zunehmend destabilisierend aus und stellen somit ernsthafte Gefahren für Demokratien dar. Wir haben dazu die Politikwissenschaftlerin Frauke Höntzsch befragt. 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 7
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Politische Studien: Frau Dr. Höntzsch, tiert. Umgekehrt soll die demokrati- Sie forschen über Demokratie. Kurz ge- sche Teilhabe die gleiche individuelle sagt: Was ist eine Demokratie? Freiheit schützen. Die Herausforde- rung liegt in der Balance: Eine einsei- Frauke Höntzsch: Demokratie be- tig individualistisch verstandene deutet zunächst einmal „Herrschaft Freiheit stört das fragile Gleichge- des Volkes“, das heißt, das Volk wird wicht. Aufgrund der Unterschiede nicht nur beherrscht, es herrscht zu- im Gebrauch erzeugt individuelle gleich. Das zentrale Prinzip der De- Freiheit zwangsläufig ökonomische mokratie ist folglich die Gleichheit, und gesellschaftliche Ungleichheit. aus der die Freiheit erwächst, nach Übersetzt sie sich in politische Un- dem selbstgegebenen Gesetz zu le- gleichheit, gerät auch die Freiheit in ben. Während diese Grundprinzipi- Gefahr. Deshalb muss nicht nur das en über die Zeit Bestand hatten, wa- Individuum vor staatlicher und ge- ren die Fragen, wer zum Volk gehört sellschaftlicher Willkür geschützt und wie seine Herrschaft als Herr- werden, sondern auch die demokra- schaft der Gleichen und Freien orga- tische Zusammenarbeit vor individu- nisiert wird, historischen Verände- eller Willkür in Gestalt mächtiger rungen unterworfen. Einzelinteressen. Demokratie ist also eine Herrschaftsform, In der Demokratie entscheidet der Wille die allen Bürgern gleiche Mitsprache und der Mehrheit. Alexis de Tocqueville be- dadurch Freiheit garantiert. Inwieweit ist zeichnete dies als Diktatur der Mehrheit. das mit dem individualistischen Liberalis- Wird hier also die Minderheit unterdrückt mus vereinbar? und wie verträgt sich das mit dem demo- kratischen Gleichheitsprinzip? Die Verbindung von Liberalismus und Demokratie ist der Versuch, Gleichheit befördert die Freiheit des Gleichheit und Freiheit unter den Be- Einzelnen nicht nur, sie kann sie auch dingungen moderner Gesellschaften gefährden. Das bringt die „Tyrannei zu ermöglichen. Individuelle Freiheit der Mehrheit“ zum Ausdruck. Toc- „ wird hier als Voraussetzung gleicher queville denkt dabei zunächst an die politischer Teilhabe rechtlich garan- gesellschaftliche Dimension, an Kon- Demokratie bedeutet zunächst einmal ‚Herrschaft des VOLKES‘. 8 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
„ Der demokratische Lackmustest liegt in der AKZEPTANZ der mangelnden Mehrheitsfähigkeit der eigenen Position. formismus und Gleichmacherei, die ausgeht, die versucht, die Mehrheit der politischen Unterdrückung den von ihrem Anliegen zu überzeugen – Boden bereiten. Auch das Mehrheits- das ist Ausdruck gelebter Demokra- prinzip als Verfahrensregel kann nie- tie. Von Willkür kann man erst spre- mals absolut gelten, weil anderenfalls chen, wenn die Interessen einer Min- die Möglichkeit bestünde, dass sich derheit gewaltsam oder am demokra- die Demokratie selbst abschafft. Das tischen Prozess vorbei durchgesetzt heißt: Genauso wie die demokrati- werden sollen. Der demokratische sche Entscheidung vor dem Einfluss Lackmustest liegt gewissermaßen in mächtiger Einzelinteressen geschützt der Akzeptanz der mangelnden werden muss, so muss umgekehrt die Mehrheitsfähigkeit der eigenen Posi- Garantie individueller Freiheitsrechte tion. Die Behauptung vieler Populis- dem Zugriff der demokratischen Ver- ten, sie verträten eine „schweigende“ fügungsgewalt