INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
INTEGRATION.
GEMEINSAM.
GESTALTEN.
15 Jahre Integrationsreferat
der Stadt Graz
INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
INHALT

Vorwort4
Bürgermeister Siegfried Nagl

Integration im Wandel                                                                        6
Stadtrat Kurt Hohensinner

15 Jahre INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN.                                                  14
Leiterin des Integrationsreferats Roswitha Müller

Vielfalt in der Stadt als urbane Realität                                                   20
Petra Wlasak

Überlegungen zum Migrationsraum Graz                                                        40
Karin M. Schmidlechner

Zahlen im Wandel                                                                            56

Der Grazer Uhrturm erzählt: Einblicke in die Vielfalt                                       66
Petra Wlasak 

Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Integrationsreferats                            72
Petra Wlasak

Integration – MIT I WIR I KUNG 2015 – 2020                                                  102
Integrationsstrategie der Stadt Graz

15 Jahre steter Wandel – Einblicke in die österreichische Asylgesetzgebung                  122
Lisa Heschl

Urban Participatory Governance – Workshops mit PraktikerInnen und ExpertInnen               152
Petra Wlasak

Im Gespräch                                                                                 176
Roswitha Müller und Petra Wlasak

Impressum191

                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
MENSCHEN-
RECHTSSTADT
ZU SEIN,
 IST EINE ­STÄNDIGE UND
 BESONDERE ­VERPFLICHTUNG

                                                                                                                                                                                                                        Siegfried Nagl
                                                                                                                                                                                                               Bürgermeister der Stadt Graz

   Sehr geehrte Damen und Herren,                               Erklärung der Menschenrechte“ als auch die        Die Möglichkeit einer umfassenden Teilnahme ­für             wohnt nicht nur die notwendige Balance von
                                                                ­„Europäische Menschenrechtskonvention“ von       möglichst alle am städtischen Leben wird auch                Rechten und Pflichten inne, er steht vor allem
   Menschenrechtsstadt zu sein, ist eine ständi-                 Österreich ratifiziert worden.                   weiterhin ein vorrangiges Ziel unserer ­Politik              auch für eine aktivierende Haltung, die nieman-
   ge und besondere Verpflichtung, kein „Nice-                                                                    sein. Damit eng verbunden werden wir aber                    den ­ausschließt, von der sich aber auch niemand
   to-­have“, kein Attribut für schöne Sonntags-                Die Stadt Graz lebt als erste ­    e uropäische   auch künftig vor der nicht kleiner ­werdenden                ausgenommen wissen darf.
    reden, kein Mascherl als Aufputz. Dieser Titel,             Menschenrechtsstadt (seit 2001) ihre dahin-       Herausforderung stehen, Integration und kultu-
    mehr noch: diese Selbstverpflichtung, ist eine              gehende V     ­erantwortung unter anderem in      relle Identität nicht gegeneinander auszuspielen.            Ich danke dem Team der Integrationsabteilung für
   ­ständige Aufgabe für die Politik, die Verwaltung            einer Reihe i­nstitutionalisierter Maßnahmen      ­Plurale ­Gesellschaften sind eben ein Charakteris-          sein großes Engagement, wenn Sie manchmal das
    und die Zivilgesellschaft. Die Verwirklichung der           und E    ­inrichtungen. Die Einrichtung eines      tikum urbaner G ­ esellschaften in der sogenannten          Gefühl haben, zwischen allen Stühlen zu ­sitzen,
    Menschenrechte ist ein andauernder Vorwärts-                ­Integrationsreferats vor 15 Jahren war und ist   S­ pätmoderne.                                               dann sei Ihnen mit dem unvergessenen Axel Corti
    bewegungsprozess, keine statische Erklärung.                 hier ein wesentliches Kompetenzzentrum im                                                                     gesagt, dass der Platz zwischen zwei Stühlen oft
                                                                 Sinne einer dynamischen Menschen­rechtsarbeit.   Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde                   auch der einzig richtige sein kann.
   Anders formuliert: Wäre allein dieses Bekennt-                Das Referat – ganz allgemein gesprochen –        ist für uns ein nicht verhandelbares Gut. Wir
   nis schon der Standard, müssten alle öster-                   ­gewährleistet und fördert die Integration von   werden im kommenden Jahr das Jubiläum
   reichischen Kommunen „Menschenrechtsstädte“                    M enschen unterschiedlichster Herkunft und
                                                                  ­                                               „20 Jahre Menschenrechtsstadt Graz“ daher auch               Alles Gute für Ihre Zukunft,
   sein, schließlich sind sowohl die „Allgemeine                k ­ ultureller Prägung.                           unter den Titel „Respekt“ stellen. Diesem Begriff            die ja immer auch unsere ist!

                             INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                               INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
Kurt Hohensinner
                                                                                                              Integrationsstadtrat

              Das Kapitel Integration                                      zurückkehrten und die meisten bereits in zweiter
                                                                           Generation in Österreich lebten.
              ist in den österreichischen
              Geschichtsbüchern im                                         Die 90er markieren auch den Beginn der Ent-
              Vergleich zu vielen anderen                                  wicklung der Integrationspolitik. Erstmals
                                                                           wurde wahrgenommen, dass der Politik wie
              noch ein eher kurzes.
                                                                           der Verwaltung eine Verantwortung zukommt,
              Erste Ansätze kamen in den 70er-Jahren. Jeder                ­zugezogene Menschen am Weg einer aktiven
              kennt die Plakatkampagne „I haaß Kolaric, du                  Integration zu unterstützen. Wie so oft waren
              haaßt Kolaric, warum sogns zu dir Tschusch”.                  es gerade lokale Behörden auf der Ebene der
              Zwar war Österreich auch davor schon vereinzelt               ­Gemeinden und Städte, die als erstes begannen,
              mit größeren Aufnahmen konfrontiert (Ungarn,                   Integrationsagenden wahrzunehmen, und
              Tschechien), doch viele sahen unser Land nur                   schließlich entsprechende Referate beziehungs-
              als Zwischenstation und nicht als Schlusspunkt.                weise Organisationseinheiten gründeten.
              Erst mit Beginn der 90er-Jahre wurde langsam
              wahrgenommen, dass Menschen dauerhaft in                     Die Stadt Graz tat dies – und damit war sie eine

INTEGRATION
              Österreich bleiben wollten und nicht mehr in                 der ersten in Österreich – vor nunmehr 15 Jahren.
              die Herkunftsländer zurückkehren würden. Ein                 Damit wurde eine Vorreiterrolle eingenommen,
              Grund war sicherlich der Jugoslawienkonflikt.                die seit damals sehr aktiv gelebt wird und durch

IM WANDEL
              Gleichzeitig setzte sich die Erkenntnis durch, dass          zahlreiche Projekte belegt ist. Ohne Anspruch auf
              auch GastarbeiterInnen offenbar nur zu einem                 Vollständigkeit seien hier Projekte wie die Lernca-
              sehr geringen Teil wieder in die Heimatländer                fés, Startpunkt Deutsch, frühe Sprachförderung

                                        INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION
 IST IMMER EIN
ABBILD DER                                                                                                         Auch der Zugang zur Integrationsarbeit hat sich
                                                                                                                   massiv gewandelt. War man sich am Anfang teil-
                                                                                                                                                                                wähnt, eine speziell für Kinder von Flüchtlings-
                                                                                                                                                                                familien konzipierte Schuleingangsphase. Dass

GESELLSCHAFT
                                                                                                                   weise gar nicht bewusst, dass GastarbeiterInnen              Integration zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn
                                                                                                                   Unterstützung zur Integration benötigen würden,              Jahren in einem eigenen Referat angesiedelt und
                                                                                                                   kippte man zwischenzeitlich fast etwas ins Gegen-            damit schon umfangreiches Know-how und ein
                                                                                                                   teil einer überbordenden Förderung, ohne gleich-             tragfähiges Netzwerk an Partnerorganisationen
                                                                                                                   zeitig auch Pflichten der zugezogenen Menschen               e­ tabliert war, wirkte sich besonders positiv aus.
                                                                                                                   einzufordern. In den letzten Jahren hat sich nun              Nur dadurch war es möglich, sehr kurzfristig
                                                                                                                   eine Dualität aus „Fördern und Fordern“ auch im               ­Projekte auf die Beine zu stellen, um auf die kon-
                                                                                                                   Integrationsbereich durchgesetzt.                              krete ­Situation zu reagieren.

