INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB

Die Seite wird erstellt Klaus-Peter Sturm
 
WEITER LESEN
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
Informationen
zur politischen Bildung / izpb

326     2/2015

           Internationale Sicherheitspolitik
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
2     INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK

Inhalt

                20                                               48

                        34      24                                          46

Sicherheit in der globalisierten Welt     4    Russland – Wohin steuert die ehemalige
                                               Weltmacht?                                                       44

Armut und Migration                       10
                                               UNO – Stärken und Schwächen einer
                                               Weltorganisation                                                 50
Transnationaler Terrorismus               17

                                               Zwischen Verteidigungsallianz und
Cyber – Bedrohungen aus dem Netz          23   Weltpolizei: die NATO                                            56

Gefahren durch ABC-Waffen                 28   Die EU – irgendwann ein globaler Akteur?                         63

Die USA: der müde Hegemon                 32   OSZE – stille Kraft im Hintergrund                               68

China – eine kommende Weltmacht?          38   Das Konzept der Internationalen
                                               Schutzverantwortung                                              70

                                                           Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
3

                                                                    Editorial
                                                                    Krieg in der Ostukraine. Vormarsch des IS in Syrien und im
                                                                    Irak. Zerfall staatlicher Gewalt in Libyen. Eine wachsende
                                                                    Zahl von Menschen, die vor Krieg, Armut und Naturkatas-
                                                                    trophen aus dem Mittleren und Nahen Osten sowie Afrika
                                                                    nach Europa fliehen. Ebola in Westafrika. Neu entflammte
                                                                    Kämpfe im Jemen. Cyberattacken. Das sind nur einige der
                                                                    Themen, die derzeit Schlagzeilen machen.
                                70                                    „Der positive Trend zu weniger Gewalt und effektiverem
                                                                    Konfliktmanagement, den man in der letzten Dekade beob-
                                                                    achten konnte, ist gestoppt worden“, so das renommierte
                                                                    Stockholmer Institut für internationale Friedensforschung
                                                                    (SIPRI) in seinem Jahrbuch 2015 – eine beunruhigende Fest-
                                                                    stellung, die erhebliche Herausforderungen beschreibt.
                                                                       Die Handlungsfelder für die internationale Sicherheitspo-
                                                                    litik haben sich deutlich verändert: Die Welt ist enger mit-
                                                                    einander vernetzt, neue Akteure sind auf den Plan getreten
                                                                    und neue Risiken und Formen der Auseinandersetzung sind
                                                                    entstanden. Dies betrifft beispielsweise die hybride Kriegs-
                                                                    führung, wie sie in der Ukraine zu beobachten ist: eine Mi-
                                                                    schung aus zivilen und militärischen Mitteln, aus offener und
                                                                    verdeckter Aktion, begleitet von massiver Propaganda und
                                                          67        Hackerangriffen sowie gezieltem wirtschaftlichem Druck.
                                                                       Neben der Notwendigkeit, solchen Aggressionsformen
                                                          78        wirksam zu begegnen und den transnationalen Terrorismus
                                                                    zu bekämpfen, muss Sicherheitspolitik höheren Anforderun-
                                                                    gen genügen: Es wird von einem erweiterten Sicherheits-
                                                                    begriff ausgegangen, der alle mit der Sicherheitsvorsorge
                                                                    befassten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen
                                                                    so miteinander verknüpft, dass komplexe Risiken wirksam
                                                                    kontrolliert und bewältigt werden können. Da viele Konflikte
                                                                    und Sicherheitsrisiken heute grenzüberschreitend und glo-
                                                                    bal sind, müssen neue Formen der internationalen Zusam-
                                                                    menarbeit genutzt werden.
                                                                       Das Heft skizziert in fünf Abschnitten aktuelle und künf-
                                                                    tige Herausforderungen an die internationale Sicherheits-
                                                                    politik. Das Eingangskapitel führt in die Thematik ein und
                                                                    beschreibt die Veränderungen, welche die Sicherheitspo-
Entwicklungspolitik als Antwort auf                                 litik seit 1989 durchlaufen hat. Im zweiten Abschnitt wer-
Sicherheitsprobleme?                                           76   den wichtige Problembereiche aufgezeigt, mit denen sich
                                                                    Sicherheitspolitik auseinandersetzen muss. Dazu gehören
                                                                    Armut und Unterentwicklung als Auslöser von Krisen und
Literaturhinweise                                              81   Konflikten, die in der Folge zu Migration führen können,
                                                                    der transnationale Terrorismus, die Bedrohungen des Cyber-
                                                                    raums und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Die Autorinnen und Autoren                                     82   Der dritte Abschnitt stellt mit den USA, China und Russland
                                                                    Staaten vor, die die internationale Sicherheitsarchitektur
                                                                    entscheidend prägen. Die Rolle großer internationaler Orga-
Impressum                                                      83   nisationen im Politikfeld Sicherheit wie UNO, NATO, EU und
                                                                    OSZE wird im vierten Abschnitt untersucht. Abschnitt 5 ist
                                                                    neuen Formen der Konfliktbewältigung gewidmet, die für
                                                                    die Erreichung von Frieden und internationaler Sicherheit
                                                                    zukunftsweisend sein können.
                                                                       Es wird erheblicher Anstrengungen bedürfen, um nicht
                                                                    hinter bisher Erreichtes zurückzufallen. Zuvorderst die de-
                                                                    mokratisch verfassten Staaten stehen hier in besonderer
                                                                    Verantwortung.

                                                                    Jutta Klaeren

     Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
4         INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK

SVEN BERNHARD GAREIS

Sicherheit in der
globalisierten Welt
Die Kriege und Krisen von Syrien über den Irak bis in die                                          stand, sondern ein facettenreiches Konzept, welches individu-
Ukraine zeigen ebenso wie das allgegenwärtige Flücht-                                              ell-persönliche wie auch kollektive Dimensionen, etwa auf der
lingselend im Mittelmeerraum und die Ebola-Epidemie in                                             nationalen bzw. gesellschaftlichen Ebene, aufweist.
Westafrika, dass es in der globalisierten Welt keine Stabi-                                           Eine Definition von Sicherheit fällt daher schwer. Als Annä-
litätsoasen mehr gibt. Internationale Sicherheit bedarf der                                        herung an dieses komplexe Konzept wird hier Sicherheit als
verstärkten Zusammenarbeit von Staaten, Organisationen                                             ein Zustand aufgefasst, in welchem Individuen, Gesellschaf-
und der Zivilgesellschaft.                                                                         ten oder Staaten meinen, die wichtigsten Risiken und Bedro-
                                                                                                   hungen so existenzieller Güter wie Leben, Gesundheit, Wohl-
                                                                                                   stand, Lebensform oder politisch-kultureller Ordnung mit
Sicherheit – ein komplexes Konzept                                                                 wirksamen Mitteln kontrollieren bzw. abwehren zu können.
                                                                                                      Sicherheit ist also kein statischer Zustand, sondern ein dy-
Sicherheit ist ein menschliches Urbedürfnis. Dieses im Rah-                                        namischen Veränderungen unterworfenes Konstrukt, das
men einer umfassenden Sicherheitspolitik für seine Bevölke-                                        fortwährend diskutiert und politisch überprüft werden muss.
rung zu gewährleisten, ist eine Grundfunktion des modernen                                         Dies beginnt bei der Frage nach den drängendsten Sicher-
Staates. Dass sich die Erfüllung dieser Aufgabe zunehmend                                          heitsbedrohungen: Sind es Gesundheitsgefahren, wirtschaft-
schwieriger gestaltet, liegt bereits im Begriff der Sicherheit                                     liche Probleme, der transnationale Terrorismus, Russlands Ag-
selbst begründet. Dieser beschreibt keinen fassbaren Gegen-                                        gression gegen die Ukraine, der Klimawandel oder vielleicht

Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 621 070; Quelle: AKUF, HIIK, COW, Ploughshares, ICG (Stand: 4/2014)

                                                                                                                  Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
Lineair/ Fotofinder.com                                                                                 Sicherheit in der globalisierten Welt              5

