Ist die Osteopathie eine Wissenschaft? - Albrecht K. Kaiser

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Ist die Osteopathie eine Wissenschaft? - Albrecht K. Kaiser
Spektrum | Philosophie

                                                         Ist die Osteopathie eine
                                                         Wissenschaft?
                                                         Albrecht K. Kaiser

                                                         Als die Bundesärztekammer 2009 im Deutschen Ärzteblatt die wissenschaftliche Bewertung
                                                         osteopathischer Verfahren veröffentlichte [1], lag damit ein stattliches Dokument für die
                                                         deutsche Osteopathie auf dem Tisch, das auch die Wissenschaftlichkeit der Osteopathie zu
                                                         bewerten hatte. Als erster Punkt zur Wissenschaftlichkeitsfrage wird die philosophische
                                                         Grundlage der Osteopathie auf dem Gebiet der Weltanschauung, für die es keine Evidenz im
                                                         naturwissenschaftlichen Sinne geben kann, berechtigterweise formuliert. Gleichwohl werden
                                                         jedoch Annahmen wie „Bewegung“, „Fluss“ und „Ganzheitlichkeit“ durchaus mit unserem
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         heutigen naturwissenschaftlich-ärztlichen Denken kompatibel eingeräumt. So sind Aspekte
                                                         wie Bewegung und Ganzheitlichkeit essenzielle Bestandteile verschiedener medizinischer
                                                         Fachdisziplinen (z. B. Allgemeinmedizin, Rehabilitation).

                                                             Das Denkkollektiv. Dort vereinigen sich Wahrnehmen und Denken in einer Forschergruppe. (Quelle: Julien Eichinger/Adobe Stock)

                                                                                                                                                 Therapie- und Theoriewelt durchaus Komplementaritä-
                                                         Die forschende osteopathische                                                           ten, also Ergänzungsverhältnisse, angenommen werden,
                                                         Gemeinschaft                                                                            die es in Zukunft gilt, wissenschaftsvertiefend in unseren
                                                                                                                                                 Forschungskanon systematisch aufzunehmen. Freilich
                                                         Ich stelle dieses gesundheitspolitisch so wichtige Doku-                                muss der osteopathische Forschungszugang perspekti-
                                                         ment hier voran, um darauf aufmerksam zu machen, wie                                    visch anders als beispielsweise in der biomedizinisch ver-
                                                         in dieser Analyse zwischen der körpermedizinischen (All-                                orteten Schulmedizin gewählt werden. Denn beide Lager
                                                         gemeinmedizin, Rehabilitation) und der osteopathischen                                  trennt hier eine verengte Bestimmung und Besinnung auf