                                                                                                                   Verantwortlich für dieses Umdenken waren                     Noch heute wirken die Ereignisse und Erkennt-
                                                                                                                   sicherlich die Flüchtlingskrise und die damit ver-           nisse des Jahres 2015 in unserer Gesellschaft nach.
                                                                                                                   bundenen Ereignisse des Jahres 2015, das als be-             Zum einen sehen wir sie in vielen Bevölkerungs-
                                                                                                                   sondere Zäsur in die Geschichte der Integrations-            statistiken, zum anderen aber natürlich noch viel
                                                                                                                   politik eingeht. 2015 setzte eine gesellschaftliche          mehr in vielen Bereichen des täglichen Lebens, in
                                                                                                                   Diskussion in Gang, die bis heute andauert, und              denen wir nun vor neue Herausforderungen ge-
                                                                                                                   rückte das Thema Integration in das Zentrum des              stellt werden. Ein gutes Beispiel ist der Bildungs-
                                                                                                                   politischen Diskurses. Inhaltlich waren es in den            bereich. Im Schuljahr 2004/05 besuchten 7.627
                                                                                                                   ersten Monaten erneut die Städte und Gemeinden,              Kinder die Volksschulen in Graz. 29 % davon
                                                                                                                   die Außergewöhnliches leisteten und kurz-                    waren Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache.
 oder auch Heroes genannt, die entweder in Graz                die Zunahme der Bevölkerung fast ausschließlich     fristig Quartiere, Bildungsplätze, aber auch erste           Sieben Prozent der Kinder wurden als außer-
 ihren Ausgang nahmen oder an unserem Stand-                   auf den Zuzug aus EU-Ländern und Drittstaaten       Arbeitsmöglichkeiten schaffen konnten. Begleitet             ordentliche SchülerInnen geführt. 2019/20 hatte
 ort in besonderer Weise implementiert wurden.                 zurückzuführen ist. Geopolitische Ereignisse,       wurden diese Anstrengungen vielerorts durch ein              sich das Bild wesentlich geändert, nicht nur, aber
 Graz hat immer verstanden, dass Integration dy-               wie der Fall des Eisernen Vorhangs und die EU-      starkes ehrenamtliches Engagement, was nicht                 natürlich auch aufgrund des Jahres 2015. Der An-
 namisch ist und ständige Weiterentwicklung und                Osterweiterung, haben diesen Trend maßgeblich       zuletzt auch zur Bündelung der Ressourcen zum                teil der Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache
 Innovation braucht. Diese initiativen Ansätze                 beeinflusst. Graz, das bis in die 90er-Jahre eine   Thema „Ehrenamt“ im Integrationsreferat geführt              hat sich mit 54 % beinahe verdoppelt. Der Anteil
 waren und sind auch notwendig, da Graz seit dem               Randlage einnahm, liegt nunmehr im Herzen           hat, um die Rahmenbedingungen für Freiwillige                der Kinder mit außerordentlichem Status mit 17 %
 Beginn dieses Jahrtausends eine stark wachsende               Europas, in einem wachsenden und prosperie-         nachhaltig zu verbessern. Gleichzeitig führten die           fast verdreifacht. Neue Ansätze – zumindest in den
 Stadt ist, die eine sehr dynamische Bevölkerungs-             renden Raum, der viele Chancen bietet, dem aber     Bilder unkontrollierter Flüchtlingsströme auch               Ballungsräumen – waren und sind daher gefragt.
 entwicklung aufweist. Dies war nicht immer so.                auch Herausforderungen innewohnen.                  dazu, dass in vielen Teilen der Bevölkerung die              Stichworte wie v­ erpflichtendes Kindergartenjahr,
 Graz erlebte eigentlich bis zur Volkszählung 2001                                                                 Erkenntnis reifte, dass ein weiterer ungeregelter            Deutschklassen und vieles mehr haben aufgrund
 ein Sinken der Bevölkerung – ein Trend, der sich              Genauso dynamisch wie die oben dargestellte Be-     Zuzug die Gesellschaft vor nicht-lösbare Heraus-             dieser Entwicklung in den Bildungsalltag Einzug
 seit damals massiv ins Gegenteil verkehrt hat.                völkerungsentwicklung ist auch die Entwicklung      forderungen stellen würde. Gerade der urbane                 gefunden.
                                                               im Integrationsbereich. Integration ist immer ein   Raum wurde in dieser Phase besonders und teils
 Dies lässt sich seit der Gründung des Integrations-           Abbild der Gesellschaft. Wenn sich die Gesell-      überbordend gefordert. So waren zeitweise mehr               Aber auch im Sozialbereich lässt sich auf-
 referats auch durch Zahlen untermauern. Lebten                schaft verändert, verändern sich auch die Heraus-   als ein Drittel aller AsylwerberInnen der Steier-            zeigen, wie sehr sich die Herausforderungen
 im Jahr 2005 noch 247.448 Menschen, davon                     forderungen in der Integrationspolitik. Deshalb     mark in Graz untergebracht, während die Landes-              im Integrationsbereich seit der Gründung des
 215.106 ÖsterreicherInnen, 7.652 EU-BürgerInnen               braucht es laufende Evaluierung und den zuvor       hauptstadt nur ein Viertel der Wohnbevölkerung               Integrationsreferats geändert haben. 2005 gab es
 und 24.690 Drittstaatsangehörige, in Graz, so                 schon angesprochenen Mut zur Innovation und         beheimatet.                                                  2.691 Haushalte, die Leistungen aus der Sozial-
 stieg diese Zahl im Jahr 2020 auf 294.630 Men-                immer wieder neue Wege. Projekte, die für die                                                                    hilfe bezogen haben, darunter waren 344 Nicht-
 schen, davon wiederum 221.366 ÖsterreicherIn-                 Situation 2005 goldrichtig waren, sind es heute     In Graz zeigte sich aber gerade in dieser Zeit               ÖsterreicherInnen (12,78 %). 2020 hat sich nicht
 nen, 36.664 EU-BürgerInnen und 36.600 Dritt-                  vielleicht nicht mehr.                              auch wieder der Mut, neue Projekte anzupacken.               nur der Anteil der BezieherInnen mit 6.649
 staatsangehörige. Auffällig ist hier natürlich, dass                                                              Exemplarisch sei hier das Projekt „Malala“ er-               Haushalten fast verdreifacht, auch der Anteil der

                            INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                 INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
Jahresbudget des Integrationsreferats                               2006          52.000
2006–2020 (€)                                                       2007              218.000
Quelle: Integrationsreferat der Stadt Graz
                                                                    2008      526.300
                                                                    2009      590.500
                                                                    2010      538.400
                                                                    2011      611.900
                                                                    2012      771.900
                                                                    2013      784.700
                                                                    2014      857.000
                                                                    2015      941.800
                                                                    2016      1.152.900
                                                                    2017      1.212.200
                                                                    2018      1.428.500
                                                                    2019      1.473.000
                                                                    2020      1.493.300

Nicht-ÖsterreicherInnen stieg auf knapp die Hälf-                   kunftschancen geben müssen. Projekte wie die         I­ntegration zu ermöglichen ­und Menschen                     sie beherrscht, kann aktiv an der Gesellschaft
te (48,32 %) – eine Vervierfachung des Anteils im                   Jobmesse für Asylberechtigte, der massive Ausbau      für diesen Weg zu gewinnen?                                  teilnehmen. Deshalb haben wir in den letzten
Vergleich zum Jahr 2005.                                            der Deutschförderung, aber auch die Einführung                                                                     Jahren das Angebot zum Deutschlernen massiv
                                                                    der Wertekurse durch den Österreichischen            Als Integrationsressort nähern wir uns dieser                 ausgebaut und werden auch in Zukunft im Zuge
Schließlich wurde auch das Arbeitsbudget, das                       Integrationsfonds (ÖIF) sind beispielgebend für      Frage auch durch laufende wissenschaftliche                   der Integrationsstrategie hier einen Schwerpunkt
dem Integrationsreferat zur Verfügung steht, in                     diese Linie.                                         Begleitung an. Einige vom Integrationsreferat                 setzen.
den letzten Jahren massiv erhöht, wie die ab-                                                                            ­beauftragte beziehungsweise unterstützte S­ tudien
gebildete Grafik gut darstellt.                                     Damit verbunden erleben wir auf der über-             haben zahlreiche wichtige Erkenntnisse für diese             Daneben verorten wir ein weiteres Handlungs-
                                                                    geordneten Diskursebene gerade eine weitere,          Fragen und die weitere Arbeit gebracht. So etwa              feld im Bereich der Frauen. Hier geht es einerseits
Das Jahr 2015 hat daher zwei große Erkenntnisse                     inhaltliche Veränderung. Angestoßen auch durch        die Studie „Chance für jedes Kind“ der Uni-                  um die Einforderung der Gleichberechtigung der
manifestiert: Ungeregelte Zuwanderung kann                          eine Debatte, die – um es sinngemäß mit dem           versität Graz, die Erhebungen zur „religiösen und            ­Geschlechter, andererseits aber vor allem darum,
nicht funktionieren. Wir haben weder die Arbeits-                   ­ehemaligen deutschen Innenminister, Thomas de        ethischen Wertorientierung von muslimischen                   die Rolle der Frauen im Integrationsprozess
plätze, die Ausbildungsplätze in den Schulen und                     Maiziere, zu sagen – fragt: Ist Integration mehr,    Flüchtlingen in Graz“ unter der Leitung von Prof.             zu stärken und diese verstärkt als ­wichtige
Kindergärten noch die Wohnungsressourcen, um                         als nur einen Arbeitsplatz zu haben, sich an die     Ednan Aslan oder die Moscheen-Studie des ÖIF.                 ­Impulsgeberinnen und Multiplikatorinnen für
unbegrenzt Menschen aufzunehmen. Eine res-                           Gesetze zu halten und Deutsch zu lernen? Oder                                                                       die Integrationsarbeit zu gewinnen.
triktive Zuwanderungspolitik ist daher ein Gebot                     abgewandelt:                                        Sie alle zeigen uns Handlungsfelder auf, denen
verantwortungsvoller Politik. Auf der anderen                                                                            wir uns in den kommenden Jahren verstärkt                     Auch die Rolle der Religion für den Integrations-
Seite muss uns klar sein, dass wir denjenigen                       Was heißt Zukunftschancen und Perspek-               widmen werden. Ein weiterhin wichtiger Fak-                   prozess muss verstärkt beleuchtet werden. Gera-
Menschen, die hier sind und bleiben werden, Zu-                     tiven?­Was braucht es, um eine positive              tor ist und bleibt das Thema Sprache. Nur wer                 de für muslimische Zuwanderungsgruppen spielt