Moderne Massenmedien wie das Fernsehen lassen die Welt zum „globalen Dorf“ zusammenrücken, ermöglichen die Verbreitung von Informationen und geben kulturelle
Impulse. Fernsehrunde an einem Kiosk in einem Vorort von Bamako – Millionen-Einwohner-Stadt, Hauptstadt und wichtigster Wirtschaftsstandort von Mali

außer Kontrolle geratene Finanz- und Wirtschaftsstrukturen,                      konnte sie noch die Vorstellung von getrennten Sphären der
welche die sozioökonomische Stabilität ganzer Gesellschaf-                      „inneren“ und der „äußeren“ Sicherheit aufrechterhalten. Im
ten in Frage stellen können? Jede Antwort beruht auf letztlich                   Inneren waren Verwaltung, Katastrophenschutz, Polizei und
subjektiven Einschätzungen und Bewertungen, die je nach                          Justiz dafür zuständig, die allgemeinen Lebensrisiken der Be-
geografisch, politisch, sozial oder religiös-kulturell geprägter                 völkerung abzusichern, nach außen hin waren dies vor allem
Sichtweise sehr unterschiedlich ausfallen können.                                Diplomatie und Militär, die etwa in Westeuropa eine Bedro-
   Die kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsrisiken ist                   hung durch militärische Angriffe seitens der Sowjetunion
deshalb so grundlegend bedeutsam, weil die zur Abwehr einer                      abwehren sollten.
Bedrohung eingesetzten (Macht-)Instrumente ihre Wirkun-
gen auch auf ganz unterschiedlichen Feldern und Ebenen ent-                      Globales Dorf
falten: Inwieweit dürfen – auf der innerstaatlichen Ebene – im                   Diese klassische Unterscheidung hat unter den Vorzeichen der
Zuge der Terrorismusabwehr bürgerliche und Menschenrech-                         Globalisierung keinen Bestand mehr. In diesem weltumspan-
te eingeschränkt werden, ohne dass die Prinzipien von Freiheit                   nenden Prozess werden eine wachsende Zahl staatlicher und
und Demokratie Schaden nehmen? Unter welchen Bedingun-                           nicht staatlicher Akteure sowie politischer Handlungs- und
gen und zu welchen Zielen ist ein – internationales – militäri-                  Problemfelder immer enger miteinander vernetzt. Die Interak-
sches Vorgehen gegen Organisationen wie den „Islamischen                         tionsbeziehungen zwischen den Akteuren beschleunigen sich
Staat“ in Syrien und im Irak vorstellbar, ohne damit den Krieg                   rasant, und der räumliche Zusammenhang zwischen dem Ein-
und die Gewalt in der Region noch weiter zu befeuern? Wie                        tritt eines Ereignisses und der Entfaltung seiner Wirkungen
kann Russland Einhalt geboten werden, ohne die europäische                       löst sich zunehmend auf. Dieser Globalisierungsprozess er-
Energiesicherheit vor größere Herausforderungen zu stellen?                      öffnet Staaten und Gesellschaften ungeahnte Möglichkeiten:
   Sicherheitsfragen führen zumeist in Dilemma-Situationen,                      Schnellere Kommunikationskanäle und bessere Verkehrsver-
in denen es darauf ankommt, Risiken und zu schützende Gü-                        bindungen führen zu weltweit engeren Handelsbeziehungen
ter abzuwägen, negative Nebenwirkungen möglichst zu mini-                        und damit zumindest potenziell zu wachsendem Wohlstand,
mieren und unter den beteiligten Akteuren einen größtmög-                        zu vermehrtem kulturellem Austausch und Verständigung.
lichen Konsens über das gemeinsame Vorgehen herzustellen.                        Der Zugang zu globalen Medien und frei verfügbare Informa-
Eindeutige Antworten gibt es gerade in pluralistischen und                       tionen vergrößern den Einfluss der internationalen Zivilge-
demokratischen Gesellschaften nur äußerst selten.                                sellschaft auf die politischen Prozesse, verbessern die öffentli-
                                                                                 che Kontrolle staatlichen Handelns und verhelfen kollektiven
                                                                                 Gütern wie Menschenrechten, Umweltschutz oder sozialer
                                                                                 Gerechtigkeit zu stärkerer globaler Aufmerksamkeit. Die Welt
Globalisierung als Gestaltungsfaktor                                             entwickelt sich zunehmend zu einem global village (so der ka-
internationaler Sicherheit                                                       nadische Philosoph und Geisteswissenschaftler Herbert Mar-
                                                                                 shall McLuhan 1968), dessen Einwohner immer enger aufei-
                                                                                 nander angewiesen sind.
Neben dieser konzeptionellen Problematik gestalten sich
staatliche und internationale Sicherheitspolitik auch des-                       Neue Risiken und Bedrohungen
halb immer schwieriger, weil sich die Entstehung von Risiken                     Allerdings ist dieses globale Dorf kein romantischer Ort. Wech-
und Bedrohungen wie auch deren Bewältigung unter grund-                          selseitige Abhängigkeit (Interdependenz) bedeutet immer auch
legend veränderten Rahmenbedingungen vollzieht. Bis zum                          Verletzlichkeit, die für Freiheit und Wohlstand unentbehrlichen
Ende des Ost-West-Konflikts war die Staatenwelt durch ge-                        offenen Wege und Kanäle können auch von kriminellen oder
sicherte Grenzen und eine eingeschränkte bzw. kontrollier-                       terroristischen Vereinigungen genutzt werden. Zudem sind die
te Mobilität von Menschen und Gütern gekennzeichnet. So                          Früchte des Globalisierungsprozesses ausgesprochen ungleich

                          Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
6

                                                                                                                                                                                 Mauricio Lima / NYT / Redux / laif
Häuserkampf in den Straßen der libyschen Stadt Sirte im Oktober 2011. Die Revolution gegen die autokratische Herrschaft von Muammar Gaddafi entwickelte sich über
einen anhaltenden Bürgerkrieg zum Staatszerfall – mit bösen Folgen nicht nur für die eigene Bevölkerung.

unter den Bewohnerinnen und Bewohnern des Weltdorfes
verteilt. Die so entstandenen politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Ungleichheiten haben auch eine spürbare Fragmentie-
rung des Internationalen Systems entlang kultureller, religiöser
oder ideologischer Bruchlinien bewirkt.
  Anstelle einer alles überlagernden militärischen Bedrohung
durch einen mächtigen Gegner sehen sich die Staaten heute
zumeist mit einem ganzen Bündel direkter und indirekter Ri-
siken konfrontiert, die sich zudem vielfach überlagern und zu
immer komplizierteren Szenarien verknüpfen. Die Palette die-
                                                                                   AP / Abbas Dulleh

ser Herausforderungen umfasst Kriege und zerfallende Staaten,
den transnationalen Terrorismus und die organisierte Krimi-
nalität, Migrations- und Fluchtbewegungen, die Ausbreitung
von Krankheiten und nicht zuletzt Umwelt- und Klimaschäden.
                                                                                   In Monrovia, der Hauptstadt Liberias, starren Passanten auf einen mutmaßlich an
Hinzu kommt, dass Entwicklungen und Ereignisse in einem                            Ebola gestorbenen Menschen. Die Epidemie verbreitete sich 2013/14 in mehreren
Teil der Welt immer rascher auch Staaten und Gesellschaften                        westafrikanischen Ländern und legte deren strukturelle Defizite offen.
in vermeintlich weit entfernten Regionen betreffen. Krieg und
Gewalt im Nahen und Mittleren Osten bringen nicht nur exis-
tenzielle Not und Vertreibung für die betroffenen Bevölkerun-
gen, sondern ziehen auch zahlreiche Nachbarstaaten in Mitlei-
                                                                                   Mohammed Al-Shaikh / AFP / GettyImages

denschaft. Die fortbestehenden Entwicklungsdefizite in Teilen
Afrikas führen in Verbindung mit der Unfähigkeit vieler Staa-
ten, ihre Bevölkerungen vor den Übergriffen von Terrororgani-
sationen oder Milizen zu schützen, zu Massenflucht und Wan-
derung in Richtung Europa. Die seit 2008 andauernde globale
Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise zeigt, wie massiv und
umfassend sich Fehlentwicklungen in einem Sektor dieses eng
vernetzten globalen Systems auf praktisch alle anderen Hand-
lungsfelder auswirken. Die immer schnelleren weltumspan-
nenden Verkehrsverbindungen sorgen dafür, dass Infektions-
                                                                                   Moderne Kommunikationsmedien wie Twitter ermöglichen politische Meinungs-
krankheiten wie vor einigen Jahren die Lungenkrankheit SARS                        äußerungen, können aber andererseits auch die Staatsmacht auf den Plan rufen.
oder in jüngster Zeit das Ebola-Virus nicht auf einige lokale                      Protest gegen die Inhaftierung eines Regierungskritikers in Manama, Bahrain, 2012