                                                         Kaiser AK. Ist die Osteopathie …   DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41                                                         37
Ist die Osteopathie eine Wissenschaft? - Albrecht K. Kaiser
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                                                                         den Menschen selbst, wenn es zu Fragen der vitalisti-              zinwissenschaft – Osteopathie) bzw. den wissenschafts-
                                                                         schen Kategorien von Bewegung und Ganzheitlichkeit                 theoretischen Transfer hierfür geht vieles noch Ungewis-
                                                                         Antworten geben wird.                                              ses – genuin Osteopathisches – verloren. Eines ist jedoch
                                                                                                                                            gewiss: Damit geht die geisteswissenschaftliche Bestim-
                                                                         Somit ist es – meiner Meinung nach – der perspektivische           mung, was der Menschen selbst ist, verloren. Dies gilt
                                                                         Zugang zur Medizinwissenschaft, der die Osteopathie im             auch für den Osteopathen und gleichermaßen für jene,
                                                                         21. Jahrhundert – wenn überhaupt – als eine Wissen-                die Osteopathie als Behandelte empfangen.
                                                                         schaft ausweist bzw. ausweisen soll. Ich orientiere mich
                                                                         dafür an Walachs Definition von Wissenschaft als „eine             Um es vorwegzunehmen: Osteopathie ist nach meinem
                                                                         systematische und methodisch vor Irrtum so weit wie                Verständnis eine Wissenschaft. Schon deswegen, weil sie
                                                                         möglich gesicherte kollektive Erfahrung“ [2].                      auf Voraussetzungen anderer Humanwissenschaften
                                                                                                                                            aufbaut, die sie selbst allerdings nicht immer reflektiert
                                                                         Es gilt für die forschende osteopathische Gemeinschaft,            und die oftmals von der osteopathischen Gemeinschaft
                                                                         ihren eigenen perspektivischen Zugang, ihr osteopathi-             nicht genügend und offenkundig durchdacht werden,
                                                                         sches Wissen und ihre Erfahrungen mit einem dafür zu               z. B. bei ihrer forschenden Anlehnung an andere Wissen-
                                                                         entwickelnden eigenen Wissenschaftsstil zu bereichern,             schaftsmodelle aus der empirischen Medizin- und Sozial-
                                                                         um systematisch ihre Forschung, deren Methoden und                 forschung. Beispielhaft dafür sind die gegenwärtig mit
                                                                         Ergebnisse in die wissenschaftliche Gemeinschaft auf Au-           großer Sorgfalt getätigten evidenzbasierten klinischen
                                                                         genhöhe einzubringen. Und ich unterstelle, dass so die             Forschungsanstrengungen (EBM) zu Fragen der osteopa-
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                                                                         medizinische Forschungsentwicklung im Umfeld der Os-               thischen Wirksamkeit zu nennen. Dies geschieht mit dem
                                                                         teopathie die philosophische Reflexion der Osteopathie             Ziel, sich im Gesundheitswesen als ebenbürtig zu ande-
                                                                         stützen kann.                                                      ren Humanwissenschaften zu behaupten. Dass bei dieser
                                                                                                                                            einseitigen Wissenschaftsanstrengung Wesentliches für
                                                                         Mit diesem Beitrag soll auch angeregt werden, eine sys-            die Osteopathie verloren geht, soll der Leser auch wissen.
                                                                         tematische Anstrengung zu unternehmen, um in einer
                                                                         gründlichen Analyse den Menschen aus osteopathischer               Um die wissenschaftsphilosophischen Perspektiven im
                                                                         Perspektive zu bestimmen, das Bild vom Menschen aus                Sinn einer Bereicherung zur Selbstdeutung unseres Fachs
                                                                         osteopathischer Sicht für dieses Jahrhundert fit zu ma-            hervorzuheben, ist es fruchtbar, den osteopathischen
                                                                         chen. Denn der Mensch ist – dem Denkhorizont z. B. Stills          Forschungsstrang in Zukunft so zu erweitern, dass der
                                                                         und vieler anderer Medizinphilosophen folgend – in sei-            Osteopath als ein leibliches Wesen von Subjektivität ge-
                                                                         ner Doppelnatur als Natur- und Geistwesen nur schwach              setzt wird. Denn er hat eigene Erkenntnisquellen bei
                                                                         und vereinzelt Gegenstand wirklicher Bemühungen in der             dem Diskurs um Wissenschaft anzubieten und kann sich
                                                                         osteopathischen Forschung [3]. Es soll zur Frage „Ist die          gerade mit diesen komplementären Erkenntnisquellen
                                                                         Osteopathie eine Wissenschaft und, wenn ‚Ja‘, welche               zur Therapie- und Theoriewelt einbringen, um andere
                                                                         Art von Wissenschaft ist sie?“ ein Forschungsprogramm              Wissenschaftsdisziplinen zu befruchten, z. B. bei der Deu-
                                                                         vonseiten der osteopathischen Gemeinschaft aufgelegt               tung und Bestimmung einer ausweisbaren Anthropolo-
                                                                         werden, das pointiert auf einer Anthropologie osteo-               gie. Wir werden nicht nur durch Still belehrt, dass dem
                                                                         pathischer Genese fußt. Denn im 21. Jahrhundert muss               Menschen der Verstand und der Geist als wirk- und ef-
                                                                         die Osteopathie diskursiv anschlussfähig zu anderen Wis-           fektmächtige Entitäten für sein Gesundsein anbei gestellt
                                                                         senschaftsauffassungen beforscht werden, um sich aus               sind. Das anthropologische Modell des Triune Man, ide-
                                                                         dem Bann eines verengten wissenschaftlich-einseitigen              engeschichtlich seit Still als unabdingbarer Bestandteil
                                                                         Schein-Objektivismus zu befreien, der auch die Osteo-              des osteopathischen Wissenschaftsmodells vorgesehen,
                                                                         pathie befallen hat.                                               wird bis heute im osteopathischen Forschungs- und Lehr-
                                                                                                                                            betrieb meist ignoriert. Der Mensch mit seinem Geist –
                                                                                                                                            oder das Wesen mit Bewusstsein – gilt als störender Fak-
                                                                         Von der Selbstdeutung des                                          tor in der klinischen Evidenzforschung und wird vorsätz-
                                                                         osteopathischen Wissens                                            lich eliminiert [4].