                                 INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                  INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
der Glaube eine ungemein wichtige Rolle. Nicht                Die eingangs angeführte Vorreiterrolle der Stadt
nur interreligiöser Dialog, sondern das Erkennen              Graz ist dabei unser größter Ansporn. Auch in
von Religionsgemeinschaften als wesentlicher                  Zukunft werden wir nicht müde werden, w         ­ eitere
Faktor für Integration muss daher in der täglichen            wichtige Akzente in diesem Bereich zu setzen
Arbeit in den Vordergrund treten. Klar ist, und               und durch laufende Evaluierung und Innovation
das hat auch die (siehe oben) Moscheen-Studie                 den Integrationsprozess aktiv zu gestalten. Ein
gezeigt: Religionen können integrationsfördernd,              großer Dank gilt in diesem Zusammenhang den
aber auch -hemmend wirken. Auch sie gilt es                   ­MitarbeiterInnen des Integrationsreferats, die
daher verstärkt, für den Integrationsprozess                   sich laufend den ständig verändernden Rahmen-
zu gewinnen. Schon jetzt setzen wir verstärkte                 bedingungen stellen und mit großem Engagement
Anstrengungen in diese Richtung (Stichwort                     und Mut zu Neuem den neuen Herausforderungen
Moscheengespräche), um integrationsfördernde                   begegnen. Ebenso wichtig sind die zahlreichen
Aspekte zu aktivieren.                                         ­Partnerorganisationen, die mithelfen, das s­ oziale
                                                                Netz im Bereich der Integration immer weiter und
Abschließend ist festzuhalten:                                  engmaschiger zu knüpfen. Gemeinsam a        ­ rbeiten
                                                                wir am gesellschaftlichen Zusammenhalt in
Die Stadt Graz setzt auf klare                                  ­unserer Stadt, mit dem Ziel, dass alle Grazer­Innen
                                                                 hier eine sichere und lebenswerte Heimat finden,
Bekenntnisse im Bereich
                                                                 sich verwirklichen und ein gutes Leben führen
der Integration. Wir wollen                                   k  ­ önnen.
Menschen Zukunftschancen
und -perspektiven bieten. ­
Es braucht klare Handlungs-
maximen für die Kommune,
aber auch eine klare
Erwartungshaltung in Richtung
zuziehender Menschen.

                                                                                                                         ­­SPRACHE, BILDUNG,
                                                                                                                            RELIGION, FAMILIE,
                                                                                                                              EHRENAMT UND
                                                                                                                                 VIELES MEHR:
                                                                                                                                       die Facetten von erfolgreicher Integrationsarbeit sind vielfältig,
                                                                                                                         das Ziel dafür eindeutig: Wir stärken gesellschaftlichen Zusammenhalt und
                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.
                                                                                                                                                   ­arbeiten für das positive Zusammenleben von morgen.
                                                                                                                                 INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                         12                                                                                            13
INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
Roswitha Müller
                                                                                                             Leitung Geschäftsbereich Integration

              Zusammenleben und                                                   konkrete ­Zusammenleben von Menschen statt.
                                                                                   Hier wird Integration auch ausgestaltet und
              Integration finden vor
                                                                                  g
                                                                                  ­ elebt.
              Ort statt.
                                                                                  Graz – seit 2001 erste Menschenrechtsstadt
              Zuwanderung war in Österreich schon immer ein                       E uropas – hat am 3. November 2005 das
                                                                                  ­
              zentrales Thema für den urbanen Raum. So l­ ebten                   Integrationsreferat ins Leben gerufen. Ziele waren
              im Jahr 2017 63 % der im Ausland g   ­ eborenen                     und sind die Koordination und Umsetzung von
              Menschen, aber nur ein Drittel der in ­Österreich                   Integrationsmaßnahmen sowie die Förderung der
              geborenen Menschen in Städten mit mehr als                          ­Integration und Teilhabe aller in Graz lebenden

15 JAHRE ­    20.000 Einwohnerinnen und Einwohner 1. In
              Graz leben im Jahr 2020 Menschen aus fast 160
              Nationen und nahezu 25 % der Grazerinnen und
                                                                                   Menschen.

                                                                                  Als Kommune sind wir an die Bundes- und

INTEGRATION
              Grazer haben eine andere Staatsbürgerschaft                         Landesgesetzgebung gebunden. Das bedeutet,
              als die ö
                      ­ sterreichische (wiederum die Hälfte                       dass das Handeln vor Ort ganz entscheidend
              davon aus Nicht-EU-Staaten). Integration ist                        durch Regelungen bestimmt wird, auf die die

GEMEINSAM
              also nicht nur eine zentralstaatliche Aufgabe,                      Stadt keinen unmittelbaren Einfluss hat. Für diese
              denn in den Städten und Gemeinden findet das                        vorgegebenen Regelungen müssen aber kommu-

GESTALTEN     1     Vgl. Migration & Integration, Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres, URL: https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/
                  user_upload/Zentrale/Integration/Integrationsbericht_2018/Statistisches_Jahrbuch_migration__und_integration_2018.pdf
                  ­(abgerufen 17.10.2020), 15.

                                              INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                                             15
INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
INTEGRATION
VOR ORT –

DIE HALTUNG                                                                                                            g
                                                                                                                        über das Grundbekenntnis zu einem etwaigen
                                                                                                                       ­ emeinsamen „Werteverständnis“.
                                                                                                                                                                                     Hier ist es unser Zugang, unsere Strategien immer
                                                                                                                                                                                     möglichst mit den anderen zuständigen Stellen
                                                                                                                                                                                     aus Bund und Land abzustimmen. In unseren