                                                                                                                            Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
Sicherheit in der globalisierten Welt         7

Herde begrenzt bleiben, sondern sich schnell auf andere Länder    Erweiterter Sicherheitsbegriff
und Kontinente ausbreiten können. Neben der Gefahr regiona-       Die vorrangige Verantwortung für die Sicherheitsvorsorge
ler oder gar weltweiter Krankheitsübertragung, sogenannten        bleibt auch unter den Vorzeichen der Globalisierung bei den
Pandemien, haben Infektionen mit hohem Verbreitungsgrad           Staaten und Regierungen. Ihr langjährig vorherrschendes Ver-
Auswirkungen in den Ursprungsländern und -regionen selbst.        ständnis nationaler Sicherheit als militärischer Bedrohungsab-
So werden etwa durch HIV/AIDS oder jüngst durch Ebola in          wehr wurde allerdings in den vergangenen zwei Jahrzehnten
Afrika gesellschaftliche und politische Strukturen zerstört und   weitgehend durch einen „erweiterten Sicherheitsbegriff“ er-
das wirtschaftliche und soziale Leben kommt zum Erliegen.         gänzt, der die oben aufgezeigte Vielzahl neuer Risiken erfasst.
  Medien bringen Kriege und Katastrophen in Echtzeit ins          In Deutschland geschieht dies seit 2006 unter dem Schlagwort
Bewusstsein der globalen Öffentlichkeit und können so             der „Vernetzten Sicherheit“, in anderen Ländern unter dem
politischen Handlungsdruck in den Hauptstädten und in             des Whole of Government Approach. Gemeinsam ist ihnen das
internationalen Organisationen wie NATO oder UNO auslö-           Anliegen, alle mit der öffentlichen Sicherheitsvorsorge befass-
sen. Es handelt sich um den sogenannten CNN-Effekt, einen         ten staatlichen (und teils auch zivilgesellschaftlichen) Einrich-
Mechanismus, der seine Bezeichnung der Berichterstattung          tungen sowie deren spezifische Instrumente und Fähigkeiten
des gleichnamigen US-Nachrichtensenders aus dem kriegs-           so miteinander zu verbinden, dass komplexe Risiken wirksam
geschüttelten Somalia zu Beginn der 1990er-Jahre verdankt:        kontrolliert und bewältigt werden können – getreu dem Mot-
Drastische und emotionale Bilder mobilisieren in vielen           to: Komplexe Probleme verlangen komplexe Antworten.
Staaten die öffentliche Meinung zugunsten internationaler            Gemeinsam ist den meisten Staaten aber auch die Herausfor-
Interventionen und Maßnahmen. Neben die professionellen           derung, die je unterschiedlichen Rechtsvorschriften, vor allem
Nachrichtensender sind längst auch Individuen und Grup-           aber auch die institutionellen Kulturen und die aus ihnen resul-
pen getreten, die mit Smartphones und Digitalkameras Bil-         tierenden Wahrnehmungen von Sicherheitsproblemen und den
der und Augenzeugenberichte in kürzester Zeit verfügbar           Mitteln zu deren Bewältigung zu harmonisieren. Geheimdienste
machen. Dies verspricht zwar zunächst Authentizität – da          arbeiten anders als die Polizei, das Militär anders als Zivilschutz-
mit den modernen Kommunikationsmedien wie Facebook                agenturen. Hinzu kommen bürokratische Hindernisse, Zustän-
und Twitter jedoch jedermann zum Kriegsberichterstatter           digkeitskonflikte, Kämpfe um Ressourcen und häufig auch das
in eigener Sache werden kann, wird gerade angesichts der          Fehlen einer Instanz, die dieses Zusammenspiel so unterschied-
oft weitreichenden Konsequenzen solcher Informationen             licher Kräfte koordinieren soll. Bereits auf der nationalen Ebene
die Frage nach deren Herkunft und Zuverlässigkeit immer           fällt es schwer, ein schlüssiges Bild von Sicherheitsrisiken und
wichtiger.                                                        den Erfordernissen zu ihrer Bewältigung zu entwerfen.

Erosion staatlicher Souveränität                                  Multilaterale Kooperation
Die Globalisierung hat auch entscheidenden Einfluss auf die       Wenn die drängendsten Sicherheitsrisiken nicht nur grenz-
internationale Politik. Dabei wird deutlich, dass die Spielräu-   überschreitender, sondern zunehmend globaler Natur sind,
me einzelner, auch sehr mächtiger Staaten, die Chancen des        müssen die Staaten entsprechende Formen und Foren zur
Globalisierungsprozesses zu nutzen und seine Risiken zu re-       Zusammenarbeit finden. Unter dem Begriff „Multilateralis-
duzieren, immer enger werden. Dies drückt sich auch in einer      mus“ hat sich ein Handlungsmuster der internationalen Po-
fortschreitenden Erosion staatlicher Souveränität aus: Staaten    litik herausgebildet, nach welchem Staaten ihre nationalen
und Regierungen können immer weniger die Folgen und Wir-          Politiken auf der Grundlage gemeinsamer Regeln und Prin-
kungen kontrollieren, die äußere Entwicklungen in ihre Ter-       zipien wie Gewaltfreiheit oder Gleichberechtigung mitei-
ritorien hineintragen. Selbst innenpolitisches Handeln kann       nander koordinieren. Dabei gehen sie auch von gemeinsa-
sich so nicht mehr ausschließlich auf das eigene Staatsgebiet     men Wertvorstellungen aus, etwa bei den Menschenrechten,
konzentrieren, sondern muss grenzüberschreitende Erforder-        im Umweltschutz oder bei sozioökonomischen Standards. Im
nisse im Blick behalten.                                          Gegensatz zum Unilateralismus, nach welchem insbesonde-
   Da das internationale System aber auch unter den Vorzei-       re die mächtigeren Staaten ihre partikularen Anliegen im
chen der Globalisierung bislang keine zentralen politischen       Alleingang durchsetzen wollen, sind für multilaterale An-
Steuerungsmechanismen hervorgebracht hat, obliegt es              sätze die gemeinsamen Interessen der beteiligten Staaten
weiterhin den Staaten, geeignete Strategien für die eigene        entscheidend. Hinter diese müssen dann im Falle des Falles
Sicherheitsvorsorge zu entwickeln. Vor allem aber müssen          auch kurzfristige nationale Gewinnerwartungen zurücktre-
sie international zusammenarbeiten, um eine globale Sicher-       ten. Ein funktionierender oder effektiver Multilateralismus
heitsordnung zu schaffen und um einem zunehmend breite-           beweist sich zudem darin, dass kollektive Maßnahmen und
ren Spektrum schwieriger Problemfelder gerecht zu werden.         deren Ergebnisse zumindest von den meisten Beteiligten
                                                                  auch akzeptiert werden. Indem es willkürliches Handeln ein-
                                                                  zelner Staaten zulasten anderer reduziert, stellt ein multila-
                                                                  terales Vorgehen in einer von wechselseitigen Abhängigkei-
Reaktionsmöglichkeiten                                            ten geprägten Welt eine wesentliche Quelle der Legitimation
                                                                  politischen Handelns dar. Dies ist gerade auf dem Gebiet der
Die modernen Risiken sind komplex in ihren Ursachen, Ent-         Sicherheitspolitik entscheidend, in dem einseitig formulierte
wicklungen und Wirkungen. Es bedarf daher komplexer Struk-        Sicherheitsinteressen immer wieder zu Kriegen und drama-
turen und Instrumentarien sowohl auf der einzelstaatlichen        tischen Folgen auch für zunächst unbeteiligte Staaten und
wie auf der internationalen Ebene, um Herausforderungen           Gesellschaften führen.
angemessen zu analysieren, ihre Ursachen zu bestimmen, Ge-           Wichtige Foren, in denen multilaterale Sicherheitspolitik ge-
fährdungspotenziale abzuschätzen und die geeigneten Mittel        staltet wird, sind internationale Organisationen. Diese basieren
zu ihrer Bewältigung einzusetzen.                                 in der Regel auf einem völkerrechtlichen Vertragswerk mit bin-

       Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
8                                            INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK
picture alliance / AP Photo / Jason DeCrow

                                                                                                                                                                                            imago / Xinhua
Die UNO und ihr Sicherheitsrat können weltweit Friedensbedrohungen feststellen                         Aber auch regionale Bündnisse, wie die Afrikanische Union, engagieren sich in der Frie-
und sanktionieren. Einstimmige Verabschiedung einer Resolution gegen den trans-                        denssicherung. Truppen aus Sierra Leone, die in Mogadischu, Hauptstadt des krisenge-
nationalen Terrorismus am 24. September 2014                                                           schüttelten Somalia, 2013 gegen radikalislamistische Al-Shabab-Milizen vorgehen sollen

                                 Worum geht es beim Ringen um die neue
                                 Weltordnung?
                                 Dass sich der Fokus der großen Mächte auf die Lenkung und Über-        […] Allerdings ringen […] [in den USA] beide geopolitischen Schu-
                                 wachung der Flüsse von Kapital, Information und anderen Gütern         len noch miteinander um die Vorherrschaft, die der Territorien
                                 verschieben würde, diese Tendenz ist für das 21. Jahrhundert seit      und die des Fluiden. […]
                                 Längerem prognostiziert worden. Man hatte freilich damit gerech-          In deren Logik sind Herausforderungen wie die durch Al-Kaida,
                                 net, dass sich die Verschiebung der weltpolitischen Gewichte weit-     Boko Haram in Teilen Afrikas sowie jetzt durch die IS-Milizen in Syri-
                                 gehend auf dem Feld der Wirtschaft abspielen und kriegerischen         en und im Irak viel gefährlicher und folgenreicher als das aus dieser
                                 Auseinandersetzungen nur eine marginale Rolle zukommen wür-            Sicht antiquierte Vorgehen Putins; Al-Kaida, der IS und ihresgleichen
                                 de. Das dürfte eine allzu optimistische Prognose gewesen sein.         sind Konkurrenten um die Kontrolle des Fluiden: Sie sind für die USA
                                    Der Krieg im Osten der Ukraine könnte stattdessen für eine          gefährlich, weil sie analogen Denk- und Handlungsmodellen folgen.
                                 Rückkehr des Krieges in das Ringen um die weltpolitische Ord-             Fasst man die Entwicklung des Dschihadismus vom ersten Af-
                                 nung sprechen; in ihm geht es noch einmal um die Verfügung             ghanistankrieg (dem der Mudschahedin gegen die Rote Armee)
                                 über Territorien. […]                                                  bis zu den jüngsten Kämpfen in Syrien und im Nordirak zusam-
                                    Zurzeit setzen […] [die Europäer] darauf, dass der Gebrauch         men, so haben wir es mit einem neuen Typus der „internationalen
                                 militärischer Macht durch den Einsatz wirtschaftlicher Macht           Brigaden“ zu tun, die sich mal hier, mal dort konzentrieren, Ter-
                                 blockiert werden könne. Das Problem ist freilich, dass diese bei-      ritorien erobern und zeitweilig kontrollieren, deren Existenz aber
                                 den Machtsorten unterschiedlichen Zeitregimen unterliegen:             nicht an der Gebietskontrolle hängt, sondern die sich jederzeit ins
                                 Militärische Macht zeitigt kurzfristige Effekte, wirtschaftliche       Fluide auflösen können, um dann an anderer Stelle erneut feste
                                 Macht entfaltet ihre Wirkung über längere Zeiträume. Militä-           Gestalt anzunehmen. Folgenreich verwundbar sind diese neuen
                                 rische Macht verhindert eher, als dass sie gestaltet; wirtschaft-      Gewaltakteure für die USA nur dort, wo sie eine territoriale Gestalt
                                 liche Macht kann Entwicklungen gestalten, aber einen Gegen-            angenommen, sich also verkörperlicht haben, denn nur dann las-
                                 spieler nicht kurzfristig ausschalten. […]                             sen sie sich mit militärischen Mitteln attackieren. […]
                                    […] Die Messlatte […] [der] herkömmlichen Landimperien war             Ansonsten führen […] [die USA] einen permanenten Krieg ge-
                                 das kontrollierte Territorium. Im Vergleich dazu ist das imperiale     gen diese Organisationen mit Kampfdrohnen. Schon jetzt ist dies
                                 Projekt der USA auf die Kontrolle von Strömen angelegt: Strömen        ein tendenziell global angelegter Krieg, der eher einer Polizeiakti-
                                 von Kapital und Informationen, Gütern und Dienstleistungen,            on als dem klassischen Duell ähnelt. […]
                                 Rohstoffen und Personen. Nicht um die Inbesitznahme eines stra-           Das, was wir als Krieg bezeichnen, stellt sich inzwischen viel-
                                 tegisch wichtigen Stücks Boden geht es dabei, sondern um die           gestaltiger dar als noch vor Jahrzehnten. Die herkömmlichen Un-
                                 Kontrolle und Steuerung eines Gesamtzusammenhangs.                     terscheidungen zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg oder
                                    Globale Überwachungs- und Spähprogramme sowie Flugzeug-             zwischen Staaten- und Bürgerkrieg haben ihre orientierende Kraft
                                 träger und Kampfdrohnen sind dafür wichtiger als Panzer und Ra-        verloren. Sie sind analytisch nicht bedeutungslos, aber die Mehr-
                                 ketenwerfer. Insofern sind einige der Kriege und Konflikte, die uns    zahl der Kriege, mit denen wir es heute zu tun haben, sind Hybride
                                 zurzeit beschäftigen, auch Auseinandersetzungen um die Frage,          zwischen diesen Unterscheidungen oder sind Neuformatierun-
                                 welche Art von Ordnung im 21. Jahrhundert dominant sein wird:          gen der Gewalt, die sich diesen Begriffen entziehen.
                                 die Kontrolle von Territorien und die Verfügung über Grenzen              Über kurz oder lang wird das auch für das Kriegsvölkerrecht Fol-
                                 oder die Kontrolle und Beeinflussung des Fluiden und sich per-         gen haben. Das Insistieren auf einer Rechtsordnung, die durch die
                                 manent Verändernden. Mit der Alternative zwischen der Kontrol-         Erfahrung der beiden Weltkriege geprägt ist, wird für die Regula-
                                 le des Festen und des Fluiden als Grundlage der Weltordnung ist        tion und Begrenzung der Gewalt in den neuen Weltordnungskon-
                                 auch die Reichweite der je geltend gemachten Werte und Normen          flikten nicht mehr genügen. Das Ringen um die neue Weltordnung
                                 verbunden: Wer sich auf Territorien beschränkt, kann seine Norm-       ist darum auch ein Ringen um die Regeln, die dabei zu beachten
                                 ansprüche räumlich begrenzen; wer aufs Fluide setzt, muss auf          und einzuhalten sind. […]
                                 universellen Werten bestehen […].                                      Herfried Münkler, „Soldat ohne Staat“, in: DIE ZEIT Nr. 39 vom 18. September 2014