entzogen sein. Die li- Mehrheit, ist in dieser Hinsicht ent- berale Rahmung der Demokratie ist larvend. unverzichtbar. Wie steht es mit dem Gemeinwohl und der Umgekehrt können und dürfen aber indi- individuellen Freiheit in einer Volkssouve- vidualistische Einzelinteressen wie z. B. ränität? Wie verträgt sich das mit der poli- bei Stuttgart 21, Klimaschützern oder tischen Realität? Gegnern von Corona-Maßnahmen nicht über den gesamtstaatlichen stehen und Theoretisch basiert unser politisches zur individuellen Willkür einzelner Inter- System auf der Annahme, dass der essensgruppen werden. Wie kann man freiheitliche Ausgleich individueller dem entgegenwirken und doch allen − Interessen zum Gemeinwohl führt. demokratisch − Mitsprache geben? In der Praxis aber funktioniert das in den meisten Fällen nicht. Und das ist Ob es sich nur um Einzelinteressen nicht wirklich überraschend: Weil handelt, das gilt es im demokrati- Freiheit ein Recht ist, das wir uns schen Willensbildungsprozess her- wechselseitig zugestehen, lässt sie auszufinden. Es ist nicht ungewöhn- sich nicht durch die rücksichtslose lich, dass Protest bis hin zu zivilem Verfolgung der eigenen Interessen Ungehorsam von einer Minderheit garantieren. Die Garantie gleicher 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 9
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Freiheit ist die Grundvoraussetzung Grundlage unserer aller Freiheit. Ein liberaler Demokratie und liegt als Verbot erscheint mir dadurch ge- solche in unser aller Interesse. Indi- rechtfertigt. Die Behauptung „alter- viduelle Interessen sind so verstan- nativer Fakten“ und der Vorwurf der den nicht irrelevant, ihre Berücksich- „Lügenpresse“ setzen den demokrati- tigung müsste aber im demokrati- schen Diskurs außer Kraft. Leugnet schen Aushandlungsprozess stets man die Existenz einer geteilten unter dem Vorbehalt dieses funda- Wirklichkeit, leugnet man die mentalen gemeinschaftlichen Inter- Grundlage, auf der sich widerstrei- esses stehen. tende Meinungen überhaupt erst bil- den können, und damit zuletzt auch der Demokratie. In einer Demokratie herrscht ja Mei- nungsfreiheit. Muss es hier nicht auch Grenzen geben, wenn man z. B. an Phäno- Die Stabilität von Demokratien wird zu- mene wie „Hate Speech“, „alternative nehmend bedroht. Populismus und Pro- Fakten“ oder den Vorwurf der „Lügen- testbewegungen sind auf dem Vormarsch presse“ denkt? und werfen die Frage auf, wie weit Pro- test und Widerstand gehen dürfen und Diese Phänomene sind durch die be- wann es ein Angriff auf und damit eine reits existierenden Beschränkungen, Gefahr für den Staat ist. Ereignisse wie etwa im Falle von Beleidigung oder vor dem Reichstag in Berlin und dem Ka- Verleumdung, nur teilweise abge- pitol in Washington haben das ja ganz deckt; zugleich hat sich die Frage drastisch gezeigt. durch ihre digitale Verbreitung ver- schärft. Hassrede stellt einen Angriff Es ist wichtig, zwischen demokrati- auf das Prinzip demokratischer schem Protest und Bewegungen, die Gleichheit dar, weil sie Mitgliedern die Demokratie letztlich infrage stel- einer durch ihre Herkunft bestimm- len, zu unterscheiden. Während neue- ten Gruppe, indem sie sie öffentlich re transnationale Protestbewegungen diffamiert, die gleiche Zugehörigkeit Liberalismus und Demokratie mit „ zur politischen Gemeinschaft ab- Blick auf undemokratische globale spricht. Sie gefährdet dadurch die Entscheidungsprozesse neu ausbalan- Es ist wichtig, zwischen demokratischem Protest und Bewegungen, die die Demokratie letztlich infrage stellen, zu UNTERSCHEIDEN. 10 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