ZAHLT
                                                                                                                       Häufig werden vier Dimensionen von Integration                Überlegungen sind beim Thema Integration
                                                                                                                       genannt:                                                      alle Menschen, die in Graz leben, grundsätzlich
                                                                                                                                                                                     mitzuberücksichtigen – schließlich geht es um das
                                                                                                                       • die kulturelle Integration ­                                Zusammenleben aller in einer Stadtgemeinschaft.
                                                                                                                         (zum Beispiel Wissenserwerb, Sprache)                       Schwerpunktsetzungen sind natürlich dennoch
                                                                                                                                                                                     nötig.
                                                                                                                       • die strukturelle Integration ­
                                                                                                                         (zum Beispiel Beteiligung am ­                              Integration gemeinsam gestalten
                                                                                                                         Bildungs- oder Arbeitsmarkt)                                Die Stadt Graz versteht Integration als Quer-
                                                                                                                                                                                     schnittsaufgabe, die nahezu alle Bereiche der
                                                                                                                       • die soziale Integration                                     Verwaltung und des Zusammenlebens in der
                                                                                                                         (soziale Beziehungen im Alltag)                             Stadt betrifft. Der Geschäftsbereich Integration
                                                                                                                                                                                     ist abteilungsübergreifend Ansprechpartner für
                                                                                                                       • die identifikatorische Integration                          das Thema Integration und unterstützt und berät
                                                                                                                         (Zugehörigkeitsgefühl)                                      städtische Abteilungen und Einrichtungen, aber
                                                                                                                                                                                     auch andere Institutionen und Organisationen
                                                                                                                       Maßnahmen und konkrete Angebote in der                        im Themenbereich der Zuwanderung, Integra-
                                                                                                                       Integrationsarbeit sollten alle diese Dimensionen             tion und des interkulturellen Zusammenlebens.
                                                                                                                       berücksichtigen. Eine Zielvision könnte etwa sein,            Weitere Aufgaben sind, auf etwaige Lücken im
                                                                                                                       dass sich Menschen in einem Land oder einer                   bestehenden System aufmerksam zu machen und
                                                                                                                       Stadt für die gleiche Gesellschaft verantwortlich             gegebenenfalls Angebote zu ­entwickeln.
                                                                                                                       fühlen, sich zugehörig fühlen. Das schließt nicht
                                                                                                                       aus, dass sich Menschen mit ihrer alten Heimat                Der Geschäftsbereich Integration initiiert und
                                                                                                                       verbunden fühlen können beziehungsweise sogar                 ­fördert außerdem Integrationsprojekte, o
                                                                                                                                                                                                                             ­ rganisiert
                                                                                                                       fühlen sollen.                                                 Fach- und Informationsveranstaltungen und
   nale Lösungen gefunden werden – zum Beispiel                 Was ist gelungene Integration und                                                                                     kümmert sich um die Vernetzung wichtiger Akteu-
   im Kinderbildungs- und Betreuungsbereich. Als                wen betrifft Integrationsarbeit?                       Auch an wen sich Integrationsarbeit richten soll,              rinnen und Akteure. Zudem ist der ­Bereich für die
   Städte sind wir aber auch Akteurinnen und Ge-                Eine allgemeingültige Definition von Integration       ist immer wieder ein diskutiertes Thema. So stellt             Umsetzung und Fortschreibung der Integrations-
   stalterinnen von Integrationspolitik und nehmen              gibt es nicht. Der Begriff war und ist Teil einer      etwa die Bleibeperspektive Integrationspolitik                 strategie der Stadt Graz zuständig.
   Einfluss auf die Strukturen und Schwerpunkte                 ­gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und       immer wieder vor Herausforderungen. Soll
   der Integrationsarbeit vor Ort. Wir planen stra-              wird je nach Standpunkt mit unterschiedlichen         Integration gefördert werden, wenn eine Rückkehr              Die Flüchtlingsmigrationen der letzten Jahre dür-
   tegisch Maßnahmen und ­reagieren auf neue Si-                 Bedeutungen und Erwartungen aufgeladen.               wahrscheinlich scheint? Oder umgekehrt: Soll                  fen uns nicht vergessen lassen, dass seit jeher
   tuationen und ­Bedarfsfälle, zum ­Beispiel durch                                                                    jemand deshalb von Integrationsangeboten/                     neben Arbeitsmigration und Flucht auch die Zu-
   die S  ­ chaffung neuer A
                           ­ ngebote, die Vernetzung            Oft werden unter gelungener Integration gute           -maßnahmen ausgeschlossen werden –                            wanderung früherer Jahre und Jahrzehnte Ein-
   ­wichtiger Akteurinnen und ­Akteure oder die                 Deutschkenntnisse, einer Arbeit nachzugehen und        bei mutmaßlich zu erwartenden negativen                       fluss auf die Stadtgemeinschaft nimmt – diese
    gezielte ­
    ­           Unterstützung von Initiativen und               eine gewisse (nicht genau d ­ efinierte, ­mindestens   Effekten von Demotivation bis hin zu illegalen                war schon immer international und wird es zu-
    ­Maßnahmen. Denn auch wenn die ­Kommune                     aber an eine gesetzliche Norm a      ­ usgerichtete)   Aktivitäten? Und wer beziehungsweise welche                   nehmend.
     oftmals formal gar nicht zuständig ist: Die darin          ­Anpassung verstanden. Dies sagt jedoch noch           Gebietskörperschaft ist überhaupt für wen/welche
     lebenden Menschen ­     können meist sehr gut               nichts über die Qualität des Zusammenlebens in        Zielgruppe zuständig? Welche Unterscheidung                   Mit der Verankerung des Themas Integration
     ­erkennen und formulieren, was funktioniert und             einer Stadtgemeinschaft/Nachbarschaft oder ein        wird außerdem zwischen den Bereichen Migration                im Stadtentwicklungskonzept und später einer
      was noch verbessert werden muss.                           Gefühl der Zugehörigkeit aus – ebenso wenig wie       und Asyl getroffen?                                           eigenen Strategie wurde das Thema Integration

                             INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                    INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN - 15 Jahre Integrationsreferat der Stadt Graz
immer stärker strategisch betrachtet. Auch Ein-               Integration vor Ort – die Haltung zählt
richtungen wie die Antidiskriminierungsstelle,                Wir halten also fest: Integration passiert vor Ort
diverse Beiräte, das Friedensbüro und Aktionen                und Integration ist ein Querschnittsthema. Wie
wie der Beitritt der Stadt Graz zur Städtekoalition           Integration letztlich vor Ort umgesetzt oder eine
gegen Rassismus zeigen den Stellenwert, den                   integrative/inklusive Stadtgesellschaft konkret
ein gutes Zusammenleben in der kommunalen                     ausgestaltet wird, hängt neben Ressourcen und
Politiklandschaft einnimmt. Die Schnittstelle                 Rahmenbedingungen vor allem auch von der
zu ehrenamtlichem Engagement im Bereich                       Haltung ab, die man dem Thema gegenüber
der Integrationsarbeit ist zusätzlich als äußerst             mitbringt. Wir im Geschäftsbereich sehen alle
wesentlich erkannt worden.                                    Menschen, die in Graz leben, als Grazerinnen
                                                              und Grazer und damit als Teil unserer
Unsere Arbeit sehen wir neben der Wahrnehmung                 Stadtgemeinschaft und unserer Bemühungen.
von Integration als „Querschnittsthema“ vor                   Grazerinnen und Grazer mit internationaler
allem einer Serviceorientierung verpflichtet. An-             Biografie sind aktiv handelnde Personen, die
gebote der Stadt Graz sollen in ihrer Qualität und            an der Gestaltung unserer Stadtgesellschaft

                                                                                                                                IM RÜCKBLICK
in ihrem Zugang so gestaltet sein, dass sie für               mitwirken.
möglichst alle Grazerinnen und Gazer nicht nur
inklusiv, sondern auch attraktiv sind.                        Unsere Bemühungen haben
                                                              außerdem die Förderung
Unser Zugang entspricht dem einer chancen- und                                                                                          auf die letzten ­15 Jahre gilt unser Dank allen, die
teilhabeorientierten Auffassung von Integration.              des sozialen Friedens in
                                                                                                                                   sich aktiv an der Integrationsarbeit ­beziehungsweise
Es geht darum, dass Menschen ihren Platz in der               unserer Stadt zum Ziel.                                                  deren Gestaltung in Graz beteilig(t)en – auch den
Gesellschaft finden oder – wie oben schon ein-
                                                              Deshalb sehen wir auch die                                         Kolleginnen und ­Kollegen der städtischen Abteilungen.­
mal erwähnt – dass sie sich zugehörig fühlen
(können). Netzwerke in Herkunftsländer oder
                                                              sogenannte „Aufnahme­
innerhalb von Communities bleiben bestehen                    gesellschaft“ beziehungs­weise
und werden als Ressource geschätzt, während                   die Menschen ohne
gleichzeitig neue Netzwerke mit der sogenannten
„Mehrheitsgesellschaft“ im persönlichen Umfeld
entstehen – so unsere Vorstellung.
                                                              ­Migrationsbiografie als
                                                               relevant im Hinblick auf unsere
                                                                                                                                    WIR HOFFEN,
                                                               Arbeit und ­Zielsetzungen.                                   dass Sie alle uns auch zukünftig bei der ­Weiterentwicklung
                                                                                                                           der kommunalen Integrationsarbeit konstruktiv und kritisch
                                                                                                                                                 zur Seite stehen und uns unterstützen.