                                                                                                                              Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
Sicherheit in der globalisierten Welt                         9

  Stresstest für die globale Sicherheitsarchitektur
  […] [W]as sind […] die „Spielregeln des 21. Jahrhunderts“? Sind      freier Entscheidungen. Mit China, Russland und dem politi-
  sie […] klar definiert? Und haben sie sich so beträchtlich gegen-    schen Islam sind in den vergangenen Jahrzehnten drei ideologi-
  über früheren Zeiten verändert – oder haben wir es mit Konti-        sche Herausforderer herangewachsen, die das westliche Modell
  nuitäten aus verschiedenen Epochen zu tun?                           nicht nur nicht teilen, sondern unter Berufung auf eine eigene,
    Als der Kalte Krieg mit dem Fall der Mauer für beendet er-         glorreiche Geschichte unter Druck setzen. Ist Geschichte also
  klärt wurde, herrschte im Westen Siegestaumel. Francis Fu-           wirklich nur etwas Vergangenes, heute nicht mehr Gültiges?
  kuyama diagnostizierte das „Ende der Geschichte“ und den               „Für Amerikaner mag Geschichte oder Geografie nicht von
  endgültigen Sieg der liberalen Demokratie. Tatsächlich waren         allzu großer Bedeutung sein“, schrieb Aaron Miller jüngst in
  die neunziger Jahre durch eine Welle der Demokratisierung            Foreign Policy. Aber andere Nationen knüpften ihre politi-
  hauptsächlich in den ehemaligen Staaten des Warschauer               sche Identität „an nationale Ehre und Würde, an Relikte einer
  Paktes gekennzeichnet. Die USA erlebten ihren unipolaren             längst vergessenen Welt. Man muss nur Iraner, Palästinenser,
  Moment als „Hyperpower“ ohne wirkliche Konkurrenz, der sie          Ägypter, Israelis, Türken oder Russen fragen, ob sie unsere fort-
  zum Versuch verleitete, durch „regime change“ auch eine De-          schrittliche Welt so wunderbar finden wie wir.“ Wie zur Ant-
  mokratisierung des Iraks und womöglich des gesamten Nahen            wort schrieb der russische Autor Viktor Jerofejew in der FAZ:
  und Mittleren Ostens und Afghanistans herbeizuführen. Noch          „Wer sagt denn, dass wir in Russland uns um die Zeitrechnung
  die späteren Aufstände in vielen arabischen Ländern wurden           scheren? Wir leben im 21. Jahrhundert und im 17. Jahrhundert
  zunächst als eine Art arabisches 1989 interpretiert, das die ara-    gleichzeitig.“
  bischen Diktaturen ähnlich den zentraleuropäischen Staaten             Vielleicht ist das 21. Jahrhundert dem 19. Jahrhundert ähnli-
  auf den Weg der Demokratie bringen würde. Endlich, glaub-            cher, als wir uns eingestehen. Niemand hätte noch im Sommer
  te man, habe auch in der arabischen Welt der mühsame, aber           1913 geglaubt, dass ein Krieg diese wirtschaftlich so dicht wie
  letztlich unvermeidliche Aufbruch in eine Epoche der Demo-           noch nie verknüpfte Welt „entknüpfen“ und in eine Katastro-
  kratie und Entwicklung begonnen. Allerdings: Weder war, wie          phe stürzen könnte. Doch gegenseitige wirtschaftliche Abhän-
  wir heute wissen, die Demokratisierung per regime change und         gigkeiten waren eben kein Bollwerk gegen Nationalismus, kein
  Nation-Building im Irak und in Afghanistan sonderlich erfolg-        Schutz vor einem unstillbaren Durst nach Heroismus, keine
  reich. Noch erwiesen sich die arabischen Aufstände als Beginn       Absicherung gegen die Verstrickungen von Geschichte und
  eines demokratischen Frühlings. […]                                  Identitätspolitik. Nun verfügte das 19. Jahrhundert nicht über
    Das vergangene Jahrzehnt ist gekennzeichnet durch den              die supranationalen Institutionen des 20. und 21. Jahrhunderts.
  Aufstieg von Mächten, die dem westlichen liberalen System           Aber können wir heute sicher sein, dass unsere Sicherheitsar-
  nichts abgewinnen können. Als wirtschaftlich erfolgreiche            chitektur trägt?
  autoritäre Macht setzt China das Modell „Demokratie mit                 Wir haben keine Antwort auf die Frage, wie wir mit Akteuren
  Marktwirtschaft“ unter Druck, weil seine weniger komplexen           umzugehen haben, die die Verknüpfung der Globalisierung nut-
  Entscheidungsstrukturen schnellere und flexiblere Reaktionen         zen, aber sich nicht an Regeln halten, die weitgehend vom Wes-
  erlauben, als dies in einer konsens-basierten westlichen Ord-        ten aufgestellt wurden – oder die aus nationalistischen Motiven
  nung möglich ist.                                                    heraus sich mit Bedacht „entknüpfen“. Es ist nicht ausgemacht,
    Wladimir Putin stellt sich sein Russland als Kernland einer        ob es nicht allein der Westen ist, der im 21. Jahrhundert lebt.
 „konservativen Revolution“ vor, als ideologischen Gegenpol zu
  den westlichen Werten des Liberalismus, der Menschenrechte,         Shimon Stein und Sylke Tempel, „Helden brauchen keine Regeln“, in: DIE ZEIT Nr. 24 vom
  der Rechtsstaatlichkeit und der Integration auf der Grundlage       5. Juni 2014

denden Normen und formalisierten Verfahren der Entschei-              wirkung an gemeinsamen Beschlüssen und Maßnahmen lässt
dungsfindung. Zudem verfügen sie oft über einen institutio-           oft zu wünschen übrig. Internationale Organisationen können
nellen Apparat, welcher der jeweiligen Organisation ein mehr          die Mitgliedstaaten und deren Verantwortung für die internati-
oder minder hohes Maß an eigenen operativen Fähigkeiten im            onale Sicherheit nicht ersetzen. Sie können aber helfen, einzel-
internationalen System verleiht. Die wichtigste dieser Orga-          staatliche Willkür zu reduzieren und nach kollektiven Lösungs-
nisationen auf der globalen Ebene bilden die Vereinten Natio-         ansätzen zu suchen.
nen (UNO) mit ihrem Sicherheitsrat, der Friedensbedrohungen
feststellen und sanktionieren kann. Zudem gibt es kaum ein
internationales Problem, für das die UNO nicht Zuständigkei-
ten besäße und – zumindest in Ansätzen – auch Lösungswege             Fazit
aufzeigen könnte. Aber auch im Verteidigungsbündnis NATO,
in der EU und in regionalen Staatenzusammenschlüssen wie              Internationale Sicherheit bleibt ein schwieriges Politikfeld,
der Afrikanischen Union (AU) oder der Gemeinschaft südostasi-         das hohe Anforderungen an alle beteiligten staatlichen und
atischer Staaten (ASEAN) gibt es Mechanismen und Verfahren,           zivilgesellschaftlichen Akteure stellt. Nationale Egoismen und
um gemeinsame Risiken festzustellen und Strategien zu ihrer           Interessen sind weiterhin dominante Orientierungsmarken
Bewältigung zu entwickeln. Allerdings sind internationale             für die Politik von Staaten, sie sind aber den Erfordernissen
Organisationen immer wieder mit dem Problem konfrontiert,             einer globalisierten Welt immer weniger angemessen. Das
dass sich nicht alle Mitglieder an die vereinbarten Regeln hal-       globale Dorf, das trotz seiner vielen Unterschiede stetig enger
ten und einzelne immer wieder versuchen, ihre Interessen auf          zusammenwächst, kann den Bedrohungen seiner Sicherheit
Kosten der anderen durchzusetzen. Auch die verlässliche Mit-          letztlich nur gemeinsam entgegentreten.

       Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
INFORMATIONEN - INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK - BPB
10     INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK

SIEGMAR SCHMIDT

Armut und Migration
Armut hat viele Facetten, die zur Entstehung von Konflikten      monetäre Definition. Demnach gelten Menschen als absolut
und Kriegen beitragen. Um Armut und Unsicherheit                 arm, die weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zum Leben ha-
zu entfliehen, versuchen viele Betroffene, in sichere und        ben, wobei die jeweilige Kaufkraft berücksichtigt wird. Auch
wohlhabendere Staaten zu gelangen. Dies stellt die               wenn kritisiert wird, dass diese Grenze zu niedrig angesetzt
Aufnahmeländer vor erhebliche Herausforderungen, die             sei und dass sie nichts über die Einkommensverteilung in-
positiven Effekte der Zuwanderung werden dabei                   nerhalb von Gesellschaften aussage, wird dieser Indikator
häufig übersehen.                                                häufig verwendet.
                                                                   Der von der Weltbank herausgegebene Weltentwicklungs-
                                                                 bericht 2014 geht für das Jahr 2010 von etwas mehr als 20
Kurz vor dem Weltwirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos      Prozent der Weltbevölkerung aus, die weniger als 1,25 US-Dol-
2014 veröffentlichte die britische Nichtregierungsorganisation   lar und 50 Prozent, die weniger als 2,50 US-Dollar pro Tag
(NGO) Oxfam eine Aufsehen erregende Information: Dem-            zum Leben haben. In absoluten Zahlen sind dies circa 1,5
nach verfügen die 85 reichsten Menschen der Welt über so viel    Milliarden bzw. circa 3,5 Milliarden Menschen weltweit. Das
Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen – die ärmere Hälfte         Ausmaß an absoluter Armut ist jedoch von Kontinent zu Kon-
der Weltbevölkerung – zusammen. Wenngleich diese Zahl die        tinent sehr unterschiedlich.
insgesamt zunehmende soziale Ungleichheit beeindruckend            Die absolute Armut ist in allen Regionen der Welt zwischen
belegt, so sagt sie höchstens indirekt etwas über Armut aus.     1990 und 2010 zurückgegangen. Allerdings fällt dieser Rück-
Denn die Armutsbilanz der letzten Jahre fällt zwischen einzel-   gang regional sehr unterschiedlich aus: Afrika südlich der
nen Kontinenten und Ländern sehr unterschiedlich aus.            Sahara hat den höchsten Anteil an absolut Armen an der Ge-
  Armut besitzt auch eine Sicherheitsdimension. Bereits 2004     samtbevölkerung, gefolgt von Südasien und Südostasien. Sehr
stellten die UN in einem Bericht zur globalen Sicherheit und
ihren Bedrohungen einen direkten Zusammenhang zwischen
Armut und der Entstehung von Kriegen und Konflikten her.
Eine mögliche Reaktion auf Armut ist – ob erzwungen oder
freiwillig – die Migration in wohlhabendere und sicherere
Länder. Daher wird auch auf die stark angestiegene irreguläre
Migration aus Afrika und dem Nahen Osten eingegangen und
nach ihrer sicherheitsrelevanten Dimension gefragt.

Armutsformen
Absolute und relative Armut
Unter absoluter Armut kann nach dem deutschen Politikwis-
senschaftler Franz Nuscheler eine Lebenssituation verstanden
werden, die durch einen Mangel an elementaren Gütern wie
unter anderem Nahrung, Bildung und Kleidung charakteri-
siert wird. Damit umfasst absolute Armut immer verschie-
dene Dimensionen, für die es jeweils unterschiedliche Merk-
male gibt, wodurch eine allgemeine Armutsdefinition sehr
erschwert wird.
  Relative Armut beschreibt hingegen die Lebenslage von
Teilen der Bevölkerung in reichen industrialisierten und öko-
nomisch weiter entwickelten Ländern, die am unteren Ende
des Wohlstandsniveaus leben. Im Unterschied zu vielen Ent-
wicklungsländern ist dort aber der Anteil der Armen an der
Gesamtbevölkerung gering und die Armut relativ: Die Versor-
gung mit Lebensmitteln und elementarer Gesundheitsfürsor-
ge ist gewährleistet, und die Existenz der Menschen ist nicht
bedroht. Als arm werden dann zumeist Menschen unterhalb
                                                                                                                                           imago / epd

einer bestimmten national oder international festgesetzten
Mindesteinkommensgrenze bezeichnet.
  Um das Ausmaß von absoluter Armut zu messen, das heißt
                                                                 Das dicht besiedelte Bangladesch hat laut Weltbank deutliche Entwicklungsfort-
statistisch den Anteil der absolut Armen zu erfassen, gibt es    schritte gemacht. Dennoch leben rund 47 Millionen Bangladeschis weiterhin un-
verschiedene Möglichkeiten. Die Weltbank propagiert eine         terhalb der Armutsgrenze. Elektroschrottsammler in Dhaka, 2013

                                                                                   Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
Armut und Migration                                11

auffallend ist der Rückgang in China: Lebten 1990 dort noch        sie verfügen über eine geringere Bildung und Ausbildung.
60 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut, so waren es         Hinzu kommen kulturspezifische Faktoren. So verrichten
20 Jahre später nur noch 12 Prozent. Der weltweite Rückgang        Frauen in Afrika häufig die Feldarbeit, kümmern sich um
ist vor allem dieser Entwicklung in China zu verdanken. Ohne       die Kinder und um die Nahrungsmittelversorgung. In vie-
deren Berücksichtigung hätte die Armut sogar weltweit zuge-        len Ländern sind Frauen auch im Erbrecht benachteiligt und
nommen. Auch wenn es durchaus noch Armut in China gibt, so         dürfen – vor allem in einigen arabischen Ländern – kaum
ist die Massenarmut aufgrund des starken Wirtschaftswachs-         am öffentlichen Leben teilnehmen. Der Anteil an Frauen in
tums der vergangenen Jahre deutlich zurückgegangen. Aller-         Management-Positionen und politischen Ämtern ist dort
dings sind die Einkommensunterschiede deutlich angestiegen,        zumeist deutlich geringer als in den Industriestaaten, wo-
wodurch sich die gesellschaftliche Polarisierung erhöht.           bei auch hier Frauen weniger vertreten sind. Die Armutsfor-
   Die besonders kritische Situation Afrikas zeigt der vom Welt-   schung widmet sogenannten verwundbaren Gruppen, wie
entwicklungsprogramm der UN (United Nations Development            alleinerziehenden Frauen und ethnischen oder religiösen
Programme, UNDP) entwickelte Human Development Index               Minderheiten, zunehmend Aufmerksamkeit, da sie beson-
(HDI): Er kombiniert Werte für Pro-Kopf-Einkommen, Lebens-         ders von Armut betroffen sind.
erwartung und Einschulungsraten und gibt Auskunft über               Die Erweiterung des Armutsbegriffs und die Tatsache der
die Entwicklungsbilanz von nahezu allen Staaten. 2014 gab es       besonderen Betroffenheit von Frauen führten zu einer teilwei-
44 Staaten von insgesamt 185 mit niedrigem Entwicklungs-           sen Neuausrichtung der internationalen Entwicklungszusam-
stand, 35 davon lagen in Afrika südlich der Sahara.                menarbeit internationaler Organisationen und vieler Staaten.
   Ein Erfolgsfall in der Armutsbekämpfung war Brasilien un-       Unter dem Stichwort „Women in Development“, mit dem das
ter der Präsidentschaft von Lula da Silva (2003 bis 2011). Um-     Potenzial von Frauen für die Entwicklung eines Landes betont
fangreiche Programme zur Sozialhilfe (Bolsa Familia) und zum       wurde, berücksichtigten die Geber in ihren Projekten zuneh-
Wohnungsbau (Minha casa) haben dazu beigetragen, den Le-           mend Gender-Aspekte oder legten spezifische Programme zur
bensstandard breiter Bevölkerungsschichten, insgesamt von          Frauenförderung auf. Hier konnten auch Erfolge erzielt wer-
bis zu 50 Millionen Brasilianern, nahezu einem Viertel der Be-     den: Der Anteil an Frauen in Afrika, die lesen und schreiben
völkerung, zu verbessern.                                          können, erhöhte sich seit Anfang der 1990er-Jahre von 40 auf
                                                                   58 Prozent. Die Weltbank verlangte von Staaten, die Mittel für
Monetäre und nicht-monetäre Armut                                  großangelegte Programme zur Armutsbekämpfung bezogen,
Armut wird meist durch fehlende materielle Ressourcen de-
finiert: Armut war und ist demnach vor allem Einkommens-
armut, denn nur ein ausreichendes Einkommen sichert die