„ Freiheit und Gleichheit sind Forderungen, die an NATIONAL staatlichen Grenzen nicht Halt machen. cieren wollen, fordern Populisten eine sche Ungleichheit befördert – inner- „illiberale Demokratie“: keine Ord- halb einzelner Staaten wie im Ver- nung, die gleiche Freiheit gewährleis- hältnis der Staaten untereinander. tet, sondern eine, in der eine Elite Die transnationalen Protestbewegun- herrscht, die den wahren Volkswillen gen reagieren wie die populistischen zu kennen vorgibt. Davon zeugen Bewegungen auf diese Zuspitzung, auch die eingesetzten Mittel: Protest die einen mit der Forderung nach ei- kann und muss den Bereich des Lega- ner (Re-)Demokratisierung auch der len auch im demokratischen Rechts- globalen Zusammenarbeit, die ande- staat bisweilen verlassen, um Verän- ren mit Abschottung und Nationalis- derungen anzuregen, etwa in Form mus. Ob Letzteres möglich ist, daran zivilen Ungehorsams. Gewalt gegen lässt sich nicht erst angesichts der Personen aber missachtet die gleiche Corona-Pandemie zweifeln. Freiheit als Grundvoraussetzung der Demokratie und kann im Rahmen ei- nes intakten demokratischen Rechts- Hat die Demokratie auch in einer globalen staats niemals legitim sein. Welt mit all ihren neuen Herausforderun- gen noch eine Zukunft? Ist die Demokratie als Herrschaftsform Das hoffe ich! Wir sollten versuchen, vielleicht auch in der Krise, weil sie sich die Herausforderungen als Chance zu selbst überfordert, indem sie nicht mehr sehen. Auf globaler Ebene dominie- halten kann, was sie verspricht? ren in noch viel höherem Maße als innerhalb liberaler Demokratien ein- Auch die liberale Demokratie selbst flussreiche Einzelinteressen politi- ist mit sich wandelnden Erfordernis- sche Entscheidungen – auch hier sen konfrontiert und muss sich die- langfristig zum Schaden aller. Das sen anpassen. Wie das 19. Jahrhun- Überleben nationaler Demokratien dert mit der sozialen Frage konfron- wird sich nicht zuletzt daran entschei- tiert war, so sind wir heute mit einer den, ob es gelingt, auf globaler Ebene „globalen Frage“ konfrontiert. Die Formen der Zusammenarbeit zu etab- Globalisierung führt stärker denn je lieren, die den Werten der liberalen vor Augen, dass eine rein individua- Demokratie gerecht werden. Freiheit listisch verstandene Freiheit politi- und Gleichheit sind Forderungen, die 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 11
„ POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH DEMOKRATIE ist nicht selbstverständlich und muss aktiv gestaltet und erneuert werden. an nationalstaatlichen Grenzen nicht Halt machen. Die Finanz-Krise, die Klima-Krise, die Corona-Krise – all das führt uns vor Augen, dass die na- tionalen Demokratien über ihre Gren- zen hinaus denken müssen, wollen sie Bestand haben. Welche Rolle spielt hier das Demokratie- verständnis und wie kann man es bewir- ken und fördern? Wir müssen uns bewusst sein, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist und mehr noch, dass wir sie aktiv gestalten und erneuern können und müssen. Hier spielen auch die Politi- schen Stiftungen als Orte der Begeg- nung und des Austausches eine wich- tige Rolle: indem sie uns Bürger über zentrale politische Fragen unserer Zeit miteinander ins Gespräch brin- gen, uns in unseren Vorstellungen he- rausfordern und dadurch politische Teilhabe, auch in Form demokrati- schen Widerspruchs, aktiv fördern. Die Fragen stellte Verena Hausner, Stv. Leiterin des Referats „Publikationen“, Hanns-Seidel-Stiftung, München. /// 12 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
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