                                                                         Als Kernannahmen der Humanmedizin gelten die gut
                                                                         etablierten Zugangsweisen zu den biologischen Lebens-              Von der actio palpationis zur
                                                                         vorgängen eines unterstellten physikochemischen und                wissenschaftlichen Tatsache
                                                                         ‑mechanischen naturwissenschaftlichen Modells, das die
                                                                         Medizinwissenschaft im 19. Jahrhundert und an diese an-            Mir geht es in diesem Beitrag um das Verstehen des os-
                                                                         gelehnt die Osteopathie im 20. Jahrhundert übernom-                teopathischen (sozialen) Prozesses, wie sich die Osteo-
                                                                         men hat. Mit diesem assimilierten Wissenschaftsmodell              pathie durch die Einheitsbildung von Wahrnehmen, Den-
                                                                         ist die osteopathische Forschung heute sehr eng verbun-            ken und Handeln als eine Wissenschaft der berührenden
                                                                         den. Durch die Triangulation (Naturwissenschaft – Medi-            medizinischen Praxis auszuweisen versteht. Denn die

                                                         38                                                                    Kaiser AK. Ist die Osteopathie …   DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41
händische Berührung, das Tasten – ich nenne diese me-                                   teopathischen Denkkollektiv mittels der actio palpationis
                                                         dizinischen Palpationshandlungen die „actio palpatio-                                   entwickelt hat – also am Prozess des Erlernens und der
                                                         nis“ – ist das Stilmittel, das der Osteopathie ihr Alleinstel-                          therapeutischen Praxis des Tastens.
                                                         lungsmerkmal in der Medizinlandschaft verleiht. Auf die-
                                                         se actio palpationis gründet sich die spezifische heilende                              Der Osteopath weiß um das komplexe Geschehen der
                                                         Agens der medikamentenfreien Materia medica [4]. Ihr                                    actio palpationis im leiblichen Selbsterleben seiner Tast-
                                                         ist ein komplexes anthropologisches Wissensmodell                                       behandlungen. Zumindest lebt er davon. Es ist weit mehr
                                                         hinterlegt, das bis heute nur wenig verstanden und im                                   als eine vortastende Bezugnahme zum Weltverhältnis
                                                         Kontext wissenschaftsphilosophischer Grundannahmen                                      zwischen sich und dem Patienten durch das Wahrneh-
                                                         wenig beforscht wird.                                                                   men entlang von isoliert-morphologischen Nervenleitun-
                                                                                                                                                 gen der Hände, wie dies gegenwärtig meist im Studium
                                                         Ich versuche mit Ludwik Fleck (Mediziner, Wissenschafts-                                gelehrt wird. Es ist vielmehr eine wirkungsvolle Begeg-
                                                         soziologe und Philosoph; 1896–1961) und seiner wissen-                                  nung zwischen 2 Menschen, ein therapeutisches Wirk-
                                                         schaftstheoretischen These von der sozialen Bedingtheit                                 bündnis, das im besten osteopathischen Sinne zur medi-
                                                         wissenschaftlicher Erkenntnis zur Entstehung von Wis-                                   zinischen (Be-)Handlung geschlossen wird, wie dies Still
                                                         senschaft [5] zu verdeutlichen, wie sich die osteopathi-                                in seiner Forschung und Praxis [7] und Littlejohn in seiner
                                                         sche Gemeinschaft mit einer forschenden Disziplinierung                                 Psychophysiologie [8] einst entwarfen. Es ist nämlich die
                                                         hin zu einem eigenständigen Denkkollektiv entwickeln                                    Wirkung einer Materia medica, die nur aus dem Geist
                                                         kann, um (auch) ihre anthropologischen Merkmale, die                                    der Natur heraus zu verstehen ist. Denn der aufgeklärte
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         ihr in die Wiege gelegt wurden, pointiert auszuweisen.                                  Osteopath geht in seiner Grundannahme davon aus, dass