                                                                                                                                              ullstein bild – Still Pictures / Sean Sprague
Versorgung mit Gütern. Dieses traditionelle, im weitesten Sin-
ne monetäre Armutsverständnis dominiert bis heute die Vor-
stellungen internationaler Organisationen und der Geber von
Entwicklungszusammenarbeit. Dieser Logik folgend bedarf es
vor allem einkommensteigernder Maßnahmen, deren Voraus-
setzung Wirtschaftswachstum ist, um Armut zu bekämpfen.
   Ein alternatives Herangehensmuster entstand in den
1980er-Jahren. Es erweiterte den Armutsbegriff mit dem Hin-
weis auf die kulturelle Verschiedenheit von Gesellschaften
und nichtmateriellen, aber elementar wichtigen Werten. Die
Vertreter dieser Auffassung, die vor allem aus Nichtregie-
rungsorganisationen (NGOs) kommen, argumentieren, dass es
neben materieller auch politische und kulturelle Armut gibt.
   Politische Armut liegt dann vor, wenn es keine oder nur
unzureichende Möglichkeiten gibt, an politischen Entschei-
dungen mitzuwirken und sich zum Beispiel zu organisieren,
um die eigene Situation zu verbessern. Amartya Sen, ein
indischstämmiger Ökonom und Nobelpreisträger von 1998,
vertrat die Ansicht, dass Menschen in Armut keine Chancen
auf beruflichen Aufstieg und Selbstverwirklichung hätten
und ihre Rechte aufgrund mangelhafter Bildung und politi-
scher Benachteiligung nicht wahrnehmen könnten. Daher
müsse eine erfolgreiche Armutsbekämpfung darauf abzielen,
Chancen und Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung – zum
Beispiel durch Bildungsförderung – zu erhöhen, sodass Men-
schen dadurch eigenständig ihre prekäre Situation verän-
dern könnten.

„Armut ist weiblich“
Im Zuge der Armutsdiskussion in den 1990er-Jahren zeigte
sich, dass Frauen weitaus stärker von Armut betroffen sind
                                                                   Frauen sind weltweit stärker als Männer von Armut betroffen, Investitionen in
als Männer. Frauen verdienen im Durchschnitt wesentlich            ihre Förderung sind von nachhaltiger Bedeutung für die langfristige Entwicklung
weniger, ihr Anteil an Analphabeten ist deutlich höher, und        eines Landes. Eine Bäuerin in Sambia bei der Maisaussaat.

       Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
12        INTERNATIONALE SICHERHEITSPOLITIK

dass sie zivilgesellschaftliche Gruppen in Planung und Durch-                    versehen wurden. Das erste und wichtigste Ziel, die Zahl der
führung dieser Programme integrierten (sogenannte Poverty                        absolut Armen bis 2015 zu halbieren, wurde fünf Jahre früher
Reduction Strategy).                                                             als geplant bereits 2010 erreicht. Dabei soll nochmals ange-
                                                                                 merkt werden, dass dies nur durch den Entwicklungserfolg
Bilanz der Armutsbekämpfung                                                      Chinas möglich war und dass trotzdem noch über eine Mil-
Der Kampf gegen die Armut und ihre verschiedenen Dimensi-                        liarde Menschen in bitterer Armut leben. Andere MDG-Ziele,
onen ist das erklärte Hauptziel der Entwicklungsanstrengun-                      wie die Reduzierung der Müttersterblichkeit oder die Gleich-
gen der Staaten, die Mittel für die Entwicklungszusammenar-                      stellung der Geschlechter im Bildungsbereich, wurden nur
beit geben bzw. erhalten. Im September 2000 unterzeichneten                      teilweise erreicht.
189 Staaten die UN-Millenniumserklärung. Für die Entwick-                           Die absehbare gemischte Bilanz der MDGs hat die internati-
lungspolitik wurden Ziele, sogenannte Millennium Develop-                        onale Diskussion über die Ursachen von Armut und die Mög-
ment Goals (MDGs), vorgegeben, die das bis heute gültige                         lichkeiten ihrer Bekämpfung neu belebt. Die neuere Armuts-
Schlüsseldokument im Kampf gegen die Armut bilden. Mit                           diskussion bezieht sowohl strukturelle Faktoren wie auch das
dem „Aktionsprogramm 2015“ legte die Bundesregierung                             Verhalten von Akteuren ein. Zu den strukturellen Ursachen für
bereits kurz nach Verabschiedung der MDGs ein eigenes Pro-                       Armut gehören klimatische Verhältnisse sowie die geografische
gramm zu Unterstützung der Ziele auf. Die MDGs stellen ein                       Lage eines Landes. Staaten ohne Meerzugang sind aufgrund
ehrgeiziges Programm mit 8 Haupt- und 21 Unterzielen dar,                        langer und häufig unsicherer Transportwege benachteiligt.
wobei die Zielvorgaben erstmals konkretisiert und mit Fristen                       Die Ausstattung mit Bodenschätzen wird – entgegen der
                                                                                 klassischen Annahme, dies sei ein Vorteil für die Entwicklung –
                                                                                 gegenwärtig als problematisch für die Entwicklungschan-
                                                                                 cen einer Gesellschaft beurteilt. Argumentiert wird aus dieser
                                                                                 Perspektive, dass Ressourcen ein „Fluch“ für Entwicklung sein
                                                                                 können, da sie die Abhängigkeit vom Ressourcenexport fest-
                                                                                 schreiben, zur Vernachlässigung anderer Wirtschaftssektoren
                                                                                 führen („Holländische Krankheit“) und in schwachen Staaten
                                                                                 Gewaltakteure motivieren, sich in den Besitz von Ressourcen zu
                                                                                 bringen – gerade wenn diese, wie Diamanten und Coltan, leicht
                                                                                „plünderbar“ sind. Der These vom Ressourcenfluch kann entge-
                                                                                 gengehalten werden, dass längst nicht alle ressourcenreichen
                                                                                 Länder sich in Bürgerkriegen oder Prozessen des Staatszerfalls
                                                                                 befinden. Der positiven Entwicklung in Namibia, Südafrika
                                                                                 und Botswana, deren Ressourcenreichtum der Gesellschaft (in
                                                                                 unterschiedlichem Maße) zugutekommt, stehen katastropha-
                                                                                 le Entwicklungen in Liberia, Sierra Leone und der Demokrati-
                                                                                 schen Republik Kongo gegenüber, die über Jahre grausamste
                                                                                 Bürgerkriege durchlitten bzw. (wie im Ostkongo) noch immer
                                                                                 durchleiden. Für die so unterschiedlichen Entwicklungen hat
                                                                                 die sozialwissenschaftliche Forschung verschiedene Erklärun-
                                                                                 gen herausgearbeitet: Funktionierende Staatlichkeit mit einem
                                                                                 legitimen Gewaltmonopol der Regierung und eine effektive,
                                                                                 nicht übermäßig korrupte, transparente und demokratische Re-
                                                                                 gierungsführung (Governance) können die Negativwirkungen
                                                                                 des Ressourcenfluchs begrenzen.
                                                                                 Sven Torfinn / laif

Anmerkung: Die vorliegenden Länderdaten reichen für die Berechnung der
Gesamtwerte für Ozeanien nicht aus.                                             Die für die Elektronikindustrie wertvollen Coltanvorkommen der DR Kongo werden
Quelle: Vereinte Nationen, Milleniums-Entwicklungsziele – Bericht 2014, S. 8;   unter gefährlichen Arbeitsbedingungen gewonnen und sind Teil des „Ressourcen-
www.un.org/depts/german/millennium/MDG Report 2014 German.pdf                   fluchs“ in dem von Bürgerkriegen geplagten Land. Minenarbeit in Süd-Kivu