                                                                                                                                              WIR
                                                                                                                                        WÜNSCHEN
                                                                                                                                             UNS,
                                                                                                                                  dass die Grazerinnen und Grazer möglichst zufrieden auf
                                                                                                                                                unsere vielfältige Stadt­gemeinschaft und unser
                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.
                                                                                                                                                                         gutes ­Zusammenleben blicken.
                                                                                                                   INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                         18                                                                                 19
Mag.ª phil., Petra Wlasak MA, MAS, PhD, geboren 1985 in Graz, Politikwissenschafterin,
                   wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungs- und Erziehungswissenschaften
                   der Karl-Franzens-Universität Graz

                   Petra Wlasak studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien, Gender Studies an der
                   ­Ruhr-Universität Bochum und an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie European Project and
                    Public Management an der Fachhochschule Graz. Sie absolvierte 2017 mit ihrer Dissertation über
                    ­„Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung – innovative Lösungen im Spannungsfeld M          ­ igration,
                     Flucht und Gender“ das interdisziplinäre PhD-Programm „Nachhaltige Stadt- und Regional­
                     entwicklung“ der Karl-Franzens-Universität Graz. Petra Wlasak war als Projektkoordinatorin und
                     außeruniversitäre wissenschaftliche ­Mitarbeiterin im ­NGO-Bereich tätig. Von 2014 bis 2019 war
                     sie operative Leiterin des ­Regionalen ­Zentrums für Bildung für nachhaltige Entwicklung an der
                     Universität Graz. Seit 2019 ist sie ­wissenschaftliche Mitarbeiterin am ­Institut für ­Bildungs- und
                     ­Erziehungswissenschaften der Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen kritische
                      Migrationsforschung und Bildung für nachhaltige Entwicklung. In einem aktuellen P       ­ rojekt beschäftigt
                      sie sich mit Active Urban Citizenship von Frauen mit und ohne Migrationserfahrung in Graz.

                   Ein zentrales Merkmal                                           für die Befreiung von sozialer Kontrolle und ge-
                                                                                   sellschaftlicher Zwänge sowie die Kreation und
                   städtischen Lebens ist
                                                                                   das ­Ausprobieren neuer ­Lebensstile.2
                   die Vielzahl von
                   Unterschiedlichkeit.                                            Ohne das Zusammenleben unterschiedlichster
                                                                                   Menschen mit unterschiedlichsten ­Hintergründen
                   Seit jeher ist das städtische Leben durch eine                  wäre eine Heterogenität in diesem Maße und eine
                   soziale, kulturelle und ökonomische Vielfalt ge-                damit einhergehende Vielfalt des städtischen
                   prägt und wird durch unterschiedliche Lebens-                   ­Lebens nicht gegeben.
                   stile, Milieus, (Alltags-)Kulturen, Traditionen
                   und Religionen charakterisiert.1 Städtische                     Die Diversität der StadtbewohnerInnen und ihrer

VIELFALT IN DER    Räume bieten damit ihren BewohnerInnen eine
                   große Auswahl an Lebenspraktiken, -­erlebnissen
                   und ­-möglichkeiten. So gibt es in der Stadt
                                                                                   unterschiedlichen Lebensstile ist unter anderem
                                                                                   das Ergebnis von Migrationsprozessen, von wel-
                                                                                   chen Städte seit jeher geprägt sind.3 Kolonialismus,

STADT ALS URBANE
                   ­vielfältige Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten,                 die Industrialisierung mit ihrer einhergehenden
                    eine V ­ ielzahl an Bildungserfahrungen, ver-                  Landflucht, die Weltkriege sowie wirtschaftliche
                    schiedene K ­ onsumarten, kulturelle Angebote und              Krisen sind nur einige historische Beispiele der

REALITÄT
                    eine A­ uswahl an Freizeiterlebnissen. Menschen                Ursachen von Migrationsbewegungen in Städte.4
                    unterschiedlicher sozialer Schichten, ­kultureller
                    Hintergründe und Interessen prägen, nutzen                     Auch aktuell – in Zeiten der Globalisierung und
                    und gestalten diese ­städtische Diversität, ­welche            des wirtschaftlichen Zusammenwachsens –
Petra Wlasak        das ­Urbane ­ausmacht. ­Dieses Urbane steht auch               sind es besonders die Städte, an welchen sich

                                               INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                                              21
­ enschen, Waren und Ideen aus aller Welt ­treffen
M                                                            migrantische Erfahrungen und Leistungen zur          Letzterem hat sich die Stadt Graz in ihrem Leitbild           nun eigentlich handle. Der Wunsch nach Auf-
und austauschen. Städte werden damit zum                     urbanen Ressource werden9.                           wie folgt bekannt:                                            klärung stößt auf großes öffentliches Interesse;
­Ausdruck der „globalisierten Realität“.5                                                                                                                                       es gilt also, ein für allemal zu klären, was denn
                                                             Auch Graz, regionales Zentrum mit einer              „Wir machen Graz gemeinsam mit den                            nun Integration sei beziehungsweise nicht sei
Die Wanderung von Menschen in und aus der ­Stadt             ­ achsenden und diversen Bevölkerung, muss
                                                             w                                                    ­ razerinnen und Grazern zur lebenswertes-
                                                                                                                  G                                                             und sein soll und wie diese Integration herbeizu-
und die damit verbundene Diversität geht aber                sich die Frage stellen, wie mit Migration um-        ten Stadt Europas.“ 13                                        führen sei. Wie bei allen komplexen gesellschaft-
auch mit gesellschaftlichen Herausforderungen                gegangen werden soll, welche Vorstellungen von                                                                     lichen Prozessen gilt auch hier, dass es die eine
einher, wie beispielsweise die Gestaltung von                Gemeinschaft vorherrschen und vorherrschen             Seit nun 15 Jahren ist der Geschäftsbereich                 Definition für Integration nicht gibt, sondern je
Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten.6                  sollen und auf welche Weise alle GrazerInnen         I­ ntegration14 der Stadt Graz damit beauftragt, das          nach aktuellem gesellschaftlichen und politi-
                                                             in diese Stadtgesellschaft integriert werden und     Zusammenleben in Vielfalt in Graz in Zusammen-                schen Diskurs und Interesse Unterschiedliches
So muss die Frage gestellt werden, wie mit                   werden sollen.                                       arbeit mit unterschiedlichen AkteurInnen zu för-              darunter verstanden wird.
der urbanen Vielfalt in ihrer Komplexität und                                                                     dern, zu gestalten und zu dokumentieren. Mit wel-
Hybridität in der Stadt umgegangen werden soll,              Graz und der Umgang                                  chen Ansätzen begegnet man diesen Aufgaben                    Versteht man Integration im Kontext von Mi-
wie Personen und Personengruppen mit ihren                   mit wachsender Diversität                            und was bedeutet dieses 15-jährige Jubiläum für               gration, worunter „Wanderungsbewegungen
unterschiedlichen Interessen inkludiert werden               Graz ist eine wachsende Stadt. Laut der aktuel-      die wachsende und diverse Stadt Graz? Mit diesen              größerer Gruppen über substanzielle Distanzen
sollen und in weiterer Folge wie das Zusammen-               len Bevölkerungsstatistik wird die Grazer Be-        Fragen beschäftigten sich auf Initiative des Ge-              und Grenzen“15 gemeint sind, bezieht sie sich
leben ausverhandelt und organisiert werden soll.             völkerung bis 2034 um 22 % wachsen. Das be-          schäftsbereichs Integration im Zeitraum 2018 bis              „auf die Einwanderung und auf die Verhältnisse
                                                             deutet für 2034 eine EinwohnerInnenzahl von          2020 VerwaltungsmitarbeiterInnen, Wissenschaf-                und Beziehungen zwischen sozial konstruierten
Diese Ausverhandlungen sind dynamische Pro-                  329.000 gegenüber 270.000 im Jahr 2014. Jährlich     terInnen, ExpertInnen und PartnerInnen aus der                Gruppen in Migrationsgesellschaften“16. Diese
zesse, die mit der De- und Rekonstruktion der                ziehen rund 20.000 Personen nach Graz, hiervon       Praxis. Ziel war es, einerseits zu reflektieren, was          Verhältnisse und Beziehungen werden nach
Vorstellung von Gemeinschaft und des Wir-Ver-                rund 7.100 bis 7.500 Personen aus dem Ausland        in den letzten 15 Jahren vonseiten des Geschäfts-             unterschiedlichen Vorstellungen, Werten, Interes-
ständnisses verbunden sind. Je nach historischem             und etwa 12.300 bis 12.700 Personen aus den          bereichs Integration an Integrationsarbeit getan              sen und Einflussmöglichkeiten gestaltet und aus-
Kontext und gesellschaftlichen Entwicklungen                 steirischen Regionen sowie den restlichen öster-     wurde und bis heute getan wird, und andererseits              verhandelt. Je nach Resultat dieser fortlaufenden
und damit verbundenen vorherrschenden Ideo-                  reichischen Bundesländern.10                         daraus Herausforderungen und Visionen für die                 Prozesse sind MigrantInnen in unterschied-
logien und politischen Vorstellungen ist dieses                                                                   Zukunft abzuleiten. Im Zentrum stand dabei,                   lichem Grad in der Gesellschaft, welcher sie zu-
Wir-Verständnis von Offenheit oder Exklusivität              Graz ist eine vielfältige Stadt. So leben 151 Na-    herauszufinden, was aus den bisherigen Ent-                   gewandert sind, in den verschiedenen Bereichen
geprägt und schließt damit spezifisch konstruier-            tionen in Graz (Stand 1. 1. 202011) und circa 24 %   wicklungen und Tätigkeiten gelernt werden kann.               wie Sprache, Kultur, Bildung, Arbeitsmarkt oder
te Personengruppen ein oder aus.                             der BewohnerInnen mit Hauptwohnsitz in Graz                                                                        soziale Beziehungen zu anderen Menschen ein-
                                                             haben eine andere Staatsangehörigkeit als die        Hierfür wurden Interviews mit ZeitzeugInnen der               gegliedert.17 Je nach erreichtem Grad dieser Ein-
Zentral dabei ist, dass die Auseinandersetzung               österreichische.12 Außerdem ist Graz Wohnort         Gründungszeit des Referats aus der Verwaltung                 gliederung spricht man von Assimilierung, der
mit der Gestaltungsform des gesellschaftlichen               von Menschen mit unterschiedlichen Religionen,       und Politik durchgeführt, um die politischen und              „Reduktion oder ein Verschwinden von Grenzen
Miteinanders ein stetiger Prozess ist, in welcher            Bildungshintergründen, Einkommen und Fami-           strategischen Überlegungen und Motivationen                   und Unterschieden zwischen sozialen Gruppen“,
Fragen zu struktureller Benachteiligung, Identi-             lien- beziehungsweise Haushaltskonstellationen.      für die Einrichtung des Geschäftsbereichs Integ-              oder Segregation, dem dauerhaften Bestehen von
fikation und gruppenbezogenen Stereotypen un-                                                                     ration zu verstehen. Weiters wurden Dokumente,                Unterschieden zwischen ethnischen Gruppen.18
weigerlich auftauchen7, sofern das Ziel ist, „dass           Das Bevölkerungswachstum sowie die damit             Berichte und Gemeinderatsbeschlüsse analysiert
alle Personen das gleiche Recht haben, unter                 ­verbundene zunehmende Diversität stellen die        und zwei transdisziplinäre Workshops mit Part-                Im wissenschaftlichen Diskurs geht es darum,
fairen Bedingungen der Chancengleichheit nach                 Stadt Graz vor die komplexe Herausforderung,        nerInnen aus Praxis, Wissenschaft und dem                     in einem empirisch-analytischen Zugang zu
gesellschaftlicher Achtung zu streben“8.                      mit sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen      Geschäftsbereich Integration durchgeführt, in                 beschreiben und zu erklären, wie diese Ein-
                                                              Phänomenen und Veränderungsprozessen hin-           denen diese Fragen bearbeitet wurden.                         gliederung erfolgt, ohne sie jedoch dabei zu be-
Marc Hill plädiert dafür, stets ein Auge auf un-              sichtlich des gesellschaftlichen Miteinanders um-                                                                 werten.19 Konkret wird die Frage gestellt, wie
gleiche Machtverhältnisse hierbei zu haben, Be-               zugehen und dabei gleichzeitig eine hohe Lebens-    Was ist nun diese „Integration“?                              „MigrantInnen als neu hinzugekommene Akteu-
nachteiligungen und Marginalisierung entgegen-                qualität für alle GrazerInnen und zukünftigen       Die zentrale Frage, die vor jeglichem Reflexions-             rInnen Teil der Einwanderungsgesellschaft sind
zutreten und vor allem Migration als Normalität               ­Generationen mit all ihren unterschiedlichen       prozess zum Thema Integration gestellt wird, ist              beziehungsweise wie sie mit dem anderen Teil der
zu akzeptieren, durch die kulturelle Vielfalt und              Bedürfnissen und Interessen zu ermöglichen. Zu     nach wie vor, worum es sich bei Integration denn              Gesellschaft verbunden“ 20 werden.