                                                         Fleck führe ich deshalb an, da er Wissenschaft nicht als ein                            jedem lebenden Gewebe auch geistige Wirkkräfte hinter-
                                                         formales Konstrukt begreift, sondern als progressive Tätig-                             legt sind, die an der Regulierung von Gesundheit und
                                                         keit, die wissenschaftliches Erkennen prozessual aus einem                              Krankheit beteiligt sind. Dies verleiht der actio palpa-
                                                         Gemeinschaftsprozess heraus entwickelt lässt. Vergleich-                                tionis einen Sinn, der die mechanistische Handlung in
                                                         bar wird in Ansätzen die Wissenschaftsentwicklung für                                   eine mentale Ebene überführt, sodass diese so oder so
                                                         Deutschland durch die Akademie für Osteopathie (AFO)                                    ähnlich imstande sein sollte, damit das physikochemische
                                                         betrieben – zwar nicht dem Inhalt, aber der Sache nach [6].                             und ‑mechanische naturwissenschaftliche Modell – bei
                                                                                                                                                 gründlicher Forschung – zu überwinden.
                                                         Flecks Forschungsergebnissen zufolge sind für solche
                                                         Prozesse 2 Voraussetzungen notwendig, damit wissen-                                     Gegenwärtig gilt dieser Aspekt m. E. in der osteopathi-
                                                         schaftliche Erkenntnis, die er als wissenschaftliche Tat-                               schen Forschung nicht als wissenschaftliche Tatsache.
                                                         sache bezeichnet, überhaupt stattfinden kann [5]. Die                                   Dieser Aspekt wird völlig vernachlässigt und wartet da-
                                                         eine Voraussetzung ist die Schaffung eines – wie er es                                  rauf, beforscht zu werden, um zu einer integrierten wis-
                                                         etwas sperrig nennt – Denkkollektivs. Dies ist der Zusam-                               senschaftlichen Tatsache der Osteopathie im 21. Jahr-
                                                         menschluss einer Wissenschaftlergruppe, die sich zum                                    hundert zu werden (▶ Abb. 1).
                                                         Zweck gemeinsamer Forschung formiert. Die andere Vo-
                                                         raussetzung liegt in der Entwicklung eines für das Denk-
                                                         kollektiv typischen Denkstils. Darunter versteht Fleck,                                 Von der Denkstil-These
                                                         wie das Denkkollektiv systematisch seine eigene Metho-                                  zur Wissenschaft
                                                         de für z. B. gerichtete Wahrnehmung gedanklich und
                                                         sachlich entwickelt bzw. dies methodologisch zur Darstel-                               Flecks Einsichten spiegeln sich auch in der jungen Wis-
                                                         lung bringt. Dabei baut sich der Denkstil dieses Denkkol-                               senschaftsgeschichte der Osteopathie wider. Das syste-
                                                         lektivs immer auch auf rationale Vorgaben übernomme-                                    matische Erlernen und Beherrschen der osteopathischen
                                                         ner Voraussetzungen von anderen früheren Denkkollek-                                    Palpation beispielsweise unterliegen einer gründlichen
                                                         tiven auf. Es wird damit im Kollektiv festgelegt, was als                               Schulung von praktischem Üben und Wahrnehmen des-
                                                         wissenschaftliches Problem, als evidentes Urteil oder als                               sen, was man im, am und um das Gewebe fühlt. Gleich-
                                                         angemessene Methode der Forschung zu gelten hat. Es
                                                         entsteht in diesem Prozess auch eine dem Kollektiv ge-                                                                                      Anzeige
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                                                         Die therapeutische Praxis
                                                         als Wirkbündnis

                                                         Für die wissenschaftskonstituierenden Elemente in der
                                                         Osteopathie nehme ich dies so an. Ich zeige mit der
                                                         Sprachweise von Fleck, wie sich dies beispielhaft beim os-

                                                         Kaiser AK. Ist die Osteopathie …   DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41                                                          39
Spektrum | Philosophie