                                                                                                       Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
Armut und Migration                       13

 „Die Rohstoffe sind ein Fluch“
  Frankfurter Rundschau: Herr Nkunzi, Ihre Heimat, die Demo-            Nkunzi: Nein, das ist nicht unsere Forderung. Mineralien sind
  kratische Republik Kongo, ist reich an Bodenschätzen. Warum           ein Teil unseres Problems, aber auch ein entscheidender Teil
  sprechen Sie von „Blutmineralien“?                                    der Lösung. Aus dem schmutzigen Geschäft muss ein Win-Win-
    Justin Nkunzi: Weil Rebellen im Osten des Kongos die Vor-           Business werden. Wenn Handyhersteller die Rohstoffe nicht
  kommen von Coltan und Gold, das für die Elektronikindustrie           mehr von Rebellen, sondern aus staatlichen Minen beziehen
  wichtig ist, illegal ausbeuten und damit den Bürgerkrieg finan-       und dafür faire Preise, Steuern und Gebühren zahlen, dann pro-
  zieren. Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen             fitieren auch die Menschen.
  Laptops und Handys und unserem Leid und unserem Blut. Der                FR: Aber ist nicht Korruption nach wie vor ein großes Pro-
  Reichtum an Rohstoffen ist eher Fluch als ein Segen. […]              blem? Das Geld landet oft in dunklen Kanälen und kommt nicht
     FR: Wer sind vor allem die Opfer der Konflikte?                    der lokalen Bevölkerung zugute.
     Nkunzi: Die Rebellen terrorisieren die gesamte Bevölkerung,           Nkunzi: Ich setzte große Hoffnung auf den Dodd-Frank-Act.
  vergewaltigen Frauen, massakrieren Männer und zwingen                 Das amerikanische Gesetz verpflichtet alle Unternehmen, die
  auch Minderjährige, Coltan und Gold aus dem Boden zu holen.           der US-Börsenaufsicht unterliegen, die Herkunft der Mineralien
  Sexuelle Gewalt ist ein großes Problem. Vor allem traumati-           zu dokumentieren und sicherzustellen, dass mit ihnen keine be-
  sierte Frauen und Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorge-          waffneten Konflikte im Kongo oder Nachbarländern finanziert
  gangen sind, leiden. Sie werden oft stigmatisiert und haben es        werden. Und die Konzerne müssen für diese Konflikt-Rohstoffe
  schwer, in ihre Dorfgemeinschaft zurückzufinden und im Le-            ihre Zahlungen an ausländische Staaten aufgeschlüsselt nach
  ben wieder Fuß zu fassen.                                             Projekten offenlegen. Das verschafft der Zivilgesellschaft einen
     FR: Auf welchen Wegen gelangen die Mineralien außerhalb            Überblick über die Finanzströme und die Möglichkeit, von der
  des Landes?                                                           Regierung entsprechende Investitionen in Gesundheit, Bildung
     Nkunzi: Das ist ein kriminelles Business. Wir kennen die Liefer-   und Infrastruktur einzufordern. […]
  beziehungen und Transportrouten nicht genau. Aber Kigali, die            FR: Ist nicht zu befürchten, dass der Dodd-Frank-Act dazu führt,
  Hauptstadt Ruandas, spielt als Umschlagsplatz eine wichtige Rolle.    dass sich Unternehmen ganz aus dem Kongo zurückziehen?
     FR: Wer sind auf der Kundenseite die Akteure?                         Nkunzi: Warum sollten sie das tun? Die Alternative wäre,
     Nkunzi: Auch das ist schwierig zu sagen. Aus Berichten von         Coltan aus Australien zu beziehen, wo die Lohnkosten viel hö-
  Frauen, die in Rebellencamps verschleppt wurden und jetzt in          her sind. Es gibt im Kongo zertifizierte Hütten, bei denen die
  Traumazentren der Diözese Bukavu behandelt werden, wissen             Mineralien nicht auf Kosten der Menschenrechte gewonnen
  wir aber, dass regelmäßig Helikopter in den Camps landen, die         werden. Unternehmen müssten doch ein Interesse haben, mit
  den Rebellen-Milizen Waffen und Lebensmittel bringen und              denen als verlässliche Partner zusammenzuarbeiten, anstatt
  dafür Coltan und Gold an Bord nehmen.                                 die Rohstoffe von Rebellen zu beziehen.
     FR: Warum geht die kongolesische Regierung nicht dagegen              FR: Was können die Konsumenten in Deutschland tun?
  vor?                                                                     Nkunzi: Die Zivilgesellschaft muss Druck machen und von
     Nkunzi: Der Staat ist schwach – und das ist eine Folge der il-     Apple, Nokia, Samsung und Co. Rechenschaft verlangen. Da-
  legalen Ausbeutung unserer Bodenschätze. Coltan und andere            mit die Unternehmen ihre Beschaffungspolitik ändern und nur
  wertvolle Mineralien werden außer Landes geschafft, ohne da-          noch konfliktfreie Mineralien verarbeiten. […]
  für Steuern zu entrichten. Auch deshalb kann der Staat seinen
                                                                        Interview von Tobias Schwab mit Justin Nkunzi, Priester der Erzdiözese Bukavu im Osten
  Soldaten keinen angemessenen Sold zahlen. Für Geld kooperie-
                                                                        der Demokratischen Republik Kongo. Als Beauftragter für Menschenrechte leitet er den
  ren Armeeangehörige stattdessen mit den Rebellen. […]                 Ausschuss „Justice and Peace“ (Gerechtigkeit und Frieden) der katholischen Diözese, in:
     FR: Sollten Elektronikfirmen Rohstoffe aus dem Kongo boy-          Frankfurter Rundschau vom 30. Dezember 2014

  kottieren?

Armut und Sicherheit
Das Verhältnis zwischen Armut und Sicherheit ist komplex                großen Anzahl arbeitsloser, häufig schlecht (aus-)gebildeter
und hat verschiedene Dimensionen. Zunächst bedroht Armut                junger Männer, die sich aus Mangel an Alternativen leicht von
die Sicherheit der Betroffenen elementar, da sie in ihrer extre-        skrupellosen Milizenführern rekrutieren ließen. Zum anderen
men Form das Überleben gefährdet oder Menschen in kata-                 verhinderten Bürgerkriege Entwicklung: Nach seiner Kalku-
strophalen Lebensumständen belässt. Neben dieser individu-              lation schrumpfen Volkswirtschaften in Bürgerkriegsstaaten
ellen, aus der Medienberichterstattung bekannten Dimension              durchschnittlich um 2,3 Prozent jährlich, was bei einer durch-
ist aber auch nach dem Verhältnis von Armut und Sicherheit              schnittlichen Bürgerkriegsdauer von sieben Jahren nachhaltig
von Staaten und Gesellschaften zu fragen. In seinem Buch „Die           die Entwicklungschancen verringern kann. Zudem machen
unterste Milliarde“ (2008) stellt der frühere Weltbankökonom            innerstaatliche Kriege häufig alle Entwicklungsanstrengun-
Paul Collier eine Wechselbeziehung zwischen Armut und Si-               gen, auch die Projekte der Entwicklungshilfe, auf Jahre zunich-
cherheit fest. Zum einen sei die Gefahr eines Bürgerkrieges in          te. Der Kampf gegen Armut hat aus dieser Perspektive auch
armen Ländern ohne ausreichendes wirtschaftliches Wachs-                eine klare sicherheitspolitische Dimension.
tum deutlich höher als in wohlhabenderen Ländern. Die hohe
Bürgerkriegsanfälligkeit armer Staaten – 73 Prozent der ab-
solut Armen haben Bürgerkriege erlebt oder befinden sich in
Bürgerkriegsländern – erklärt Collier unter anderem mit der

       Informationen zur politischen Bildung Nr. 326/2015
Sie können auch lesen