                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                   INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                        22                                                                                                                 23
Hartmut Esser entwickelte hierfür vier                         hört, das durch gezielte Erziehungsmaßnahmen          migrantisch) an die erkannte Migrationsrealität              deren Besonderheiten führte, nun sollte die Stadt
Integrationskategorien, in welchen diese                       ­ ompensiert werden müsse“24. Dieses Defizit
                                                               k                                                     angepasst werden“30.                                         Graz sich stattdessen auf das „Zusammenfügen zu
gesellschaftliche Verbundenheit21 analysiert                     wird häufig mit der „Kultur“ der MigrantInnen                                                                    etwas Neuem“ konzentrieren. Zusammengefasst
werden kann:                                                   ­begründet, welche zur Markierung der Fremdheit       Eine solche postmigrantische Perspektive weitet              wurde dies wie folgt formuliert: „Dies ist sowohl
                                                                und Andersartigkeit verwendet wird. Römhild          den Blick für eine umfassendere Gesellschafts-               eine Absage an ein Nebeneinander der Kulturen
• Kulturation: Erwerb von Kenntnissen und                       ­beschreibt, wie mit dieser Zuschreibung Migran-     analyse, in welcher Migration nicht länger als               (Multikulturalität) wie auch an die Stigmatisie-
  ­Fertigkeiten, um am Leben der Aufnahme­                       tInnen und sogar deren Kinder und EnkelInnen        spezifische historische Ausnahmeerscheinung                  rung der ImmigrantInnen als Fremde, die sich
   gesellschaft teilnehmen zu können                             als ­problematische Andere, als Anzupassende        behandelt wird, sondern in welcher Migration                 zu assimilieren haben. Alle GrazerInnen bilden
                                                                 oder als zu duldende Minderheiten konstruiert       als gesellschaftliche Realität und Normalität an-            in ihrer individuellen Vielfalt und Verschieden-
• Platzierung: Erwerbung einer sozialen                          werden.25                                           erkannt und aus einer gesamtgesellschaftlichen               heit die Stadtgemeinschaft.“36 Es wurde betont,
  Position in entscheidenden gesellschaftlichen                                                                      Perspektive betrachtet wird, die alle betrifft.31            dass die aktive Mitwirkung und Teilhabechancen
  Bereichen wie Wohnungsmarkt, Bildung,                        Stattdessen sollten MigrantInnen als selbst-          Folglich ist damit Integration keine von oben                von einzelnen Personen hierfür essenziell sind,
  Arbeitsmarkt, Rechtssystem et cetera                         bestimmte AkteurInnen gesehen werden, die             herab verordnete Maßnahme oder eine zu er-                   und der individuelle Anteil an Integration unter-
                                                               „weder Opfer der Verhältnisse noch Marionetten        bringende Leistung, sondern die Aufgabe aller                strichen. Auch wird erkennbar, dass über einen
• Interaktion: Aufbau von Beziehungen                          ihrer Herkunftskultur, sondern aktive Handelnde       Menschen mit und ohne Migrationserfahrung.                   gesellschaftlichen Konsens nachgedacht wurde,
  wie ­beispielsweise mit NachbarInnen,                        mit subjektiven Bedürfnissen und heterogenen                                                                       der die Grundlage des Zusammenlebens in Viel-
  ­FreundInnen, aber auch Partnerschaften,                     Voraussetzungen“26 sind. Nur mit einer solchen        Das Integrationsverständnis der Stadt                        falt ausmacht und der sich aus den Menschen-
   Familiengründung über soziale und                           geänderten Perspektive können MigrantInnen            Graz: Von der gruppenspezifischen                            rechten, der Demokratie, der Rechtsstaatlich-
   ethnische Grenzen hinweg                                    als gleichberechtigte MitgestalterInnen von           Multikulturalität hin zur individuellen                      keit, der Gewaltenteilung, der Gleichstellung von
                                                               ­Gesellschaft anerkannt und damit auch an der         aktiven Partizipation                                        Mann und Frau sowie der Trennung von Staat und
• Identifikation: mentale und emotionale                        Gestaltung des Zusammenlebens in Vielfalt auf        Der Fokus im Bereich Integration hat sich für                Kirche zusammensetzt.37
  ­Verbundenheit mit der Aufnahmegesellschaft                   gleicher Augenhöhe beteiligt werden.                 den Geschäftsbereich Integration in den letz-
   wie beispielsweise durch Loyalitätsgefühl,                                                                        ten 15 Jahren verändert. Zu seiner Gründungs-                In der jüngsten Integrationsstrategie der Stadt
   Identifikation und Zugehörigkeitsgefühl22                   Kritische Migrationsforschung kann – basie-           zeit standen, dem ethnischen Pluralismus der                 Graz (2015–2020) wird der Fokus auf Mitwirkung
                                                               rend auf der Analyse von Herrschaftsstrukturen,       1980er- und 1990er-Jahre folgend32, Aspekte der              und aktive Partizipation gelegt. Insbesondere wird
Im öffentlichen Diskurs hingegen wird in der                   Interessensausverhandlungsprozessen und Dis-          interkulturellen Öffnung der Stadt Graz und die              die Teilung gemeinsamer Werte38 betont und for-
Regel normativ über Integration diskutiert, das                kursen im Kontext von Migration und Integration       Förderung des interkulturellen Zusammenlebens                muliert, dass alle AkteurInnen und Individuen in
heißt, in welchem Grad und auf welche Weise die                – diese „symbolischen und materiellen Zugehö-         im Vordergrund33. Die Arbeit von Vereinen einzel-            Graz einen Beitrag zur Integration leisten können
Eingliederung der MigrantInnen erfolgen soll.                  rigkeits- und Diskriminierungsverhältnisse“ 27, die   ner MigrantInnengruppen wurden als „wesent-                  und sollen. Explizit wird „eine Separierung auf-
Beispiele aus der politischen Praxis hierfür sind              zu Exklusion führen, benennen, analysieren und        lich zur Erleichterung der Integration“ erachtet             grund kultureller Verschiedenheit“ abgelehnt und
Strategiepapiere mit definierten Visionen und da-              kritisieren. Damit können Wege geebnet werden,        und unterstützt.34 Unter Integration wurde dabei             ein Schwerpunkt auf individuelle Leistung gelegt.39
raus abgeleiteten Zielen.23                                    eine Veränderung in der Integrationsdebatte und       die „politische, rechtliche und soziale Gleich-
                                                               weiterer Folge Integrationspolitik zu bewirken.       stellung von In- und AusländerInnen“ verstanden              Trotz dieser Wandlung des Fokus der Integrations-
Neue Ansätze in der Integrationsdebatte                                                                              und „beinhaltet ein Bekenntnis zum kulturellen               arbeit der Stadt Graz in den letzten 15 Jahren
Neue Ansätze in der Migrationsforschung                        Wir befinden uns im Zeitalter der Migration, in       Pluralismus“35.                                              können drei Punkte identifiziert werden, wel-
­kritisieren, dass im Kontext der öffentlichen                 welcher Gesellschaften weltweit mit einem An-                                                                      che sich in allen Überlegungen und Strategien
 Integrationsdebatte, aber auch der Integrations-              stieg von ethnischer und kultureller Diversität       Fünf Jahre später, 2010, wird in einem Bericht zur           zur Integrationsarbeit der Stadt Graz von multi-
 beziehungsweise Migrationsforschung selbst                    konfrontiert sind.28 Diese Gesellschaften werden      Integrationsstrategie der Stadt Graz an den Ge-              kulturellen bis hin zu werte- und leistungs-
 ­MigrantInnen stets als Objekte von Integrations-             in der Literatur als postmigrantisch29 bezeichnet,    meinderat die Wertschätzung der Vielfalt und die             orientierten Ansätzen wiederfinden:
   maßnahmen gesehen werden, welche zur                        wenn deren Wandel in eine heterogene Grund-           Förderung der Selbstorganisation von migranti-
  ­Integration zu erziehen seien. Erol Yildiz nennt            struktur anerkannt wird, Migrationsbewegungen         schen Vereinen als „Multikulturalität“ zusammen-             • Besinnung auf die Menschenrechte und
   dies eine spezifisch pädagogisch-paternalisti-              als Phänomene erkannt werden, die die Gesell-         gefasst. Es wurde zwar gewürdigt, dass dieser                  stetiger Bezug auf Graz als Menschenrechts-
   sche Haltung, „zu deren Argumenten die Be-                  schaft prägen, und „Strukturen, Institutionen         Zugang in der Vergangenheit zu einem besseren                  stadt und die Deklaration der Menschen-
   hauptung eines a­ ngeblichen Identitätsdefizits ge-         und politische Kulturen nachholend (also post-        Verständnis für andere Kulturen beziehungsweise                rechte der Stadt Graz (2001), welche besagt:

                            INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                   INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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„Die Stadt Graz, insbesondere die Mitglieder               aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Diszi-
  ihres Gemeinderates und der Stadtregierung,                plinen, praktisches als auch angewandtes Wis-
  werden sich in ihrem Handeln von den inter-                sen, angemessen zu berücksichtigen und in die
  nationalen Menschenrechten leiten lassen“.40               Rückschau einfließen zu l­ assen. Als Ergebnis die-
                                                             ser Rückschau finden sich nun Beiträge aus unter-
• Bekenntnis zur Verurteilung von                            schiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und
  ­Diskriminierung jeglicher Art, sei es aus                 Perspektiven.
  Gründen des Geschlechts, der Herkunft,
  der Religion, der Weltanschauung, einer
   ­Behinderung, des Alters oder der sexuellen
                                                             So findet sich im Anschluss an diese thematische
                                                             Einführung ein „Begriffskompass. Der Versuch
                                                                                                                            BESINNUNG AUF DIE
                                                                                                                             MENSCHENRECHTE
    Ausrichtung.                                             eines Glossars“ zusammengestellt von Petra
                                                             Wlasak und dem Team des Integrationsreferats.
• Förderung des Erlernens
  der deutschen Sprache.                                     Es folgt ein historischer Rückblick auf Migration
                                                                                                                                        und stetiger Bezug auf Graz als Menschenrechtsstadt und die Deklaration
                                                             nach Graz. Gemäß dem Zitat von Erol Yildiz,
Aufbau dieser trans- und                                     der meint, „Stadtgeschichten sind immer auch               der Menschenrechte der Stadt Graz (2001), welche besagt: „Die Stadt Graz, insbesondere
interdisziplinären Publikation                               Migrationsgeschichten“42, zeigt die Historike-           die Mitglieder ihres Gemeinderates und der Stadtregierung, werden sich in ihrem Handeln
Für die Reflexion der 15 Jahre Integrationsarbeit            rin Karin M. Schmidlechner im Beitrag „Über-                                               von den internationalen Menschenrechten leiten lassen.“
in Graz wurde der Versuch unternommen, unter-                legungen zum Migrationsraum Graz“ mit
schiedliche Perspektiven auf Integrationsarbeit              einem Blick in die Vergangenheit die Wanderungs-
in Graz aus Verwaltung, Praxis und Wissen-                   bewegungen von und nach Graz seit 1945 auf.

                                                                                                                                  BEKENNTNIS ZUR
schaft(en) zusammenzuführen. Das heißt einer-                Sie verdeutlicht dabei, wie der „Normalfall Mig-
seits, die jeweiligen Interessen sowie Arbeits- und          ration“ zentraler Bestandteil der Geschichte der
Lebensrealitäten der IntegrationsakteurInnen                 Stadt ist und dass ein Bewusstsein darüber im

                                                                                                                               ­VERURTEILUNG VON
aus Verwaltung und der Zivilgesellschaft und die             aktuellen Migrationsdiskurs teilweise noch fehlt.
daraus abgeleiteten Forderungen zu verstehen,
zu analysieren und anzuerkennen, andererseits                Fakten sind essenziell, um einen Überblick über

                                                                                                                                 DISKRIMINIERUNG
aber auch diese gewonnene Erkenntnis aus der                 evidenzbasierte Verhältnisse zu erhalten. Dafür
Perspektive von unterschiedlichen wissenschaft-              gibt der nächste Beitrag „Zahlen im Wandel“,
lichen Zugängen zu betrachten und so neue Er-                zusammengestellt vom Team des Integrations-
kenntnisse daraus abzuleiten.                                referats, auf Basis aktueller demographischer Zah-

Beim Zusammenfügen dieser unterschiedlichen
Wissensquellen orientieren wir uns am Konzept
                                                             len einen Überblick zu Personen mit Migrations-
                                                             erfahrung in Graz in den letzten 15 Jahren.                            ­JEGLICHER ART,
der Transdisziplinarität nach Thomas Jahn. Er                Der nächste Themenblock dieser Publikation                                          sei es aus Gründen des Geschlechts, der Herkunft, der Religion,
geht davon aus, dass für die Bearbeitung komple-             ­ idmet sich der Entwicklung der Integrations-
                                                             w                                                                                           der Weltanschauung, einer ­Behinderung, des Alters oder
xer gesellschaftlicher Herausforderungen und das               arbeit der Stadt Graz. Hierfür teilt zu Beginn einer
                                                                                                                                                                                      der sexuellen Ausrichtung.
Finden von gesellschaftlichen Problemlösungen                der wohl bekanntesten Grazer überhaupt, ­nämlich
– wie beispielsweise für Formen des Zusammen-                der Grazer Uhrturm, auf u       ­ northodoxe Weise
lebens in Vielfalt – nicht nur disziplinenüberg-             seine auf Jahrhunderten v­ oller B    ­ eobachtungen