                                                                         zeitig findet ein diskursiv-kritisches Reflektieren der Pal-          keit, der sich nur in einem gemeinsamen, jedoch ver-
                                                                         pationserlebnisse statt. Dies zeichnet nach Fleck das                 gleichbaren Studium, einer mit Reflexion durchdrunge-
                                                                         Denkkollektiv, die Gemeinschaft der forschenden Osteo-                nen Praxis und einer diskursiv breit ausgerichteten For-
                                                                         pathen, aus. Dieses definiert in diesem kontinuierlichen              schung entwickeln kann. Zu diesem Prozess muss sich
                                                                         Prozess, ob überhaupt und wie diese Palpation bestmög-                das Denkkollektiv auf eine gemeinsame Sprache fest-
                                                                         lich in ein osteopathisches Programm einzubringen ist. Es             legen und diese ausweisen können [4]. Für die Zukunft
                                                                         geht dabei um die Ausbildung einer Wahrnehmungs-,                     bedeutet das immer, welche Entitäten in diesem Prozess
                                                                         Wissens- und Erfahrungstheorie für die Osteopathie. Die               gefördert, als wichtig erachtet, welche vernachlässigt
                                                                         Festschreibungen, auf die sich die Gemeinschaft der Os-               oder sogar gemieden werden sollen.
                                                                         teopathen in diesem Prozess dann einigt oder die sie ver-
                                                                         wirft, abändert und neubestimmt, führt zu dem, was
                                                                         Fleck als den Denkstil beschreibt. Flecks Denkstil-These
                                                                                                                                               Fazit
                                                                         ist der Prozess, wie Wissenschaftler in ihrem Frage-, Expe-           Ich verdeutliche mit diesem Beitrag, dass es die Wissen-
                                                                         riment- und Suchkomplex zu wissenschaftlichen Tat-                    schaft nicht gibt, und argumentiere, dass es „nur“ wis-
                                                                         sachen (Forschungsergebnissen) gelangen. Man denke                    senschaftliche Tatsachen im Wandel jeweils eigener Wis-
                                                                         an so unterschiedliche Herangehensweisen, wie dies for-               senschaftsstile geben kann. Es entstehen jedoch wissen-
                                                                         mativ-objektivierend im Forschungsprogramm des DO-                    schaftliche Tatsachen. Das sind Forschungsergebnisse
                                                                         Touch.NET oder in der subjektiven Intimität vermitteln-               von kollektiven Denk- und Wahrnehmungsoperationen,
                                                                         der kranialosteopathischen Palpation geschieht.                       die von verschiedenen Denkkollektiven für ihr Forschungs-
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                                                                                                               fach jeweils verschieden betrieben werden. Es sind Pro-
                                                                         Eine wissenschaftliche Tatsache konstituiert sich also im             zesse innerhalb einer (Wissenschafts-)Sozialisation [2].
                                                                         gemeinschaftlichen Durchdringen eines Denkkollektivs
                                                                         von sinnlichem Beobachten (Tasten) und dem Reflektie-                 So hat sich dies auch in der 120-jährigen Forschung in der
                                                                         ren darüber durch die Entwicklung eines Denkstils, um                 Osteopathie entwickelt. Denn die osteopathische Wis-
                                                                         durch das Denken die zur Erscheinung gebrachten ideel-                senschaft ist meist keinem formal vorgegebenen Kon-
                                                                         len Gesetzmäßigkeiten festzulegen.                                    strukt unterlegen, sondern gründet sich auf einen Wis-
                                                                                                                                               senschaftsstil, der sich durch eine forschende Tätigkeit
                                                                                                                                               (Wahrnehmen – Denken – Handeln) auszeichnet. Auf
                                                                         Die osteopathische Identität                                          unser Läsionsbeispiel im Kontext eines fortschreitenden
                                                                         Ich verdeutliche einen solchen Prozess, der die Osteo-                osteopathischen Forschungsstils bezogen heißt das: von
                                                                         pathie zu einer wissenschaftlichen Tatsache führte, am                der „Lesion“ im 19. Jahrhundert hin zur „somatischen
                                                                         Begriff der Läsion. Die Läsion ist der „archaische Begriff“           Dysfunktion“ im 21. Jahrhundert. Das ist eines der vorläu-
                                                                         der klassischen Osteopathie der 1. Stunde, den das Denk-              figen Ergebnisse solch eines fluiden Forschungsprozes-
                                                                         kollektiv zur somatischen Dysfunktion weiterentwickelte               ses, den die Osteopathie auszeichnet. Das Ergebnis ist
                                                                         [9]. Die Läsion ist für das Denkkollektiv durch alle Zeit-            nicht für alle Zeiten festgeschrieben. Es ist durch die so-
                                                                         perioden ihres Bestehens der genuin wissenschaftliche                 zialen Gegebenheiten, den damit implizierten Denkstil
                                                                         Entwurf von osteopathischer Handlung und eine diese                   der Forschenden entwickelt, verändert und sprachlich
                                                                         gedanklich stützende Theoriebildung – auch philo-                     angepasst worden. Vergleichbar verhält es sich mit 2 wei-
                                                                         sophischen Charakters –, den die osteopathische For-                  teren „archaischen Begriffen“, die vom osteopathischen
                                                                         schung fortscheitend verfeinert. Nach Fleck ist dies bei-             Denkkollektiv einer systematischen Forschung zu unter-
                                                                         spielhaft eine wissenschaftliche Tatsache, welche die Os-             ziehen sind: zum einen die „osteopathischen Prinzipien“
                                                                         teopathie durch dieses Theorem als eine Wissenschaft                  [11] und zum anderen die dem „Triune Man“ [13] zugrun-
                                                                         auszeichnet. Denn die Läsion stand ursprünglich bei Still             de liegenden anthropologischen Annahmen. Beide frei-
                                                                         für das wissenschaftskonstituierende Modell seiner Ge-                lich sind in einer Rezeption der Forschung dem 21. Jahr-
                                                                         sundheits- und Krankheitslehre, das nur aus der Ver-                  hundert anzupassen. Das ist Teil des Forschungsprozes-
                                                                         schränkung zwischen medizinischem und philosophi-                     ses.
                                                                         schem Denkstil zu verstehen ist. Heute hingegen hat das
                                                                         osteopathische Denkkollektiv diese Verschränkung stark                Der Punkt, den ich dem Leser gern nahebringen will, liegt
                                                                         gelockert. Das heißt, es sind neue wissenschaftliche Tat-             in der Chance des eigenständigen Reflexionsbereichs von
                                                                         sachen an deren Stelle als Forschungsergebnis getreten.               impliziert philosophischen Fragestellungen, die es zu-
                                                                                                                                               künftig zu beforschen gilt, um damit einen vertieften Zu-
                                                                         Der Punkt, auf den es mir hier für den Leser ankommt, ist             gang zu Wirksamkeit und Wirklichkeit jeglicher Form von
                                                                         der Wissenschaftsstil – Osteopathen sprechen von ihrer                Medizin und Philosophie wechselseitig zu bewirken. Das
                                                                         osteopathischen Identität –, der durch das Denkkollektiv              wäre ein gangbarer Forschungsweg zur Verbindung der
                                                                         der forschenden Osteopathen einerseits und den eige-                  von mir angenommenen komplementären Strömungs-
                                                                         nen Denkstil andererseits entsteht und geprägt werden                 auffassung in der Wissenschaft – also eine deskriptiv-em-
                                                                         muss. Es ist ein sozialer Prozess am Horizont von Zeitlich-           pirische Beschreibung der von der Medizin aufgeworfe-