                                                                                                                                FÖRDERUNG
reifend gearbeitet werden muss, sondern dass                 ­basierende Einschätzung der ­Buntheit von Graz.
auch alltagspraktisches und wissenschaftliches                Im Beitrag „Der Grazer U        ­ hrturm erzählt:
Wissen aufeinander bezogen werden muss41. Das                 ­Einblicke in die Vielfalt“ von Petra Wlasak
bedeutet für 15 Jahre Integrationsreferat, Wissen              stellt sich dabei heraus, dass der Grazer ­Uhrturm

                                                                                                                         DES ERLERNENS DER
                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.
                                                                                                                       DEUTSCHEN SPRACHE.   INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

                                                        26                                                                                                                27
von seiner erhöhten Position aus nicht nur                   Im nächsten Beitrag mit dem Titel „Urban                Zusammenschau                                                Innen müssen in diesen Prozess einfließen wie
einen sehr guten Überblick über das Geschehen                ­Participatory Governance. Workshops mit                Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass                 auch ExpertInnenwissen aus der Praxis (zum
in Graz hat, sondern auch mit allen Sinnen die                PraktikerInnen und ExpertInnen“ von Petra              trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen                Beispiel von Beratungsstellen) und Fachwissen
Integrationsarbeit in Graz beobachtet und recht               Wlasak wird auf Basis der theoretischen ­Konzepte      wie auch Themenfelder und in Anbetracht eines                aus unterschiedlichen wissenschaftlichen
philosophische bis gar kritische ­Überlegungen                von participatory governance und good gover-           nach wie vor regen gesellschaftlichen Interesses             D
                                                                                                                                                                                  ­ isziplinen.
dazu anstellt.                                                nance die Netzwerk- und Kooperationsarbeit             für Migration klar ist, dass sich auch das „Haus
                                                              des ­Geschäftsbereichs Integration ­analysiert.        Graz“ mit Themen wie urbaner Diversität, inter-              Komplexen gesellschaftlichen
Wer die Beobachtungen des Grazer Uhrturms liest,              Für eine intensivere Auseinandersetzung zur            kulturellem Zusammenleben, Chancengleich-
                                                                                                                                                                                  Herausforderungen, wie die
wird sich wohl einige Fragen zu im ­Beitrag ge-               Frage der Urban Governance in Bezug auf                heit, Anti-Rassismus und sozialer Inklusion
 nannten Erklärungen, Gemeinderatsbeschlüssen                 Integrationsarbeit veranstaltete der Geschäfts-        auseinandersetzen muss, um die Vision „der                   Gestaltung des Lebens in
 oder einer genannten FEE stellen. Genaue                     bereich ­Integration 2019 zwei Workshops mit           lebenswertesten Stadt Europas“43 umzusetzen.                 Vielfalt in der Stadt, kann nicht
­Erklärungen und Ausführungen finden sich dazu                ­ExpertInnen unterschiedlichster Gremien und           Weitere Integrationsarbeit beziehungsweise eine
                                                                                                                                                                                  mit simplen Lösungen begegnet
 im Beitrag ­„Entstehungs- und Entwicklungs-                   Organisationen und PraxispartnerInnen aus der         Fach- und Querschnittsstelle, die sich umfassend
 geschichte des Integrationsreferats“ von                      Grazer ­NGO-Szene. Gemeinsam wurden dabei             damit auseinandersetzt, ist daher unumgäng-                  werden. Es braucht iterative
 Petra Wlasak, der die Entwicklung des                         die ganzheitliche, partizipative und interaktive      lich. Die Gestaltung des Zusammenlebens in                   Lernprozesse aller Beteiligten
 Integrationsreferats mit allen damit verbundenen              Erfassung der Integrationsarbeit in Graz dis-         einer wachsenden und diversen Stadt wie Graz
                                                                                                                                                                                  und ein offenes Bekenntnis
 Entscheidungen, Beschlüssen und Strategien                    kutiert und m­ ögliche neue Formen von parti-         verlangt nach einer stetigen Auseinandersetzung
 genau beschreibt. Interviewte ZeitzeugInnen                   zipativen, ­kreativen Ansätzen auf interaktive        mit Themen des gesellschaftlichen Miteinanders               zu einer postmigrantischen
 kommen zu Wort und lassen so die Etablierung                  Weise entworfen. Die Ergebnisse daraus werden         und beinhaltet wie bei allen Prozessen mit                   Realität, welche nicht nur von
 und Entwicklung des Referats nachvollziehen.                  in diesem Beitrag ­zusammengefasst. Der Beitrag       unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen
                                                                                                                                                                                  der Politik und Verwaltung,
                                                               bietet außerdem Inspiration und die Unterlagen        Herausforderungen und Konfliktpotenzial.
  Die Übersicht „Meilensteine der Integrations-                dazu, sich selbst in Form eines interaktiven krea-                                                                 sondern auch von der Mehrheit
  arbeit“, aufbereitet vom Team des Integrations-              tiven Rollenspiels mit dem Thema Integration             Die Stadt Graz als Gebietskörperschaft kann und           der GrazerInnen erkannt,
  referats, fasst graphisch diese E­ ntwicklung              a ­ useinanderzusetzen.                                    soll diese Prozesse begleiten und gemeinsam
                                                                                                                                                                                  mitgetragen und mitgestaltet
z­ usammen.                                                                                                             mit ExpertInnen aus Praxis und Wissenschaft
                                                             Im abschließenden Beitrag „Im Gespräch“                    aktiv und partizipativ gestalten. Damit dieser            wird.
Folgend wird die Integrationsstrategie der Stadt             wird der transdisziplinäre Versuch unter-               ­Prozess bedürfnisorientierte, alltagstaugliche und
Graz „Integration – MIT | WIR | KUNG 2015 –                  nommen, den Prozess der Rückschau aus                    ­kreative Lösungen hervorbringen kann, ist das              Diese Publikation ist das Ergebnis eines solchen
2020“ und das „Team 2020“ des Integrations-                  ­Verwaltungsperspektive als auch wissenschaft-            ­Zusammentragen unterschiedlicher Wissens- und             Lernprozesses, bei welchem unterschiedliches
referats der Stadt Graz vorgestellt.                            licher Projektbegleitungsperspektive gemeinsam          Erfahrungsquellen auf Augenhöhe unumgänglich.             Wissen zusammengetragen wurde sowie v   ­ ersucht
                                                                zu reflektieren. Roswitha Müller als Leiterin des                                                                 wurde, von der Vergangenheit zu lernen und
   Einen Überblick über das österreichische                     Geschäftsbereiches Integration und Petra Wlasak,     Diskriminierungserfahrung, Alltagsherausforder­              ­Inspiration für zukünftige Integrationsarbeit zu
 ­ sylwesen und seine zahlreichen Reformen in
 A                                                              wissenschaftliche Projektbegleiterin, versuchen      ungen und Lebensrealitäten von allen Grazer­                  erarbeiten.
 den letzten 15 Jahren liefert im Anschluss die                 dies in Form eines abschließenden Gesprächs, bei
 Juristin Lisa Heschl im Beitrag „15 Jahre s­ teter           welchem sie feststellen, dass es trotz aller b
                                                                                                           ­ isher
 ­Wandel: Einblicke in die österreichische                    umgesetzter Maßnahmen einen fortlaufenden
­Asylgesetzgebung“. Dabei geht sie ebenso auf                 intensiven und kritischen und auch sogar
   die menschenrechtliche Dimension der Auf-                  ­utopischen Umgang mit dem Thema braucht.
   nahme und des Umgangs mit Flüchtlingen ein,                 Es gilt dabei, Erreichtes ­aufrechtzuerhalten,
   beschreibt die Grundversorgung von Asylwerbe-               ­bestehende Herausforderungen weiter zu be-
   rInnen und verdeutlicht, wie die Auswirkungen                arbeiten und auch Rückentwicklungen aufzu-
   des globalen Fluchtgeschehens auf lokaler,                   halten.
  ­städtischer Ebene spürbar werden.

                          INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.                                                     INTEGRATION. GEMEINSAM. GESTALTEN. 15 JAHRE INTEGRATIONSREFERAT.

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