                                                         40                                                                       Kaiser AK. Ist die Osteopathie …   DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41
nen Phänomene und das transzendentale Hinterfragen                                      Korrespondenzadresse
                                                         der philosophischen Grundannahmen eines ausgewiese-
                                                         nen osteopathischen Referenzrahmens.                                                           Dr. phil. Albrecht K. Kaiser
                                                                                                                                                        Fontainengraben 40
                                                         Die dem Beitrag zugrunde liegende Frage „Ist die Osteo-                                        53123 Bonn
                                                                                                                                                        kaiser@kaiser-osteopathie-bonn.de
                                                         pathie eine Wissenschaft?“ beantworte ich deswegen mit
                                                         einem „Ja“, da mit Ludwik Flecks Wissenschaftsauffas-
                                                                                                                                                 Literatur
                                                         sung gezeigt werden kann, wie sich die Bedingungen
                                                         und die Merkmale von wissenschaftlicher Erkenntnis ent-
                                                                                                                                                 [1]    Haas N. Wissenschaftliche Bewertung osteopathischer Ver-
                                                         wickeln, um von einer wissenschaftlichen Tatsache im Er-
                                                                                                                                                        fahren. Deutsches Ärzteblatt 2009; 106 (46): VIII.3
                                                         gebnis sprechen zu können. Ich habe dies am Beispiel der
                                                                                                                                                 [2]    Walach H. Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische
                                                         Läsion in aller gebotenen Kürze verdeutlicht.                                                  Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohl-
                                                                                                                                                        hammer; 2005
                                                         Absichtlich habe ich hier die Wissenschaftsauffassung zur                               [3]    Tyreman S. Eine anthropo-ökologische Sichtweise. In: Mayer J,
                                                         empirischen Wirkungsforschung (Evidenzfragen) und de-                                          Standen C. Lehrbuch der Osteopathischen Medizin. München:
                                                         ren etablierte Methoden zur Wirksamkeitsmessung am                                             Elsevier; 2017
                                                         medizinisch definierten Körper ausgeklammert. Diese                                     [4]    Kaiser A. Die Wirklichkeit der Osteopathie. Studie einer am
                                                         werden im Rahmen der binnenosteopathischen Möglich-                                            Leib orientierten Anthropologie. Berlin: Peter Lang; 2017
                                                         keiten gut beforscht und haben als ihr Wissenschaftsstil                                [5]    Fleck L. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         der so verstandenen Osteopathie viel opfern müssen,                                            Tatsache. Frankfurt: Suhrkamp; 2017

                                                         was heute zu einer positivistisch-reduktionistischen und                                [6]    www.osteopathie-akademie.de
                                                         naturalistischen Selbstdeutung der Osteopathie geführt                                  [7]    Still A.T. Forschung und Praxis. Pähl: Jolandos; 2005
                                                         hat. Dem geschuldet, wird in solch einer Forschung das                                  [8]    Littlejohn JM. Psychophysiologie Pähl: Jolandos; 2009
                                                         Mensch-Selbst nicht mit einbezogen.                                                     [9]    Ward R. Foundations of Osteopathic Medicine. Philadelphia:
                                                                                                                                                        Lippincott Williams; 2010
                                                         Wenn sich die Osteopathie im 21. Jahrhundert nicht nur                                  [10] www.jolandos.de/blog/osteotimes/newsletter-editorials/
                                                         therapeutisch gut, sondern auch aufgeklärt und verbes-                                       laesion-und-dysfunktion

                                                         serungsfähig als eine Wissenschaft entwickeln will, muss                                [11] Hartmann C. Stills Philosophie der Osteopathie – ein neuer
                                                                                                                                                      Blickwinkel. In: Mayer J, Standen C.Lehrbuch Osteopathische
                                                         die Stellung des Menschen hierfür neuerlich bestimmt
                                                                                                                                                      Medizin. München: Elsevier; 2017: 31
                                                         werden. Denn es geht um die wissenschaftliche Bereiche-
                                                                                                                                                 [12] Tyreman S. Re-evaluating ʼosteopathic principles. Internation-
                                                         rung zur Selbstdeutung des Fachs. Es geht (auch) um phi-
                                                                                                                                                      al Journal of Osteopathic Medicine 2013;16 : 38–45
                                                         losophische Perspektiven, wie der Osteopath und der Pa-
                                                                                                                                                 [13] Kaiser F. A. T. Stillʼs TRIUNE MAN – Moderne Interpretationen.
                                                         tient als leibliche Wesen von Subjektivität einzubringen                                     Saarbrücken: Akademiker; 2015
                                                         sind. Denn für den Wissenschaftsprozess bietet der Osteo-
                                                         path – über die empirische Wirkungsforschung hinaus –
                                                                                                                                                 Bibliografie
                                                         auch andere Erkenntnisquellen für das Fach an.

                                                                                                                                                        DOI https://doi.org/10.1055/a-0966-5278
                                                         In memoriam Stephen Tyreman (1952–2018)                                                        DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41
                                                                                                                                                        © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
                                                         Autorinnen/Autoren                                                                             ISSN 1610-5044

                                                                                Albrecht K. Kaiser
                                                                              ist seit 1997 in Bonn niedergelassen. Er schloss
                                                                              1996 seine osteopathische Ausbildung am Col-
                                                                              lege Sutherland ab. 2003 Vergabe der Marke
                                                                              D.O. durch die AFO. 2010 Master-Studium an
                                                                              der A. Still University in Kirksville. 2017 Pro-
                                                                              motion zum Dr. phil. in Witten-Herdecke. Seit
                                                               2011 Lehrtätigkeit im Studiengang Osteopathie an der Hoch-                                                                                       Anzeige
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                                                               schien die Monografie Die Wirklichkeit der Osteopathie. Studie
                                                               zu einer am Leib orientierten Anthropologie.

                                                         Kaiser AK. Ist die Osteopathie …   DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2020; 18: 37–41                                                                     41
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